10
184 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin brachten die Nationalsozialisten und ganz besonders Hitler in arge Verlegenheit. Im Ausland war längst Kritik an der Verfolgung der Juden in Deutschland laut geworden, wenngleich der Massenmord an ihnen noch nicht begonnen hatte. Aus außenpolitischen Gründen und seines Prestiges wegen musste Hitler aber gegenüber Juden wenigstens eine Zeit stillhalten, weil sonst die Spiele von einigen Ländern, vor allem von den USA, boykottiert wor- den wären. Dies begann bereits beim Vorsitzenden des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936, dem Sportfunktionär Theodor Lewald. Er war 1860 in Berlin als jüngster Sohn eines königlichen Justizrats und Rechtsanwalts geboren worden. Der Vater war Jude aus dem Raum Königsberg, die Mutter Christin. Lewald durchlief eine erfolgreiche Beamtenkarriere und hatte wesentlichen Anteil daran, dass das Interna- tionale Olympische Komitee (IOC) sich entschloss, die 11. Olympi- schen Spiele nach Berlin zu vergeben. Hitler versuchte vergebens, das Organisationskomitee für die Spiele, das aus Lewald und Carl Diem, dem Vorsitzenden der deutschen Sport- behörde für Athletik, bestand, abzulösen. Stattdessen sollte der neu ernannte Reichssportführer, Hans von Tschammer und Osten, an die Spitze des Komitees gesetzt werden. 1 Nach Lutz Graf Schwerin von Krosigk hatte IOC-Präsident Baillet-Latour bei einem Berlin-Besuch Hitler allerdings unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass das IOC nur dann die Garantie für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Spiele als gegeben ansehe, wenn Lewald und Diem ihre Aufgaben unge- hindert erfüllen könnten. Hitler gab nach, doch diese Spiele gerieten zunehmend in Gefahr, als nach der Machtübernahme die Nationalsozialisten die jüdischen Bevöl- kerungsteile immer größeren Repressionen aussetzten. Vor dieser durch- aus realen Möglichkeit warnte Lewald am 21. November 1933 Staatsse- kretär Hans Pfundtner, der im Reichsministerium des Innern Lewalds Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/1/14 4:54 PM

"Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

  • Upload
    volker

  • View
    218

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

184 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin brachten die Nationalsozialisten und ganz besonders Hitler in arge Verlegenheit. Im Ausland war längst Kritik an der Verfolgung der Juden in Deutschland laut geworden, wenngleich der Massenmord an ihnen noch nicht begonnen hatte. Aus außenpolitischen Gründen und seines Prestiges wegen musste Hitler aber gegenüber Juden wenigstens eine Zeit stillhalten, weil sonst die Spiele von einigen Ländern, vor allem von den USA, boykottiert wor-den wären.

Dies begann bereits beim Vorsitzenden des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936, dem Sportfunktionär Theodor Lewald. Er war 1860 in Berlin als jüngster Sohn eines königlichen Justizrats und Rechtsanwalts geboren worden. Der Vater war Jude aus dem Raum Königsberg, die Mutter Christin. Lewald durchlief eine erfolgreiche Beamtenkarriere und hatte wesentlichen Anteil daran, dass das Interna-tionale Olympische Komitee (IOC) sich entschloss, die 11. Olympi-schen Spiele nach Berlin zu vergeben.

Hitler versuchte vergebens, das Organisationskomitee für die Spiele, das aus Lewald und Carl Diem, dem Vorsitzenden der deutschen Sport-behörde für Athletik, bestand, abzulösen. Stattdessen sollte der neu ernannte Reichssportführer, Hans von Tschammer und Osten, an die Spitze des Komitees gesetzt werden.1 Nach Lutz Graf Schwerin von Krosigk hatte IOC-Präsident Baillet-Latour bei einem Berlin-Besuch Hitler allerdings unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass das IOC nur dann die Garantie für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Spiele als gegeben ansehe, wenn Lewald und Diem ihre Aufgaben unge-hindert erfüllen könnten.

Hitler gab nach, doch diese Spiele gerieten zunehmend in Gefahr, als nach der Machtübernahme die Nationalsozialisten die jüdischen Bevöl-kerungsteile immer größeren Repressionen aussetzten. Vor dieser durch-aus realen Möglichkeit warnte Lewald am 21. November 1933 Staatsse-kretär Hans Pfundtner, der im Reichsministerium des Innern Lewalds

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 2: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin 185

Ansprechpartner war.2 Die drei deutschen IOC-Mitglieder Herzog Friedrich zu Mecklenburg, Karl Ritter von Halt und er, so Lewald, hät-ten angesichts der amerikanischen Besorgnisse ein Telegramm formu-liert, »damit Klarheit darüber besteht, dass seit der Wiener Beschluss-fassung in der Behandlung jüdischer Sportsleute in Deutschland sich nichts geändert hat«.3 Sollte Amerika auf der IOC-Tagung im Mai 1934 beantragen, die Spiele an einen anderen Ort zu verlegen, bestehe kein Zweifel darüber, dass sich dafür eine große Mehrheit finden würde, zumal Japan und Italien bereit sein würden, die Spiele auszutragen. Das Telegramm lautete:

Bezugnehmend auf den gestrigen Beschluss der »Amerikanischen Amateur Athletik Union« erklären wir feierlich, dass das in Wien durch die deutsche Regierung und das deutsche Olympische Komitee abgegebene und vor GARLAND und SHERILL als befriedigend angenommene Versprechen betreffend Beteiligung der deutschen Juden an den Spielen, genau so einge-halten werden wird, und dass seit Wien weder Regierung noch Olympisches Komitee irgendeinen Erlass oder Befehl herausgegeben haben, der die deut-schen jüdischen Wettkämpfer diskriminiert. Wir vertrauen, dass unsere amerikanischen IOC (Internationalen Komitee)-Kollegen zu ihrem Wiener Versprechen stehen werden.4

IOC-Präsident Henri Baillet-Latour unterstützte offenbar die Austra-gung der Spiele in Berlin, denn in einem Brief an Lewald gab er am 13. Januar 1934 Hinweise, wie Deutschland der »Propaganda« etwas ent-gegensetzen könne. Er schrieb von einem Gerücht, »dass der Kugelsto-ßer Hirschfeld, der Jude sein soll, im letzten Sommer an den deutschen Meisterschaften in seiner Sportart teilgenommen habe. Wenn es sich so damit verhält, warum wird es nicht bekanntgegeben, und warum ver-fährt man nicht in der gleichen Weise, wenn noch andere solcher Bei-spiele gegeben werden könnten?«5 Bei Emil Hirschfeld handelte es sich um einen deutschen Leichtathleten, der bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam die Bronzemedaille im Kugelstoßen gewonnen hatte. Er nahm auch an den Olympischen Spielen 1932 teil, dort jedoch ohne Medaillenerfolg. 1936 wurde er nicht mehr in die deutsche Mann-schaft aufgenommen.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 3: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

186 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Das Schreiben Baillet-Latours war für Lewald Anlass, sich am 20. Januar 1934 erneut an Pfundtner zu wenden.6

Boykottbewegung in den USA

Hitler, der anfangs von den Olympischen Spielen nur wenig gehalten hatte, war mittlerweile vom propagandistischen Wert dieses Großereig-nisses für das NS-Regime überzeugt. Am 24. August 1934 empfing er daher in München den amerikanischen General Charles Sherill, der eine leitende Persönlichkeit im IOC war.7 Natürlich sprach Sherill die Frage der Beteiligung von Juden an und verwies auf eine entsprechende Zusage der Reichsregierung von 1933, die Hitler angeblich unbekannt war.8 In der Aufzeichnung über das Treffen Hitler/Sherill ist unter anderem davon die Rede, dass die Judenfrage in den USA bereits zu einer Boy-kottbewegung geführt hatte. Jetzt würden die jüdisch eingestellten Kreise Amerikas erneut alle diesbezüglichen Anstrengungen unterneh-men.

Sherill wird häufig als jemand dargestellt, der sich besonders enga-giert für die Teilnahme von Juden an den Spielen von Berlin eingesetzt haben soll. Wie es um seine Haltung zu den Juden jedoch wirklich bestellt war, machte er deutlich, als er gegenüber Hitler meinte, aus sei-ner »sportsmännischen« Erfahrung wisse er, »dass die jüdischen Ath-leten im Allgemeinen den hohen Anforderungen, die für die Aufnahme in eine Olympia-Ländermannschaft gestellt werden, nicht gewachsen seien«.9 Ihn wundere daher als erfahrenen Sportsmann nicht, dass in der deutschen Olympiamannschaft für 1936 kein Jude vertreten sei.

Die Einzelheiten der Zusage, von der Hitler angeblich nichts gewusst hatte, erläuterte Innenminister Wilhelm Frick dann am 3. September 1935 in einem Schreiben an den Chef der Präsidialkanzlei: Demzufolge hatte er am 31. Mai 1935 Lewald mitgeteilt, »dass alle Olympischen Regeln beachtet würden«.10 Ein grundsätzlicher Ausschluss deutscher Juden von den deutschen Mannschaften bei den Olympischen Spielen 1936 erfolge nicht. Am 7. September 1934 habe er, Frick, »nach vorhe-riger Fühlungnahme mit dem Stellvertreter des Führers dem Reichs-sportführer eröffnet, dass das Verbot über den Verkehr von Parteigenos-sen mit Juden sich weder auf den sportlichen Verkehr im Allgemeinen,

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 4: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Antisemitische Auswüchse in Garmisch-Partenkirchen 187

noch auf die bereits eingeleiteten Trainingskurse für jüdische Sportler und deren Zulassung zu den Olympischen Spielen erstrecke«.11 Im Übrigen erläuterte Frick, dass General Sherill bei der Unterredung mit dem »Führer« zutreffend darauf hingewiesen habe, dass sich die seiner-zeitige deutsche Zusage nicht nur auf das Auftreten von Juden in auslän-dischen Olympiamannschaften, sondern auch auf die Aufnahme von Juden deutscher Staatsangehörigkeit in die deutsche Olympiamann-schaft bezogen habe. In zynischer Weise bekräftigte Frick dann eine Aussage Hitlers, dass nämlich »keinesfalls etwa eine Verpflichtung über-nommen worden sei, für eine jüdische Beteiligung innerhalb der deut-schen Olympiamannschaft Sorge zu tragen«. Ebenso selbstverständlich sei, dass man nicht etwa dafür sorgen müsse, »jüdische Sportler deut-scher Staatsangehörigkeit in olympiareifen Zustand zu bringen«.12

Allerdings brachte es Hitler nicht über sich, wenigstens im Straßen-bild den amtlich verordneten Judenhass zu verdecken. Sein Adjutant, Hauptmann a.D. Wiedemann, referierte im April 1935 die Bedenken, die vielfach wegen der zahlreichen Schilder »Juden ist der Zutritt verbo-ten« geäußert wurden. Resigniert teilte Wiedemann dem Büro des Hit-ler-Stellvertreters Heß jedoch mit: »An der Entscheidung des Führers, dass gegen diese Schilder nichts einzuwenden ist, hat sich dadurch nichts geändert.«13

Antisemitische Auswüchse in Garmisch-Partenkirchen

Ungeachtet all dieser Diskussionen liefen die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele, wobei die Bevölkerung von Garmisch-Partenkir-chen die antijüdische NS-Propaganda mittlerweile verinnerlicht zu haben schien. Dies war den Nationalsozialisten umso unangenehmer, als dort die Olympischen Winterspiele ausgetragen werden sollten. Zwar wurden diese vor den Sommerspielen in Berlin durchgeführt, doch hät-ten rassische Auswüchse in der Alpenregion möglicherweise am Ende doch noch zu einem Boykott der Spiele insgesamt geführt.

Zumindest die regionalen NS-Funktionäre machten aus ihrem antijü-dischen Denken und Handeln keinen Hehl, was in dieser Situation den in Berlin regierenden Nationalsozialisten gar nicht mehr recht sein konnte. So informierte Innenminister Wilhelm Frick den Chef der

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 5: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

188 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, am 22. Mai 1935 über eine Reihe von antisemitischen Umtrieben.14 Der NSDAP-Kreisleiter von Garmisch-Partenkirchen hatte beispielsweise am 1. Mai gefordert, alles Jüdische aus dem Ort zu vertreiben. An der gesamten Landstraße von München nach Garmisch-Partenkirchen gab es große Tafeln mit der Aufschrift »Juden sind hier unerwünscht«. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) hatte bereits angekündigt, jeder Gaststättenbesitzer, der einen Juden aufnehme, solle aus der Partei ausgeschlossen werden. Minister Frick mahnte daher den Chef der Reichskanzlei:

Alle Nationen sind eingeladen, und alle haben zugesagt. Exzellenz Lewald und ich einerseits und der Reichssportführer andererseits haben unter aus-drücklicher Billigung des RMI dem IOC verschiedenen Führern nationaler ausländischer Verbände das Versprechen gegeben, dass alles vermieden wird, was zu einer Störung anlässlich einer evtl. Teilnahme von jüdischen Sport-lern anderer Nationen führen könnte. Wenn die Propaganda in dieser Form weitergeführt wird, dann wird die Bevölkerung von Garmisch-Partenkir-chen bis 1936 so aufgeputscht sein, dass sie wahllos jeden jüdisch Aussehen-den angreift und verletzt.15

Zugleich erinnerte Frick daran, dass General Sherill für Juni seinen Besuch in München angekündigt hatte. Bei der Empfindlichkeit dieses Herrn hielt er es für nicht ausgeschlossen, dass er kurz außerhalb Mün-chens bei der ersten Tafel »Juden sind hier unerwünscht« kehrtmachte und umgehend wieder Deutschland verließ. Aber auch Frick konnte nicht aus seiner Haut. Er pervertierte den olympischen Gedanken, indem er schrieb, er äußere seine Sorgen nicht etwa, »um den Juden zu helfen, es handelt sich ausschließlich um die olympische Idee und um die Olympischen Spiele«.

Helene Mayer: Mit »deutschem Gruß« auf dem Siegertreppchen

Die Suche nach einer »Alibi-Jüdin« gestaltete sich für die National-sozialisten erstaunlich einfach. Gefunden wurde sie in der »halbjüdi - schen« Florettfechterin Helene Mayer. Ihr Vater war der jüdische Arzt

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 6: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Helene Mayer: Mit »deutschem Gruß« auf dem Siegertreppchen 189

Dr. Ludwig Mayer, die Mutter war Ida Mayer, geborene Becker, evange-lisch. Die gebürtige Offenbacherin hatte bereits 1928 bei den Olympi-schen Spielen in Amsterdam die Goldmedaille gewonnen und zahlrei-che deutsche und europäische Titel erkämpft. Sie entsprach in ihrem Äußeren dem Idealbild einer »Arierin«: groß, blonde Zöpfe, blauäugig, siegreich mit der Waffe. Der »blonden He« widmete die Anhaltische Rundschau sogar eine Ode:

Und, denkt euch, sie trägt blonde Zöpfe! / Und schlingt darum ein weißes Band. / Ein blaues Aug, ein deutscher Schädel, / der Jugend Anmut im Gesicht / ein gut gewachsen rheinisch Mädel – / und ficht, als wie der Teufel ficht.16

Schon 1928 gab es erste Hinweise, dass die jüdische Fechterin im weite-ren Verlauf ihres Lebens mit vielen Hindernissen zu kämpfen haben sollte.17 So beantwortete der Direktor der Schillerschule, Dr. Klaudius Bojunga, den Brief eines Herrn Professor Schneider aus Dresden, der eine genaue Auskunft über die »rassische Abstammung« der Schülerin Helene Mayer wünschte, mit folgendem Wortlaut:

Auf Ihre Anfrage kann ich Ihnen antworten, dass Helene Mayer israeliti-scher Religion ist. Den wissbegierigen Schülern können Sie dabei vielleicht zugleich mitteilen, dass die Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft für die Rassenzugehörigkeit wenig besagt, denn ein Blick auf ein Bild Hele-ne Mayers zeigt jedem Kenner ja sofort, wie die Verhältnisse da liegen. Wie bei Rassenmischung so manchmal, mendelt sie eben völlig nach der arischen Seite.18

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 jedoch kamen die NS-Rassenfana-tiker auf den Plan. Wegen ihres jüdischen Vaters wurde Helene Mayer von ihrem »Fechtclub Offenbach von 1863« ausgeschlossen. Ebenso wurde ihr aus rassischen Gründen das Stipendium des Deutschen Aka-demischen Austauschdienstes gestrichen, mit dem sie am renommierten Scripps College in Claremont, Kalifornien, studierte, um sich auf den diplomatischen Dienst vorzubereiten.

Rechtzeitig vor einem Boykott der Berliner Spiele erinnerten sich die Nationalsozialisten an die Vorzeigefechterin. Sie fragten bei Helene

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 7: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

190 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Mayer in den USA an, ob sie nicht für Deutschland starten wolle. Mayer nahm für kurze Zeit wieder ihre deutsche Reichsangehörigkeit an, zumal ihre Mutter ihr in einem Telegramm mitgeteilt hatte, dass sie ebenso wie ihre Brüder im Besitz der deutschen Staatsbürgerrechte seien.

In Berlin gewann Helene Mayer die Silbermedaille, zeigte bei der Sie-gerehrung im Olympiastadion den »deutschen Gruß« und wurde von Hitler in der Reichskanzlei empfangen.

Ihr wurde auch die fragwürdige Ehre zuteil, im Band Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen gewürdigt worden zu sein. Dort heißt es unter anderem zu den Florettkämpfen der Frauen:

Zwischen der besten europäischen Klasse der Fechter und der der übersee-ischen Nationen besteht ein beträchtlicher Unterschied. In dieser Feststel-lung mag die Ursache dafür liegen, dass Helene Mayer ihren olympischen Sieg von 1928 nicht wiederholen konnte. (…) Helene Mayer kannte ihre europäischen Gegnerinnen nicht. Sie ließ sich durch die naturalistische Fechtweise der späteren Olympiasiegerin Elek-Schacherer, Ungarn, irritie-

16 Helene Mayer auf dem Siegertreppchen.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 8: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Gretel Bergmann: Trotz Rekord ausgeschlossen 191

ren. Dessen ungeachtet hat Helene Mayer großartig gekämpft und ihr Bestes gegeben. Vielleicht wäre ihr der große Wurf doch wieder gelungen, hätte sie nicht im entscheidenden Gefecht gegen Ellen Preis durch deren ungestüme Angriffe eine schmerzhafte Prellung erlitten. So blieb ihr nur der eine Erfolg, die Siegerin von 1932, Ellen Preis-Österreich, auf den dritten Platz verwie-sen zu haben.19

1940 kehrte Helene Mayer in die USA zurück.

Gretel Bergmann: Trotz Rekord ausgeschlossen

Eine weitere Alibifunktion hätte nach NS-Vorstellungen die Hochsprin-gerin Gretel Bergmann erfüllen sollen. Sie hatte 1931 bei den Süddeut-schen Meisterschaften im Hochsprung mit 1,51 Metern einen deutschen Rekord aufgestellt. Im April 1933 wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus ihrem Sportverein ausgeschlossen. Daraufhin verließ sie Deutschland und nahm 1934 an den britischen Meisterschaften teil. Dabei gewann sie den Hochsprung mit 1,55 Metern. Vor dem Hinter-grund eines drohenden Boykotts der Olympischen Spiele zwangen die Nationalsozialisten die Sportlerin zur Rückkehr nach Deutschland; andernfalls wäre ihre Familie Repressalien zum Opfer gefallen. Berg-mann siegte bei den Vorbereitungswettkämpfen mit deutschem Rekord, doch wurde ihr kurz vor den Olympischen Spielen mitgeteilt, dass sie wegen unbeständiger Leistungen nicht in die deutsche Olympiamann-schaft aufgenommen werden könne. Diesen Bescheid erhielt sie wohl-weislich erst, nachdem das amerikanische Olympiateam die USA verlas-sen hatte.

Rudi Ball: Von den Nationalsozialisten »vergessen«

In Zusammenhang mit den Olympischen Spielen von 1936 ist auch der 1910 in Berlin geborene Eishockeyspieler Rudi Ball zu nennen. Bei den Olympischen Winterspielen war er der einzige »Mischling«. Von 1928 bis 1933 und von 1936 bis 1944 hatte der populäre Sportler für den EC Berlin gespielt, zwischenzeitlich, 1933/34, für den EHC St. Moritz.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 9: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

192 Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Zwischen 1929 und 1938 spielte er 49-mal für die Deutsche Eishockey-Nationalmannschaft und erzielte dort 19 seiner insgesamt über 500 Tore. 1933 war er zunächst aus Deutschland emigriert, kehrte aber 1936 zurück, zumal auch seiner Familie die Erlaubnis zur Ausreise aus Deutschland versprochen worden war. Aufgrund seiner jüdischen Her-kunft wurde ihm zunächst 1936 die Teilnahme an den Olympischen Spielen untersagt. Da er allerdings zusammen mit dem Spieler Gustav Jaenecke für die deutsche Nationalmannschaft unverzichtbar war und Jaenecke sich weigerte, ohne seinen besten Freund zu spielen, durfte Ball als einziger männlicher deutsch-jüdischer Athlet an den Spielen von 1936 teilnehmen. Zu seinen herausragenden Erfolgen zählen u. a.: die Bronzemedaille bei den Olympischen Winterspielen 1932, die Sil-bermedaille bei der Eishockey-Weltmeisterschaft 1930, die Goldme-daille bei der Eishockey-Europameisterschaft 1930, die Bronzemedaille bei der Eishockey-Weltmeisterschaft 1932, die Bronzemedaille bei der Eishockey-Europameisterschaft 1936 und Eishockey-Europameister-schaft 1938. Zwischen 1928 und 1944 war er 8-mal Deutscher Meister.

Trotz dieser überwältigenden Bilanz hatte ihn die Partei-Kanzlei der NSDAP nicht aus den Augen gelassen und wandte sich deshalb 1943 an das Propagandaministerium. Walter Tießler erinnerte am 5. Februar 1943 in einer Vorlage daran, dass Rudi Ball noch immer auf dem Eis zu finden war:

Im Berliner Eissport ist seit der Olympiade der Mischling 1. Grades, Rudi Ball, als Eishockeyspieler tätig. Aufgrund einer vom Führer damals getroffe-nen Sonderreglung, die sich im besonderen auf Helene Mayer bezog, erhielt Rudi Ball durch die Partei-Kanzlei bzw. damals durch den Stellvertreter des Führers die Genehmigung, bei der Olympiade zu starten. Rudi Ball war sicherlich zur Zeit der Olympiade einer der besten Eishockeyspieler.

Nachdem der Führer entschieden hat, dass Mischlinge 1. Grades aus der Wehrmacht zu entfernen sind, von Rudi Ball jedoch nicht gesagt werden kann, dass für ihn eine ausdrückliche Ausnahmegenehmigung des Führers vorliegt, bittet mich das Propagandaministerium, die Angelegenheit der Partei-Kanzlei vorzulegen, damit Rudi Ball nunmehr aus dem deutschen Sport entfernt wird.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM

Page 10: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Hitlers Alibi-Juden bei den Olympischen Spielen in Berlin

Rudi Ball: Von den Nationalsozialisten »vergessen« 193

Die Reichssportführung, die in dieser Sache befragt wurde, teilt mit, dass sie in der Angelegenheit nichts tun könnte, da die oben genannten Voraus-setzungen bestehen.

Das Propagandaministerium ist der Meinung, dass aufgrund der inzwi-schen vor sich gegangenen Entwicklung Ausnahmebestimmungen, die damals gerechtfertigt und nützlich waren, heute – im Besonderen aufgrund der immer sichtbarer werdenden Tätigkeit des Weltjudentums – überholt sind. Ich bitte um die Stellungnahme der Partei-Kanzlei. Meinerseits halte ich es ebenfalls für richtig, dass ein Mischling 1. Grades aus dem deutschen Sport entfernt wird.20

Tießler reagierte gereizt und kritisierte am 5. April 1943 erneut, dass Rudi Ball weiterhin als Eishockeyspieler auflaufen durfte.21 Das Propa-gandaministerium wäre für einen Bescheid der Partei-Kanzlei dankbar, schrieb er. Kurz darauf entschied Bormann:

Nach eingehender Überprüfung Ihrer Vorlage vom 5.2.1943 teile ich Ihnen im Einvernehmen mit unserer Abteilung III mit, dass die Partei-Kanzlei vollkommen mit Ihrer Ansicht einig geht und gegen eine Entfernung des Rudi Ball aus dem deutschen Sport nichts einzuwenden hat.22

Ball überlebte diese »Entfernung« und emigrierte 1948 nach Südafrika.Nach den Olympischen Spielen war übrigens auch Theodor Lewald

für das nationalsozialistische Regime nicht mehr von Nutzen. Nun wurde ihm seine jüdische Herkunft zum Verhängnis. Er wurde zwar noch als Vizepräsident des IOC vorgeschlagen, musste sich aber auf Drängen Hitlers aus dem Komitee zurückziehen. Er lebte weiterhin in Berlin und zog nur während der Bombenangriffe auf Berlin für kurze Zeit nach Baden-Baden. Auch nach Beendigung seiner Karriere verfügte er über gute Kontakte und Einflüsse. Auf seinen Rat hin wurde Walter von Reichenau und nicht Hans von Tschammer und Osten als sein Nachfolger ins IOC berufen.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/1/14 4:54 PM