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298 Schlussbetrachtung 298 Schlussbetrachtung Schlussbetrachtung Es ist erschütternd zu sehen, welche Energie die Nationalsozialisten auf- boten, um ihre Rassenpolitik umzusetzen, von dem krankhaften Wahn getrieben, die Bevölkerung in unzählige Kategorien einteilen zu müssen. Die Verworrenheit und totale Absurdität bei der Einordnung der Menschen nach Blut und Blutanteilen wird immer wieder überdeutlich. Die Frage nach dem Warum lässt sich aber heute genauso wenig beant- worten wie damals. Antisemitismus war in der ersten Hälfte des vergan- genen Jahrhunderts nicht nur in Deutschland weit verbreitetet, reicht aber nicht zur Begründung des Rassenwahns aus – eines Wahns, in dem es mit Ausnahme weniger Mächtiger nur Verlierer geben konnte. Mit einem enormen Aufwand mussten Abstammungsunterlagen beschafft werden, die – wenn es nach Himmler gegangen wäre – bis 1650 zurück- reichen sollten, also bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Nach dem erhofften siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs hätte jeder Deutsche – und dann irgendwann wohl auch jeder Bewohner in besetzten und annektierten Gebieten – in Augenschein genommen werden sollen. Wie in jeder Diktatur kümmerten sich die Mächtigen nicht oder nur in geringem Maße um die von ihnen erlassenen Gesetze und Auslesebe- stimmungen. Die meisten von ihnen hätten die selbst gesetzten Krite- rien nicht erfüllt. Sie alle wären in irgendeiner Form »Mischling« oder zumindest »jüdisch versippt« gewesen. Erschütternd ist nicht nur das Schicksal der Betroffenen, nicht nur die Willkür, mit der die Nationalsozialisten vorgingen. Ebenso bestür- zend ist es, dass fast 80 Millionen Deutsche sich nicht gegen den Rassen- wahn auflehnten, sondern stillschweigend oder aktiv zu Helfershelfern des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden. Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/2/14 4:07 PM

"Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Schlussbetrachtung

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Page 1: "Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Schlussbetrachtung

298 Schlussbetrachtung298 Schlussbetrachtung

Schlussbetrachtung

Es ist erschütternd zu sehen, welche Energie die Nationalsozialisten auf-boten, um ihre Rassenpolitik umzusetzen, von dem krankhaften Wahn getrieben, die Bevölkerung in unzählige Kategorien einteilen zu müssen.

Die Verworrenheit und totale Absurdität bei der Einordnung der Menschen nach Blut und Blutanteilen wird immer wieder überdeutlich. Die Frage nach dem Warum lässt sich aber heute genauso wenig beant-worten wie damals. Antisemitismus war in der ersten Hälfte des vergan-genen Jahrhunderts nicht nur in Deutschland weit verbreitetet, reicht aber nicht zur Begründung des Rassenwahns aus – eines Wahns, in dem es mit Ausnahme weniger Mächtiger nur Verlierer geben konnte. Mit einem enormen Aufwand mussten Abstammungsunterlagen beschafft werden, die – wenn es nach Himmler gegangen wäre – bis 1650 zurück-reichen sollten, also bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Nach dem erhofften siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs hätte jeder Deutsche – und dann irgendwann wohl auch jeder Bewohner in besetzten und annektierten Gebieten – in Augenschein genommen werden sollen.

Wie in jeder Diktatur kümmerten sich die Mächtigen nicht oder nur in geringem Maße um die von ihnen erlassenen Gesetze und Auslesebe-stimmungen. Die meisten von ihnen hätten die selbst gesetzten Krite-rien nicht erfüllt. Sie alle wären in irgendeiner Form »Mischling« oder zumindest »jüdisch versippt« gewesen.

Erschütternd ist nicht nur das Schicksal der Betroffenen, nicht nur die Willkür, mit der die Nationalsozialisten vorgingen. Ebenso bestür-zend ist es, dass fast 80 Millionen Deutsche sich nicht gegen den Rassen-wahn auflehnten, sondern stillschweigend oder aktiv zu Helfershelfern des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden.

Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35Download Date | 6/2/14 4:07 PM