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WAS IST MATERIE? ZWEI AUFSÄTZE ZUR NATURPHILOSOPHIE

Weyl H. Was Ist Materie

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Page 1: Weyl H. Was Ist Materie

WAS IST MATERIE?

ZWEI AUFSÄTZEZUR NATURPHILOSOPHIE

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Vorwort.Diese Sonderausgabe zweier von mir zuerst in den Natur-

wissenschaften (12. Jahrgang, 1924) veröffentlichten Aufsätze ver-dankt ihre Entstehung einer Anregung von Herrn Dr. BERLINER,des verdienten Herausgebers jener den Kontakt zwischen allenNaturwissenschaften aufrechterhaltenden Zeitschrift. Sie sindhier durch einige Zusätze im Text und angefügte Erläuterungenergänzt worden. Ursprünglich hervorgegangen aus meiner Be-schäftigung mit der Relativitätstheorie, wenden sie sich an einenbreiteren Kreis als die systematische Darstellung in dem Buche,,Raum Zeit Materie“ (5. Aufl., Berlin: Julius Springer 1923) :sie sollen Botendienste tun von der Physik zu den übrigen Natur-wissenschaften, vor allem aber von der Physik zur Philosophie.Es liegt ihnen die Tendenz zugrunde, die physikalische Erkenntnisphilosophisch ernst zu nehmen, wie es DESCARTES oder KANT getanhaben. Zwar mögen bei der großen methodischen Geschlossenheitder gegenwärtigen Physik die hier erörterten Fragen für sieselber nur von sekundärem Belang sein; sie wirken weniger indie Physik hinein als aus der Physik heraus auf das Bild desKosmos, das in unser gesamtes ,geistiges Leben eingeht. - EinBedenken kann ich nicht verschweigen: es ist vielleicht geradeheute besonders verfrüht, über das Wesen der Materie zu reden,wo die Quantentheorie, von welcher wir entscheidende Auf-klärung erhoffen, zwar die physikalische Forschungsarbeit be-herrscht, aber ihr Geheimnis noch immer in fest verschlossenerSchale hält. So mache man sich auf weitere Wandlungen gefaßt!

Braunwald, August 1924.

H. WEYL.

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Inhaltsverzeichnis.Was ist Materie? . . . . . . . . . . .

I. Die Substanztheorie . . . . . .II. Masse, Energie und Impuls . . .

III. Die Feldtheorie . . . . . . . .IV. Die Materie als dynamisches Agens

Massenträgheit und Kosmos. Ein Dialog .I. Und sie bewegt sich doch! . . . .

II. Kosmologie . . . . . . . . . .Erläuterungen und Zusätze . . . . . .

Zu: Was ist Materie? . . . . . . .Zu: Massenträgheit und Kosmos . .

Seite

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Die eingeklammerten fetten Ziffern im Text verweisen auf die am Schlussehinzugefügten Erläuterungen und Zusätze.

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Was ist Materie?Nach den überaus glänzenden Ergebnissen, welche die experi-

mentierende Physik in enger Verbindung mit der Theorie in denletzten Dezennien gewonnen hat, kann an der atomistischen Kon-stitution der Naturkörper kein Zweifel mehr walten. Aber nichtvom Aufbau der Körper aus unteilbaren Elementarquanten, Elek-tronen und Atomkernen, soll hier in erster Linie die Rede sein,sondern unsere Frage zielt tiefer: was ist die ,,Materie“, aus denendiese letzten Einheiten selber bestehen? Seit altersher hat diePhilosophie darauf eine Antwort zu geben versucht. Der empi-risch-naturwissenschaftlichen Forschung liegt bewußt oder unbe-wußt eine bestimmte Vorstellung über das Wesen der Materiea priori zugrunde, und das Tatsachenwissen muß schon gewaltigin die Breite und Tiefe gewachsen sein, ehe es die Kraft gewinnt,von sich aus modifizierend auf diese Vorstellungen einzuwirken.Die historische Situation bringt es also mit sich, daß wir die For-mulierungen der Philosophen nicht außer acht lassen dürfen; istes doch unmöglich, in der älteren Zeit Philosophie und Physiküberhaupt voneinander zu trennen, während in späteren Epochendie Empiriker selten bemüht waren, die Grundanschauungenschärfer zu fassen, von denen aus sie ihre durch das Experimentzu beantwortenden Fragen an die Natur stellten. Doch soll ver-sucht werden, von dem heute in Mathematik und Physik ge-wonnenen Standpunkte aus die alten philosophischen Lehrenpräziser auszudeuten. Im übrigen kommt es uns mehr auf dieSache als auf ihre Geschichte an; um so berechtigter erscheint mirda eine solche nicht objektive, sondern von dem historischen Augen-punkt der Gegenwart retrospektive Geschichtsbetrachtung.

1. Die Substanztheorie.Was ist Materie? KANT antwortet darauf (Kritik der reinen

Vernunft, 1. Auflage) mit der ,,ersten Analogie der Erfahrung“,

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2 Was ist Materie?

dem ,,Grundsatz der Beharrlichkeit“: ,,Alle Erscheinungen ent-halten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst unddas Wandelbare als dessen Bestimmung, das ist eine Art, wie derGegenstand existiert.“ Es ist offenbar die ontologische Kategorieder Substanz, das in der logischen Sphäre sich als die Gegenüber-stellung von Subjekt und Prädikat wiederspiegelnde Verhältnisvon Substanz und Akzidenz, welches hier in die Erscheinungs-wirklichkeit hineingetragen wird. Aus den Erläuterungen gehtklar hervor, daß KANT die physikalische Materie als die beharrendeSubstanz anspricht und nicht etwa wie bei ARISTOTELES undSPINOZA ein metaphysisches Prinzip jenseits der erfahrbarenAußenwelt in Frage steht, das über den Unterschied von geistigund körperlich-ausgedehnt erhaben ist (1). So heißt es : ,,EinPhilosoph wurde gefragt : ,Wieviel wiegt der Rauch?‘ Er ant-wortete: ,Ziehe von dem Gewichte des verbrannten Holzes dasGewicht der übrigbleibenden Asche ab, so hast du das Gewicht desRauches.‘ Er setzte also als unwidersprechlich voraus: daß selbstim Feuer die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur dieForm derselben eine Abänderung erleide.“ Die Substanz tritt hiergleich dem ,,steinernen Gast“, vom Jenseits gesandt, körperlich-leibhaftig unter die heitere, im Schmuck der Qualitäten prangendeTafelrunde der Wirklichkeit. Der innere Grund für die Notwendig-keit der Substanz liegt für KANT darin, daß die selbst nicht wahr-nehmbare bleibende Zeit, in der aller Wechsel der Erscheinungengedacht werden soll, in den Gegenständen der Wahrnehmungrepräsentiert sein muß durch etwas, das im Laufe der Zeit mit sichselber identisch bleibt : ,,den stetig fortbestehenden Körper“, wieLOCKEN) sagt, ,, der in jedem Zeitpunkt des Daseins derselbe mitsich selbst ist.” Daran hängt der Begriff der Bewegung. Denndies ist in der Tat der wesentliche Zug des Substanzbegriffes: essoll einen objektiven Sinn haben, von derselben Substanzstelle zuverschiedenen Zeiten zu sprechen; oder anders ausgedrückt, es sollprinzipiell möglich sein, dieselbe Substanzstelle im Laufe der Ge-schichte eines Körpersystems immer wiederzuerkennen. Zur natur-wissenschaftlichen Definition des Substanzbegriffes gehört alsodie Angabe von exakten Methoden, durch welche in praxi Sub-stanzstellen im Fluß der Bewegung festgehalten werden können.

l) Essay concerning human understanding, 2. Buch, Kap. 27, 5 3.

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Die Substanztheorie. 3

Solange nur feste Körper in Frage kommen, die durch mechanischeMittel in Stücke getrennt oder aus Stücken zusammengeleimt wer-den, bietet das keine ernstliche Schwierigkeit; bei strömendemWasser muß man schon zu indirekten Mitteln, einem hineinge-worfenen Strohhalm etwa, seine Zuflucht nehmen; bei chemischenUmsetzungen endlich handelt es sich nur noch um eine durchWahrnehmungen nicht zu kontrollierende Hypothese.

Um den zeitlichen Ablauf graphisch darstellen zu können, be-trachten wir lediglich die Vorgänge in einer (horizontalen) Ebene Eund zeichnen eine zu E senkrechte Zeitachse t. Jedes ,,Hier-jetzt“,jeder Raumzeitpunkt wird in diesem Bilde dargestellt durch einenPunkt, dessen t-Ordinate den Zeitmoment, dessen senkrechte Pro-jektion auf die Grundebene E den Ort auf E kennzeichnet. DieGeschichte einer Substanzstelle findet ihren Ausdruck durch ihren,,graphischen Fahrplan“, eine in Richtung der t-Achse monotonansteigende Weltlinie; auf ihr liegen die Raumzeitpunkte, welchevon der Substanzstelle nacheinander passiert werden. Die Hori-zontalebene t = const. = t, repräsentiert den Zustand der Ebene Ezur Zeit t,. Auf jedem solchen Horizontalschnitt kann ich denOrt des Substanzpunktes zu der betreffenden Zeit ablesen, wenndessen Weltlinie in die Abbildung eingetragen ist. Ist E konti-nuierlich und lückenlos mit Substanz bedeckt, so erscheint alsodas von unserem Bildraum wiedergegebene dreidimensionaleRaum-Zeitkontinuum aufgelöst in eine stetige Mannigfaltigkeitvon oo2 Weltlinien. In der Wirklichkeit erhöhen sich die Dimen-sionszahlen um 1: jedes Element der dreidimensional ausgedehntenSubstanz beschreibt eine Weltlinie in dem vierdimensionalenRaum-Zeitkontinuum. Das ist die Ausdrucksweise, welche sichdurch die Relativitätstheorie in ihrer von MINKOWSKI herrühren-den ,,weltgeometrischen“ Fassung eingebürgert hat; so heißt esbei MINKOWSKI~) in seinem Vortrag ,,Raum und Zeit“ : ,,Die ganzeWelt erscheint aufgelöst in solche Weltlinien, und ich möchte so-gleich vorwegnehmen, daß meiner Meinung nach die physikali-schen Gesetze ihren vollkommensten Ausdruck als Wechselbezie-hungen unter diesen Weltlinien finden dürften.” Das ist in klarenWorten das Programm einer von der Substanzvorstellung be-herrschten Physik. Wo immer in der Physik ein substantielles

1) Werke, Bd. 2, S. 432.

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Medium hypothetisch als ,,Träger“ gewisser Erscheinungen ein-geführt wurde, z. B. der Äther der mechanischen Lichttheorie, wardies das Wesentliche; es wurde dadurch die Möglichkeit objek-tiver Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung eines Körpersrelativ zu jenem Medium gewonnen. Und nur in dieser substan-tiellen Fassung wurde, beiläufig gesagt, die Hypothese des Licht-äthers durch die spezielle Relativitätstheorie bzw. durch die ihrzugrundeliegenden Erfahrungstatsachen widerlegt.

KANT nimmt an der zitierten Stelle aber die Unveränderlich-keit der Materie nicht nur in dem eben erörterten Sinne an, daßdie Substanzstellen etwas sind, was im Laufe des Weltprozesses,,durchhält”, sondern er setzt weiter voraus, daß ein beliebigesStück der dreidimensionalen Substanz als ein Quantum sich messenlasse. Besonders deutlich zeigt sich das in der Formulierung,welche der Grundsatz der Beharrlichkeit in der 2. Auflage derKritik erhält: ,,Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt dieSubstanz, und das Quantum derselben wird in der Natur wedervermehrt noch vermindert.“ Endlich wird laut dem angeführtenBeispiel das Gewicht zur Menge proportional gesetzt, ohne daßdas Prinzip, nach welchem Materie gemessen werden soll, gekenn-zeichnet wäre. In dieser Form hat LAVOISIER bekanntlich denGrundsatz von der Unzerstörbarkeit des Stoffes in die Chemieeingeführt; und nach einer oben gemachten Bemerkung ist ja imFalle der chemischen Umsetzung in der Tat die Erhaltung dereinzelnen Substanzstelle nicht mehr kontrollierbar, sondern ledig-lich die Erhaltung der Gesamtmasse (ihres Gewichts). Es istdarum wohl ganz im Sinne KANTS, wenn HOLLEMANN in seinembekannten ,,Lehrbuch der anorganischen Chemie“ (ich zitiere die2. Auflage der deutschen Ausgabe 1903, welche ich als Studentbenutzte; die neueren kenne ich nicht mehr), nachdem er dasPrinzip an einigen Beispielen der Gewichtsanalyse illustriert hat,hinzufügt : ,,Die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Ent-stehens und Vergehens der Materie war bereits bei den griechischenPhilosophen fest eingewurzelt; sie ist durch alle Zeiten die Basisphilosophischen Denkens gewesen . . . Die Erkenntnistheorie lehrt,daß die Unvergänglichkeit des Stoffes eine von unserem Denkengebildete Voraussetzung ist; nichts ist unrichtiger als zu meinen,das Prinzip sei aus experimentellen Versuchen hergeleitet worden.“Mit dem Begriff des Substanzquantums steht KANT offenbar unter

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Die Substanztheorie. sdem Einfluß der Galilei-Newtonschen Mechanik, welche die Massefreilich nicht als Maß für eine Menge Materie, sondern als einendynamischen Koeffizienten verwendet. Aus anderen Stellen istersichtlich, daß für KANT die Dichte eine stetiger Abstufungenfähige intensive Größe ist - Intensität der Raumerfüllung durchdas Widerspiel anziehender und abstoßender Kräfte.

In den älteren Formen der Substanztheorie wird konsequenterals Maß der Materie das Volumen des von ihr eingenommenenRaumes angesetzt; den Unterschied in der Dichtigkeit der ver-schiedenen Körper erklärt sie durch das von Körper zu Körperwechselnde Verhältnis zwischen erfülltem und leerem Raum. Dennes ist eine von Anfang an mit der Idee der Substanz verknüpfteVorstellung, daß sie eine sei, keine inneren qualitativen Unter-schiede zulasse; daß überhaupt alle Qualitäten nur subjektivenCharakter besitzen und allein aus der Form und Bewegung derSubstanzquanten und ihrer Wirkung auf unsere Sinne zu erklärensind. So heißt es schon bei DEMOKRIT, der zuerst den Begriff desStoffes als die Grundlage der Naturerkenntnis aufstellte: ,,Nurin der Meinung besteht das Süße, in der Meinung das Bittere, inder Meinung das Kalte, das Warme, die Farbe.“ Und bei GALILEIfindet man Äußerungen1), die besagen: Weiß oder rot, bitter odersüß, tönend oder stumm, wohl- oder übelriechend sind Namenfür Wirkungen auf die Sinnesorgane . . . Die Verschiedenheit,welche ein Körper in seiner Erscheinung darbietet, beruht aufbloßer Umlagerung der Teile ohne irgendwelche Neuentstehungoder Vernichtung . . . Die Materie ist unveränderlich und immerdieselbe, da sie eine ewige und notwendige Art des Seins vor-stellt. - In großartiger Abstraktion vom Sinnenscheine setztDEMOKRIT als die einzige Unterscheidung, aus welcher alle Mannig-faltigkeit entspringt, den absoluten Gegensatz des ,,Leeren“ unddes ,,Vollen“ - das ,u+ öv des leeren Raumes gegenüber demnaprlrlg~s öv der Materie. Dieser Unterschied läßt sich nicht mehrqualitativ charakterisieren, er muß einfach als das letzte Er-klärungsprinzip der Erscheinungen hingenommen werden. Hiernoch fragen, was das Volle sei, und sich, weil keine Antwort er-folgt, etwa darüber beklagen, daß wir das Innere der Dinge garnicht einsähen, ist, mit KANT zu reden, eine bloße Grille; es ist

l) I m ,,Saggiatore”, z. B. Op. 11, S. 340.

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eine absurde Forderung, daß in einer ,,intellektuellen Anschau-ung“ gegeben werde, was doch als das nichtanschauliche Funda-ment der angeschauten Erscheinungswelt gesetzt wurde.

Offenbar muß die Materie atomistisch konstituiert, der Raumkann nicht lückenlos erfüllt sein, wenn die verschiedene Dichteder Körper auf die angegebene Weise erklärt werden soll. Dasist ein Motiv, warum der Substanzbegriff von jeher zur Atomistikgeführt hat; andere Grunde sollen später im Zusammenhangemit dem Kontinuumproblem gestreift werden1). Ganz zwingendkommt man zum Atombegriff, wenn man sich die Frage stellt,wie die Wiedererkennung desselben Substanzpunktes zu verschie-denen Zeiten in einer homogenen qualitätslosen Substanz über-haupt möglich ist. Erfüllt die Materie den Raum kontinuierlich,so ist das in der Tat ebensogut unmöglich, wie es nach dem Grund-gedanken der Relativitätstheorie unmöglich ist, im homogenenMedium des Raumes denselben Raumpunkt festzuhalten. Be-steht die Materie aber aus einzelnen Atomen, und setzen wir weitervoraus, daß die Atome sich stetig bewegen und sich niemals gegen-seitig durchdringen, so können wir ein Atom durch den Bewegungs-prozeß der Materie hindurch verfolgen, selbst wenn die Atome alleuntereinander gleichartig sind, insbesondere alle dieselbe Gestaltbesitzen. Denn fassen wir in einem Augenblick t ein Atom Ains Auge, so gibt es in einem hinreichend wenig späteren Augen-blick t + A t ein einziges Atom A’, welches ein Raumgebiet g’einnimmt, das um weniger als ein beliebig vorgegebenes Maßabweicht von demjenigen Raumgebiet g, welches das Atom Azur Zeit t besetzt hielt : dieses A’ zur Zeit t + At ist dasselbeAtom wie A zur Zeit t. Es mag auf den ersten Blick so scheinen,als drehten wir uns in einem logischen Zirkel, da hier die Wieder-erkennung des Atoms A zur Zeit t + A t darauf gegründet wird,daß wir das Raumgebiet g in die Zeit t + At verpflanzen und mitdem vom Atom in diesem späteren Moment eingenommenen Raum-stück g’ vergleichen; es ist äber klar, daß es hier nicht erforderlichist, Raumpunkte und Raumstücke während der Zeit A t identisch

l) In des LUCRETIUS Lehrgedicht de rerum natura tritt ein Argument fürdie Atomistik auf, das an den in neueren kosmologischen Betrachtungeneine große Rolle spielenden ,,Verödungseinwand” EINSTEINS gegen denunendlichen Raum anklingt: Alles löst sich leichter auf, als es sich bildet;darum müßte ohne Atome die Materie längst zerfallen sein.

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festhalten zu können, sondern daß es nur auf den stetigen Zu-sammenhang der Raumzeitpunkte ankommt ; dieser freilich istunerläßliche Voraussetzung. Man übersieht das am besten imvierdimensionalen Raum - Zeit - Bild ; das Weltgebiet, das einAtom überstreicht, erscheint hier als substanzführende ,,Röhre“von eindimensional unendlicher Erstreckung (2). Das Verfahrenbleibt brauchbar, wenn sich die Atome während ihrer stetigenBewegung stetig deformieren ; nur darf die Ausdehnung einesAtoms niemals unter jede Grenze herabsinken. Hingegen mußpostuliert werden, daß auch in der Berührung zwei Atome nichtzu einem einzigen Kontinuum miteinander verschmelzen1) ; sonstwäre z. B. für zwei Atome von der Gestalt gleich großer Halb-kugeln, die sich mit ihren ebenen Begrenzungen aneinander legenund nach einiger Zeit wieder trennen, die Identität nach der Tren-nung unmöglich festzustellen. Das einzelne Atom aber ist un-teilbar; d. h. das Raumgebiet, welches es einnimmt, ist ein ein-ziges zusammenhängendes Kontinuum. Zu beachten ist ferner,daß die Identität im Laufe der Zeit wohl für die einzelnen Atomegewährleistet ist, nicht aber für die einzelnen Stellen innerhalbeines Atoms, obschon es räumlich ausgedehnt ist. Insbesondereist es für ein kugelförmiges Atom unsinnig zu fragen, ob es einerein translatorische Bewegung ausführt, oder ob mit der Trans-lation eine Drehung um seinen Mittelpunkt verbunden sei. -Unser Prinzip gründet die Unverwechselbarkeit der Atome bloßdarauf, daß sie getrennte Individuen sind, nicht aber auf Unter-schiede der Qualitäten. Für die Ausbildung des Stoffbegriffes istgewiß auf der einen Seite die logisch-metaphysische Kategorie

l) Es ist das ein gelegentlicher Einwand des ARISTOTELES, welcher fragt,warum zwei Atome in der Berührung nicht miteinander verschmelzen wiezwei Wassermassen, die zusammentreffen. Die heutige punktmengen-theo-retische Analysis wird diesem Unterschied zwischen zwei sich berührendenKontinuen und dem kleinsten, sie beide umfassenden Kontinuum kaum ge-recht; es sind aber von BROUWER und dem Verf. die Grundlagen einer mitdem anschaulichen Wesen des Kontinuums in besserem Einklang stehendenAnalysis entworfen worden, in welcher der alte Grundsatz zu seinem Rechtekommt, daß ,,sich nur trennen läßt, was schon getrennt ist“ (GASSENDI).In physikalischer Hinsicht ist es auch für uns heute noch ein Problem, wiees kommt, daß Elektron und Proton, das Atom der negativen und der posi-tiven Elektrizität nicht, der elektrischen Anziehung folgend, zusammen-stürzen zu einem neutralen Elementarkörper. Die Antwort darauf erwartenwir von der Dynamik; vgl. Abschn. 111 und IV.

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der Substanz (des Subjektes, von welchem die Aussagen über dieErscheinungswelt handeln) maßgebend gewesen, auf der anderenSeite die der Erfahrung sich aufdrängende Existenz zahlreicherin ihren Eigenschaften beständiger Körper, auf welche sich dasHandeln des Menschen vor allem stützt. Aber hier scheint mirdurchzublicken, daß der letzte Grund, vielleicht auch für den onto-logischen Substanzbegriff selber, in der inneren Gewißheit desmit sich selbst identischen individuellen Ich liegt, nach dessenAnalogie die Welt gedeutet wird1).

In DEMOKRITS ~ocj.+$es OV liegt schon die Undurchdringlich-keit der Atome ausgesprochen, die Tatsache, daß die Raumgebiete,welche von zwei Atomen eingenommen werden, sich niemals über-decken. Darüber hinaus wird ihnen auch, wennschon die Indivi-duation nach einer obigen Bemerkung die Deformierbarkeit nichtausschlösse, im Namen der Unveränderlichkeit der Substanz eineunveränderliche Gestalt, Starrheit, zugeschrieben : das Raumgebiet,welches ein Atom einnimmt, soll im Laufe der Zeit beständig zusich selbst kongruent bleiben (diese Voraussetzung schließt natür-lich die Unteilbarkeit ein). Dadurch gewinnt die an sich reinideelle geometrische Beziehung der Kongruenz von Raumstückenreale Bedeutung. In den Eigenschaften der Ausdehunng undUndurchdringlichkeit bewährt die Materie ihre Realität, darin,daß sie aus mit sich selbst identisch bleibenden starren Individuenbesteht, ihre Substantialität. Solidität, unter welchem NamenUndurchdringlichkeit und Starrheit zusammengefaßt werden, istnamentlich von GASSENDI, dem Erneuerer der Atomistik inner-halb der abendländischen Kultur, und LOCKE scharf als das Grund-wesen der Materie hingestellt worden; im Gegensatz zu DES-CARTES, in dessen Korpuskulartheorie die Elementarkörper sichgegenseitig deformieren, abschleifen und zerreiben. Dabei darfdie Solidität nicht sinnlich als Härte oder dynamisch als eine aufgegenseitigen Kräften der Substanzstellen beruhende Festigkeitgegen Zerbrechen und als Widerstand umgedeutet werden. Son-dern sie ist abstrakt-geometrisch zu fassen, wie es hier geschah;die elastische Festigkeit der sichtbaren Körper hat diese absoluteEigenschaft der Atome zur Voraussetzung. Das ist der Stand-punkt, den HUYGHENS, der geometrisch-kinematisch und in

l) Vgl. dazu LOCKE, a. a. O.,Identität und Verschiedenheit.

das ganze 27. Kapitel des 2. Buches über

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Die Substanztheorie. 9

Prinzipien denkende Mechaniker, in seinem Briefwechsel mit demanschaulich-dynamisch denkenden Metaphysiker LEIBNIZ ver-tritt1). HUYGHENS spricht zwar selbst von einem Widerstandgegen das Brechen oder Zusammendrucken. Aber man darf dieum des lebendigeren Ausdrucks willen gewählten Termini nichtmißverstehen ; denn , man muß“, sagt er, ,,diesen Widerstand alsunendlich voraussetzen, weil es absurd erscheint, einen gewissenGrad desselben anzunehmen, etwa gleich dem des Diamanten oderdes Eisens; denn dazu könnte keine Ursache in einer Materie liegen,von der man ja nichts als die Ausdehnung voraussetzt . . . DieHypothese der unendlichen Festigkeit scheint mir daher sehr not-wendig, und ich begreife nicht, warum Sie dieselbe so befremdendfinden, als ob sie ein beständiges Wunder einführe“.

Mit der Solidität endet für die Substanztheorie die Aufstellungder Grundeigenschaften der Materie. Es ist jetzt weiter von derGestalt und Lage der Atome zu handeln und endlich von denGesetzen, nach denen sich die Materie bewegt. Hinsichtlich desersten Punktes ist die Substanztheorie vor ihrer Verschmelzungmit dynamischen Vorstellungen eigentlich niemals aus dem Sta-dium ungeprüfter Phantasien herausgetreten. Die ältere Atomi-stik hält sich da alle Möglichkeiten offen; denn aus der geometri-schen Verschiedenheit von Gestalt und Lagerung sucht sie diebunte Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen zu erklären.Insbesondere sind hakenförmige Ansätze und dergleichen beliebt,mittels deren sich die Atome verklammem sollen, wenn sie dennur mit Gewalt zu lösenden Verband eines festen Körpers bilden.Erst später, wo sich der Blick vom Geometrischen weg auf dieBewegung der Atome und deren Gesetzmäßigkeit zu richten be-ginnt, kann der Akzent stärker auf die Verschiedenheit der Be-wegungszustände fallen. Natürlich wird man a priori der Kugel-gestalt ob ihrer allseitigen Symmetrie den Vorzug geben und jeden-falls bei einer exakten Untersuchung zunächst einmal feststellenmüssen, wie weit man mit dieser Annahme in der Erklärung derErscheinungen kommt. Die Symmetrie der Kugel spricht sichmathematisch darin aus, daß es eine umfassende Gruppe vonkongruenten Abbildungen (Bewegungen) gibt, welche die Kugelin sich überführen, nämlich die COS Drehungen um den Mittel-

') LEIBNIZ: Mathematische Schriften, ed. Gerhardt 11, S. 139. - Imgleichen Sinne : LOCKE, a. a. O., 2. Buch, Kap. 4, namentlich § 4.

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punkt. Die ideale Lösung wäre eine solche Gestalt g des Atoms,daß gegenüber den g in sich selbst überführenden kongruentenAbbildungen alle Punkte des Atoms gleichberechtigt wären; d. h.es sollte möglich sein, durch derartige Abbildungen jeden Punktvon g in jeden anderen überzuführen. Dann stünde der Möglich-keit, ein Atom als Ganzes während seiner Bewegung zu verfolgen,die Unmöglichkeit gegenüber, dabei noch Teile des Atoms als mitsich selbst identisch bleibend festzuhalten. Ein endliches Raum-stück von der geforderten Beschaffenheit existiert aber nicht;die Kugel nähert sich dem Ideal wenigstens, soweit es möglich ist.Jede Bewegung des kugelförmigen Atoms kann als eine bloßeTranslation aufgefaßt, sie kann durch die Bewegung ihres Mittel-punktes vollständig gekennzeichnet werden.

Die Lagerung der Atome hat man sich in der älteren Zeitimmer als viel zu kompakt vorgestellt ; selbst die Ätheratome liegenbei HUYGHENS so dicht, daß sie sich gegenseitig berühren. DerAusdruck ,,Poren“ für den zwischen ihnen leerbleibenden Raumist bezeichnend. GASSENDI verwendet das Bild des Sand- oderWeizenhaufens. Er glaubte, daß beim Lösen des Steinsalzes inWasser durch die Salzatome die Poren zwischen den Wasser-atomen ausgefüllt werden, und war dann höchst überrascht, daßeine gesättigte Steinsalzlösung noch Alaun zu lösen imstande war.Da ARISTOTELES im Gegensatz zu den griechischen Atomistikerndie Möglichkeit des leeren Raumes bestritten hatte und seineAnsicht in der Scholastik zum philosophischen Dogma gewordenwar, kann es nicht wundernehmen, daß die ersten abendländischenDenker, welche den Gedanken des Atoms wieder aufgreifen, ohnedie Annahme eines Vakuums auszukommen bestrebt sind1). InGALILEIS Versuch wird der Begriff des Infinitesimalen auf dieräumliche Ausdehnung angewandt : unendlich kleine Atome er-füllen den Raum ,,überall dicht“, so daß kein Raumgebiet an-gegeben werden kann, welches von ihnen frei wäre; es besteht dieMöglichkeit von Verdünnung und Verdichtung, ohne daß irgendwoein Loch entsteht. GALILEI beruft sich zur Veranschaulichung auf

‘) Die Atomistik war als die Philosophie des ,,gottlosen“ EPIKUR imMittelalter - ebenso schon bei den Kirchenvätern - sittlich-religiös imhöchsten Maße anrüchig. Noch 1624 wurde sie in Paris, als sie in dem Kreisum GASSENDI schon lebhaft diskutiert wurde, durch Parlamentsbeschlußbei Todesstrafe verboten.

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Die Substanztheorie. 1 1

die ,,rota Aristotelis“ : Wird ein Rad auf einer horizontalen Ge-raden abgerollt, so erscheint jeder der konzentrischen kleinerenKreise zu einer gleichlangen horizontalen Geraden h ausgestreckt ;ersetzt man aber das Kreisraddurch ein reguläres Polygon vonvielen Seiten, so bilden dieStrecken auf h, in welche sukzes-sive die Seiten eines konzentri-schen Polygons hineinfallen, eineunterbrochene Linie. In einerstrengen Fassung dieses Gedan-

h

Abb. 1. Rota Aristotelis.

kens müßte man wohl die unendlich kleinen Atome ersetzen durcheine Menge von lauter endlich ausgedehnten Atomen, in welcheraber solche vorkommen, deren Ausdehnung unterhalb einer beliebigvorgegebenen Grenze liegt. Man kann z. B. einen Würfel miteiner unendlichen, durch einen bestimmten Konstruktionsprozeßerzeugten Reihe von Kugeln K,, K2, K3 . . . so erfüllen, daß dieKugeln sich nirgendwo überdecken und im Kubus kein noch sokleines kugelförmiges Gebiet k angegeben werden kann, in welchesdieselben nicht eindringen. Es ist dem mengentheoretisch ge-schulten Mathematiker ein Leichtes, die Kugeln der Serie K,, K,,K, . . . zu einer der gleichen Bedingung genügenden Erfüllungdes ganzen Raumes auseinanderzustreuen (unendliche Verdün-nung) (3). Angedeutet ist eine solche Fassung bei HUYGHENS.DESCARTES ringt mit der Vorstellung, daß die einzelnen Teilchender Materie, die auch bei ihm keine leeren Räume zwischen sichlassen sollen, in der Bewegung sich teilen müssen ins Unendliche,,oder wenigstens ins Unbestimmte (in indefinitum), und zwar inso viele Teile, daß man sich in Gedanken keinen so kleinen vor-stellen kann, von welchem man nicht einsähe, daß er tatsächlichnoch in viel kleinere geteilt ist“. Er wird nicht recht fertig damitund beruft sich schließlich auf die Unbegreiflichkeit der AllmachtGottes1). Diese Betrachtungen sind wichtig für die Mathematikals die Anfänge der Infinitesimalrechnung: hier müht sich derBegriff, den Übergang vom Diskreten zum Kontinuierlichen zufinden; physikalisch schlagen sie die Brücke von der Atomistikzu der im III. Teile zu besprechenden Fluidums- und Feldtheorie

l) Principia philosophiae, Teil 11, § 34.

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1 2 Was ist Materie?

der Materie. LEIBNIZ stellt sich vor, daß es ,,Welten in Weltenins Unendliche“ gibt. Eine solche Hierarchie der Systeme, wiesie CHARLIER~) ,,nach oben“ konstruiert, um den astronomischenParadoxien des unendlichen Raumes zu entgehen, wird hier auch,,nach unten“, nach der Seite des Unendlichkleinen hin gefordert.Etwas Ähnliches scheint (nach dem Zeugnis des ARISTOTELES)schon ANAXAGORAS gelehrt zu haben, der, soviel wir wissen, alserster das Infinitesimalprinzip ausgesprochen hat. Es ist sehrinstruktiv; damit die Ausführungen von PERRIN im Vorwortseines bekannten Buches über die Atome 2, zu vergleichen, wo eran der Küstenlinie der Bretagne oder an kolloidalen Flockenschildert, wie dasjenige, was bei einem Maßstab der Betrachtungals homogen erscheint, bei verfeinertem Maßstab sich immerwieder in ganz ungleichmäßig orientierte und beschaffene Teileauflöst ; ,, wir haben durchaus keinen Anhalt dafür, daß wir beimweiteren Vordringen endlich auf Homogeneität oder wenigstensauf Materie stoßen wurden, deren Eigenschaften regelmäßig voneinem Punkte zum anderen variieren“.

Eine mechanisch-atomistische Erklärung der Erscheinungen,durch welche alle Vorgänge auf Bewegung der Substanzteilchenzurückgeführt werden sollen, ist erst möglich, wenn die Bewegungs-gesetze der Atome bekannt sind. Es muß erstens festgestellt wer-den, wie sich ein Atom frei bewegt, wenn es nicht durch andereAtome an dem Eindringen in die ihm benachbarten Raumteilegehindert ist; und es muß zweitens bestimmt werden, wie dieAtome aufeinander , ,wirken’ ‘, d. h. wie sie ihre Bewegung modi-fizieren, wenn sie im Zustand der Berührung einander im Wegesind. Als freie Bewegung betrachtet DEMOKRIT den Fall ,,vonoben nach unten“; seit GALILEI tritt hier natürlich die gleich-förmige Translation zufolge des Trägheitsgesetzes an Stelle desFalles im Schwerefeld 3). GASSENDI glaubt, daß zufolge einesinneren Antriebes die Atome im ungehemmten Zustand eine be-stimmte große universelle Geschwindigkeit besitzen; die in der

l) Arkiv för Matern., Astron. ach Fysik Bd. 4, Nr. 24, lgo8. Vgl. auchdas Referat von BERNHEIMER in Naturwissenschaften Bd. 10, S. 481. 1922.

2) Übersetzung von A. LOTTERMOSER, Leipzig 1914, S. IX.3) Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß seit Aufstellung

der allgemeinen Relativitätstheorie eigentlich DEMOKRIT wieder recht be-kommt.

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Die Substanztheorie.

Natur beobachteten verschiedenen Geschwindigkeiten kommenebenso durch Mischung von Ruhe und Bewegung in wechselndemVerhältnis zustande wie die verschiedenen Dichten durch Mischungvon Leerem und Vollem. Bei jedem Stoß wird eine kürzere oderlängere Ruhepause eingeschaltet, während welcher der Antrieblatent ist. Hier ist also nicht ein Austausch der kinetischenEnergien möglich wie in der modernen Gastheorie, sondern nurein Austausch der Orte, Umlagerung. - Was das zweite betrifft,die Wirkung der Atome aufeinander, so geschieht sie nur durch,,Stoß“ ; und dieser wird nicht dynamisch aufgefaßt, sondern dieBehauptung meint lediglich, daß ein Atom, solange es nicht anandere stößt, den Gesetzen der freien Bewegung folgt, bei derBerührung aber die Bewegung unmittelbar nachher aus der Be-wegung unmittelbar vorher gesetzlich bestimmt ist. Währendden Atomen niemals die sinnlichen Qualitäten beigelegt wurden,welche wir an den Körpern unserer Außenwelt wahrnehmen, sinddie Vorstellungen über die Wirkung der Atome aufeinander beiden älteren Autoren durchweg ziemlich naiv nach Analogie grob-sinnlicher Erfahrungen gebildet und nicht in quantitativ präziseGesetze gefaßt. Erst HUYGHENS gelingt die Aufstellung der Prin-zipien: es sind die in der Tat für die ganze Physik fundamentalenErhaltungssätze für Impuls und Energie. In Verbindung mit derAnnahme, daß beim Stoß ein Impulsaustausch nur in der zur ge-meinsamen Berührungsebene der Atome senkrechten Richtung(Stoßrichtung) geschieht, determinieren sie die Bewegung ein-deutig. Dies sind zugleich die Gesetze des elastischen Stoßes. Siegelten nach der Meinung von HUYGHENS aber für die Atome nichtdeshalb, weil die Atome elastische Billardkugeln sind, ausge-stattet mit der dynamischen Eigenschaft der ?,vollkommenenElastizität“, sondern die Erhaltungssätze von Energie und Im-puls sind universell gültige Prinzipien, aus denen sich u. a. fürgewisse Körper zufolge ihrer atomistischen Konstitution jenesVerhalten ergibt, das wir als unelastischen oder elastischen Stoßmit allen möglichen Übergängen bezeichnen. Aus den Gesetzenfolgt, daß beim Stoß, obschon die Stetigkeit der Ortsveränderungnatürlich gewahrt bleibt, die Geschwindigkeit der Atome einenmomentanen Sprung erleidet. Der Impuls ist gleich Masse malGeschwindigkeit, die Energie das halbe Produkt aus der Masseund dem Quadrat der Geschwindigkeit. Dabei ist der Impuls

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1 4 Was ist Materie?

als ein Vektor1) aufzufassen; es war der Grundirrtum der Cartesi-schen Mechanik, daß sie für das Produkt aus Masse und demabsoluten Betrag der Geschwindigkeit das Erhaltungsgesetz postu-lierte.

Die Masse deutet HUYGHENS wohl noch als Substanzquantum.In Wahrheit aber besteht die einzige Methode, das Massenver-hältnis zweier Körper zu finden, darin, daß man ihre Bewegungvor und nach der Stoßreaktion beobachtet und daraus unterZugrundelegung des Gesetzes von der Erhaltung des Impulsesjenes Verhältnis berechnet. Der Zusammenhang der so definiertenträgen Masse mit dem Gewicht ist erst durch die allgemeine Rela-tivitätstheorie klargestellt worden. Durch die Einführung derMasse geschieht ein Schritt von großer Tragweite. Nachdem dieMaterie aller sinnlichen Qualitäten entkleidet war, schien eszunächst, als könne man ihr nur noch geometrische Eigenschaftenbeilegen; ganz konsequent ist darin DESCARTES. Aber nun zeigtsich, daß man aus der Bewegung und ihrer gesetzmäßigen Ver-änderung bei Reaktionen andere zahlenmäßige Charakteristika derKörper ablesen kann. Es öffnet sich damit, über Geometrie undKinematik hinaus, die Sphäre der eigentlich mechanischen undphysikalischen Begriffe. Dieser Schritt war schon von GALILEI

vollzogen worden, der zuerst in der Bewegung eines Körpers nichtbloß die kinematische Ortsveränderung sah, sondern ihr einedynamische Intensität, den Impuls oder Impetus (Stoßwucht)zuschrieb und die Masse eines Körpers als das konstante Verhältniszwischen Impuls und Geschwindigkeit bestimmte.

Der Gedankenkreis der Atomistik hatte, wie aus unsererSchilderung hervorgeht, philosophisch und physikalisch schon diesorgfältigste Ausbildung erfahren, ehe die Chemie eingriff undvon DALTON atomistisch die chemische Grundtatsache erklärtwurde, daß sich die Elemente nur in festen Massenproportionenmiteinander verbinden. Die Chemie fügte dem Atombegriff vorallem die Erkenntnis hinzu, daß aus der zweifach unendlichenMannigfaltigkeit aller möglichen, nach Radius und Masse ver-

l) D. h. neben der Größe kommt die Richtung des Impulses in Betracht;zwei Impulse werden nach derselben Parallelogramm-Regel addiert wie

Siehe die beistehende Abbildung, in welchergleich ist der Summe :

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Die Substanztheorie. 15

schiedenen Atome in der Natur nur ganz bestimmte diskrete Fällerealisiert sind (entsprechend den chemischen Elementen). DieAtome eines Elementes müssen alle untereinander gleich seinnach Größe und Masse; die Existenz von Elementen mit kon-stanten Eigenschaften wäre sonst nicht verständlich. Einentieferen Grund, warum gerade nur diese Atomradien und Atom-massen vorkommen, kann die Substanztheorie nicht angeben.Wenn nicht alle Werte der Radien und Massen zulässig sind, sowird sich die Vernunft kaum anders als bei dem entgegengesetztenExtrem befriedigen : daß nur ein Element existiert. Daß dieletzten Bausteine der Materie alle untereinander gleich groß undvon gleicher Masse sind, dieser naheliegende Gedanke ist jedocherst durchführbar, wenn dynamische Vorstellungen herangezogenwerden; er setzt, wie in der modernen Atomtheorie, voraus, daßdurch starke Kräfte mehrere solcher Bausteine - die aus histori-schen Gründen jetzt nicht Atome, sondern Elektronen heißen -zu einem schwer zerreißbaren Verband zusammentreten können,der nach außen wie eine Atomkugel reagiert. Über den Bau derAtomkerne sind wir bekanntlich auch heute noch nicht genügendorientiert; und die von ASTON entdeckte wunderbare Tatsache,daß die Atomgewichte der wahren Elemente, die nicht aus Ge-mischen von Isotopen bestehen, ganze Zahlen sind, ist noch nichtals zwingende Konsequenz in eine Theorie der Materie eingefügt.Es ist nur soviel klar, daß wir über die Unterschiede der chemi-schen Atome hinaus einer letzten Einheit entgegensteuern.

Durch HUYGHENS hatte die atomistische Substanztheorie die-jenige Präzision erreicht, welche es ermöglichte, strenge Folge-rungen zu ziehen. Lauter gleichgroße kugelförmige Atome, welchesich nach den von ihm aufgestellten Gesetzen bewegen, bilden,wie sich mit Hilfe der Statistik zeigte, einen Körper, der alle die-jenigen Eigenschaften aufweist, die wir erfahrungsgemäß an einemGas konstatieren ; die Wärmeerscheinungen kommen dabei aufRechnung der lebhaften Atombewegung. (Das Eingreifen derWahrscheinlichkeitsrechnung ist ein neues erkenntnistheoretischwichtiges Moment in der Naturerklärung, doch sei hier daraufnicht näher eingegangen.) Aus den Beobachtungen konnten inVerbindung mit der Theorie, nachdem die Sache einmal so weitgediehen war, ziemlich sichere Werte entnommen werden für dieGröße der Atommassen und Atomradien, desgleichen für die

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16 Was ist Materie?

Anzahl der Atome in einem gegebenen Gasquantum und für dieAtomgeschwindigkeiten. Es zeigte sich, daß für die verschiedenenElemente die Atommasse keineswegs dem Volumen proportionalist. Die Vorstellung eines homogenen Substanzteiges, aus welchemder Schöpfer am Beginn aller Zeiten mit einer Serie von Back-formen die kleinen Atomkuchen ausgestochen hat, um ihnen dannabsolute Starrheit zu verleihen und sie mit den verschiedenstenAnfangsimpulsen in den Raum hinauszuschicken, diese Vorstel-lung erweist sich als unhaltbar. Der mechanische Begriff der Masseläßt sich, wie damit endgültig feststeht, nicht auf Geometrie redu-zieren.

Die kinetische Substanztheorie hat im ganzen nicht über dieErklärung des gasförmigen Zustandes hinausgeführt. Ein späterNachfahre von HUYGHENS, der für einen weiteren Kreis von Vor-gängen auf analogem Wege, ohne Zuhilfenahme von ,,Kräften“,zum Ziele kommen will, ist HEINR. HERTZ in seiner Mechanik.Man kann die kugelförmigen Atome, die etwa alle den gleichenRadius a besitzen mögen, durch ihre Mittelpunkte, die ,,Atom-punkte“, repräsentieren ; die Bewegungsbeschränkung infolge derUndurchdringlichkeit der Atome drückt sich dann dadurch aus,daß die Entfernung irgend zweier Atompunkte stets 2 2 a bleibt.HERTZ ersetzte die Koordinaten der Atompunkte durch irgend-welche Größen, deren Werte den Zustand des betrachteten mecha-nischen Systems kennzeichnen, und jene Einschränkungen durchBedingungsgleichungen (oder Ungleichungen), ,,Bindungen“ zwi-schen den Systemkoordinaten von beliebiger mathematischerForm, Diese Bedingungsgleichungen zusammen mit einem uni-versellen Bewegungsgesetz determinieren die Koordinaten alsFunktionen der Zeit, sofern ihre Werte in einem Anfangsmomentgegeben sind. Es ist die Aufgabe, durch Annahme verborgenerMassen und geeigneter einfacher Verbindungen zwischen ihnenden wirklichen Verlauf der Naturvorgänge in diesem Schema dar-zustellen. Offenbar wird hier der Substanzbegriff auf dem Wegemathematischer Verallgemeinerung zu einem abstrakten Schemaformalisiert. Es wird wohl zutreffen, daß die endgültige syste-matische Form der Physik von ähnlicher Art sein muß, wobei nurvorausgesetzt bleibt, daß die verknüpfende Beziehung zwischenden Symbolen des mathematischen Schemas und der unmittelbarerlebten Wirklichkeit, wenn nicht explizite beschrieben, so doch

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Die Substanztheorie. 1 7

innerlich irgendwie verstanden wird. Es ist aber sehr zweifelhaft,ob durch das Streichen der ,,metaphysischen” Anschauungen,welche den Aufbau der Physik geleitet hatten und zu denen derSubstanzbegriff gehört, die theoretische Deutung nicht allesZwingende verliert.

Die Hertzsche Mechanik ist nur Programm geblieben. Vielfruchtbarer ward das seit NEWTON sich vollziehende Eindringender Dynamik in die Substanztheorie. Als Beispiel einer solchengemischt substantiell-dynamischen Auffassung, zugleich als Be-weis für die fundamentale Rolle, welche auch in der ganz anders-artigen Begriffswelt der Dynamik die Substanzidee immer nochgespielt hat, will ich die Abrahamsche Theorie des starren Elek-trons1) anführen. ABRAHAM trägt so wenig wie H. A. LORENTZ

Bedenken, die Grundgesetze der Maxwellschen Theorie des elektro-magnetischen Feldes auch auf die Volumelemente des Elektronsanzuwenden. Das Elektron ist eine starre Kugel, mit dessen Raum-elementen die elektrische Ladung starr verbunden ist; sie ist ent-weder gleichförmig über das Innere oder gleichfömig über die Ober-fläche verteilt. Erst auf Grund einer solchen Voraussetzung wirddas elektromagnetische Feld in der Umgebung des Elektrons zueinem durch dessen Gesamtladung und Bewegungszustand ein-deutig bestimmten. (Wenn die Formeln, welche sich da ergebenund welche verlangen, daß ein schwingendes Elektron elektro-magnetische Wellen seiner eigenen Frequenz aussendet, durchdie Erfahrung nicht bestätigt wurden - und nach den Erfolgender Bohrschen Atomtheorie kann daran kaum ein Zweifel sein -,SO braucht das, wie es lange geschehen ist, nicht den MaxwellschenGleichungen zur Last gelegt zu werden, sondern es ist viel wahr-scheinlicher, daß die Hypothese über die geometrisch-substantielleNatur des Elektrons die Diskrepanz verschuldet.) Von Kräften,welche die Volumelemente des Elektrons aufeinander ausüben,ist in der Abrahamschen Theorie aber nicht die Rede; das Elektronist ein einfürallemal zur Starrheit eingefrorenes Stück Natur,innerhalb dessen keine Wechselwirkung der Teile mehr statt-findet. Insbesondere wird die Frage von POINCARI?, was die dichtzusammengedrängten negativen Ladungen im Elektron daranhindert, den Coulombschen Fliehkräften folgend, zu explodieren,

l) Theorie der Elektrizität, Bd. 11 (Teubner 1905).

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18 Was ist Materie?

als sinnlos zurückgewiesen. Die mechanischen Gleichungen geltennicht für die Volumelemente, sondern nur für das ganze Elektron:die zeitliche Änderung des Impulses und des Drehimpulses für einElektron ist gleich der Kraft bzw. dem Kraftmoment, das von demelektromagnetischen Feld in Summa auf die geladenen Volum-elemente des Elektrons ausgeübt wird. Es wird postuliert, daßman sinnvollerweise auch von einer Rotation des Elektrons spre-chen kann. Im übrigen hat der Begriff des starren Körpers hiernicht mehr bloß einen geometrischen (wie bei den alten Atomi-stikern), sondern einen geometrisch-mechanischen Inhalt (denKongruenzaxiomen der Geometrie und den mechanischen Be-wegungsgesetzen des starren Körpers unterworfen).

Auch in die spezielle Relativitätstheorie läßt sich die Vor-stellung des Elektrons als einer starren Substanzkugel übertragen(so liegt sie der Lorentzschen Elektronentheorie zugrunde), strengfreilich nur bei Beschränkung auf gleichförmige Bewegungen.Mit den beschleunigten Bewegungen tritt man nämlich bereitshinüber in das Gebiet der allgemeinen Relativitätstheorie, welchedie Idee des Starren nicht aufrecht erhalten kann. Die Be-mühungen um das relativistisch starre Elektron, die Fragestel-lungen, zu denen gewisse an ihm auftretende UnstimmigkeitenAnlaß gaben, zeigen, wie wenig wir heute schon berechtigt sind,den Glauben an die substantielle Materie eine längst überwundeneMetaphysik zu schelten. Aber immer deutlicher ist doch in denletzten Jahrzehnten geworden, daß dieses Bild vom Elektron:das Stoffteilchen mit starr anhaftenden Ladungen, eigentlich einegroteske Naivität ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Substanzheute ihre Rolle in der Physik ausgespielt hat. Der Anspruch dieservon ARISTOTELES als einer metaphysischen konzipierten Idee, dasWesen der realen Materie auszudrücken - der Anspruch derMaterie, die fleischgewordene Substanz zu sein, ist unberechtigt.Die Physik muß sich ebenso der ausgedehnten Substanz entledigen,wie die Psychologie schon längst aufgehört hat, die Gegebenheitendes Bewußtseins als ,,Modifikationen“ aufzufassen, die einereinheitlichen Seelensubstanz inhärieren.

II. Masse, Energie und Impuls.

Die Begriffe Masse, Energie und Impuls sind für das Verständ-nis der Physik, insbesondere des Problems der Materie so wichtig,

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Masse, Energie und Impuls. 19

daß darüber ein Abschnitt eingeschaltet werden muß, ehe wir derSubstanz- die Feldtheorie und die dynamische Auffassung derMaterie gegenüberstellen können.

Das Wesentliche für die Definition der Masse ist die Angabeeines physikalischen Kriteriums dafür, wann zwei Körper diegleiche Masse besitzen. Dasselbe lautet nach GALILEI: ZweiKörper haben gleiche Masse, falls keiner den anderen überrennt,wenn man sie mit entgegengesetzt gleichen Geschwindigkeitengegeneinander jagt. (Wir stellen uns etwa vor, daß beim Zusam-menstoß die beiden Körper aneinander haften bleiben.) AusGründen der Raumsymmetrie ist klar, daß dieses Kriterium fürzwei völlig gleich beschaffene Körper zutrifft, daß also insbesonderezwei solche Körper gleiche Masse besitzen. Wir wählen einenwillkürlichen Körper als Masseneinheit. Aus einem Satz vonEinheiten, d. h. lauter Körpern von der gleichen Masse 1 kannman Blöcke von 1, 2, 3, . . . Einheiten zusammenfügen. Um dieMasse eines Körpers K zu bestimmen, der sich mit der Geschwindig-keit v bewegt, hat man die Blöcke mit gleich großer, aber ent-gegengesetzter Geschwindigkeit gegen K zu jagen. Wird etwader Block aus 4 Einheiten von K überrannt, überrennt aberandererseits der Block aus 5 Einheiten den Körper K, so liegt dieMasse von K zwischen 4 und 5. Es ist klar, wie man unter Ver-wendung dezimaler Teilungen auf diese Weise die Masse beliebiggenau bestimmen kann.

Der Begriff des Impulses erscheint hier als primär gegenüberdem der Masse. Zwei sich gegeneinander bewegende Körper (diebeide nach dem Galileischen Trägheitsgesetz eine gleichförmigeTranslation ausführen) haben entgegengesetzt gleichen Impuls,wenn beim Zusammenstoß keiner den anderen überrennt; zweiKörper haben gleiche Masse, so wiederholen wir unsere obige Er-klärung, wenn sie bei entgegengesetzt gleichen Geschwindigkeitenentgegengesetzt gleiche Impulse besitzen. Diese Betrachtungenführen ohne weiteres auf das allgemeine Impulsgesetz. Wir fassenein isoliertes, keinen Einwirkungen von außen unterliegendesKörpersystem vor und nach einer Reaktion der Teile des Systemsaufeinander (z. B. vor und nach einem Zusammenstoß) ins Auge.Vor der Reaktion werden mehrere Körper vorhanden sein, derenjeder sich in gerader Linie mit gleichförmiger Geschwindigkeitbewegt (Anfangszustand); ebenso nach der Reaktion, wenn jede

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20 Was ist Materie?

Einwirkung der Einzelkörper aufeinander wieder aufgehört hat(Endzustand). Die Anzahl der Körper nach der Reaktion brauchtnicht die gleiche zu sein wie vorher; während der Reaktion sindthermische und chemische Umsetzungen keineswegs ausgeschlos-sen. Das Impulsgesetz sagt nichts aus über den Verlauf der Reak-tion im einzelnen, sondern vergleicht lediglich den End- mit demAnfangszustand; es behauptet : Einem isolierten (in gleichförmigerBewegung begriffenen) Körper kommt ein bestimmter Impuls zu,das ist ein mit seiner Geschwindigkeit gleichgerichteter Vektor.Die Impulssumme der einzelnen Körper eines isolierten Systemsvor einer Reaktion ist gleich der Impulssumme nach der Reaktion.Dieses Gesetz kann als der allgemeine Ausdruck der Erfahrungs-tatsache betrachtet werden, daß sich ein zunächst ruhendesKörpersystem nicht aus eigener Kraft in eine einseitig fortschrei-tende Translationsbewegung versetzen kann (4) ; oder genauer :innere Reaktionen in einem isolierten ruhenden Körpersystemsind nicht imstande zu bewirken, daß nach der Reaktion ein Teildes Systems eine gemeinsame gleichförmige Translationsbewegungausführt, während der Rest ruhend zurückbleibt. Weil Impuls 3und Geschwindigkeit b gleiche Richtung besitzen, kann mansetzen: 3 = mb. Der skalare Faktor m heißt träge Masse. DieAusführungen zu Beginn dieses Abschnittes zeigen, wie man da-durch, daß man Körper miteinander reagieren läßt, auf Grunddes Impulssatzes das Verhältnis ihrer Massen experimentell be-stimmen kann.

Die Masse eines Körpers ist, allgemein zu reden, durch seinenZustand bestimmt. Die Mechanik unterscheidet zwischen innerem(von einem mit dem Körper mitbewegten Beobachter zu beurtei-lenden) Zustand und dem durch die Geschwindigkeit gegebenenBewegungszustand. Demgemäß muß sie die Frage aufwerfen: Wiehängt die Masse eines Körpers, dem unter Erhaltung seinesinneren von einem mitbewegten Beobachter zu beurteilenden Zu-standes verschiedene Geschwindigkeiten erteilt werden, von derGeschwindigkeit v ab ? Die klassische Mechanik antwortet darauf :die Masse ist von der Geschwindigkeit unabhängig; die Mechanikder Relativitätstheorie, welche durch die Beobachtungen an raschbewegten Elektronen bestätigt wurde, behauptet das Gesetz

(1)NIm=--

iF’- 79

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Masse, Energie und Impuls. 2 1

in welchem der ,,Massenfaktor“ MO von der Geschwindigkeitunabhängig ist und c die Lichtgeschwindigkeit bedeutet. (M, hatübrigens nicht die physikalische Dimension einer Masse, sonderndes Produktes Masse x Geschwindigkeit; 2ryto = M,/c ist die ,,Ruh-masse“, welche sich für ZI = 0 ergibt.) Weiter fragt es sich, wiedie Masse, bzw. der Massenfaktor von dem inneren Zustand desKörpers abhängt, wie er sich z. B. verändert, wenn der Körpererwärmt wird oder in ihm eine chemische Umsetzung vor sich geht.Die klassische Mechanik behauptet abermals, daß dabei die Masseerhalten bleibt, nach der Mechanik der Relativitätstheorie ver-ändert sich jedoch M,, mit dem inneren Zustand des Körpers. Esist höchst beachtenswert, daß die Antwort auf diese beiden Fragensich zwingend aus einem allgemeinen Prinzip, dem Relativitäts-prinzip, ergibt, welches aussagt, daß man aus einem naturgesetz-lich möglichen Vorgang in einem isolierten System einen gleich-falls möglichen Vorgang erhält, wenn man allen Teilen des Systemseine gemeinsame gleichförmige Translation aufprägt.

Wir fassen wieder den oben geschilderten Vorgang ins AugerZwei gleichbeschaffene Körper K’, K” mit entgegengesetzt glei-chen Geschwindigkeiten b, - b vereinigen sich zu einem ein-zigen, notwendig ruhenden Körper k (man kann sich auch vor-stellen, daß K’, K” gleichzeitig in ein ruhendes widerstehendesMedium eindringen, in dem sie gebremst werden). Der Impuls-satz bleibt nach dem Relativitätsprinzip gültig, wenn wir demganzen System, in welchem sich dieser Vorgang abspielt, dieGeschwindigkeit u aufprägen. Haben dann K’, K” die vekto-riellen Geschwindigkeiten b’ bzw. b” von der Größe v’, v” und be-deutet m (v) für die beiden gleichbeschaffenen Körper K’, K” dieMasse als Funktion der Geschwindigkeit v, so muß also der Vektor

(2) m (v�) l b’ + ti (TI”) l b” parallel zu u

sein. Nach dem in der klassischen Kinematik gültigen Gesetzvon der Addition der Geschwindigkeiten ist

(3) b’=b+u, b”=-b-j-u,

mithin

(4) b’ + b” = 2 11 parallel zu u .

Infolgedessen kann (2) nur bestehen, wenn m (v’) = m (v”) ist;d. h. m (v) ist unabhängig von v. Die Relativitätstheorie führte

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22 Was ist Materie?

zu einem anderen kinematischen Additionsgesetz; aus ihm schließtman, daß nicht (4) besteht, sondern

ist, und daraus entspringt auf Grund von (2) die schon obenangegebene Formel (1).

Jetzt untersuchen wir einen beliebigen Reaktionsvorgang. Indie Reaktion mögen mehrere Körper mit verschiedenen Massen m(bzw. Massenfaktoren M,) und Geschwindigkeiten b eintreten ;aus der Reaktion gehen andere Körper mit anderen Massen %(bzw. Massenfaktoren zO) und anderen Geschwindigkeiten 6hervor. Der Impulssatz behauptet, daß

(9 cm b = mbcist (2 ist das Zeichen für Summe). Fiigen wir wieder die gemein-same Translationsgeschwindigkeit u hinzu, so lautet nach demAdditionsgesetz der klassischen Kinematik und weil die Massen mvon der Geschwindigkeit unabhängig sind, der Impulssatz:

zm(u+ b) =c@i(u +ii)oder

~rnb+U~rn=~%b+u~%.

In Verbindung mit (5) liefert das neben dem Impulssatz das Gesetzvon der Erhaltung der Masse

(6) Crn = 2%

die Gesamtmasse eines Körpersystems wird dzcrch innere Reaktionennicht verändert. Auf ganz analoge Weise erhält man, unter Zu-grundelegung der relativistischen Kinematik, neben dem Impulssatz

(7)

den Satz von der Erhaltung der Ertergie

Als Energie eines Körpers vom Massenfaktor MO und der Geschwin-digkeit v erscheint hier die Größe

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Masse, Energie und Impuls. 23

Machen wir uns den Inhalt der Gleichung (8) zunächst an demobigen Beispiel klar! Ein ruhender kugelförmiger Körper K vonder Ruhmasse m, bestehe aus zwei völlig gleichbeschaffenenHalbkugeln K’, K”. Jede derselben hat die Ruhmasse -$ m, . Wirnehmen die beiden Halbkugeln auseinander und jagen sie mitentgegengesetzt gleichen Geschwindigkeiten von der Größe vgegeneinander. Beim Zusammenstoß mögen sie sich zu einem- -einzigen (ruhenden) Körper K vereinigen. Hat K dieselbe Ruh-masse wie K ? Nach der klassischen Mechanik ja, nach der rela-tivistischen nein. Die Gleichung (8) ergibt nämlich, auf den Ver-einigungsvorgang angewendet :

1 m, c2

-i- jc-(ip)211 moc2 -2

2 fTq@=mocoder

- m0

m� = ymcjT l

Wir können sagen, K ist derselbe Körper wie K; nur ist seininnerer Zustand ein anderer geworden, ey hat sich nämlich er-wärmt. Die Erwärmung, sehen wir, ist mit einer Massenänderungdes ruhenden Körpers verbunden vom Betrage

Dieser Zuwachs Am an Masse muß der gleiche sein, auf welchemWege wir auch jene thermische Zustandsänderung hervorbringen,weil die Masse eines Körpers nur von seinem Zustand, nicht vondessen Vorgeschichte abhängt. Da haben wir sofort das Energie-gesetz in der Form, wie es von ROB. MAYER, JOULE, HELMHOLTZaus der Erfahrung abstrahiert wurde, und erkennen in A m oderin c2 A m das Energiemaß der thermischen Zustandsänderung. Mankann die Masseneinheit so wählen, daß für die Erwärmung 1 ccmWassers unter Atmosphärendruck von 15 O auf 16 O C (Kalorie)der Zuwachs c2 l Am = 1 ist. Sei S irgendein Körpersystem, inwelchem unter der Einwirkung seiner Teile aufeinander und be-liebiger anderer Körper eine Zustandsänderung 23 sich vollzogenhat. Wir können diese Zustandsänderung, wenn wir S mit einemWasserkalorimeter und geeigneten Hilfskörpern verbinden, in derWeise rückgängig machen, daß die Hilfskörper aus dem Prozeß

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2 4 Was ist Materie?

schließlich in gleichem Zustand wieder hervorgehen und nur dasKalorimeter eine Erwärmung (oder Abkühlung) erfahren hat. Be-tragt seine Erwärmung rer Kalorien, d. h. besteht sie darin, daßzfl ccm Wasser unter Atmosphärendruck sich von 15 * auf 16”erwärmt haben (oder, wenn zer negativ ist, daß -w Gramm sichvon 16” auf 15 * abgekühlt haben), so liefert die Anwendung derGleichung (8) auf das abgeschlossene, aus S, dem Kalorimeterund den Hilfskörpern bestehende physikalische System und aufden eben geschilderten Prozeß die Beziehung

Die eckige Klammer bedeutet den Zuwachs, welchen die auf dasKörpersystem S allein bezügliche Summe durch die Zustands-änderung 23 erleidet. Durch welche Zwischenstufen also auch dieZustandsänderung 23 des Körpersystems S in eine Erwärmung desKalorimeters umgesetzt wird - immer ergibt sich die gleiche Anzahlvon Kalorien

Das ist das phünome~ologische Energiegesetz. Zugleich zeigt sich,daß der Ausdruck rechts der Energiewert der Zustandsänderung @ist; und wir kommen so dazu, nicht bloß einer Zustandsänderungeinen Energiewert, sondern einem Zustand ein Energieniveau zu-zuschreiben - derart, daß’der Energiewert einer Zustandsänderunggleich der Differenz des Energieniveaus im End- und im Anfangs-zustand ist. Das Energieniveau eines Körpers vom Massen-faktor M, und der Geschwindigkeit v ist gegeben durch die Glei-chung (9). Zwischen dem Energiegehalt E und der trägen Masse meines Körpers besteht danach die universelle Relation

E-c2m.

(Für die klassische Mechanik versagt diese ganze Überlegung, weilnach ihr die Erwärmung eines ruhenden Körpers mit keinerMassenänderung verbunden ist.)

Unter der kinetischen Energie eines Körpers versteht manbekanntlich diejenige Energie, welche nötig ist, um ihn unter Er-haltung seines inneren, von einem mitbewegten Beobachter aus

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Masse, Energie und Impuls. 25

zu beurteilenden Zustandes von der Ruhe auf die Geschwindig-keit v zu bringen. Nach unseren Formeln ist der Energiewert dieserZustandsänderung

Em Limes für c = bo liefert das den Ausdruck m$ der klassi-

schen Mechanik (sie ist der Grenzfall für solche Geschwindig-keiten V, welche klein sind gegenüber c). Em Energiegesetz hattenwir oben im Rahmen der klassischen Mechanik picht erhalten;in der Tat hat es ja in seiner ,,rein mechanischen“ Gestalt

w3 c”” -py2

nur beschränkte Gtiltigkeit. Es bezieht sich allein auf solcheReaktionen, aus denen die Körper irr ungeändertem inneren Zu-stand wieder hervorgehen; ich schlage vor, eine derartige Reak-tion allgemein als elastischen Stoß zu bezeichnen. Man verstehteigentlich nur von der relativistischen Mechanik aus, woher imFalle des elastischen Stoßes das Gesetz (10) rührt. Sind m,, m2, . . .die Ruhmassen der Körper vor dem Stoß, &,, ti,, . . . nach demStoß, so hat die Forderung, daß der innere Zustand der einzelnenKörper sich nicht geändert hat, die Gleichungen zur Folge

- -(11) m, = m,, m2 = m2, . . . .

Die Gleichung (6) der klassischen Mechanik wird dadurch über-flüssig, und an ihre Stelle tritt das neue Gesetz (10). Man erhältes aus dem allgemein gültigen Energiesatz der relativistischenMechanik

wenn man links und rechts die nach (11) für den elastischen Stoßübereinstimmende Summe

i i

subtrahiert. Dann folgt, daß die kinetische Energie der Massenvor und nach dem Stoß die gleiche ist, und in der Grenze fürC = oo also das Huyghenssche Stoßgesetz (10).

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26 Was ist Materie?

Im allgemeinen hat aber nach der relativistischen Mechanikdie Summe der Ruhmassen nach der Reaktion keineswegs dengleichen Wert wie vorher. Und doch käme als Maß für ein Sub-stanzquantum offenbar nur die von der Geschwindigkeit unab-hängige Ruhmasse in Frage ! Die These ,,Masse = Substanz-quantum“ ist damit ad absurdum geführt. Aber vielleicht hättees dessen gar nicht mehr bedurft; aus unseren Darlegungen gehtohnehin hervor, daß mit dem Wort ,,Substanzquantum“ die Rollenicht umschrieben werden kann, welche die Masse in den physi-kalischen Reaktionsvorgängen spielt.

Neben den Erhaltungssatz für Energie und Impuls trittdas Gesetz, daß bei Reaktionen innerhalb eines abgeschlossenenKörpersystems die elektrische Gesamtladung sich nicht verändert.Die Ladung eines Körpers ist von seinem Bewegungszustand un-abhängig. Aber die Ladung kommt als Maß für eine Substanz-menge offenbar darum nicht in Frage, weil sie sowohl positiverwie negativer Werte fähig ist.

Es sei noch erwähnt, wie sich unsere Formeln in der allgemeinenRelativitätstheorie modifizieren, wenn wir annehmen, daß dieKörper in ein unveränderliches statisches Maßfeld (Gravitations-feld) eingebettet sind, in welchem die Lichtgeschwindigkeit f(oder, was dasselbe ist, das Gravitationspotential) eine Funktiondes Ortes ist. Auch dann besitzt ein Körper einen konstanten,nur von seinem inneren Zustand abhängigen Massenfaktor &C,.und es ist die träge Masse

Mom=pJ9 d ie Energ ie E = - -

insbesondere für einen ruhenden Körper (v = 0) :

m =+, E=M,f.

Über die Beziehung dieser Formeln zu der Frage, ob die Masseeines Körpers nach dem Vorschlag von MACH als Induktions-wirkung der Fixsterne aufgefaßt werden kann, vergleiche denhier an zweiter Stelle abgedruckten Dialog über ,,Massen-trägheit und Kosmos“. Die elektrische Ladung verhält sich indieser Hinsicht viel einfacher als die Masse; sie ist, wie vom Be-wegungszustand, so auch vom einbettenden Maßfeld unabhängig.

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Die Feldtheorie. 27

111. Die Feldtheorie.Anders als im Abschnitt 1 soll diesmal die moderne Fassung

der Theorie vorangestellt werden, und wir wollen erst hernach aufdie früheren Ansätze zur Feldtheorie und die historischen Wand-lungen eingehen. Ferner liegt es in der Natur der Sache, daß wirschon hier, dem Abschnitt IV vorgreifend, gewisse dynamischeGesichtspunkte hineinziehen müssen,

Weil für einen isolierten Körper k Impuls 3 und Energie Ezeitlich konstant sind, sind die Änderungen beider Größen pro

dC” dEZeiteinheit --$ bzw. dt , ,,Kraft“ und ,,Leistung“, ein Maß für

die Einwirkung, welche k von anderen Körpern k,, k, . . . erfährt.In der Tat erkannte NEWTON, daß die Kraft sich additiv auseinzelnen Kräften zusammensetzt, welche von je einem derKörper k,, k,, . . . auf k ausgeübt werden; in solcher Weise, daßdie Kraft, welche z. B. k, auf k in einem Moment ausübt, nur vondem Zustand dieser beiden Körper, ihrem Ort und ihrer Ge-schwindigkeit im gleichen Augenblick abhängt. Dasselbe giltvon der Leistung. Aus der Relativität von Ort und Bewegungergibt sich übrigens sogleich, daß in das Kraftgesetz nur der

Vektor &r und die vektorielle Relativgeschwindigkeit der beidenKörper eingehen werden. Im Falle der Gravitation ist nachNEWTON die Kraft sogar von der Geschwindigkeit unabhängigund infolgedessen eine universelle Funktion der Entfernung Y

allein(

1nämlich nach dem Attraktionsgesetz = -

Y2 1; im Gebiet

der Elektrizität aber kommt zu der elektrostatischen Anziehungbzw. Abstoßung bei bewegten Ladungen noch die AmperescheKraft hinzu, welche zwei Ströme aufeinander ausüben; denn einebewegte Ladung ist elektrischer Strom - von der Stromstärke:Ladung mal Geschwindigkeit. Wesentlich aber ist, daß der Be-wegungszustand nur in Form der Geschwindigkeit beider Körperk , k, im Kraftgesetz vorkommt. Denn aus der Erklärung derKraft ist es ja ohnehin klar, daß sie sich durch die Beschleunigung,übrigens sogar durch die Beschleunigung des Körpers k allein aus-drücken läßt; dazu bedarf es keines Naturgesetzes. Wenn jenesPostulat aber erfüllt ist, so bestimmt das Newtonsche Bewegungs-gesetz für ein System, das aus Körpern von bekanntem konstanten

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28 Was ist Materie?

inneren Zustand besteht, bei gegebener Lage und Geschwindigkeitder Körper in einem Augenblick t ihre Lage und Geschwindigkeitim nächstfolgenden Augenblick t + dt, und somit, indem wirvon Augenblick zu Augenblick integrierend fortschreiten, denganzen Verlauf der Bewegung. In dieser besonderen, aber strengmathematisch faßbaren Gestalt gilt hier das Kausalitätsprinzip.

Auf Grund der angegebenen Tatsachen kommt man not-gedrungen zu der Auffassung, daß die Definition ,,Kraft = Ab-leitung des Impulses“ das Wesen der Kraft nicht richtig wieder-gibt. Der wirkliche Sachverhalt ist vielmehr umgekehrt : Die Kraftist der Ausdruck für eine selbständige, die Körper zufolge ihrerinneren Natur und ihrer gegenseitigen Lage und Bewegungs-beziehung verknüpfende Potenz, welche die zeitliche Änderungdes Impulses verursacht. Bei dieser metaphysischen Deutung magdas innere Bewußtsein des Ichs, im willentlichen Handeln Grundeines Geschehens zu sein, entscheidend hineinspielen. Es ist aberzu beachten, daß in NEWTONS Physik der Fernkräfte die Kraftnicht eine durch einen einzigen Körper k bestimmte, von ihm aus-gehende Aktivität ist, sondern eine Wechselbeziehung zweierKörper (k und kJ, die sich gegenseitig über einen Abgrund hin-über die Hände reichen. Durch das mechanische Grundgesetzder Bewegung wird der Physik die Aufgabe Überbunden, diezwischen Körpern wirkenden Kräfte in ihrer Abhängigkeit vonOrt, Bewegung und innerem Zustand zu erforschen. Der letzterewird in die Kraftgesetze mittels gewisser, für den inneren Zustandder reagierenden Körper charakteristischer Zahlen eingehen, wiez. B. die Ladung in das Coulombsche Gesetz der elektrostatischenAnziehung und Abstoßung. SO wird der Kraftbegriff zu einerQuelle neuer meßbarer physikalischer Kennzeichen der Materie,welche ebenso wie die Masse mit den im ersten Abschnitt be-sprochenen, aus der Substanzvorstellung entsprungenen Merk-malen nichts mehr zu tun haben. Insbesondere tritt an Stelleder Härte und Undurchdringlichkeit der Atome - welche be-wirkte, daß sich zwei Atome bis zu ihrem Zusammenstoß gleich-förmig bewegten, in diesem Augenblick aber momentan in eineandere gleichförmige Bewegung umspringen - das Gesetz, nachwelchem die repulsive Kraft, mit der zwei Atome aufeinanderwirken, von ihrer Entfernung abhängt; eine solche repulsive Krafthat zur Folge, daß nicht ein momentaner Stoß erfolgt, sondern

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Die Feldtheorie. 29

die Bahn eines Atoms bei Annäherung an ein anderes sich all-mählich krümmt. Es ist kein Zweifel, daß diese Vorstellung derWahrheit viel näher kommt als die Huyghenssche. Man sieht andiesem Beispiel, daß die Entdeckung der ,,dynamischen“ Eigen-schaften der Materie v o n selber dazu führt, ihre ,,substantiellen” zuverdrängen, die zur Erklärung der Naturerscheinungen über-flüssig werden. Im IV. Abschnitt kommen wir genauer daraufzurück; hier sollte uns der Kraftbegriff nur als Vorbereitungdienen auf die Idee des Feldes.

Diese Idee hat sich bei FARADAY und MAXWELL aus dem Be-streben entwickelt, die Wechselkräfte, welche geladene Körperaufeinander ausüben, durch eine kontinuierliche Wirkungsüber-tragung (Nahewirkung) verständlich zu machen. Um das Kraft-feld zu untersuchen, das geladene ruhende Konduktoren umgibt,bedient man sich eines schwach geladenen Probekörpers. Derselbeerfährt an jeder Stelle P des leeren Raumes eine bestimmte, imallgemeinen natürlich von Ort zu Ort wechselnde Kraft (25 (P) ;immer wieder aber, wenn ich den Probekörper an dieselbe Raum-stelle P zurückbringe, dieselbe Kraft C? (P). Immer wieder, wennich zum Fenster meines Arbeitszimmers hinausschaue, habe ichdieselben Gesichtswahrnehmungen eines rotbedachten dreistöcki-gen Hauses. Mit demselben Recht, wie ich daraufhin zu der An-sicht komme, es stehe ein derartiges Haus da, ganz unabhängigdavon, ob ich zu ihm hinschaue oder nicht, nehme ich hier an,daß in dem die Konduktoren umgebenden Raume ein Kraft-feld vorhanden ist, auch wenn ich die Kraft nicht an einem indas Feld hineingebrachten Probekörper konstatiere ; der Probe-körper ist nur das Mittel, das an sich vorhandene Kraftfeld wahr-nehmbar und meßbar zu machen. Freilich ist die Kraft (8 (P)im Punkte P außer vom Zustand der Konduktoren auch von demdes Probekörpers abhängig - wie übrigens ja auch die Gesichts-wahrnehmung außer durch den *objektiven Zustand des wahr-genommenen Gegenstandes von dem Beobachter abhängt; aberbeide Komponenten lassen sich - im Falle des Kraftfeldes -sehr leicht voneinander trennen. Verwenden wir nämlich zurUntersuchung des gleichen Feldes einen anderen Probekörper,so stellt sich heraus, daß die an ihm wahrgenommene Kraft 8 (P)zu 6 (P) in einem konstanten Verhältnis steht : R (P) = e . ii$ (P) .Und auch wenn wir dieselben beiden Probekörper zur Unter-

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suchung anderer elektrostatischer Felder benutzen, die vonanderen Konduktoren erzeugt werden, erweist sich immer wiederdiese Gleichung mit demselben Wert der Konstanten e als gültig.Die Kraft 9(P), welche die Konduktoren auf irgendeinen Probe-körper an der Stelle P ausüben, ist also das Produkt zweier Fak-toren e l Q, von denen der skalare e , die ,,Ladung“ des Probe-körpers, vom Ort P unabhängig und allein durch den Zustanddes Probekörpers bestimmt ist, während der vektorielle Faktor@ = @ (P) , die ,,elektrische Feldstärke“, nur von den Konduk-toren, nicht aber vom verwendeten Probekörper abhängt, imübrigen aber eine Funktion des Ortes ist. Die Zerlegung isteindeutig bestimmt, wenn wir die Einheitsladung willkürlich(als die Ladung eines bestimmten, hier an erster Stelle verwendetenProbekörpers) festsetzen. Das von den Konduktoren erzeugteund von ihnen allein abhängige elektrische Feld (3 wird man jetztnicht länger als Kraftfeld bezeichnen dürfen; es ist vielmehr eineRealität sui generis. Die Gleichung

zwischen Kraft 9 und Feldstärke C$ ist nicht Definition, sondernein Naturgesetz, welches die ponderomotorische Wirkung be-stimmt, die ein derartiges elektrisches Feld Q auf eine hinein-gebrachte Punktladung e ausübt. Tatsächlich ist es, wie die ent-wickelte Theorie lehrt, nicht einmal streng gültig, sondern nur imGrenzfall unendlich schwacher Ladung e des Probekörpers. Dadas Licht nach der Maxwellschen Theorie nichts anderes ist alsein periodisch veränderliches elektromagnetisches Feld von sehrkleiner Periode, können wir das Feld in seinem Gegensatz zurMaterie vielleicht am besten als etwas Lichtartiges bezeichnen.Im Auge besitzen wir ein Sinnesorgan, mit Hilfe dessen wir ge-wisse elektromagnetische Felder auch anders als durch ihreponderomotorischen Wirkungen wahrnehmen,

Ist der Raum zunächst feldfrei und entsteht dann Elektrizitätdurch Trennung von Ladungen, die vorher so nahe vereinigtwaren, daß sie sich neutralisierten, so wird von ihnen ein mitLichtgeschwindigkeit (c) sich ausbreitendes Feld erregt; stattunmittelbarer Fernwirkung bekommen wir hier also eine konti-nuierliche, von Punkt zu Punkt mit endlicher Geschwindigkeitsich fortpflanzende Wirkungsausbreitung. Und die Wechselkraft

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Die Feldtheorie. 31

des Körpers k auf k, zerlegt sich in eine Aktivität von k (Erregungdes durch k allein bestimmten Feldes) und ein Erleiden von k, (durchjenes Feld verursachte zeitliche Ärzderung seines Impulses). Da-zwischen schiebt sich die Ausbreitung des Feldes, die nach eigenenGesetzen von der durchsichtigsten Einfachheit und Harmonievor sich geht. Bewegte Ladungen erzeugen neben dem elektri-schen Feld 6 ein magnetisches 23; in der Relativitätstheorie ver-einigen sich beide Bestandteile zu einem einzigen ,,Feldtensor”.Die Ausbreitungsgesetze für das elektromagnetische Feld (63, %3)im leeren Raum lauten nach MAXWELL~) (5)

(13) -~C$+rot?3=0, 1 dz3cC7t+rot CZ=O.

Wesentlich an ihnen ist, 1. daß sie Differentialgleichungen sind,Nahewirkungsgesetze, welche nur die Werte der Zustandsgrößen 6%und 8 in unendlich benachbarten Raum-Zeitpunkten miteinanderverknüpfen; 2. daß nach ihnen sich die zeitliche Änderung des

Feldes 2 E aus seinem momentanen Zustand bestimmtdt ’ dt

(Gültigkeit des Kausalitätsprinzips). Es treten freilich noch zweiZusatzbedingungen hinzu, welche nur die räumlichen, nicht diezeitliche Ableitung enthalten :(14 div@=O, div@=O.Aber sie sind in gewissem Sinne überschüssig. Aus (13) folgt näm-lich, daß die zeitliche Ableitung der beiden Divergenzen identischverschwindet. Genügt also der Anfangszustand des Feldes denBedingungen (ld), so bleiben sie dauernd erfüllt.

Die Definition des Feldes mit Hilfe seiner ponderomotorischenWirkung auf einen Probekörper ist nur ein Provisorium. Durchdas Hereinbringen des geladenen Probekörpers stört man immerin etwas das Feld, das es eigentlich zu beobachten galt; befindeter sich einmal im Felde, so gehört er so gut wie die übrigen Kon-duktoren mit zu den das Feld erzeugenden Ladungen. Das wahreNaturgesetz, das an Stelle von (12) tritt, wird also anzugebenhaben, was für Kräfte das von irgendwie verteilten Ladungenerregte elektrische Feld auf diese Ladungen selber ausübt. Mitdem sich ausbreitenden Feld wird von dem einen Körper auf den

l) Nur um der größeren Bestimmtheit willen schreibe ich diese Gesetzehin; Leser, welche3 tiie mathematische Symbolik nicht vertraut ist, sollensich dadurch nicht abschrecken lassen !

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anderen Impuls übertragen - wie ja auch kein Zweifel darüberherrschen kann, daß durch Lichtstrahlen (Wärmestrahlen) Energievon Körper zu Körper transportiert wird. Während das Lichtunterwegs ist, nachdem also die Energie den einen Körper ver-lassen und den anderen noch nicht erreicht hat, müssen wir sienotwendig im Felde lokalisieren. Auf Grund der Ausbreitungs-gesetze (13) kommt man zu folgendem Resultat: -& C!? ist alsEnergiedichte des elektrischen, Q 232 als Energiedichte des magne-tischen Feldes anzusetzen; die Stromdichte e der Energie ist= c [C5 ‘$31, also ein Vektor, welcher senkrecht zu C$ und %3 stehtund dessen Größe gleich c mal dem Flächeninhalt des von 6% und ‘$3gebildeten Parallelogramms ist. Bezeichnet man demnach dasVolumintegral von w = Q (@ + 232)über irgendein Raumgebiet V als die in V enthaltene Feldenergieund berechnet man den Energiestrom, welcher durch die Ober-fläche 52 von V von außen nach innen hinübertritt in der Weise,daß dazu das Oberflächenelement df einen Beitrag liefert: d f malder zu df senkrechten Komponente von G, so gilt : Die Zunahmepro Zeiteinheit der gesamten in V enthaltenen Energie - das istFeldenergie + Energie der in V vorhandenen Materie - istgleich dem durch &? hindurchtretenden Energiefluß. Die gesamteEnergiemenge bleibt also beständig konstant, sie fließt nur imFelde hin und her und verwandelt sich aus Feldenergie in Energieder Materie und vice versa. Führt man ein rechtwinkliges Koordi-natensystem ein und ersetzt den vektoriellen Impuls durch seinedrei Komponenten in diesem Koordinatensystem, so gilt für diedrei Impulskomponenten etwas ganz Analoges: für jede von ihnenhaben wir eine skalare Felddichte, eine vektorielle Stromdichteund den entsprechenden Erhaltungssatz. Er ist nur ein andererAusdruck für NEWTONS mechanisches Grundgesetz; an die Stelleder Formel (12) sind die Gleichungen getreten, welche Energie-und Impulsdichte, Energie- und Impulsstrom durch die Feld-stärken @ und B ausdrücken. Insbesondere ist für ein Raum-gebiet V, das überhaupt keine Materie enthält, die zeitliche Zu-nahme der Feldenergie gleich dem durch die Oberfläche eintreten-den Energiefluß (genau so für die drei Impulskomponenten), inFormeln :

(15)dW,+div5=0;

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Die Feldtheorie.

und diese Tatsache ist eine mathematische Folge der Feldgesetzew9 (14).

Betrachten wir ein sich ausbreitendes elektromagnetischesFeld im leeren Raum, das in jedem Augenblick nur einen endlichenRaumbereich erfüllt; z. B. eine elektromagnetische Welle, welchedadurch entstanden ist, daß wir eine Kerze angezündet haben,die aber inzwischen schon wieder ausgelöscht sein mag. DiesemFeld kommt eine bestimmte Gesamtenergie E und ein Impuls 3zu, welche während des Ausbreitungsvorganges zeitlich konstantbleiben. Genau wie wir in der Mechanik den Schwerpunkt, den,,Massenmittelpunkt“ definieren, können wir hier in jedem Augen-blick den ,,Energiemittelpunkt“ des Feldes bestimmen; er liegtinnerhalb des felderregten Raumgebietes. Bezeichnet b seine Ge-schwindigkeit, so gilt

Ibl<c u n d s=$b:

unser Feld hat also genau wie cis materieller Körper eine träge Masse

Man kann auch schreiben

E M, c2 Mob .=v’

- - >c2 - v2

3= ->u’c2 - v2

dann ist der ,,Massenfaktor“ M, im Sinne der Relativitätstheorieeine vom verwendeten Bezugskörper unabhängige Größe. Bei derReaktion zwischen mehreren elektromagnetischen Wellen oderzwischen Feld und Materie, bei Emissions- und Absorptionsvor-gängen wird stets die Energie- und Impulssumme nach der Reak-tion den gleichen Wert haben wie vorher. Über diese schon in 11besprochenen Erhaltungssätze ,,im großen“, die wir hier aufStrahlungsvorgänge ausgedehnt haben, sind wir aber, was dasFeld betrifft, durch eine genaue raumzeitliche Analyse des Reak-tionsvorganges hinausgeschritten. Zunächst bedeutete der Über-gang zu NEWTONS mechanischem Bewegungsgesetz, daß wir diezeitlichen -Änderungen der Energie und des Impulses von -Augen-blick zu Augenblick während der Reaktion verfolgten. Zu dieserdifferentiellen zeitlichen Analyse tritt durch die Feldvorstellungdie differentielle räumliche: Energie und Impuls des Systems wer-

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3 4 Was ist Materie?

den in die den einzelnen Volumelementen zukommenden Bei-träge zerlegt, sie werden ,,lokalisiert” und iiber den Raum konti-nuierlich ausgebreitet. Dazu ist man im Grunde aber auch schonbei den materiellen Körpern genötigt; denn was will man eigent-lich bei Anwendung der mechanischen Gesetze unter der Geschwin-digkeit eines Körpers verstehen, wenn der Körper sich währendder Bewegung deformiert oder ein Gasnebel durcheinander-wimmelnder Moleküle ist? Hier wird man offenbar, wie es auchz. B. in der Elastizitätstheorie mit der Spannungsenergie immer ge-schehen ist, Energie und Impuls gleichfalls lokalisieren müssenund unter der Geschwindigkeit des ganzen Körpers nicht dieGeschwindigkeit irgendeiner Substanzstelle, sondern seines Ener-giemittelpunktes zu verstehen haben.

Der Prellbock, an welchem die sich einem bestimmten Atom(oder Elektron) nähernden Atome abprallen, ist nicht seine starreundurchdringliche Substanz, sondern das ihn umgebende Kraft-feld. Die träge Masse ist nicht ein Substanzquantum, sondernberuht auf seinem Energieinhalt, der zu einem wesentlichen Teileoder gar vollständig aus der Feldenergie des umgebenden Feldesbesteht. Setzt man die radial gerichtete Feldstärke im Raume

außerhalb eines Elektrons nach der Maxwellschen Theorie = -!-r2

(r die Entfernung vom Elektronenmittelpunkt, E eine Konstante),so ergibt sich als Energie des ganzen Außenfeldes, wenn das Elektronden Radius a besitzt,

00

a

Beruht auf ihr allein die träge Masse m des Elektronsl), so findetman für den Radius:

23z&2a =--

mc2 l

l) Legt man der Berechnung der trägen Masse in analoger Weise denImpuls des Feldes zugrunde, welches gernaß den Maxwellschen Gleichungendas mit der Geschwindigkeit ‘u gleichförmig bewegte Elektron umgibt, so be-kommt man einen Wert, der 3/* mal so groß ist. Die alte, an die Substanz-Vorstellung gebundene Elektronentheorie mußte in dieser Diskrepanz einernsthaftes physikalisches Problem erblicken. Vgl. die Bemerkung darüberauf S. 18.

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Die Feldtheorie. 35

Auf Grund der experimentell bekannten Werte von E und merhält man daraus ein a von der Größenordnung 10 - l3 cm. DerRadius muß einen endlichen Wert haben und kann nicht 0 sein,weil man sonst auf eine unendlich große Energie und damit aufeine unendlich große Masse kommen würde. Endlich sahen wireben, daß sich selbst der in der Mechanik auftretende Geschwindig-keitsbegriff von der Substanzvorstellung emanzipiert. Wenn soalle physikalisch wesentlichen Eigenschaften des Elektrons andem umgebenden Felde und nicht an dem im Feldzentrum stecken-den substantiellen Kerne hängen, so muß man sich doch fragen,ob denn iiberhaa@t die Annahme eines derartigen Kernes nötig istoder ob wir ihn nicht ganz entbehren können. Die letzte Frage be-antwortet die Feldtheorie der Materie mit Ja; ein Materieteilchenwie das Elektron ist für sie lediglich ein kleines Gebiet des elek-trischen Feldes, in welchem die Feldstärke enorm hohe Werteannimmt und wo demnach auf kleinstem Raum eine gewaltigeFeldenergie konzentriert ist. Ein solcher Energieknoten, der gegendas übrige Feld keineswegs scharf abgegrenzt ist - der geome-trische Begriff des Elektronenradius verliert also seinen präzisenSinn (6) -, pflanzt sich durch den leeren Raum nicht anders fort,wie etwa eine Wasserwelle über die Seefläche fortschreitet; esgibt da nicht ein und dieselbe Substanz, aus der das Elektron zuallen Seiten besteht. Wie die Geschwindigkeit einer Wasserwellenicht substantielle, sondern Phasengeschwindigkeit ist, so handeltes sich bei der Geschwindigkeit, mit der sich ein Elektron bewegt,auch nur um die Geschwindigkeit eines ideellen, aus dem Feld-verlauf konstruierten ,,Energiemittelpunktes“. Läßt sich dieseAuffassung durchführen, durch welche der die Physik seit FARA-DAY und MAXWELL beherrschende Dualismus von Materie undFeld zugunsten des Feldes überwunden wird, so ergäbe sich einaußerordentlich einheitliches Weltbild. Statt der drei Arten vonGesetzen, nach denen das Feld 1. durch die Materie erregt, emit-tiert wird, 2. sich ausbreitet und 3. auf die Materie wirkt, behaltenwir nur die Feldgesetze 2 übrig vom Typus der MaxwellschenGleichungen (13), deren Stuktur uns völlig durchsichtig ist,während die Gesetze 1 und 3, in deren Dunkel die Physik auchheute noch kaum. eingedrungen ist, iiberflüssig werden. Insbe-sondere ist die Gültigkeit der mechanischen Gleichungen gewähr-leistet durch den aus den Feldgesetzen folgenden differentiellen

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Energie-Impulssatz, dessen Energiekomponente für das Max-wellsche Feld in Formel (15) angegeben wurde. Man kann diesesWeltbild kaum als ein dynamisches mehr bezeichnen, weil hierdas Feld weder von einem dem Felde gegenüberstehenden mate-riellen Agens erzeugt wird noch auf ein solches wirkt, sondernlediglich, seiner Eigengesetzlichkeit folgend, in einem stillenkontinuierlichen Fließen begriffen ist. Es ruht ganz und gar imKontinuum ; auch die Atomkerne und Elektronen sind keineletzten unveränderlichen, von den angreifenden Naturkräftenhin und her geschobenen Elemente, sondern selber stetig aus-gebreitet und feinen fließenden Veränderungen unterworfen.

Die Maxwellschen Gleichungen (13) reichen natürlich nichtaus, um die Materieteilchen als Energieknoten im elektromagne-tischen Felde zu konstruieren, da die in einem Elektron zusammen-gedrängten negativen Ladungen, den Coulombschen Fliehkräftenfolgend, explodieren würden, wenn in ihrem Bereiche noch jeneGesetze gültig wären. Mathematisch kommt das darin zum Aus-druck, daß das einzige statische, um ein Zentrum 0 kugelsymme-trische Feld 8, welches der Maxwellschen Gleichung div Q = ogenügt, im Zentrum 0 eine Singularität bekommt; es ist nämlichradial gerichtet, und seine Stärke nimmt mit wachsender Ent-

fernung Y nach dem Gesetz f ab (e = const.), wird also im Null-

punkt unendlich. (In der Tat verlangt die Gleichung div (33 = 0,daß durch jede Kugel um 0 der gleiche Feldfluß hindurchtritt,

d. h. es muß f l 4 TZ@ = 4 TZ e konstant sein.) Nach der alten

Substanzvorstellung wird der Zusammenhalt der negativen La-dungen im Elektron dadurch erzwungen, daß sie an ein Substanz-kügelchen gebunden sind, das sie nicht verlassen können ; und nurzu diesem Zwecke hatte man in der atomistischen LorentzschenElektrodynamik die Substanz noch nötig. G. MIEF) wies 1912aus recht zwingenden allgemeinen Anschauungen heraus einenWeg, die Maxwellschen Gleichungen so zu modifizieren, daß sieevtl. das Problem der Materie zu lösen imstande sind, nämlicherklären, warum das Feld eine ,,körnige“ Struktur besitzt unddie Energieknoten sich im Hin- und Herströmen von Energie

l) Am. d. Physik, Bd. 37, 39, 40. 1912/1913.

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Die Feldtheorie. 37

und Impuls dauernd erhalten (wenn auch nicht völlig unveränder-lich, so doch mit einem hohen Grad von Genauigkeit). Dies mußdarauf beruhen, daß die modifizierten Feldgesetze nur eiutenGleichgewichtszustand oder wenige, durch keinen kontinuier-lichen Übergang verbundene Gleichgewichtszustände von Energie-knoten ermöglichen (statische kugelsymmetrische Lösungen derFeldgleichungen). Damit wäre es auch verständlich geworden,warum alle Elektronen dieselbe Ladung besitzen: aus den Feld-gesetzen lassen sich Ladung und Masse des Elektrons und dieAtomgewichte der einzelnen existierenden chemischen Elemente,,vorhersehen“, berechnen (die Substanztheorie hatte diese letztenBausteine der Materie immer als etwas mit seinen numerischenEigenschaften Gegebenes hingenommen, ihr mußte es unverständ-lich bleiben, warum nur Substanzkugeln von ganz bestimmtenRadien und Massen in der Natur vorkommen). Und hier, nichtin der Unterscheidung von Substanz und Feld, läge ferner derGrund, warum wir an der Energie oder trägen Masse eines zu-sammengesetzten Körpers die nichtauflösbare Energie seinerletzten materiellen Elementarbestandteile der auflösbaren Energieihrer wechselseitigen Bindung gegenüberstellenl). Als einzigeZustandsgrößen verwendete MIE zunächst die aus der Maxwell-schen Theorie bekannten elektromagnetischen. Von anderenursprünglichen Feldkräften außer der elektromagnetischen undder Gravitation ist uns nichts bekannt, und 1913 bestand nochdie Hoffnung, die Gravitation als ein Begleitphänomen des Elek-tromagnetismus zu erklären. Nach Aufstellung der allgemeinenRelativitätstheorie durch EINSTEIN genügte es aber, MIES An-sätze von dem Boden der speziellen auf den der allgemeinen Rela-tivitätstheorie zu verpflanzen, wie das durch HILBERT geschah,um die Gravitation mit zu umfassen. Daran schließen sich weitereVersuche von WEYL, EDDINGTON und EINSTEIN, elektromagne-tisches und Gravitationsfeld völlig zu einer Einheit zu verschmel-zen. In MIES fundamentalen Arbeiten aber war zum erstenmalüberhaupt Sinn und Aufgabe der reinen Feldphysik klar erfaßt.

1) Natürlich würde in einer solchen Elektrodynamik auch die in derFußnote auf S. 7 erwähnte Frage des ARISTOTELES ihre Lösung finden; wirwüßten ebensogut, warum Proton und Elektron nicht zusammenschmelzen,wie wir verstünden, warum im Raume des Elektrons die negativen Ladungennicht auseinanderplatzen.

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Er gelangte, wie freilich betont werden muß, auf seinem speku-lativen Weg - und ein anderer ist hier zur Zeit kaum gangbar -nicht zu eindeutig fixierten Feldgesetzen, sondern nur zu einemallgemeinen Schema, das noch verschiedener Spezialisierungenfähig ist und in welchem die Maxwellschen Feldgesetze des leerenRaumes als einfachster Sonderfall mitenthalten sind. Und esgelang bisher nicht, im Rahmen dieses Schemas die unbestimmtbleibende Wirkungsfunktion so zu wählen, daß sie zu einzelnendiskreten Gleichgewichtszuständen der Materieteilchen führt (ob-schon die Mathematik durch eine Konstantenabzählung erkennenläßt, daß dies sozusagen normalerweise zu erwarten ist). Zurnäheren Illustration kann ich darum nur ein fingiertes Beispiel ge-brauchen: es liegt durchaus im Bereich der mathematischen Mög-lichkeit, daß bei geeignet gewählter Wirkungsfunktion sich alseinzige überall reguläre statische kugelsymmetrische Lösung derFeldgesetze die Formel ergäbe

&radiale elektrische Feldstärke = -

9 + a2

mit den Konstanten E = -4,77 l 10-10 elektrostatische Ein-heiten, a = 10-13 cm. Damit wäre das Elektron, sein Radius a,Ladung E und Masse erklärt; in Entfernungen q, die groß gegen-

über a sind, geht der Ausdruck über in den Maxwellschen Eim Nullpunkt aber ist die Singuarität verschwunden.

Y2 ’

Es ist hier nicht der Ort, über die Miesche Theorie eingehenderzu referieren. Ich schildere lieber zusammenfassend und unab-hängig von den besonderen Ansätzen MIES die allgemeinen Zügeeiner Feldtheorie der Materie. Statt einer sich bewegenden Sub-stanz bilden in ihr die Grundlage gewisse, im vierdimensionalenRaum-Zeit-Kontinuum ausgebreitete physikalische Zustandsgrö-ßen; wird jenes Kontinuum - nach der allgemeinen Relativitäts-theorie in völlig willkürlicher Weise - auf vier Koordinaten be-zogen, so erscheinen die Feldgrößen in ihrem wirklichen Verlaufwiedergegeben durch stetige Funktionen der Raum-Zeit-Koordi-naten. Sie genügen gewissen einfach gebauten Differential-gleichungen, den Feldgesetzen, welche von solcher Art sind, daßsie die Ableitungen der Zustandsgrößen nach der Zeit-Koordinatein einem Augenblick aus dem momentanen im dreidimensionalenRaum ausgebreiteten Feldzustand zu bestimmen gestatten (Kau-

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salitätsprinzip). Außerdem muß das System der Feldgesetze, umeine objektive Bedeutung zu haben, unabhängig sein von derWahl des Koordinatensystems ( Relativitätsprinzip). Endlichmüssen Energie- und Impulsdichte, Energie- und Impulsstrom alsAusdrücke in den unabhängigen Zustandsgrößen des Feldes ge-geben sein und für sie auf Grund der Feldgesetze Erhaltungssätzevom Typus (15) sich ergeben, welche aussagen, daß die zeitlicheZunahme der Feldenergie und des Feldimpulses in einem beliebigabgegrenzten Raumteil ‘v gedeckt wird durch den Energie- bzw.Impulsfluß, der durch die Oberfläche 0 von T’ hindurchtritt.(Die Feldgesetze und ebenso die Ausdrucke für Energie und Im-puls dürfen nur dort, wo die Feldstärken enorm hohe Werteannehmen, merklich von den Maxwellschen Ausdrucken abwei-chen, damit der Anschluß an die Erfahrung gewährleistet ist.)

Die Geschichte lehrt, daß die Unterordnung der Erscheinungenunter die Kategorie der Substanz nicht selbstverständlich ist,sondern das Erzeugnis einer bestimmten historischen Epoche.Eine Zeitlang ist sie in der Physik allbeherrschend, alle Vorgängesollen auf die Bewegung verborgener ,,Fluida“ zurückgeführt,,,mechanisch“ erklärt werden. Aber andere Zeiten, vorher undnachher, und andere Denker haben der substantiellen Materienicht bedurft oder sie sogar positiv verworfen. Keine Rede davon,daß die Physik, wie es in seiner Polemik gegen die Relativitäts-theorie z. B. LENARD behauptete, jeder anschaulichen Basis ver-lustig geht, wenn die elektrischen und optischen Vorgänge nichtmehr unter dem Bilde von Bewegungen eines substantiellen Äthersaufgefaßt werden. Auf die sinnliche Erfahrung kann man sichjedenfalls nicht berufen, um die Substanzvorstellung zu legiti-mieren. Unsere Sinne greifen überhaupt nicht in die Ferne, sichdes substantiellen ,,Dinges” bemächtigend, sondern für die psycho-physische Wechselwirkung gilt so gut wie für die rein physischedas Prinzip der Kontinuität, der unmittelbaren Nahewirkung :Meine Gesichtswahrnehmungen sind bestimmt durch die auf derNetzhaut auftreffenden Lichtstrahlen, also durch den Zustand desoptischen oder elektromagnetischen Feldes in der unmittelbarenNachbarschaft mit dem Sinnesleib jenes rätselhaften Realen, desIch, dem eine gegenständliche Welt bildmäßig ,,erscheint“; undzwar ist hier vor allem der Energiestrom - seine Richtung für

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die Richtung, in der ich Gegenstände erblicke, seine periodischeVeränderlichkeit für die Farbe - maßgebend. Fasse ich einStück Eis an, so nehme ich den an der Berührungsstelle zwischenjenem Körper und meinem Sinnesleib fließenden Energiestromals Wärme, den Impulsstrom als Druck (Widerstand) wahr. Sokann man sagen, daß die Energie-Impulsgrößen des Feldes das-jenige sind, wovon ich direkt durch meine Sinne Kunde erhalte.In der Auflösung des Substanzbegriffes ist die Philosophie derPhysik voraufgegangen. Die Kritik setzt bei LOCKE kräftig ein,nimmt eine radikale Wendung bei BERKELEY und wird vonHUME mit aller Gründlichkeit und Klarheit zu Ende geführtl).Statt die Qualitäten durch einen substantiellen Träger zusammen-zuhalten, gilt es allein ihre funktionalen Beziehungen zu erfassen.Von Neueren, welche diese Ablösung der Substanz- durch dieFunktionsidee scharf betont und allseitig beleuchtet haben, sindMACH und im Anschluß an ihn PETZOLDT -, vom Neu-Kantianis-mus herkommend, CASSIRER zu nennen2). Doch braucht mandie Physik, glaube ich, wegen ihrer größeren Trägheit in dieserFrage nicht zu schelten; für die positiven Wissenscharten ist esein gesunder Grundsatz, einen Begriff, eine Vorstellung erst ab-zustoßen, wenn die ihn verdrängende überlegene Anschauungschon da ist. Oberhaupt scheint es mir, daß Philosophie als selb-ständige Wissenschaft immer in der Kritik und Präformation derBegriffe stehen bleibt, zu fruchtbarer positiver Erkenntnis abererst sich wandelt in dem Augenblick, wo sie, ihrer Selbständigkeitsich entäußernd, zum philosophischen Denken innerhalb derEinzelwissenschaften wird und deren breit entwickelte Erfahrungs-und Gedankenmasse ihren Ideen Leib gibt. Die lenkende Kraftder metaphysischen Ideen und die große Bedeutung der philo-

‘) Ich zitiere aus HUMES Traktat über die menschliche Natur, Teil IV,Abschn. 6 : ,,Unser Hang, die Identität mit der Beziehung zu verwechseln,ist groß genug, um den Gedanken in uns entstehen zu lassen, es müsse nebender Beziehung noch etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles da sein, dasdie zueinander in Beziehung stehenden Elemente verbinde.” EbendaAbschn. 3: ,,So sieht sich auch hier die Einbildungskraft veranlaßt, ein Un-bekanntes Etwas oder eine ,ursprüngliche Substanz oder Materie’ zu er-dichten und hierin das die Einheit oder den Zusammenhang der Erschei-nungen herstellende Prinzip zu sehen.”

2, J. PETZOLDT: Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischenPositivismus aus. (3. Aufl., Teubner 1921). - E. CASSIRER: Substanzbegriffund Funktionsbegriff. (Berlin 1910.)

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sophischen Arbeit wird dadurch nicht verkannt. Auch gibt esfür sie noch eine wichtige Aufgabe nach diesem Ereignis: die Aus-einandersetzung des in der objektiven Wissenschaft Erkanntenmit dem Gesamtleben.

Daß die substantielle Materie nicht ein sich selbstverständlichaufdrängendes Element der Naturdeutung ist, wird ferner durchdie Geschichte des antiken Denkens belegt; jene Idee ist denmeisten griechischen Denkern ganz fremd. Bei ARISTOTELES istder Begriff des Stoffes (2;rly, rd &ZO~E~/AEYO~) in erster Linie einrelativer, das ,,Bestimmbare“ im Gegensatz zur bestimmendenForm (EIBOG) ; Stoff ist Möglichkeit des Geformtwerdens. In einemmehrgliedrigen Produktionsprozeß erscheint auf jeder Stufe derStoff ,,geformter“, der Spielraum der Möglichkeiten weiterer For-mung beschränkter. Damit schwindet zugleich der Stoff imAristotelischen Sinne, die Komponente des nur potentiellen, nichtaktualisierten Seins, mehr und mehr zusammen. Man sieht, daßdieser Stoff offenbar nicht die Materie im Sinne des Abschnittes Iist. Zwar hat auch für ARISTOTELES jene Relationskette vonStoff und Form einen Anfang in der ,,ersten Materie“, die alleMöglichkeiten in sich birgt, aber zugleich ein Ende im reinen Geist,in welchem alle Potentialität aktualisiert ist. Das Wort ,,Werde,der du bist“ ist hier iiber alle Weltgeschöpfe ausgesprochen. DieFormen sind etwas im Innern des Stoffes von der Möglichkeit zurWirklichkeit Hinüberdrängendes ; der Übergang selbst geschiehtin der ,,Bewegung“l). Diese ist also nicht die DemokriteischeBewegung einer mit sich selbst identisch bleibenden Substanz,sondern Veränderung, Wechsel der Beschaffenheit im allgemeinstenSinne. Da in der Physik der teleologische Gesichtspunkt nochganz zurücktritt, die qualitativen Zuständlichkeiten aber denRaum stetig und lückenlos erfüllen, ist die Physik des ARISTO-TELES - die freilich fast ganz in einer Ontologie der Natur steckenbleibt - in ihrem entscheidendsten Zuge Feldtheorie. Von daaus ist seine Leugnung des leeren Raumes ganz konsequent (7).

l) Es überkreuzt sich freilich diese naturphilosophische Auffassung desVerhältnisses von Stoff und Form mit einer mehr logischen, nach welcherjedes konkrete Einzelding volle Wirklichkeit beanspruchen kann, die Formeines solchen Dinges nirgendwo noch eine Möglichkeit weiterer Ausfüllungoffen läßt, und der Stoff über diesen Wesensbestand an ,,Form“ hinaus ihmlediglich (als principium individuationis) die individuelle Existenz verleiht.

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Die Annahme, daß das Feld ein Raumgebiet ausläßt, ist auch füruns absurd. Denn wird das raumzeitliche Kontinuum auf Koordi-naten bezogen, so erscheinen die Zustandsgrößen des Feldes alsFunktionen dieser Koordinaten; aber der Begriff der unabhängigenVariablen ist korrelativ zu dem der Funktion : so weit das Existenz-feld einer Funktion reicht, erstreckt sich auch das Gebiet der Ver-änderlichkeit ihrer Argumente. (Man beachte dabei wohl: dasBestehen der Gleichung & = 0 in einem Raumgebiet bedeutetfür das elektrische Feld (3 nicht etwa, daß es in jenem Gebiet unter-brochen ist, sondern nur, daß es sich dort im ,,Ruhezustand“ be-findet, der sich stetig in alle übrigen möglichen Zustände einpaßt.)Und genau diese Auffassung hat ARISTOTELES vom Raum; er istfür ihn ein Moment an den Körpern: Scheidung zugleich undstetiger Zusammenhang, Unendlich-benachbart-sein der Teile desstetig abgestuften qualitativen Weltinhalts. (Es ist eine leichtverständliche, aber auch leicht abzustreifende Befangenheit, diewir analog bei DESCARTES antreffen, wenn sein Blick dabei inerster Linie an der Begrenzung zweier sich berührender Körperhaften bleibt.) Es ist weiter konsequent, daß er keine andere alsunmittelbare Nahewirkung zugibt: ,,Dasjenige, welches die Ver-wandlung hervorbringen soll, muß das zu Verwandelnde be-rühren“ ; und darum kann er auch den Raum nur als das Mediumdieses Sich-berührens gelten lassen. Im Gegensatz dazu faßt dieatomistische Substanztheorie den Raum als Inbegriff möglichergeometrischer Fernbeziehungen, und sie muß eine im leeren Raumoperierende ,,Ferngeometrie“ nach Art der Euklidischen voraus-setzen, weil sie ja ein Werden im Aristotelischen Sinne leugnet,und das einzige, was wechselt, für sie die Lagebeziehungen derfesten Substanzelemente sind. Verlegt man aber das Werden inden nach Ort und Zeit veränderlichen Feldzustand, so wird, wiedie moderne Relativitätstheorie gezeigt hat, diese Art von Geo-metrie entbehrlich: dem Weltkontinuum an sich kommt danach- im Einklang mit ARISTOTELES - nur der stetige Zusammen-hang zu; alle geometrischen Beziehungen und Charaktere ergebensich erst auf Grund des von der Materie abhängigen, im Raumeherrschenden metrischen Feldes (das nach EINSTEIN außerdemfür die Gravitationserscheinungen verantwortlich ist). In derFeldtheorie spielt in gewissem Sinne das Raum-Zeitkontinuum dieRolle der Substanz, wenn wir den Gegensatz von Substanz und Form

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Die Feldtheorie. 4 3

als den des ,,Dies“ und ,,So“ fassen ; das nur durch einen indivi-duellen Hinweis zu gebende, qualitativ nicht charakterisierteDies ist für sie nicht ein verborgener Träger, dem die Beschaffen-heiten inhärieren, sondern das ,,Hier-Jetzt“, die einzelne Raum-zeitstelle. Die Weltbeschreibung besteht nach der Feldtheorie,um einen Terminus von HILBERT zu gebrauchen, aus den ,,Hier-So-Relationen“ - das ,,Hier“ vertreten durch die Raumzeit-koordinaten, das ,,So“ durch die Zustandsgrößen; sind diese alsFunktionen jener bekannt, so ist der Weltverlauf vollständig fest-gelegt. Daß der an sich formlose unbegrenzte Raum, der aberfähig ist, alle Formen in sich aufzunehmen, die QI der Körper-welt sei, war, wie ARISTOTELES ausdrücklich bezeugt, die AnsichtPLATONS; wenn sich ARISTOTELES dagegen verwahrt, mit demArgument, daß der Stoff mit dem Ding verbunden bleiben müsse,der Raum aber in der Bewegung von ihm sich trenne, so fällt eroffenbar in die naive Ding-Vorstellung zurück, welcher die ver-hältnismäßig beständige räumliche und qualitative Form dieIdentität des Stoffes bedeutet.

Weiter gehört hierher des ARISTOTELES Lehre vom natürlichenOrt, die Trennung der Bewegungen in ,,natürliche“ und ,,gewalt-same“. Er schreibt dem Orte physikalische Wirksamkeit zu; Ortist nicht nur etwas, sondern besitzt ein gewisses Vermögen; dienatürlichen Bewegungen folgen dieser &CC,U~L~ (Streben derschweren Körper zum Weltzentrum, des Feuers von ihm fort).Das strukturelle Führungsfeld (siehe den Dialog über ,,Massen-trägheit und Kosmos“) ist in der modernen Physik dies Orts-vermögen, und auch wir scheiden wieder zwischen der ,,natür-lichen“, durch das Führungsfeld bestimmten Trägheitsbewegungund der gewaltsamen, durch ,,Kräfte“ hervorgebrachten Ab-lenkung. In entschiedendstern Gegensatz dazu hatte die Physikder Renaissance die reale Wirksamkeit des Orts geleugnet. ,,DerOrt ist ein Nichts, er existiert nicht und übt keine Kraft aus,sondern alle Naturgewalt ist in den Körpern selbst enthalten undbegründet ." (GILBERT, de mundo nostro sublunari philosophianova, 1651.) Darum in ihr der absolute Euklidische Raum mitseinen geometrischen Fernbeziehungen, und die Beharrungstendenzder Trägheitsführung nicht etwas Reales, mit den Kräften imKampf Liegendes, sondern geometrisch fixiert durch den absolutenRaum. Es ist kein Zweifel, daß wir uns hierin der Aristotelischen

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Auffassung wieder beträchtlich genähert haben - obschon esoffenbar historisch notwendig war, seine naive Durchführungdes Programms, sein Weltgebäude durch die neuen Wahrheitenvon KOPERNIKUS und KEPLER, GALILEI und NEWTON zu zer-trümmernl) .

Endlich versteht man von hier aus die Ablehnung der Atomein der Aristotelischen Physik; denn ,,aus Unteilbaren kann keinestetige Größe entstehen“, wie es der Raum und das ihn erfüllendequalitative Feld ist. Aus demselben Argument heraus, daß einKontinuum nicht in Teile zerfallen kann, gelangte DEMOKRIT zuder entgegengesetzten Folgerung : Weil ich einen Stock zerbrechen,in zwei Teile zerlegen kann, war er von vornherein kein zusammen-hängendes Ganzes; die Teilung läßt sich fortsetzen, bis ich zu denunteilbaren Atomen komme. Der Grundsatz, von welchem beideausgehen, spricht unbedingt eine im Wesen des Kontinuumsliegende Wahrheit aus; in der Scholastik ist er im Anschluß anARISTOTELES eingehend erörtert worden. Die moderne, unter demEinfluß von G. CANTOR stehende mengentheoretische Analysisverkennt ihn zwar - sie faßt das Kontinuum als einen Inbegriffvon Punkten -, aber eine strenge intuitive Begründung der mathe-matischen Theorie des Kontinuums, wie sie neuerdings vonBROUWER und dem Verf. entworfen wurde, hat sich genötigt ge-sehen, das Kontinuum wiederum als ein Medium zu konstruieren,innerhalb dessen sich wohl einzelne Punkte festlegen lassen, dassich aber nicht in eine Menge von Punkten auflösen läßt2). Der

l) Das Gilbertsche Prinzip, daß alle Naturgewalt in den Körpern selbstenthalten und begründet ist, bildet das Thema des nachfolgenden Dialogs. -Vgl. ferner E. CASSIRER, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie undWissenschaft der neueren Zeit (Berlin lgo6/07), Bd. 1 und 11; 0. BECKER:Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrerphysikalischen Anwendungen, Husserls Jahrbuch für Philosophie und phä-nomenologische Forschung Bd. 6, 1923 (meines Erachtens bei weitem diegründlichste moderne Bearbeitung des philosophischen Raumproblems).

2) Vgl. dazu WEYL: Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik,Math. Zeitsehr. Bd. IO, S. 39. 1921. ARISTOTELES bemerkt zum Zeno-nischen Paradoxon (Physik, Kap. VIII) : ,,Wenn man die stetige Linie inzwei Hälften teilt, so nimmt man den einen Punkt für zwei; man machtihn sowohl zum Anfang als zum Ende, indem man aber so teilt, ist nichtmehr stetig weder die Linie noch die Bewegung . . . In dem Stetigen sindzwar unbegrenzt viele Hälften, aber nicht der Wirklichkeit, sondernder Möglichkeit nach.” Das Gegebene ist, darin hat HUME recht, nicht

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Die Feldtheorie. 45

Widerstreit zwischen DEMOKRIT und ARISTOTELES löst sich so:Nach der Substanztheorie wird der Stab beim Zerbrechen wirklichin zwei Substanzteile zerlegt; darum ist er, wie DEMOKRIT richtigschließt, aus unteilbaren Elementen diskontinuierlich aufgebaut.Nach der Feldtheorie wird aber die Verbindung zwischen denbeiden Bruchstücken gar nicht unterbrochen; nach wie vor habenwir ein den ganzen Raum erfüllendes kontinuierliches Feld; dasGelände, aus welchem sich anfänglich nur ein Bergrücken heraus-hob (die hohen Werte der Feldgrößen im Gebiete des materiellenStocks !), hat sich stetig in ein Gelände mit zwei ausgesprochenen,Gebirgszügen verwandelt. - Die historische Stammtafel deranti-atomistischen, ganz im Kontinuum hausenden Weltauf-fassung, der das Geschehen als ein den Raum stetig erfüllendesund stetig veränderliches Feld erscheint, wird die Namen HERA-KLIT, ANAXAGORAS, die sog. Pythagoreer (ARCHYTAS und seineGefährten), endlich PLATON enthalten müssen. Anfänglich ver-band sich mit ihr die Verzweiflung an der rationalen Erkennbar-keit der Welt, so noch bei Platons Lehrer KRATYLOS. Die Wendungbei PLATON in diesem Punkte - für ihn wird ja dann die ,,Geo-metrie“ zum Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Idee -beruht auf der Entdeckung des Infinitesimalprinzips durchANAXAGORAS und die Pythagoreer, das ausdrücklich als eineWiderlegung des Standpunktes von DEMOKRIT verstanden wurde.Sie eröffnete die Möglichkeit, das Kontinuum mathematisch zuerfassen. ARISTOTELES aber verbleibt mit seiner Physik viel mehrals mit anderen Teilen seiner Philosophie im Bannkreis der Aka-demiel).

unendlich teilbar, unterhalb einer gewissen Schranke hört jede Unter-scheidbarkeit auf. Das wirkliche Ding aber ist eine Grenzidee, entfaltetnur in einem auf jeder Stufe ins Unendliche hinein offen bleibendenProzeß seinen ,,inneren Horizont“. Das wird in den angeführten Wortenvon ARISTOTELES vortrefflich ausgedrückt. Die Grenzidee wird uns in demMaße anschaulich, als beim weiteren Hineingehen in den Innenhorizontgewisse anschaulich auffaßbare Momente sich konstant erhalten. Vgl. dazudas Zitat aus PERRINS Buch über die Atome auf S. 12 und die Ausführungenüber Limesbildung bei 0. BECKER: a. a. 0.

1) Natürlich ist dabei der gewaltige Unterschied zwischen der Plato-nischen, der Aristotelischen und der Mieschen Auffassung des Weltgeschehensnicht zu verkennen. Das unterscheidende Prinzip liegt dort, wo sich nachjeder dieser Theorien der Heraklitische Fluß ,,zum Starren waffnet“: fürARISTOTELES in den immanenten zweckbestimmten Formen, für PLATON

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Es ist bekannt, daß DESCARTES die gleiche PythagoreischeLehre vertreten hat, d i e räumliche Ausdehnung sei die eigentlicheSubstanz der Körper. Er will trotzdem alle qualitative Verände-rung - wie übrigens wohl auch die Pythagoreer und PLATON -auf Bewegung zurückführen. Bewegung, sagt er, ist ,,Überführungeines Teiles der Materie oder eines Körpers aus der Nachbarschaftderjenigen Körper, welche ihn unmittelbar berühren und alsruhend betrachtet werden, in die Nachbarschaft anderer Körper.Unter einem Körper oder einem Teil der Materie aber versteheich das, was auf einmal übergeführt wird“. Es ist schwer, mitdiesen Erklärungen einen Sinn zu verbinden, ohne ein substan-tielles Medium zugrunde zu legen, dessen einzelne Stellen mandurch ihre Geschichte hindurch verfolgen, zu allen Zeiten wieder-erkennen kannl). Es kommt hinzu, daß das mathematische Denkentrotz der im Altertum genommenen Anläufe dem Kontinuumimmer noch nicht gewachsen ist; so wird die Physik des DES-CARTES dann doch zu einer Korpuskulartheorie ; nur sind dieKorpuskeln nicht wie bei DEMOKRIT unveränderlich, sondernstoßen sich gegenseitig die Ecken ab und werden zerrieben.Zwischen den kugelförmigen Korpuskeln müssen sich andereprismatische hindurchwinden, deren Querschnitt so gestaltet istwie der Zwischenraum zwischen drei sich von außen berührendenKreisen %) ( !). Korrigiert man den aus der mangelnden Beherr-schung des Kontinuums hervorgehenden Fehler, so werden dieUnstetigkeiten an den Trennungsflächen, welche die einzelnensich aneinander hinschiebenden Korpuskeln trennen und dieDESCARTES offenbar zur Erfassung der Bewegung für nötig hält,etwas ganz unwesentliches, und man bekommt eine Fluidums-theorie. Man könnte z. B. annehmen, daß das Weltfluidum sichso bewegt wie eine inkompressible reibungslose Flüssigkeit (Was-ser) ; seine Bewegungsgesetze, welche bei DESCARTES ganz im

in den transzendenten Ideen, für MIE in dem bindenden funktionalen Feld-gesetz. - Über PLATON vgl. das schöne Buch von E. FRANK: Plato und diesog. Pythagoreer (Halle 1923), über die Abhängigkeit der AristotelischenPhysik von der Akademie: W. JAEGER, Aristoteles (Berlin 1923).

1) Von einer anderen möglichen Interpretation möchte ich wenigstenshier absehen, da sie sachlich und historisch von keinem Belang ist.

2) Im ganzen, scheint mir, ist die Physik kein Ruhmesblatt im Buch derCartesischen Philosophie ; sie ist weder durch Klarheit des Denkens nochdurch einen höheren Grad intuitiven Naturverständnisses ausgezeichnet.

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Die Feldtheorie. 4 7

Dunkel bleiben - er hält sich hier an die aus grobsinnlicher Er-fahrung entnommenen Bilder vom Drücken, Drängen, Zerreiben,Festhaken der Teilchen - wurden dann diejenigen sein, in welchesich die modernen hydrodynamischen Gleichungen verwandeln,wenn man aus ihnen den der dynamischen Vorstellungswelt an-gehörigen Flüssigkeitsdruck eliminiert. Wenn b die vektorielleGeschwindigkeit des strömenden Wassers als Funktion von Ortund Zeit bedeutet und neben dem Geschwindigkeitsfeld b dessenWirbelfeld $3 eingeführt wird, so gewinnt man dadurch folgendesSystem von Gleichungen

div b = 0, rot b-8;

(17)m

g+rot[b$]=O.

Aus dem auf Grund dieser Differentialgleichungen ermitteltenGeschwindigkeitsfeld sind dann durch eine weitere Integrationdie Weltlinien der einzelnen Flüssigkeitsteilchen zu bestimmen.Jetzt läßt sich aber auch noch das substantielle Medium elimi-nieren, wie es die philosophische Grundthesis von DESCARTESfordertl): Wir brauchen uns nur der Deutung des in (17) auf-tretenden Vektors b, der eine stetige Funktion von Ort und Zeitist, als der Geschwindigkeit strömender Materie zu enthalten.Die Feldgesetze (17) sind in der Tat von ähnlichem Typus wiedie Maxwellschen Gleichungen (wobei 58 etwa die Rolle der Feld-stärke, b die des Potentials spielt). Die letzte Integration, derObergang vom Geschwindigkeitsfeld zu den Weltlinien der Flüssig-keitsteilchen, fällt damit natürlich fort. Der Zusammenhang mitder Erfahrung wird nicht durch jene Deutung von b als Geschwin-digkeit eines strömenden substantiellen Mediums hergestellt, son-dern durch die Gesetze, nach welchen sich aus den Feldgrößen b, %die auf die beobachtbaren Körper einwirkende ponderomotorischeKraft bestimmt. Auf Grund dieser Gesetze, nicht auf Grund einersubstantiellen Mitführung kann der ,,hineingeworfene Strohhalm“(vgl. S. 3) zur Messung von b verwendet werden. Oder bessernoch, da ja auch der Strohhalm im Felde aufgelöst werden muß:

l) Die Annahme einer qualitativ nicht charakterisierten Substanz führt,wie wir im Abschnitt 1 sahen, notwendig zum Atomismus; jede Fluidum-theorie also, die an der kontinuierlichen Raumerfüllung festhalten will,muß, zu Ende gedacht, Feldtheorie werden.

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4 8 Was ist Materie?

es müssen, gemäß dem von MIE aufgestellten Muster einer reinenFeldtheorie, die Formeln hinzugefügt werden, welche die Energie-Impulsgrößen in Abhängigkeit von den Feldgrößen b und %definieren. So etwa würde heute die konsequente Durchführungdes Cartesischen Grundgedankens aussehen.

Spätere Physiker haben tatsächlich die hydrodynamischenGleichungen (17) zum Fundament für ihre Theorie des Äthersgemachtl). Eine analoge Rolle spielt die Elastizität in der älterenmechanischen Lichttheorie. Sobald man aber einmal von derVorstellung der sich bewegenden Substanz zu der des raumzeit-lich ausgebreiteten Feldes übergegangen ist, haben solche noch inAnknüpfung an den Substanz-Gedanken entsprungenen Ansätzekeinerlei anschaulichen Vorzug mehr vor der von vornherein damitaufräumenden Maxwellschen Feldtheorie. Es war ein ungeheurerFortschritt, daß FARADAY und MAXWELL sich über die das Feldbeschreibenden Zustandsgrößen und ihre Gesetze von neuem durchdie Erfahrung belehren und nicht von apriorischen Konstruk-tionen leiten ließen; dies ihr Vertrauen zur Natur war durch denBruch mit der ,,mechanischen“ Naturerklärung nicht zu teuererkauft, es wurde belohnt durch die grandiose, allen mechanischenBildern weit überlegene Harmonie, die den von ihnen ent-deckten Gesetzen innewohnt.

IV, Die Materie als dynamisches Agens.Die Erklärung der Kraftübertragung durch die Ausbreitung

von Energie und Impuls im kontinuierlichen Felde hat sich imengsten Anschluß an die Erfahrung herausgebildet, und diese Vor-stellungsweise durchdringt heute die ganze Physik. Es scheintmir kaum wahrscheinlich, daß die Quantentheorie trotz ihresSturmlaufs gegen die Wellentheorie des Lichtes dies Element ausder Naturbeschreibung wieder beseitigen wird. Denn will manheute eine feldlose Physik bauen, so müßte man sich insbesonderealler geometrischen Begriffe zur Beschreibung der Atome usw. ent-halten, da die geometrischen Beziehungen ja auf dem metrischenFelde beruhen ! Hingegen ist die reine Feldtheorie vorerst nur

1) W. THOMSON: OnVortex Atoms, Phil. Mag. (4) Bd. 34.1867; V. BJERK-NES : Vorlesungen über hydrodynamische Fernkräfte (Leipzig 1900) ; A.KORN : Mechanische Theorie des elektromagnetischen Feldes, Physik. Zeit-schrift Bd. 18, 19, 20. 1917/1919.

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Die Materie als dynamisches Agens. 49

Hypothese und Programm; den tatsächlichen Betrieb der physi-kalischen Forschung beherrscht nach wie vor der Dualismus vonMaterie und Feld. Ihre Verbindung ist dynamisch: die Materieerregt das Feld, das Feld wirkt auf die Materie. Achtet man weni-ger auf das vermittelnde Medium des Feldes, so erscheinen Stoffund Kraft als die aufeinander angewiesenen Konstituenten derWelt. ,,Die Wissenschaft betrachtet“, so spricht HELMHOLTZdiesen Standpunkt aus, ,,die Gegenstände der Außenwelt nachzweierlei Abstraktionen: einmal ihrem bloßen Dasein nach, ab-gesehen von ihren Wirkungen auf andere Gegenstände oder unsereSinnesorgane; als solche bezeichnet sie dieselben als Materie. DasDasein der Materie ist uns also ein ruhiges, wirkungsloses; wirunterscheiden an ihr die räumliche Verteilung und die Quantität(Masse), welche als ewig unveränderlich gesetzt wird. QualitativeUnterschiede dürfen wir der Materie an sich nicht zuschreiben.“Auf der anderen Seite legen wir der Materie das Vermögen zurWirkung bei, nur durch ihre Wirkungen kennen wir sie ja ; ,,einereine Materie wäre für die übrige Natur gleichgültig, weil sie nieeine Veränderung in dieser oder in unseren Sinnesorganen be-dingen könnte; eine reine Kraft wäre etwas, was da sein sollte unddoch wieder nicht da ist, weil wir das Dasein Materie nennen“.F. A. LANGE in seiner bekannten ,,Geschichte des Materialismus“faßt das Verhältnis in mehr kritischer Wendung gegen die Materieso : ,,Der unbegriffene oder unbegreifliche Rest unserer Analyseist stets der Stoff.“

Die dynamische Vorstellugsweise, auf die wir schon im Anfangdes vorigen Abschnittes kurz eingingen, ist in der Physik vor allemvon NEWTON begründet worden. Den historisch überkommenenSubstanzbegriff hat er nicht umgestoßen, und so finden wir beiihm jenen Dualismus aufs schärfste ausgeprägt. Er hat eine Sub-stanz, die ihrem Wesen nach ausgedehnt, starr, undurchdringlich,beweglich, träge ist; hingegen ist die Schwere keine essentielleEigenschaft der Materie, sondern eine durch sie hindurchgreifendeKraft immaterieller Artl). Den Zeitgenossen NEWTONS, soweit sieauf eine geometrische Substanzphysik eingestellt waren, erschiendies als ein schlimmer Rückschritt. In der Tat hatten sich solcheIdeen von einem bewegenden Prinzip in der Materie, dem, ,Archäus”,

‘) Principia, Ende des 3. Buches.

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50 Was ist Materie?

seit PARACELSUS namentlich in den Naturanschauungen der Che-miker und Arzte fortgepflanzt, oft sich in dunkelm Mystizismusverlierend. Für KEPLER, den lichten Mystiker, war wie für PLATON

das, was die Planeten in ihrer Bahn bewegt, anfänglich eine Ge-stirnseele; nur so schien ihm - wie PLATON - der dieser Bewegunginnewohnende Y& , die gesetzmäßige Harmonie verständlichl).Später aber, als er immer deutlicher erkannte, daß die Sonne alleinsie an goldenem Zügel durchs Weltall führt, faßte er die Vor-Stellung des von der Sonne ausstrahlenden Kraftfeldes und be-schreibt es als ,,etwas Körperartiges von der Natur des Lichtes“.Er kam noch zu einem falschen Ausbreitungsgesetz, weil er an-nahm, daß die Ausbreitung nicht im Raume, sondern nur in derEbene der Ekliptik geschehe, in der alle Planeten umlaufen.NEWTON gab dann das genaue Gesetz, und es gelang ihm, darausin Verbindung mit dem mechanischen Grundgesetz der Bewegungund mit Hilfe der von ihm zu diesem Zweck entwickelten Flu-xionsrechnung die beobachtete Bewegung der Himmelskörperauf das vollkommenste zu erklären. Mit großer methodischerKlarheit umriß er das Gebiet der exakten Naturwissenschaft als

1) Für PLATON sind die Gestirne ,,beseelte Körper“, weil sie sich imleeren Weltraum von selbst harmonisch bewegen (die Astronomie der Unter-italiker um ARCHYTAS !), ohne, wie noch DEMOKRIT gemeint hatte, von ande-ren Körpern, z. B. dem Luftdruck, angetrieben zu werden. ,,Darum”, heißtes am Schluß der Gesetze , ,,ist es heute gerade umgekehrt wie zu den Zeiten,wo die Forscher (ANAXAG O R A S und DEMOKR I T) sich die Weltkörper noch tot(+uxa) dachten. Bewunderung schlich sich vor den Gestirnen wohl schondamals ein, und man ahnte wohl schon damals, was heute als Tatsache gilt,wenn man die Genauigkeit ihrer Bewegungen sah; denn wie könnten toteKörper, wenn kein Verstand (~0~s) in ihnen ist, so wunderbare mathema-tische Genauigkeit dabei zeigen . . ., und es gab schon damals einige, die denMut hatten, es offen auszusprechen, daß Verstand es sei, was alle kosmischenErscheinungen im Raum beherrsche.“ - ARISTOTELES ersetzt die Selbst-bewegung durch den göttlichen ,,unbewegten ersten Beweger“. - BeiKEPLER vergleiche man den Schlußhymnus in seinem Prodromos, wo es heißt :

Ast ego, quo credam spaiioso Numen in orbe,Suspiciam attonitus vasti molimina coeli;

für die Lehre von der Schwerkraft namentlich Abschnitt XXXIII der Astro-

nomia nova für den Übergang von der Gestirnseele zur mechanischen Auf-fassung Abschnitt XXXIX und LVII ebendort. Aber auch hier fallt es ihmnoch schwer, die in den Gesetzen sich ausdrückende funktionelle Verknüp-fung und den Gehorsam der Planeten gegen sie anders zu verstehen als durcheine Planetenseele, welche das Bild der Sonne in seiner wechselnden Größe insich aufnimmt.

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Die Materie als dynamisches Agens.

die Erkenntnis der funktionellen Gesetze, welche zwischen den anden Erscheinungen meßbaren Größen bestehen, innerhalb derNaturforschung die Frage nach dem ,,Wesen“ - die für ihn imübrigen keineswegs bedeutungslos war - mit seinem Hypothesesnon fing0 abschneidend.

Der klassische Philosoph der dynamischen Weltvorstellungaber ist LEIBNIZ, der in unübertrefflicher Schärfe die Metaphysikdes Kraftbegriffes ausgesprochen hat. Für ihn liegt das Reale ander Bewegung nicht in der reinen Lageveränderung, sondern inder bewegenden Kraft. ,,La substance est un etre capable d’action- une forte primitive“ - überräumlich, immateriell. Der ent-scheidende Gedanke der Aktion, des Grundseins von etwas, desAus-sich-Erzeugens tritt hier ganz in den Mittelpunkt. Das letzteElement ist der dynamische Punkt, aus welchem die Kraft alseine jenseitige Macht hervorbricht, eine unzerlegbare ausdehnungs-lose Einheit: die Monade. Die einzige Größenbestimmung, welcheman zunächst an einen Körper heranbringen kann, ist: die Anzahlder Wirkungspunkte, aus denen er besteht: nur mit Rücksicht aufihre Verteilung im Raume wird der Körper als ein ausgedehntesAgens bezeichnet. Nichts von Solidität und von Substanz als einemmeßbaren Quantum! Die Kraft bleibt für ihn etwas Spirituelles,,,eine gewisse Intelligenz, welche mit metaphysischen Gründenrechnet“ (vgl. die eben zitierten Außerurigen PLATONS). Dochbleibt es bei der aktiven Einzelwirkung, die Möglichkeit für das Ver-ständnis der Wechselwirkung zwischen Individuen ist noch nichtgewonnen ; die prästabilierte Harmonie täuscht, gleich einem inphantastischen Farben erstrahlenden ,Dunstschleier, des furcht-baren Abgrundes Überbrückung vor, der zwischen Monade undMonade klafft. (Hier füllt für uns heute das Feld die Lücke.)

Wir erwähnten oben den Briefwechsel zwischen HUYGHENS

und LEIBNIZ. Während HUYGHENS alle dynamischen Vorstellun-gen aus der Erklärung des Stoßes der Atome verbannt wissen willund sich allein auf die Solidität der Substanz und die Prinzipeder Erhaltung von Energie und Impuls stützt, ist für LEIBNIZ

dieser Huyghenssche Stoß schon darum unmöglich, weil dabei einmomentaner Sprung der Geschwindigkeit stattfindet; denn auchbeim Stoß muß nach seiner Überzeugung die Geschwindigkeitkontinuierlich zu Null herabsinken, ehe sie in die entgegengesetzteumschlagen kann. Endlich hat der menschliche Geist Fuß gefaßt

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im Kontinuum und den uns heute so selbstverständlich gewordenenSinn für die Kontinuität erworbenl) ! Im Stoß betätigt sich nachLEIBNIZ die Elastizität als eine nach bestimmtem Gesetz wirkendeAktion der materiellen Elementarbestandteile. Neben die repul-sive tritt zur Erklärung des Zusammenhalts der Körper die an-ziehende Kraft. Im gleichen Sinne verwirft NEWTON die haken-förmigen Atome als eine Erklärung, die nichts erklärt, und fährtfort : ,,Ich möchte aus dem Zusammenhang der Körper lieberschließen, daß die Teilchen derselben sich sämtlich gegenseitig miteiner Kraft anziehen, welche in der unmittelbaren Berührungselbst sehr groß ist, in kleiner Entfernung die chemischen Wir-kungen zur Folge hat, bei weiteren Distanzen jedoch keine merk-lichen Wirkungen ausübt.“ Das Atom wird zum ,,Kraftzentrum“.Als solches ist es selbstverständlich kugelförmig (während nachder Substanztheorie kein entscheidender Grund für die Kugel-gestalt der Atome bestand); diese Aussage bedeutet hier nichtsanderes, als daß die Intensität des Kraftfeldes wegen der Isotropiedes Raumes nur eine Funktion der Entfernung sein kann. So hatinsbesondere MAXWELL die kinetische Gastheorie durchgeführt,indem er den Huyghensschen Stoß (Kraft, welche für alle Ent-fernungen r oberhalb einer gewissen Größe n, dem Atomradius,gleich Null ist, für Werte r s n aber sogleich unendlich groß wird)ersetzte durch eine repulsive Kraft, welche umgekehrt proportionalder fünften Potenz der Entfernung abnimmt. CAUCHY und AM-PERE bekennen sich klar zu der Auffassung, daß die ZentrenPunkte im strengsten Sinne, ohne Ausdehnung sind 2). In den,,metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ apriori-siert KANT (unter Ablehnung der’ Atomtheorie) die zu seiner Zeitherrschenden Anschauungen der Newtonschen Physik, indem erdie Materie aus dem Gleichgewicht zwischen anziehender und re-

‘) Wie schwierig es noch den Zeitgenossen GALILEIS war, die Vorstellungeiner kontinuierlich anwachsenden Geschwindigkeit zu fassen, geht aus derausführlichen Diskussion darüber im ,,Dialog über die beiden hauptsäch-lichsten Weltsysteme“ hervor. (tjbersetzung von E. STRAUSS, Teubner1891, s. 21-30.)

s) Auch diese Ansicht ist schon im Altertum vorgebildet durch diePythagoreer, die so offenbar das Feldkontinuum des ANAXAGORAS mit demAtomismus DEMOKRITS versöhnen wollten. Sie findet sich außerdem, ausanalogen Motiven entsprungen, bei BOSCOVICH und in KANTS Jugendwerk,,Physische Monadologie”.

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pulsiver Kraft verstehen will, wie er mit seiner ,,ersten Analogieder Erfahrung“ in der ,,Kritik der reinen Vernunft“ den historischüberkommenen Substanzbegriff apriorisiert hattel). BERZELIUSfaßt zuerst den Gedanken, daß die chemische Affinität elektrischerNatur sei. Heute ist es schon in beträchtlichem Ausmaße gelungen,aus den zwischen den Atomen, genauer: zwischen den Elektronenund Atomkernen wirkenden elektrischen Kräften den Aufbau derKörper, ihr elastisches, thermisches, elektrisches, magnetisches,optisches und chemisches Verhalten zu erklären; namentlich inden beiden extremen Zuständen der Materie, dem gasförmigen unddem kristallinen.

Wir haben im Abschnitt 111 nur von den Gesetzen der Wir-kungsausbreitung im Felde gesprochen, da die reine Feldtheorienur mit solchen Naturgesetzen rechnet ; daneben spielen aber heutetatsächlich noch andersartige Gesetze eine Rolle, welche angeben,wie das Feld von der Materie erregt wird. Die ganze moderne Physikder Materie, die Quantentheorie, handelt von dieser Frage; undman gewinnt immer mehr den Eindruck, daß es aussichtslosist, die da sich enthüllenden, weitgehend von der ganzen Zahl be-herrschten Tatsachen von der reinen Feldtheorie aus zu verstehen.Es kommt ein anderer prinzipieller Punkt hinzu. Nach den in derFeldtheorie gültigen Gesetzen vom Typus der MaxwellschenGleichungen kann der Zustand des Feldes inklusive der Materie ineinem Augenblick willkürlich vorgegeben werden ; dadurch istdann aber der ganze Ablauf, Vergangenheit und Zukunft, eindeutigdeterminiert, indem die Feldgesetze je zwei unmittelbar in derZeit aufeinander folgende Feldzustände verknüpfen. In dieserForm gilt hier das Kausalitätsprinzips). Die Erfahrung sprichtaber mit großer Deutlichkeit für eine andere Kausalität, nämlichdafür, daß die Materie das Feld bestimmt und dieses nur durchdie Materie hindurch beeinflußt werden kann; unser willentlichesHandeln muß primär stets an der Materie angreifen, auf keinem

l) Nichts illustriert vielleicht besser seine Zeitgebundenheit als seinVersuch, mit metaphysischen Gründen die anziehende Kraft als eine un-mittelbar in die Ferne, die abstoßende als eine nur in der Berührung wirkendezu erweisen.

4) Kiirzlich hat EINSTEIN den Gedanken ausgesprochen, durch über-bestimmte Gleichungen im Rahmen der Feldtheorie den Quantentatsachenzu Leibe zu rucken. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1923, S. 359.

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anderen Wege können wir ein elektromagnetisches Feld erzeugenoder verändern (8). Aus diesem Grunde scheint mir auch heutenoch eine dynamische Theorie der Materie am aussichtsreichsten :die Materie ein felderregendes Agens, das Feld ein extensives Medium,das die Wirkungen von Körper zu Körper überträgt. Zu dieser Funk-tion ist es befähigt durch die in den Feldgesetzen sich ausdrücken-den Bindungen des inneren differentiellen Zusammenhangs dermöglichen Feldzustände; von der Materie aber hängt es ab, welchedieser Möglichkeiten hier und jetzt zur Wirklichkeit werden.

Die einzige statische kugelsymmetrische Lösung der Max-wellschen Gleichung div (3 = o ist, wie wir schon oben erwähnten,

das radiale Feld von der Stärke E = 2 ; es schickt durch jede

um das Zentrum geschlagene Kugel den gleichen Fluß E hindurch.Nur ein solches Feld kann also im statischen Zustand von einemim Zentrum liegenden ,,dynamischen Punkte“ k ausgehen; wirnennen e dessen ,,felderregende oder aktive Laduutg“. Die Kraft,welche in seinem Felde ein zweiter dynamischer Punkt k’ erfährt,der sich in der Entfernung r von ihm befindet, ist = e’ E, wo e’nur vom Zustand dieses zweiten Korpuskels abhängt; wir bezeich-nen e’ als dessen ,,passive Ladung“. Durch Kombination dieserbeiden Gesetze ergibt sich die Coulombsche Wechselkraft von k

auf k’ zu &. Nach dem Gesetz von der Erhaltung des Impulses

muß, wenn wir es auf das abgeschlossene System der beiden Körperk, k’ anwenden, die Kraft, mit welcher k’ auf k wirkt, der Kraftvon k auf k’ entgegengesetzt gleich sein; das liefert, wenn e diepassive Ladung von k, E‘ die felderregende Ladung von k’ be-deutet, die Gleichung

/ee'=Ee oder e=f

Et E'

Für alle Körper hat also das Verhältnis s den gleichen Wert; indem

wir es = 1 setzen und damit das Gesetz von der Gleichheit derpassiven mit der aktiven Ladung gewinnen, normieren wir lediglichdie Wahl der Maßeinheit für die Ladung. Drücken wir die Kraft,welche ein Körper k auf einen andern k’ ausübt, aus durch denImpulsstrom, welcher pro Zeiteinheit durch eine geschlossene, k

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von k’ trennende Fläche im Felde hindurchtritt, so wird das hierverwendete Gesetz der Gleichheit von actio und reactio zur Selbst-verständlichkeit, da der Fluß, welcher durch jene Fläche in dereinen Richtung (von innen nach außen} hindurchtritt, mathema-tisch gleich ist dem mit dem negativen Vorzeichen versehenen,in der anderen Richtung (von außen nach innen) hindurch-gehenden Fluß. Die Kraftübertragung durch den im Felde fließen-den Impulsstrom macht es also restlos verständlich, wie eskommt, daß die aktive Ladung E - definiert als der Fluß, den daselektrische Feld (3 durch eine das Korpuskel k umschließende Hülleim Felde hindurchschickt - zugleich als passive Ladung fungiertund als solche die Intensität bestimmt, mit welcher das Teilchenvon irgendeinem gegebenen elektrischen Felde attackiert wird.Genau die gleiche Überlegun,g kann man in der NewtonschenGravitationstheorie anstellen hinsichtlich der felderregenden oderaktiven Masse p, welche das ein Korpuskel umgebende Gravita-tionsfeld bestimmt, und der passiven oder schweren Masse m, zuwelcher die Intensität proportional ist, mit der ein gegebenes Gravi-tationsfeld auf dieses Korpuskel wirkt. In der Tat sind ja die Ge-setze der Newtonschen Gravitationstheorie völlig analog zu denender Elektrostatik; nur hat man in diesem Falle die Maßeinheit fürdie Masse nicht so normiert, daß die ,,Gravitationskonstante“

F, welche für alle Körper den gleichen Wert hat, - 1 ist, sondern

sie ist im CGS-System = 6,~ . 10 -8. Aus der Planetenbewegungkann man direkt nur die aktive Masse der Sonne und der Planetenentnehmen; es war ein an der Erfahrung nicht zu kontrollierender,nur durch das Prinzip der Gleichheit von actio und reactio be-rechtigter hypothetischer Ansatz, wenn NEWTON daraus ihreschwere Masse ableitete. Umgekehrt messen wir an unseren irdi-schen Körpern mit der Wage die schwere Masse; erst durch dieKonstatierung, daß auch von ihnen ein schwaches Gravitations-feld ausgeht, und durch dessen Messung konnte der Wert derGravitationskonstanten (immer noch wenig genau genug) fest-gelegt werden. Durch EINSTETNS Relativitätstheorie wurde fernerdie bis dahin empirisch konstatierte, aber ganz rätselhafte Gleich-heit von träger und schwerer Masse als Wesensgleichheit erkannt.Das Resultat der Newtonschen Gravitationstheorie, die Propor-tionalität zwischen schwerer und felderregender Masse, geht in

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ihr nicht verloren, ebensowenig die Darstellung der Masse als einFluß, den das Gravitationsfeld durch eine das Korpuskel umschlie-ßende gedachte Hülle im Felde hindurchsendetl). Als Ursacheder Trägheit erscheint also jetzt nicht mehr, wie es die spezielleRelativitätstheorie nahegelegt hatte, die im Teilchen konzentrierteEnergie, sondern der Fluß des umgebenden Gravitationsfeldes. DieSachlage ist somit die folgende: Die statische kugelsymmetrischeLösung der Feldgleichungen des gravi-elektromagnetischen Feldesenthält zwei Konstanten, 8 und p, ,,Ladung“ und ,,Masse“; siebezeichnen unveränderliche Eigenschaften des felderzeugendenTeilchens, z. B. des Elektrons. Durch das Teilchen ist das Feldin seiner unmittelbaren Umgebung vollständig bestimmt. DieGültigkeit der mechanischen Gleichungen, in denen p als träge undschwere Masse, e als passive Ladung auftrifft, ergibt sich daraus,daß sich dieses Eigenfeld des Elektrons in den außerhalb des Teil-chens herrschenden, durch die Feldgesetze vom Typus der Maxwell-schen Gleichungen geregelten Feldverlauf einpassen muß Man hathier den Unterschied zwischen ,,Natur” und ,,Orientierung“ desEigenfeldes zu machen. Es haben z. B. alle Quadrate in der Geo-metrie die gleiche Natur; denn es gibt keine geometrische (nur vondem Quadrat handelnde und es nicht zu anderen geometrischenGebilden in Beziehung setzende) Eigenschaft, welche einem Quadratzukäme, einem andern aber nicht; verschiedene Quadrate unter-scheiden sich vielmehr lediglich durch ihre Orientierung. In ana-logem Sinne ist die Natur seines Eigenfeldes durch das Teilchenvollständig bestimmt, hierin bewährt die ,,Monade“ ihre reine,von nichts Fremdem abhängige Aktivität. Allein hinsichtlich derOrientierung, die gar nicht absolut, sondern nur relativ zum ein-bettenden Gesamtfeld faßbar ist, erleidet es auch eine Rückwirkungvom Felde. Das Feld zu erregen, ist die wesentliche Funktion derMaterie, die Rückwirkung ist sekundär; die mechanischen Glei-chungen sind eine Folge der Gesetze für die Erregung und Aus-breitung des Feldes.

Im Gegensatz zu der Meinung von CAUCHY und AMPERE hatman dem Elektron einen endlichen Radius zugeschrieben, weilsonst die Energie des elektrostatischen Feldes und damit seinetrage Masse unendlich groß wird. Aber die eben erwähnte Formel

l) Vgl. WEYL: Raum, Zeit, Materie (5. Aufl., Springer 1923), S. 275und Q 38.

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für das ein dynamisches Zentrum kugelsymmetrisch umgebendeFeld enthält die Masse p, und diese hat offenbar gar nichts damitzu tun, bis zu wie kleinen Werten der Entfernung r herab wir jeneFeldformel anwenden. Die Aufklärung liegt in der Darstellungvon p mittels des Flusses, den das Gravitationsfeld durch eine dasTeilchen in hinreichend großer Entfernung umgebende Kugel Qhindurchschickt; läßt man den Radius von SZ zu 0 abnehmen, sostrebt jener Fluß nicht gegen 0, sondern gegen - 00. Das Zentrumist eine Singularität im Felde. Nun ist es gewiß physikalisch un-möglich, daß der Verlauf der Zustandsgrößen irgendwo im Innerndes extensiven vierdimensionalen Mediums der Welt wirklicheSingularitäten aufweist; und darum war das Bestreben der Mie-schen Theorie berechtigt, durch Modifikation der Feldgleichungenden schmalen tiefen Schlund, der sich im Gebiete eines Elektronsim Felde öffnet und von welchem wir aus der Erfahrung höchstensdie Randböschung kennen, durch ein regulär verlaufendes, qualita-tiv dem äußeren gleichartiges Feld, etwa nach Art der Formel (16),auszufüllen. In der allgemeinen Relativitätstheorie aber, die mitder Gültigkeit der Euklidischen Geometrie aufgeräumt hat, brau-chen wir dem Raum auch nicht mehr die Zusammenhangsverhältnissedes Euklidischen Raumes zuzuschreiben ; er kann vielfach zusammen-hängend sein wie das nebenstehend gezeichneteund schraffierte zweidimensionale Gebiet G undaußer dem einen unendlich fernen Saume nochandere innere, den materiellen Elementarteilchenentsprechende Säume besitzen. (Im vierdimen-sionalen Raum-Zeit-Kontinuum treten an Stelleder begrenzten ,,Löcher“ Kanäle oder Schläuche,welche sich in eindimensional unendlicher Er- Abb 2 MehrfachStreckung durch die Welt hindurchziehen; hier ’ *zusammenhän-liegt die physikalische Grundlage für die im an- gen&s Gebiet.schauenden Bewußtsein sich vollziehende Spal-tung des Weltkontinuums in Raum und Zeit.) Die Säumeselber sind dabei vom Felde aus etwas Unerreichbares, gehörennicht mehr zum Feldgebiet, im Innern dieser Säume ist keinRaum mehr. Das weiße Papierblatt, auf welchem das Gebiet Gsteht, ist nur wie ein Wandschirm, auf welchen die Wirklichkeit Gzum Zwecke ihrer bequemeren Beschreibung projiziert ist. Fürein ,,ganz im Endlichen gelegenes“, d. h. nicht an die Säume heran-

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reichendes Stück S des Raumes gilt dann wohl der Satz, daß derdurch die Oberfläche von S hindurchtretende Gravitationsfluß,durch welchen wir die eingeschlossene Masse definierten, gleich derin S enthaltenen Feldenergie ist, welche sich offenbar durch einüber S zu erstreckendes Raumintegral ausdrückt; nicht aber giltdies für ein ins Unendliche reichendes, d. h. Materie enthaltendesGebiet. Das Argument, daß die elektrische Ladung im Elektronauf einen endlichen Raum ausgedehnt sein müsse, weil es sonsteine unendlich große trage Masse besitzen wurde, hat damit seineStichhaltigkeit verloren. Man kann überhaupt nicht sagen: hierist Ladung, sondern nur: diese im Felde verlaufende geschlosseneFläche schließt Ladung ein. Die Frage nach den Kräften, welchedie negative Ladung im Elektron zusammenhalten, wird ganzgegenstandslosl).

So ermöglicht die allgemeine Relativitätstheorie in über-raschender Weise, die Leibnizsche Agenstheorie der Materie durch-zuführen. Danach ist das Materieteilchen selber nicht einmal einPunkt im Feldraume, sondern überhaupt nichts Räumliches (Ex-tensives), aber es steckt in einer räumlichen Umgebung drin, vonwelcher seine Feldwirkungen ihren Ausgang nehmen. Es ist darinanalog dem Ich, dessen Wirkungen, trotzdem es selber unräum-licher Art ist, durch seinen Leib hindurch jeweils an einer bestimm-ten Stelle des Weltkontinuums entspringen. Was dieses feld-erregende Agens aber seinem inneren Wesen nach auch sein mag -vielleicht Leben und Wille -, in der Physik betrachten wir es nurnach den von ihm ausgelösten Feldwirkungen und können es auchnur vermöge dieser Feldwirkungen zahlenmäßig charakterisieren(Ladung, Masse). So hat es die Physik im Grunde doch allein mitdem Felde zu tun, jenem extensiven strukturbegabten Medium,das alle die verschiedenen inextensiven materiellen Individuen ZUdem Wirkungsganzen einer Außenwelt zusammenbindet. Auch der

r) Doch kann man natürlich nach wie vor von einem Radius des Elek-trons sprechen im Sinne des Zusatzes (6) zu S. 35. - Auch hier lassen sich Mög-lichkeiten für die Erklärung der Gleichartigkeit aller Elektronen denken;der Umstand, daß die Gravitationsanziehung zweier Elektronen ungefähr1 042 mal so schwach ist wie die elektrische Abstoßung, das Auftreten einerreinen, dimensionslosen Zahl von dieser Größenordnung am Elektron, istohnehin ein böses Fragezeichen fiir die Miesche Auffassung; das scheintdarauf hinzuweisen, daß für die Konstitution des einzelnen Elektrons dieAnzahl aller in der Welt vorhandenen Elektronen von Bedeutung ist.

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,,geistigste“ Verkehr von Seele zu Seele, der gebunden bleibt anden leiblichen Ausdruck. kann nicht anders als durch Fortpflan-zung von Wirkungen in diesem Medium zustande kommen. Hierhaben wir also, was LEIBNIZ noch fehlte, das Medium der Kommu-nikation für die Monaden. Indem jede, rein nach eigenem Gesetz,ihre Aktion in dieses Medium wie in ein gemeinsames Becken ein-fließen läßt, kommt durch dessen an die Feldgesetze gebundenenstrukturellen Zusammenhang die Wechselwirkung zustande. Undes kann vielleicht die These, aus der heraus die Naturwissenschaftden Spiritismus und ähnliches ablehnt, nicht schärfer formuliertwerden als dahin: Alle Verbindung zwischen Individuen und allegegenseitige Beeinflussung kann nur mittels der nach den physi-kalischen Feldgesetzen im extensiven Medium der Außenwelt sichvollziehenden Ausbreitung von Feldwirkungen zustande kommen.Von der Gesetzmäßigkeit der Auslösungsvorgänge wissen wir heutenoch herzlich wenig; die Quantentheorie ist da wohl das erste an-brechende Licht.

Was ist Materie ? - Nach der Vernichtung der Substanz-Vorstellung schwankt heute die Wage zwischen der dynamischenund der Feldtheorie der Materie. Eine Antwort in wenigen Wortenläßt sich nicht geben und wird sich niemals geben lassen; das be-deutet aber kein ignorabimus. Wir werden um so besser wissen,was die Materie ist, je vollständiger wir die Gesetze des materiellenGeschehens erkannt haben werden, und auf etwas anderes kanndiese Frage überhaupt nicht zielen. Alle Begriffe und Aussageneiner theoretischen Wissenschaft, wie es die Physik ist, stützensich gegenseitig. Statt vor eine kurze endgültige Formel, die manschwarz auf weiß nach Hause tragen kann, stellt uns diese Fragewie alle Fragen grundsätzlicher Art vor eine unendliche Aufgabe.

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Massenträgheit und Kosmos.Ein Dialog.

1. Und sie bewegt sich doch!Petrus. Lieber Freund ! Als wir uns gestern abend nach langer

Trennung wiedersahen, mußte ich während unseres Gesprächsbeständig an die Zeit von 1915 zuruckdenken, die uns zuerst ingemeinsamem eifrigen Studium der Relativitätstheorie zusammen-führte, in gemeinsamer Begeisterung und gemeinsamen Zukunfts-träumen. Damals glaubten wir ja fast, das Weltgesetz schon inHänden zu haben, das alle Erscheinungen restlos erklärte ! Seitherhabe auch ich wohl Kritik gelernt und bin ,,weiser“ geworden.Aber das hat mich doch fast schmerzlich betroffen, daß du dichsogar von der Grundidee losgesagt zu haben scheinst, die ich nach.wie vor als den Kernpunkt der neuen Lehre ansehen muß. Laß unsheute ausführlich darüber sprechen, warum du nicht mehr glaubst,daß (M) die Trägheit eines Körpers durch das Zusammenwirkenaller Massen des Universums zustande kommt. 0 Saulus 1 Saulus !wie kannst du dich so gegen die offen zutage liegende Wahrheitverstocken ! - Nimm etwa das Foucaultsche Pendel. NEwToNsMeinung war: die Ebene, in welcher das Pendel schwingt, bleibterhalten im absoluten Raum; die Fixsterne stehen auch fast stillim absoluten Raum. Deshalb geht die Pendelebene mit den Fix-sternen mit und rotiert relativ zur Erde. EINSTEIN aber erklärte:Es gibt nur relative Bewegungen; das Zwischenglied des absolutenRaumes ist so fragwürdig wie überflüssig. Nicht dieses Gespenst,sondern die wirklich vorhandenen ungeheuren Fixsternmassen desganzen Kosmos halten oder führen die Pendelebene. Die Erdeplattet sich ab, weil sie - -nicht absolut, sondern relativ zu denFixsternen rotiert. Wenn du diese Auffassung ableugnest, so weißich nicht, was überhaupt noch von der allgemeinen Relativitäts-theorie übrigbleibt.

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PauZ,us. Und doch ist es so - da hast du gestern abend ganzrichtig gehört -, daß ich deine eben ausgesprochene Überzeugungnicht mehr zu teilen vermag ; und wenn hier der Fels liegt, auf demdie Relativitätskirche steht, o Petrus!, so bin ich in der Tat einAbtrünniger geworden. Aber um dich über meine Ketzerei einwenig zu beruhigen, gestehe ich dir zunächst einmal unumwundenzu: Wenn jene auf MACH zurückgehende Deutung sich wirklichdurchführen ließe, wäre sie auch mir außerordentlich sympathisch;sie gibt eine einfache, anschauliche und in sich kräftige Antwortauf das Problem der Bewegung. Kein Zweifel auch, daß sie -neben der Gleichheit von schwerer und träger Masse - für EIN-STEIN das wichtigste Motiv war zur Ausbildung der allgemeinenRelativitätstheorie. Endlich bin ich mit dir darin einverstanden,daß man in einer derartigen konkreten Aussage physikalischenInhalts den Kernpunkt der Theorie suchen muß, nicht aber ineinem formal-mathematischen Prinzip wie dem von der Gleich-berechtigung aller Koordinatensysteme. Dies Prinzip, das un-glücklicherweise der Theorie ihren Namen gegeben hat, ist ja imGrunde ganz inhaltsleer; denn die Naturgesetze lassen sich unterallen Umständen, sie mögen lauten wie sie wollen, , ,invariant gegen-über beliebigen Koordinatentransformationen” formulieren. Eben-so ist das kinematische Prinzip von der Relativität der Bewegungfür sich nichtssagend, wenn nicht die physikalische Voraussetzunghinzutritt, daß (C) alle Geschehnisse kausal eindeutig bestimmt sinddurch die Materie, d. h. durch Ladung, Masse und Bewegungs-zustand der Elementarbestandteile der Materie. Erst dann erscheintes auf Grund jenes Prinzips als grundlos und unmöglich, daß eineWassermasse, auf welche keine Kräfte von außen wirken, im statio-nären Zustand einmal die Gestalt einer (,,ruhenden“) Kugel, ein an-dermal die eines (,,rotierenden“) abgeplatteten Ellipsoids annimmt.

Petrus. Erfreut bin ich darüber, daß du den Grundsatz C soklipp und klar aussprichst; von ihm wird in der Tat all unserkausales Denken in der Physik geleitet. Niemand ist imstande,auf ein Stück elektromagnetischen Feldes anders einzuwirken alsdadurch, daß er die das Feld erzeugende Materie anpackt. ,,AlleNaturgewalt ist in den Körpern selbst enthalten und begriindet“,sagt schon GILBERT. Aber wie kannst du dann daran zweifeln,daß die Trägheitsführung der Körper erzeugt wird durch die kos-mischen Massen ?

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62 Massenträgheit und Kosmos.

Paulus. Du hast recht: Ich für meine Person kann C nicht auf-rechterhalten, weil ich die Undurchführbarkeit von M a priarieinsehe. Ich behaupte nämlich, daß (A) nach der allgemeinenRelativitätstheorie der B e g r i f f der r e l a t i v e n B e w e g u n g mehrerer ge-

trennter Kö@er gegeneinander ebensowenig haltbar ist wie der derabsolutert Bewegung eines einzigen.

Petrus. Wie ? Du leugnest also, daß die Fixsterne sich relativzur Erde drehen, und meinst, man könne ebensogut sagen, sieruhten? Wir sehen doch aber Nacht für Nacht, wie sich derSternenhimmel dreht !

Paulus. Was sich nach dem Zeugnis unseres Gesichtssinnsum die Erde dreht, sind nicht die Sterne, sondern der ,,Sternen-kompaß“, welcher hier an der Stelle, wo ich mich befinde, gebildetwird von den Richtungen der Lichtstrahlen, die in einem Augen-blick von den Sternen her auf mein Auge treffen. Und das ist einwesentlicher Unterschied; denn zwischen den Sternen und meinemAuge befindet sich das ,,metrische Feld“, welches die Lichtausbrei-tung determiniert und nach der Relativitätstheorie ebenso ver-änderungsfähig ist wie das elektromagnetische. Dieses metrischeFeld ist für die Richtung, in der ich einen Stern erblicke, nichtminder wichtig wie der Ort des Sternes selbst (i). - Wäre derRaum nach der Vorstellung der alten Lichttheorie von einemsubstantiellen Äther lückenlos erfüllt, so hätte die Frage natür-lich einen klaren Sinn, ob ein kleiner Körper in einem Augenblickrelativ zu dem am Körperort befindlichen Äther sich bewegt odernicht. Hier wird der Bewegungszustand zweier Substanzen mit-einander verglichen, die sich an der gleichen Stelle befinden, diesich überdecken. Aber wie sollte es in der allgemeinen Relativitäts-theorie möglich sein, den Bewegungszustand zweier getrennterKörper miteinander zu vergleichen ? Zur Zeit MACHS freilich, alsman noch den starren Bezugskörper hatte, war das möglich; dakonnte man sich eine Masseninsel, wie es unsere Erde ist, alsstarren Körper, dessen Maßverhältnisse ein für allemal durch dieEuklidische Geometrie festgelegt sind, ideell über den ganzenRaum erweitert denken, und dann etwa konstatieren, daß dieSonne sich relativ zu ihm bewegt. Aber unter den Händen EIN-STEINS hat sich das Koordinatensystem so erweicht (EINSTEIN

selber spricht ja gelegentlich von einem ,,Bezugsmollusken“), daßes sich simultan der Bewegung aller Körper in der Welt anzu-

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schmiegen vermag; du kannst sie, wie sie sich auch bewegen mögen,mit einem Schlage alle ,,auf Ruhe transformieren“. Denk’ dir dievierdimensionale Welt als eine Plastelinmasse, die von einzelnensich nicht schneidenden, aber sonst ganz unregelmäßig verlaufen-den Fasern, den Weltlinien der Materieteilchen, durchzogen ist:du kannst das Plastelin stetig so deformieren, daß nicht nur eine,sondern alle Fasern vertikale Gerade werden. Wenn ich die verti-kale Achse als Zeitachse deute, heißt das: jeder Körper verharrtan seiner Stelle im Raum. Wendest du das an auf die Fixsterneund stellst dir vor, daß auch das metrische Feld, die im Plastelinverlaufenden Kegel der Lichtausbreitung von der Deformationmitgenommen werden, so ruhen die Erde und alle Fixsterne indem durch das Plastelin dargestellten Bezugssystem, aber derSternenkompaß dreht sich dennoch in bezug auf die Erde genau so,wie wir es beobachten.

Petrus (nach einer Pause). Ja . . . ich kann dagegen nichtsStichhaltiges vorbringen. Der Gedanke liegt ja eigentlich ganz aufder Hand. Du kommst also zu dem Schluß, daß unabhängig vommetrischen Feld der gegenseitige Bewegungszustand der verschie-denen Körper in der Welt ein reines Nichts ist; und wenn C’ zuRecht bestünde, so könnte das Weltgeschehen nur abhängen undmüßte eindeutig bestimmt sein allein durch Ladung und Massealler Materieteilchen. Da dies offenbar absurd ist - so darf ichdeinen Gedanken wohl weiter spinnen -, muß jenes Kausal-prinzip preisgegeben werden. Insbesondere kannst du die Ab-plattung der Erde ebensowenig mit MACH und EINSTEIN auf ihreRotation relativ zu den Fixsternen zurückführen, wie mit NEWTONauf ihre absolute Rotation. - Vorläufig fehlt mir diesem Radi-kalismus gegenüber jeder Halt . . . aber mein Gefühl sträubt sichnoch durchaus dagegen, deiner allgemeinen und abstrakten Ideezuliebe eine so positive und befriedigende Anschauung wie die vonder Erzeugung der Trägheitsführung durch die Weltmassen preis-zugeben. Du leugnest, daß sie sich durchführen lasse; aber hatnicht EINSTEIN bereits geleistet, was du leugnest, - in jener Arbeit,in der er seine ursprünglichen Gravitationsgesetze durch das,,kosmologische Glied“ erweiterte )l 3 Angesichts der geschehenenTat ist jeder Beweis ihrer Unmöglichkeit hinfällig.

I) Stzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1917, S. 142.

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Paulus. Ich kann dir nur erwidern, wenn wir uns zunächst desgemeinsamen Fundaments vergewissert haben, von dem wir beideausgehen. Mir scheint, daß man den konkreten physikalischenGehalt der Relativitätstheorie fassen kann, ohne zu dem ursäch-lichen Verhältnis zwischen Weltmassen und Trägheit Stellung zunehmen. Seit GALILEI und NEWTON sehen wir in der Bewegungeines Körpers den Kampf zweier Tendenzen, Trägheit und Kraft.Nach alter Annahme beruht die Beharrungstendenz, die ,,Füh-rung”, welche dem Körper seine natürliche, die Trägheitsbewegung,erteilt, auf einer formal-geometrischen Struktur der Welt (gleich-förmige Bewegung in gerader Linie), welche ihr ein für allemal,unabhängig und unbeeinflußbar durch die materiellen Vorgänge,innewohnt. Diese Annahme verwirft EINSTEIN; denn was somächtige Wirkungen tut wie die Trägheit - z. B. wenn sie beieinem Zugzusammenstoß im Widerstreit mit den Molekularkräftender beiden aufeinanderfahrenden Züge die Wagen zerreißt -,muß etwas Reales sein, das seinerseits Wirkungen von der Materieerleidet. Und in den Gravitationserscheinungen, so erkannteEINSTEIN weiter, verrät sich des ,,Führungsfeldes” Veränderlich-keit und Abhängigkeit von der Materie. An dem Dualismus vonFührung und Kraft wird also festgehalten; (G) aber die Führungist ein physikalisches Zustandsfeld (wie das elektromagnetische),das mit der Materie in Wechselwirkung steht. Die Gravitation gehörtzur Führung und nicht zur Kraft; nur so wird die Gleichheit vonschwerer und träger Masse von Grund aus verständlich.

Petrtis. Und das Führungsfeld läßt sich nicht ohne Willkürin einen homogenen konstanten Bestandteil, die Galileische Träg-heit, und einen variablen, die Newtonsche Gravitation, zerlegen;das Vorhandensein einer starren geometrischen Struktur wird ge-leugnet. - Ja, mit dieser Beschreibung bin ich ganz einverstanden.Und auch dein Terminus ,,Führungsfeld‘” für die durch EINSTEIN

aufgestellte Einheit von Trägheit und Gravitation gefällt mir gut,weil er die physikalische Rolle und den realen Charakter des ge-meinten Dinges deutlich bezeichnet. Ich stelle mir vor, daß einemFlieger diese Untrennbarkeit von Trägheit und Gravitation sehrdeutlich zum Bewußtsein kommt. Wenn es trotz der einheitlichenNatur des Führungsfeldes in praxi - wenigstens näherungsweiseund für ein beschränktes Gebiet - gelingt, dasselbe zu zerlegenin den homogenen Untergrund der Galileischen Trägheit und eine

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veränderliche, ihr gegenüber außerordentlich schwache Fluk-tuation, das Schwerefeld, so hat es damit etwa dieselbe Bewandt-nis, wie wenn der Geodät die tatsächliche Erdoberfläche mit allenMeeresbecken, Klippen, Tälern und Bergen von einer glatt ver-laufenden Idealfläche, dem Geoid, aus konstruiert, dem er dannalle jene kleinen Buckel und Vertiefungen anfügen muß. Aus dereinheitlichen Natur des Führungsfeldes folgt nun aber, daß es alsGanzes in der Materie verankert werden muß. An dem Analogondes elektrischen Feldes machst du dir’s am besten klar. Das elek-trische Feld zwischen den Platten eines geladenen Kondensatorswird erzeugt von den in den Platten steckenden Elektronen;dieses Feld hat einen im ganzen homogenen Verlauf, aus dem essich nur in der Umgebung der einzelnen Elektronen heraushebtwie kleine steile Bergkegel aus einer weiten Ebene. Aber nicht nurdiese atomaren Abweichungen in der Umgebung jedes Elektronswerden von den Elektronenladungen erzeugt, sondern auch dasdurch Überlagerung entstehende homogene Feld zwischen denPlatten. So wird auch die Trägheit durch das Zusammenwirkenaller Massen in der Welt erzeugt; um jeden einzelnen Stern herumliegt dann noch jene Abweichung des Führungsfeldes vom homo-genen Verlauf, die sich als Gravitationsanziehung des Sternes be-merkbar macht und wesentlich von ihm allein herrührt.

Paulus. Die Analogie ist bestechend; ich komme darauf zu-rück. Aber laß mich vorher noch dies sagen ! Von der alten zu derneuen Auffassung G der Dinge übergehen, heißt : den geometrischenUnterschied zwischen gleichförmiger und beschleunigter Bewegungersetzen durch den dynamischen Unterschied zwischen Führung undKraftl). Gegner EINSTEINS stellten die Frage: Warum geht beieinem Zusammenstoß der Zug in Trümmer und nicht der Kirch-turm, an dem er gerade vorüberfährt - wo doch der Kirchturm

‘) Wir kehren damit in gewissem Sinne zurück zu der AristotelischenUnterscheidung der natürlichen und gewaltsamen Bewegung. Von Neuerenhat ANDRADE in seinen Lecons de mecanique physique (Paris 1898) dieklassische Mechanik in dieser Weise umgedeutet. Er unterscheidet dennatürlichen Lauf der Dinge (Trägheitsbewegung einschließlich der Gravi-tation, konstant bleibender Maßstab usw.), wofür keine mechanischenKräfte angesetzt werden und der rein deskriptiv behandelt wird, von demZwang, den die Körper aufeinander ausüben. Die genaue theoretische Er-fassung des Führungsfeldes und die Gesetze seiner Wechselwirkung mit derMaterie sucht man freilich bei ihm noch vergebens.

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relativ zum Zuge einen ebenso starken Bewegungsruck erfährtwie der Zug relativ zum Kirchturm ? Darauf antwortet der ge-sunde Menschenverstand: weil der Zug aus der Bahn des Führungs-feldes herausgerissen wird, der Kirchturm aber nicht. Man kannsich das ja bis in alle Einzelheiten deutlich machen, wie durchdiesen Kampf zwischen Führung und Kraft die Wagen zertrüm-mert werden. Im gleichen dynamischen Sinne dreht sich die Erde;sie dreht sich gegenüber einem im Mittelpunkt angebrachten ,,Träg-heitskompaß“, welcher dem Führungsfelde folgt. - Die Einstein-schen Gravitationsgesetze besitzen eine stationäre Lösung, welcheeine gleichförmig rotierende Wassermasse mit ihrem Gravitations-feld darstellt; du weißt selber, wie du das Problem anzusetzenhast.’ Die Lösung ist verschieden von dem statischen Feld einerruhenden Wasserkugel ; die rotierende Wassermasse wird nichteine Kugel, sondern abgeplattet sein. Und was bedeutet dabeiRotation? Es hat genau den eben angegebenen dynamischenSinn. - Solange man das Führungsfeld ignoriert, kann man wedervon absoluter noch von relativer Bewegung reden; erst bei Be-rücksichtigung des Führungsfeldes gewinnt der Begriff der Be-wegung einen Inhalt. Die Relativitätstheorie will, richtig ver-standen, nicht die absolute Bewegung zugunsten der relativenausmerzen, sondern sie vernichtet den kinematischen Bewegungs-begriff und ersetzt ihn durch den dynamischen. Die Weltansicht,für welche GALILEI gekämpft hat, wird durch sie nicht kritischzersetzt, sondern im Gegen teil konkreter gedeutet.

Petrus. Gegen deine ganze Darstellung habe ich nichts ein-zuwenden. Nur bleibst du dabei stehen, Materie und Führungs-feld selbständig nebeneinander zu betrachten; wird das Feld aberdurch die Materie erzeugt, so sind’s dann doch die Fixsterne, welchedie Abplattung der Erde hervorbringen.

PuuZus. Aber das leugne ich ja eben ! Ich meine : was ich bisherdargelegt und in den beiden Sätzen G knapp formuliert habe, dasallein greift in die Physik ein, liegt den tatsächlichen Einzelunter-suchungen von Problemen der Relativitätstheorie zugrunde. Dasweit darüber hinausgehende Machsche Prinzip M aber, nach wel-chem die Fixsterne mit geheimnisvoller Macht in den Gang derirdischen Geschehnisse eingreifen sollen, ist bis jetzt reine Spekula-tion, hat lediglich kosmologische Bedeutung und wird darum fürdie Naturwissenschaft erst von Belang werden können, wenn der

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astronomischen Beobachtung nicht mehr nur eine Sterneninsel,sondern das Weltganze zugänglich ist. Wir könnten diese Fragealso ganz auf sich beruhen lassen, wenn ich nicht zugeben müßte,daß es allerdings verlockend ist, sich auf Grund der Relativitäts-theorie ein Bild vom Weltganzen zu machen. Darum bin ich be-reit, dir auch darüber Rede und Antwort zu stehen.

11. Kosmologie,Petrtis. Laß mich an ein bekanntes Ergebnis von THIRRING~)

anknüpfen ! Auf einen ruhenden Körper k im Mittelpunkt einergewaltigen rotierenden Hohlkugel H (welche den Fixsternhimmelvertritt) wirkt nach den Einsteinsehen Gravitationsgesetzen eineanaloge Kraft wie die Zentrifugalkraft, die an ihm angreifen würde,wenn umgekehrt die Hohlkugel ruht, aber k rotiert. Allerdingsist ihre Intensität unter realisierbaren Verhältnissen viel geringer;die Zentrifugalkraft erscheint multipliziert mit einem winzigenFaktor, welcher gleich ist dem Verhältnis zwischen dem Gravita-tionsradius der Hohlkugelmasse und dem geometrischen Radiusder Hohlkugel. Der Gravitationsradius einer Masse M beträgt,wenn M in Gramm gemessen wird, 1,87 l IO- 27 x M Zentimeter ;der Gravitationsradius der Erdmasse ist z. B. = 0,5 Zentimeter,derjenige der Sonnenmasse etwa 1,s Kilometer. Man wird danachin Machscher Weise die Zentrifugalkraft, die Abplattung der Erdeals eine Wirkung des um die ruhende Erde sich drehenden Sternen-himmels erklären können, wenn man annimmt, daß die mittlereEntfernung der Sterne so groß ist wie der Gravitationsradius ihrerGesamtmasse.

Pndus. Bei der Anordnung von THIRRING tritt aber an demruhenden Körper k außer der Zentrifugalkraft noch eine andereKraft von vergleichbarer Stärke auf, die nicht wie jene von derRotationsachse fortgerichtet ist, sondern parallel zu ihr wirkt.Außerdem ergibt sich ja? wie du selber erwähntest, die Zentrifugal-kraft nur dann in dem richtigen Betrage, wenn zwischen Radiusund Masse der Hohlkugel H ein genau abgestimmtes Verhältnisbesteht. Es geht daraus klar hervor, daß es etwas anderes ist, obk ruht und H rotiert, oder ob die Hohlkugel H ruht und der Körperk sich im entgegengesetzten Sinne mit der gleichen Winkelgeschwin-

1) Physikal. Zeitsehr. Bd. 19, S. 33. 1918; Bd. 22, S. 29. 1921.

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die Untersuchung von THIRRING, und hier, meine ich, ist nun dasMachsche Programm in einer Weise durchgeführt, die prinzipiellnichts mehr zu wünschen übrig läßt. Der eben geschilderte Gleich-gewichtszustand ist natürlich nur makroskopisch zu verstehen.Die einzelnen Sterne werden sich bewegen wie die Moleküle einesin einen ruhenden Kasten eingeschlossenen Gases, das ja auch,makroskopisch gesehen, ruht und sich gleichförmig über dasKasteninnere verteilt. Es erklärt sich damit zugleich die merk-würdige und sehr der Erklärung bedürftige Tatsache: daß dieSterngeschwindigkeiten durchweg so klein sind gegenüber derLichtgeschwindigkeit. Auch fallen die Paradoxien dahin, zu denendie unendliche Ausdehnung des Raumes in ihren astronomischenKonsequenzen geführt hat. l).

Pnuhs. Offen gesagt, kann ich mir nach dieser kosmischenTheorie noch durchaus kein klares und in den Einzelheiten stichhal-tiges Bild davon machen, wie die Materie das Führungsfeld erzeugt.

Petrus. Vielleicht ist da die Bemerkung förderlich, daß schonauf Grund der gewöhnlichen Theorie, in welcher das kosmologischeGlied fehlt, die Annäherung eines Körpers an einen andern eineinduktive Wirkung auf seine träge Masse a.usübt. Im statischenGravitationsfeld ist die Lichtgeschwindigkeit f mit dem Gravita-tionspotential @ durch die Gleichung verknüpft

t--c+;,

in welcher die Konstante c zufolge der Gleichung selber die Licht-geschwindigkeit fern von allen gravitierenden Massen bedeutet.Zu jedem Körper gehört eine durch seinen inneren Zustand alleinbestimmte Konstante, der ,,Massenfaktor“ n/i,; seine Energie Eaber und seine träge Masse WZ (der Quotient aus Impuls und Ge-schwindigkeit) sind abhängig vom Gravitationspotential, auf demsich der Körper befindet, nach den Formeln

E=wlf, MoWz=----.f

l) . Diese wurden namentlich von SE E L I G E R diskutiert : AstronomischeNachrichten Bd. 137, Nr. 3273.1895 ; Münchner Berichte Bd. 26.1896. EinenAusweg in ganz anderer Richtung suchte schon LA M B E R T und nach ihmFOURNIER D'ALBE (Two new Worlds, London 1907) und C. V. L. CHARLIER(1908). Vgl. das Referat von BERNHEIMER: Naturwissenschaften Bd. 10,s. 481. 1922.

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7 0 Massenträgheit und Kosmos.

Bringt man einen Körper an eine Stelle niederen Gravitations-potentials, legt man ihn z. B. vom Tisch auf den Fußboden, sovermindert sich folglich seine Energie; nämlich um den Betrag derArbeit, die zu leisten ist, um ihn vom Fußboden auf den Tischzurückzuheben. In demselben Verhältnis aber, wie seine Energiesich bei Annäherung an das Erdzentrum vermindert, erhöhtsich seine träge Masse. Das weist doch deutlich darauf hin,daß die Trägheit der Körper sich restlos als eine Induktions-wirkung der die Gravitation erzeugenden Weltmassen muß ver-stehen lassen.

Paulus. Wenn du mir nur sagen könntest, wie dieser Hinweissich zu einer wirklichen Erklärung ausgestalten ließe! Je mehrich datiiber nachgedacht habe, um so größer schien mir die Kluftzu werden, die es noch zu überbrücken gilt. Im Grunde hat sichdas Problem nur ein wenig verschoben: an Stelle der trägen Masseist der Massenfaktor M, getreten. Er bleibt eine dem Körper alleineigentümliche Konstante, die von keinen Induktionswirkungenbetroffen wird; keine Aussicht hat sich eröffnet, ihn durch eineWechselwirkung aller Massen im Universum entstanden zu denken.Die Schwierigkeit, welche von dem Raumhorizont herkommt, istnatürlich durch den geschlossenen Raum behoben; diejenige aber,die überall im Innern des Weltkontinuums ihren Sitz hat, in seinermolluskenhaften Deformierbarkei t - denke an meine FeststellungAl - bleibt bestehen. Physikalisch undurchsichtig, ja bedenklichist die Beschränkung auf statische Verhältnisse. Du fragst : Warumhat eine ruhende Punktladung ein elektrostatisches Feld F um sich,dessen Intensität umgekehrt proportional dem Quadrat der Ent-fernung von der Ladung abnimmt? Die Nahewirkungsgesetze deselektrostatischen Feldes erklären das nicht. Berücksichtige nunaber die Zeit und analysiere den folgenden Vorgang: Von einemneutralen Mutterkörper löst sich eine kleine Ladung ab und kommtfern vom Mutterkörper im Augenblick t zur Ruhe. Wenn seit tjetzt eine Stunde vergangen ist, so herrscht das oben geschilderteFeld F um die Ladung herum in einem Umkreis von 1 Lichtstunde= ca. 1014 cm Radius. Aus den Gesetzen des ~eränderZichen elektro-magnetischen Feldes ergibt sich zwangsläufig diese Ausbildungdes Feldes F, wenn die Annahme hinzugefügt wird, daß vor Begimder Ablösung der Raum feldfrei war. Nicht daran liegts also, daßdas Feld am unendlich fernen Raumhorizont festgehalten wird,

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Kosmologie. 71

sondern die Bindung kommt her von dem Weltsaum der unendlichweit zurückliegenden Vergangenheit.

Sobald man sich nicht mehr auf die Statik beschränkt, besitzendie durch das kosmologische Glied erweiterten Gravitationsgesetzenach DE S ITTER eine sehr einfache Lösung, bei welcher (im Gegen-satz zu EINSTEINS Behauptung) die Welt masseleer und tibrigensihr metrisches Feld vollkommen homogen istl). Zum Zwecke dergraphischen Darstellung streiche ich 2 Raumdimensionen, so daßdie Welt nicht vier-, sondern nur zweidimensional ist. Die Bilder,welche ich konstruiere, liegen in einem dreidimensionalen RaumR, dessen Metrik so ist, wie sie die spezielle Relativitätstheorie derWelt zuschreibt; wenn die Vertikale als Zeitachse fungiert, istalso in einem rechtwinkligen Dreieck, dessen eine Kathete hori-zontal, dessen andere vertikal ist, das Quadrat der Hypotenusegl&ch der Differertz der Quadrate der beiden Katheten. Ich unter-scheide drei Hypothesen über den Zustand der Welt im großen.

1. (EZeme&zre Kosmologie.) Die Welt stimmt in ihrer metri-schen Beschaffenheit überein mit einer vertikalen Ebene im RaumeR. Die Sterne sind unendlich dünn verteilt und ruhen alle; ihreWeltlinien sind also vertikale Gerade. Der Kegel der Lichtaus-breitung von einem Weltpunkt P aus wird gebildet von den beidendurch P laufenden Geraden, welche gegen die Vertikale um 45 O ge-neigt sind. Das ist der Normalzustand, der durch die gegenseitigeEinwirkung der Himmelskörper nur leicht gestört wird.

11. (EINSTEIN.) Die Welt wird metrisch treu dargestellt durcheinen geraden Kreiszylinder mit vertikaler Achse in unserm RaumeR . Die Weltlinien der Sterne sind wiederum vertikale Gerade, aberdie Massendichte ist nicht unendlich klein, sondern steht in einemgenau abgestimmten Verhältnis zum Radius des Zylinderquer-schnitts. Der Kegel der Lichtausbreitung besteht aus zwei Schrau-benlinien auf dem Zylinder, welche seine Mantellinien unter 45’schneiden.

111. Der geometrische Ort aller Punkte in R, die von einemZentrum 0 einen festen (reellen) Abstand besitzen, hat nicht dieGestalt einer Kugel, sondern eines einschaligen Hyperboloids mitvertikaler Achse; das ist die oben erwähnte de Sittersche Lösung.

l) Monthly Notices of the R. Astronom. Sec. London, NOV. 1917. Dazu :WE Y L: Raum, Zeit, Materie, 5. Aufl. (Berlin 1923), S. 322, und Physikal.Zeitsehr. Bd. 24 (1923), S. 230.

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72 Massenträgheit und Kosmos.

Der Kegel der Lichtausbreitung besteht aus den beiden durch denUrsprungsort hindurchgehenden geradlinigen Erzeugenden desHyperboloids, die Sterne sind unendlich dünn verteilt. Die Ebenen,welche durch eine feste Mantellinie Z des Asymptotenkegels hin-durchgehen - er hat seine Spitze in 0 und einen Offnungswinkelvon 90" -, schneiden auf dem Hyperboloid zwei Scharen von

Abb. 3. Weltlinien eines zusammen-hängenden Sternsystems nach der kos-

mologischen Annahme 111.

geodätischen Linien aus; dieHyperbeln der einen Scharlaufen nach unten (Vergangen-heit) zusammen, indem sie 2zur gemeinsamen Asymptotebesitzen, und breiten sich nachoben fächerförmig über dasganze Hyperboloid aus; diezweite Schar entsteht aus derersten durchvertauschung vonoben und unten. Die Welt-linien der ersten Schar werdeni m ungestörten Normalzu-stand beschrieben von denSternen eines von Ewigkeither in Kausalzusammenhangstehenden Sternsystems.

Petrus. Wenn es mit Hilfe des kosmologischen Gliedes nicht ge-lingt, das Machsche Prinzip durchzuführen, so halte ich es überhauptfür zwecklos und bin für die Rückkehr zur elementaren Kosmologie.

Paulus. Das scheint mir doch voreilig. Die Ebene 1 besitzteinen einzigen zusammenhängenden unendlich fernen Saum ; dalassen sich Raum und Zeit, ewige Vergangenheit und ewige Zukunftgar nicht voneinander trennen. Infolgedessen läßt sich auch keinevernünftige Vorschrift geben, welche es verhindert, daß die Welt-linie eines Körpers sich genau oder nahezu schließt; das würdeaber zu den grausigsten Möglichkeiten von Doppelgängertum undSelbstbegegnungen führen. Hingegen trägt der Zylinder 11 so gutwie das Hyperboloid III zwei getrennte Säume, den unteren derewigen Vergangenheit und den oberen der ewigen Zukunft; dasist der eigentliche Inhalt der Aussage, daß die Welt räumlich ge-schlossen ist: sie erstreckt sich ,,von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Undum dieses doppelten Weltsaumes willen möchte ich an dem kosmo-

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Kosmologie. 73

logischen Glied festhalten. Auf dem Einsteinschen Zylinder über-schlägt sich der Kegel der Lichtausbreitung unendlich oft. Voneinem und demselben Stern muß ein Beobachter demnach unendlichviele Bilder erblicken; zwischen den Zuständen des Sternes, vondenen zwei aufeinanderfolgende Bilder Kunde geben, ist ein Äonverflossen, die Zeit, welche das Licht gebraucht, um einmal rundum die Weltkugel zu laufen: die Wahrnehmung des jetzt Ge-schehenden ist durchsetzt von den Gespenstern des Längstvergan-genen. Hingegen vereinigt DE SITTERS Hyperboloid beide Vorzügemiteinander: den doppelten Saum der Vergangenheit und Zukunfteinerseits, den sich nicht überschlagenden Lichtkegel anderseits.Hier werden die kleinen Sterngeschwindigkeiten nicht wie in derEinsteinschen Kosmologie auf einen im Laufe von Äonen allmäh-lich eingetretenen ,,thermodynamischen” Ausgleich, sondern aufeinen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt. Die astronomischenTatsachen sprechen entschieden für diese Ansicht.

Nach der Hypothese 111 scheinen alle Sterne eines Systemsvon einem beliebig herausgegriffenen Zentralstem aus in radialerRichtung zu fliehen; ihre Spektrallinien sind für einen Beobachterauf dem Zentralstern nach dem roten Ende verschoben, und zwarum so stärker, je entfernter sie sind. Nun zeigen die Spiralnebel,welche wahrscheinlich die entferntesten Himmelsgebilde sind, mitganz wenigen Ausnahmen eine starke Rotverschiebung ihrer Spek-trallinienl). Sollte wirklich die universelle Fliehtendenz der Mate-rie davon die Ursache sein, welche formelmäßig im kosmologischenGlied der Gravitationsgleichungen zum Ausdruck kommt, so er-hält man aus hypothetischen Parallaxebestimmungen von Spiral-nebeln einen Weltradius von der Größenordnung 102’ cm.

Petrus. Die Lichtgespenster der Sterne im Kosmos 11 werdenwohl zu diffus sein, um wahrgenommen werden zu können.

Paulus. Dann müßte aber die diffuse, den Weltraum erfüllende

1) Ich verweise auf die Tabelle bei EDDINGTON : Mathematical Theoryof Relativity (Cambridge 1923), S. 162. - Neuerdings ist freilich die Ansicht,daß die Spiralnebel der Milchstraße gleichgeordnete Systeme sind, durchSHAPLEY und durch die Beobachtungen VAN MAANENS über die Bewegungder Nebelknoten in den Spiralnebeln stark erschüttert worden. Man lesedarüber die fortlaufenden ,,Astronomischen Mitteilungen“ in den letztenJahrgängen der Naturwissenschaften nach. Über eine andere von LINDE-MANN aufgestellte Hypothese zur Erklärung der Rotverschiebung in denSpektren der Spiralnebel vgl. Naturwissenschaften Bd. 11 . (1923), S. 961.

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Strahlung so stark sein, daß die Sterne im Durchschnitt ebenso vielLicht absorbieren wie emittieren. Für die Strahlung sollte so gutstatistisches Gleichgewicht bestehen wie für die Sternbewegung.

Petrus. Nach allem, was du gesagt hast, glaubst du an eineselbständige Macht des Führungsfeldes, unabhängig von der Ma-terie. Fern von aller Materie oder wenn alle Materie vernichtet ist- das ist doch deine Meinung ? - herrscht jener homogene Zu-stand 2, der durch das Hyperboloid 111 (oder im Grenzfall durchdie Ebene 1) wiedergegeben wird. Mit der Erfahrung steht daswohl im Einklang, aber es scheint mir dem Prinzip der Kontinuitätzu widersprechen. Denn wenn auch 2 in sich qualitativ vollständigbestimmt ist, so gibt es doch unendlich viele Möglichkeiten, wiesich dieser Zustand im Weltkontinuum realisieren kann; analogetwa wie alle Geraden in der gewöhnlichen Geometrie qualitativeinander gleich sind, es aber doch unendlich viele Möglichkeitenihrer Lage im Raum gibt. Welche dieser Möglichkeiten soll nunwirklich werden, wenn ich die vorhandene Materie stetig zu Nullabnehmen lasse ? Ich meine, bei verschwindender Materie muß dasFührungsfeld unbestimmt werden.

Paulus. Begehst du da nicht den gleichen Fehler, den EIN-STEIN 1914 machte1), als er aus dem Kausalitätsprinzip auf dieUnmöglichkeit der allgemeinen Relativitätstheorie schloß ? Denn,so sagte er, wenn die Naturgesetze invariant sind gegenüber be-liebigen Koordinatentransformationen, so erhalte ich aus einerLösung durch Transformation unendlich viele neue. Teile ich dieWelt durch einen dreidimensionalen Querschnitt, welcher ihrebeiden Säume voneinander trennt, in zwei Teile und verwende nursolche Transformationen, welche die ,,untere” Hälfte unberührtlassen, so stimmen alle diese Lösungen gleichwohl in der unterenWelthälfte mit der ursprünglichen überein; also sollten sie dochnach dem Kausalprinzip auch in der oberen Welthälfte miteinanderidentisch sein. Er übersah, daß alle diese Lösungen tatsächlichauch in der oberen Welthälfte objektiv den gleichen Zustands-verlauf wiedergeben, daß hier nur ein Unterschied der Darstellungs-weise, der verwendeten Abbildung vorliegt; oder anders aus-gedrückt : ein Unterschied bestünde nur, wenn die vierdimensionaleWelt ein stehendes Medium wäre, in das sich die Spuren der mate-riellen Vorgänge so oder so einzeichnen. Und nur dann kann man

1) Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1914, S. 1067.

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Kosmologie. 7 5

auch die Möglichkeiten der Realisierung, von denen du sprichst,als verschieden anerkennnen. Ein solches stehendes Medium wirdaber, ohne Zweifel mit deinem Beifall, von der Relativitätstheoriedurchaus geleugnet.

Erachtest du es für notwendig, daß fern von aller Materie dasFührungsfeld unbestimmt wird, so müßtest du konsequenterweisedas gleiche Postulat für das elektromagnetische Feld aufstellen.Jedermann nimmt aber an, daß mit verschwindender Materie dieelektromagnetische Feldstärke = 0 wird; und das bedeutet dochnicht, daß überhaupt ,,kein Feld da ist“, sondern daß dieses sichin einem bestimmten ,,Ruh-Zustand“ befindet, der sich stetig inalle übrigen möglichen Zustände einpaßt. Darf ich das Wort,,Äther“ in den Mund nehmen ? Ich verstehe darunter nicht einsubstantielles Medium, dessen hypothetische Bewegung ich er-gründen möchte, sondern als Zustand des Äthers gilt mir dasherrschende metrische und elektromagnetische Feld. In der Weyl-schen Theorie, ebenso in der kürzlich von EDDINGTON und EIN-STEIN entworfenen ,,affinen“ Feldtheorie erscheint auch das elek-trische mit in das metrische Feld aufgenommen. Der einzig mög-liche homogene Zustand desselben ist das Hyperboloid 111, aufwelchem die elektromagnetische Feldstärke überall verschwindet.Aus diesem Ruhezustand heraus - Ruhe heißt hier soviel wieHomogeneität - wird der Äther durch die Materie erregt; siestehen nicht in dem einseitigen Kausalverhältnis von Erzeugerund Erzeugtem, sondern in Wechselwirkung miteinander (2).Deinen Einwand aus dem Kontinuitätsprinzip kann ich anschau-lich vielleicht am besten durch eine Analogie entkräften, indemin den Äther einer Seefläche, die Materie den Schiffen vergleiche,welche sie durchfahren. Die verschiedenen Möglichkeiten, vondenen du sprachst, bestehen hier darin, daß man dieselbe Gestaltder Seefläche, denselben qualitativen Zustand materiell auf un-endlich viele verschiedene Weise realisieren kann ; der ,,materielleZustand“ gilt nämlich erst als bestimmt, wenn von jedem Wasser-teilchen feststeht, an welcher Stelle des Seebeckens es sich befindet.Der Festlegung eines Koordinatensystems im Äther, der Beziehungauf ein stehendes Medium entspricht hier die willkürliche unter-scheidende Kennzeichnung der einzelnen gleichartigen Wasser-teilchen (z. B. durch Numerierung). Kommt das Wasser am Abend,wenn alle Schiffe im Hafen sind, wieder zur Ruhe, so ist der Zu-

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7 6 Massenträgheit und Kosmos.

stand qualitativ genau der gleiche wie am Morgen vor dem Aus-fahren der Schiffe : die Seefläche ist eine glatte ,,homogene“ Ebene.Aber der materielle Zustand, der sich dahinter verbirgt, kann sichvollständig verschoben haben. Es ist nicht angängig (wie es beimFührungsfeld vor EINSTEIN geschah), die tatsächliche Lage allerWasserteilchen in dem durch die Schiffe erregten Seebecken auseiner ein für allemal fixierten Ruhelage und einer durch die Schiffebewirkten Elongation zusammenzusetzen. Dieser Vergleich machtes recht gut deutlich, wo ich die Grenze erblicke zwischen der alsgültig zu akzeptierenden neuen Auffassung, die uns die allgemeineRelativitätstheorie gebracht hat, und ihrer übers Ziel hinaus-schießenden spekulativen Ausdeutung (3). Dahinfällt, wie ichnicht leugnen kann, die von ihr versprochene radikale Lösung desBewegungsproblems, um die sich hauptsächlich der Kampf in derpopulären Diskussion drehte. Aber freuen wir uns, aus dem Rauscheder Revolution erwacht, des ruhigeren Lichtes, das sie jetzt überdie Dinge verbreitet und das dem zarteren Verständnis feinere,aber nicht minder bedeutungsvolle Züge der Weltstruktur erhellt !

Die Tatsache, daß Trägheits- und Sternenkompaß fast genauzusammengehen, bezeugt die gewaltige Übermacht des Äthers in derWechselwirkung zwischen Äther und Materie. Denke ich daran,wie auf dem de Sitterschen Hyperboloid die Weltlinien eines Stern-systems mit einer gemeinsamen Asymptote aus der unendlichenVergangenheit heraufsteigen, so möchte ich sagen: die Welt istgeboren aus der ewigen Ruhe des ,,Vaters Äther“; aber aufgestörtdurch den ,,Geist der Unruh“ (HÖLDERLIN), der im Agens derMaterie , ,,in der Brust der Erd’ und der Menschen“ zu Hause ist,wird sie niemals wieder zur Ruhe kommen. Es scheint mir desMenschen, der sich mit PLATON und KEPLER das Gefühl für dieGöttlichkeit der Natur bewahrte, nicht unwürdig, ihm zuvorderst,dessen Schoß uns alle eint, dem Vater Äther, Ehrfurcht, ,,Kränzezu weihn und Gesang“.

Petrus. Abtrünnig werde ich dich fortan nicht mehr schelten.Denn immer deutlicher spüre ich, daß du den physikalischen Ge-halt der Relativitätstheorie nicht preisgegeben hast und dein Den-ken über den Kosmos nach wie vor in ihrem Geiste geschieht.Deine Griinde will ich sorgfältig erwägen; aber ob ich mich nundeiner Meinung anschließe oder nicht - voll Freude weiß ich michvon neuem einerlei Sinnes mit dir im Herzen.

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Erläuterungen und Zusätze.Was ist Materie ?

(1) SPINOZAS Monismus entstand als die Überwindung desCartesischen Dualismus von denkender und ausgedehnter Sub-stanz. Von ARISTOTELES wird in Abschnitt 111 die Rede sein. DieBerechtigung und Bedeutung des ontologischen Substanzbegriffes,insbesondere die Frage, ob die Korrelation Substanz-Akzidenznotwendig oder geeignet ist, wie SPINOZA es will, in einer abso-luten Seinslehre das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit(Gott und Welt) zum Ausdruck zu bringen, liegt natürlich ganzaußerhalb des physikalischen Problemkreises. KANTS Kritizismuslehnt die Kategorien als Erkenntnismittel der ,,Dinge an sich“ ab,er will sie verstehen als die aus dem Wesen des Erkenntnisprozessessich ergebenden apriorischen Bedingungen für die Möglichkeit derErfahrung. Die Substanz, von der er redet, hat also die Realitätder in unserer Erfahrung gegebenen und sich konstituierendenErscheinungswelt.

(2) Daß es bei der Unterscheidung der verschiedenen Substanz-röhren nur auf den stetigen Zusammenhang der Raumzeitpunkteankommt, kann man sich so überlegen: der getrennte Verlaufdieser Gebiete, deren jedes einzelne in sich zusammenhängend ist,geht nicht verloren, wenn man die ganze Figur, welche das Welt-kontinuum mit seinen Substanzröhren darstellt, einer beliebigenDeformation unterwirft. Ausführlicheres findet sich darüber indem Zusatz (1) zum Dialog ,,Massenträgheit und Kosmos“. -Daß ein Atom sich nicht teilt und mehrere niemals zu einem einzi-gen miteinander verschmelzen, äußert sich darin, daß die Röhrenkeine Verzweigungen aufweisen.

(3) Man macht das etwa folgendermaßen (in einer zweidimen-sionalen, mit einem Cartesischen Koordinatensystem ausgestattetenEbene statt im dreidimensionalen Raum operierend) : Zunächstlassen sich die sämtlichen Punkte der Ebene mit rationalen Koor-

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78 Erläuterungen und Zusätze.

dinaten, wie die Mengentheorie gelehrt hat, in eine abgezählteReihe ordnen1) : PI, & +a, . . . Die Kreise Kn seien nach abnehmen-den Radien r,, angeordnet : y1 2 y2 > r3 > . . . ; r,, konvergiert mit un-begrenzt Wachsendern n gegen 0. Man beginne damit, die Kreis-scheibe Kl mit ihrem Mittelpunkt auf $, zu legen. Darauf sucheman in der Reihe p2, p,, . . . den ersten Punkt auf, der außerhalbK, liegt; das sei etwa 9,. Es kann sein, daß schon K,, wenn es mitseinem Mittelpunkt auf fl, gelegt wird, Kl nicht überschneidet.Sonst können wir aber sicher in der Reihe der Kreise K,, K3, . . . soweit gehen, z. B. bis K,, daß der Kreis vom Radius 7, um ps nichtin Kr eindringt. Dann legen wir die Kreisscheibe K, mit ihremMittelpunkt auf p, und verteilen die Kreise K, ,K3, . . . . & irgend-wie so in der Ebene, daß sie außerhalb voneinander und der beidenbereits placierten Kreise K, und K, liegen. Nun setzen wir dieReihe der Punkte fl,, über p, fort und suchen in ihr den erstenPunkt auf, der keinem dieser Kreise K, bis K, angehört; das seietwa &. Wenn nicht schon K,, so doch sicherlich eine der späterenScheiben Kn, etwa K12, wird so klein sein, daß sie, mit ihrem Mittel-punkt auf p8 gelegt, außerhalb aller Kreise Kl bis K, liegt. DieKreisscheiben K, bis K,, werden dann irgendwie so verteilt, daßsie weder ineinander noch in KI bis K, noch in Kl2 eindringen.Dieses Konstruktionsverfahren kann man offenbar unbegrenztfortsetzen, Es führt dazu, die unendliche Serie von KreisscheibenK,, K,, K,, . . . so über die Ebene zu verstreuen, daß keine gegen-seitigen Überdeckungen stattfinden, aber jeder Punkt mit ratio-nalen Koordinaten einem der Kreise angehört. Zwischen ihnenhat also keine noch so kleine Kreisscheibe k mehr Platz. - Esist freilich etwas kühn, zu behaupten, daß damit die Hypothesedes leeren Raumes vermieden sei.

1) Zu diesem Zweck erteilt man jedem rationalen Punkt mit den Ko-a

Ordinaten x = ; , y = i (a, b, n ganze Zahlen ohne gemeinsamen Teiler,

n positiv) den Rang H = Ia] + Ib1 + n - dem Punkte ( - 9, %) = ( - 8, i)kommt z. B. der Rang 3 + 4 + 6 = 13 zu - und ordnet die Punkte nachwachsendem Rang an. Das ist möglich, da zu jeder Rangzahl nur endlich-viele Punkte gehören. Der Anfang der Tabelle sähe so aus :

x= 0 0 0 1 -1 1y= 0 1 -10 0 1 l l-1 l -10 0 2- 1 1 - 1 2 - 2 0 -2 0 0 Il 1o+ -3 0” -3; l0

R=12 22 23 3 3 33, 33 33 33 3

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Was ist Materie? 79

(4) Münchhausen, der sich an seinem eigenen Zopfe aus demSumpfe zieht : in dem Lachen über diese groteske Lügengeschichtegibt jeder, auch der physikalisch nicht Geschulte, zu verstehen,wie gut er instinktiv um jene Tatsache Bescheid weiß. -Die Her-leitung des Impulsprinzips aus ihr gestaltet sich, bei Beschränkungauf eine Raumdimension, etwa folgendermaßen: In einem starrenRohr ‘8 werde von einer am linken Ende stehenden Kanone einKörper k gegen die gegenüberliegende Wandung abgeschossen.Vor dem Schuß sei die Geschwindigkeit des Rohres gerade einesolche, daß es durch den Rückstoß zur Ruhe kommt. Ob nununterwegs das Geschoß krepiert - in mehrere Bruchstücke, die inder Längsrichtung des Rohres fliegen und am rechten oder linkenEnde einschlagen - oder ob es nicht krepiert, beidemal wird ge-mäß der zugrunde gelegten Erfahrungstatsache das Rohr nachdem Einschlagen wieder die ursprüngliche Geschwindigkeit be-sitzen. Versteht man unter dem Impuls eines beliebigen (in derLängsrichtung von 8 fliegenden) Körpers die Geschwindigkeit,welche er dem ruhenden Rohr beim Einschlagen erteilt, so folgtdaraus, daß die Summe der Impulse der Geschoßstücke nach demKrepieren ebensogroß ist wie der Impuls des Geschosses vorher;bei diesem Schluß setzen wir zweckmäßigerweise voraus, daß dieNasse des Rohres ungeheuer groß ist gegenüber der der Kugel k;aus dem Relativitätsprinzip (siehe den nächsten Absatz) folgtnämlich dann, daß die Geschwindigkeiten, welche dem Rohr durchdie sukzessiven Einschläge erteilt werden, sich algebraisch addieren,Unsere Definition des Impulses ist insofern unabhängig von demverwendeten Rohr, als sich bei anderer Wahl des ,,Meßrohres”alle Impulse nur mit einem gemeinsamen Proportionalitätsfaktor(andere Wahl der Maßeinheit) multiplizieren. Denn zwei gleich-beschaffene Körper k mit der gleichen Geschwindigkeit erteilenzwei anderen Körpern 1, 11 von gleicher Masse, in welche sie ein-schlagen, notwendig die gleiche Geschwindigkeit. Man braucht,um das einzusehen, nur deneinen Vorgang spiegelbildlich demanderen gegenüberzustellen, wiedie schematische Figur zeigt. Die

p IB k+j

Pfeile bedeuten die beiden anAbb. 4. Zur Messung des’Impulses.

einem festen Gestell angebrachten Kanonen; dieses bleibt beimFeuern aus Symmetriegründen in Ruhe. Würde der Körper 1

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80 Erläuterungen und Zusätze.

eine größere Geschwindigkeit erhalten als 11, so würde nach demZusammenstoß der vereinigte Körper 1 + 11 sich nach rechtsbewegen, während das Gestell in Ruhe geblieben ist - entgegendem zugrunde gelegten Prinzip.

(5) Das zweite dieser Gesetze ist das bekannte FaradayscheInduktionsgesetz ; es sagt aus, daß für irgendeine geschlosseneKurve 0: im Raume, in die man sich eine Fläche 3 eingespanntdenkt, die Änderung pro Zeiteinheit des magnetischen Induktions-flusses, welcher durch jene Fläche hindurchtritt oder, wie manauch sagt, von der Kurve 6 umschlungen wird, gleich ist der,,elektromotorischen Kraft“, dem Linienintegral der elektrischenFeldstärke längs Q. Experimentell bewiesen wird das Gesetz da-durch, daß man in die gedachte Kurve & einen Metalldraht legtund den durch jene elektromotorische Kraft nach dem OhmschenGesetz erzeugten Strom beobachtet (Änderung des Magnetfeldeserzeugt elektrischen Strom, Prinzip der Dynamomaschine). DieUnabhängigkeit des von a umschlungenen Induktionsflusses vonder eingespannten Fläche 3 wird durch das Gesetz (14) : div ‘23 = 0garantiert, welches ausdrückt, daß der Induktionsfluß durch irgend-eine geschlossene Fläche hindurch Null ist. Diese Gesetze bleibenauch bei Anwesenheit von Materie gültig. Dagegen modifiziertsich die erste der beiden Gleichungen (1 y), ebenso (14) ; insbeson-dere ist der Fluß, den die elektrische Feldstärke durch eine ge-schlossene Fläche hindurchschickt, welche Materie einschließt,proportional zu der von der Fläche umschlossenen Ladung (vgl.den Begriff felderregende Ladung auf S. 54).

(0) Welches ist dann überhaupt noch die Bedeutung der obenberechneten Maßzahl des Elektronenradius a = 10 - 13 cm ? Ledig-lich die, daß sich die Mittelpunkte zweier Elektronen höchstensauf eine Distanz von dieser Größenordnung nahe kommen können.Wird ein Elektron aus dem Unendlichen zentral gegen ein zweitesruhendes geschossen mit einer Anfangsgeschwindigkeit = -+ derLichtgeschwindigkeit, so ist seine anfängliche Energie

2

J1 m;t)

= smc2- 2 3 *

Bei seiner größten Annäherung an das zweite, in dem Augenblick,wo es umkehrt, befindet es sich in Ruhe, seine Energie beträgtalso nur noch mc2. Der verlorene Teil 8 m c‘J ist die Arbeit, welche

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Was ist Materie? 81

das Elektron zur Überwindung der elektrischen Abstoßung auf-gewendet hat; diese ist, wenn a’ der erreichte Abstand ist,

4n&a- ~a’ l

In dem Zahlenbeispiel erhalten wir also als größte An-

näherung aus der Gleichung

2-mc2 4ne2 6m23

= ~ den Wert a’ = x 4a’

(7) Aus einem ganz anderen Motiv, nämlich aus seiner sensua-listischen Erkenntnistheorie heraus, die nur ,,farbige, feste Punkte“anerkennen will, leugnet HUME den leeren Raum. Aber dieseLeugnung hat auch bei ihm einen anderen Sinn; es handelt sichfür ihn nicht um eine Seins-Frage, sondern um eine erkenntnis-kritische, die man modern und weniger sensualistisch etwa so aus-drücken kannl) : das vierdimensionale Raumzeit-Kontinuum is;tnichts für sich, sondern lediglich das Feld der möglichen Koinzi-denzen (oder besser: Berührungen) von Ereignissen. Immerhinist zu bedenken, daß die Nicht-Koinzidenz sich ebenso unmittelbarfeststellen läßt wie die Koinzidenz; und es wäre doch nicht gut,diese keineswegs miteinander in Widerspruch stehenden Tat-sachen durch die Redewendungen ,,es gibt keinen leeren Raum -es gibt einen leeren Raum” zum Ausdruck zu bringen. Daß wirdas Wirkliche zum Zwecke seiner theoretischen Beschreibung aufden Hintergrund des Möglichen stellen müssen (des Raumzeit-Kontinuums mit seiner Feldstruktur) - das bedeutet letzten Endesdas Auftreten der Geometrie in der Physik. - Für ARISTOTELES

geht es um die Seinsfrage, die der Substanztheoretiker etwa soformulieren müßte: Wenn man einen Kasten leerpumpt, berührensich dann die Paare einander gegenüberliegender Wände? HUME

macht sich lustig über gewisse Aristoteliker, die darauf mit Ja ant-worteten. Aber ARISTOTELES ist damit nicht ad absurdum geführt ;die Substanz kann man auspumpen, das Feld aber nicht.

(8) Die Kausalstruktur der Welt ist nach der Relativitäts-theorie dahin zu beschreiben, daß von jedem Weltpunkt 0 einDoppelkegel (Kegel der Lichtausbreitung) ausgeht mit demPunkte 0 als Knotenpunkt, derart daß von 0 aus Wirkungen nurnach den im Innern (3) des ,,vorderen“ Kegels gelegenen Welt-

l) Vgl. WINTERNITZ, Relativitätstheorie und Erkenntnislehre, inTeubners Sammlung: Wissenschaft und Hypothese, Leipzig 1923, S. 35.

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82 Erläuterungen und Zusätze.

punkten gelangen können (aktive Zukunft), nach 0 andererseitsaber nur Wirkungen gelangen können, die von Weltpunkten imInnern (1) des hinteren Kegels ausgingen (passive Vergangenheit).Zwischen (1) und (3) liegt das Zwischengebiet (2). Mein Leib durch-mißt die Welt auf einer Weltlinie. Ich fahre auf ihr entlang ,,mit

Abb. 5. Kausalstrukturder Welt.

abgeblendetem Bewußtsein“ ; im Augen-blick 0 steht dem wahrnehmenden Be-wußtsein nur der Inhalt von (1) offen.Nach älterer Auffassung tritt an die Stelledes Kegels eine ,,Ebene“ t = const., dieGegenwart, in welcher Vergangenheit undZukunft zwischenraumlos aneinander-stoßen. - Die Rede von Ursache undWirkung erhält nur einen verständlichenSinn, sofern sich der Experimentator echteWillensfreiheit zuschreibt, davon weiß, was

er will und selber erzeugt. Weil die Willensfreiheit mit der Natur-kausalität unverträglich schien, hat die Aufklärungsphilosophiesie geleugnet, KANT versucht, eine transzendente Lösung desWiderstreits zu geben, die auf der Unterscheidung von sinnlicherund intelligibler Welt beruht (die sich aber kaum zu Ende denkenläßt). Das Wirken des Ich auf die Außenwelt scheint mir so ge-wiß wie seine Wahrnehmung der Außenwelt. Wenn ich z. B. urteile2 +2 = 4, so glaube ich, macht sich dieser Urteilsakt nicht bloßso in mir durch blinde Naturkausalität, sondern der Umstand, daßwirklich 2 +2 = 4 ist, hat bestimmende Gewalt über mein Urteilen;und wenn ich weiter mit der Hand die Zeichen 2 + 2 = 4 aufsPapier schreibe, so geschieht das, weil ich damit jenes Urteil fixie-ren will. Das Ich ist Da-Seiendes (reale psychische Akte vollziehen-des Individuum) und ,,Gesicht“ (sinngebendes Bewußtsein, Wissen,Bild) zugleich ; als Individuum fähig zur Wirklichkeitssetzung,zur bildbestimmten willentlichen Tat, sein Gesicht offen gegen dieVernunft; ,,Kraft, der ein. Auge eingesetzt ist“, wie FICHTE sagt1).

l) Herr WINTERNITZ (a. a. O., S. 218) bezeichnet diesen Glauben,gegen mich polemisierend, als ein sacrificium intellectus, für welches nuraußertheoretische Gründe maßgebend sein könnten. Mir erscheint sein (vonvielen geteilter) Standpunkt als theoretische Blindheit, die zugunsten einesgewissen engen Tatsachenkomplexes den umfassenden Rest der Welt wegeneines vermeintlichen Widerstreits ignoriert; er hebt außerdem alles Denken(als Denken, das einen Sinn hat und für welches man einstehen kann) auf.

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Was ist Materie? 83

Die Antinomie zwischen Kausalität und Willensfreiheit in ihrerschneidendsten Form betrifft das Verhältnis von Wissen und Sein.Nehmen wir mit der Feldphysik an, daß der Zustand der Weltin einem Augenblick, in einem dreidimensionalen Querschnittt = const., nach streng gültigen bekannten mathematischen Ge-setzen (Laplacesche Weltformel) den künftigen Geschehensverlaufbestimmt. Dann, glaubte man schließen zu dürfen, ließe sich ja ausdem, was ich in einem Augenblick 0 weiß (oder wissen kann), ausdem der Wahrnehmung in 0 geöffneten Weltteil die Zukunft vor-ausberechnen! Diese Antinomie bestand früher, besteht aber in derRelativitätstheorie nicht mehr; denn nicht der durch 0 laufendeQuerschnitt t = const. grenzt das Bekannte vom Unbekannten ab,sondern der hintere Lichtkegel; und es ist eine mathematische Tat-sache, daß durch den Verlauf der Zustandsgrößen in einem solchenKegel (1) der Rest der Welt (2) + (3) nicht determiniert ist.Immer erst unmittelbar nach der Tat kannich alle kausalen Prämissen meiner Tat ken-nen. Es liegt das daran, daß der Zuwachs,den das Gebiet (1) erfährt, wenn das Indivi-duum auf seiner Lebenslinie von 0 nach 0’vorrückt (Abb. 7), immer noch wieder in dieunendlichferne Vergangenheit hinabtaucht. Abb* 6* Der Zuwachs- Faßt man aber die Determination als

der Vergangenheit.

reines Seinsproblem, so stellt die Möglichkeit der freien Tatdas weitergehende Postulat, daß auch der Inhalt von (1) + (2),der durch die in 0 geschehenden Taten nicht mehr geändertwerden kann, die aktive Zukunft (3) nicht vollständig fest-legt. Diesem Postulat genügt die Feldphysik nicht, ihm wird nurdie im folgenden entwickelte dynamische Agenstheorie gerecht.Die Frage hängt eng zusammen mit der Einsinnigkeit der Zeit. Fürdas Bewußtsein spielt fraglos der hintere (für die Wahrnehmunggeöffnete) Kegel eine andere Rolle wie der vordere. Fragt man nurnach dem Verhältnis von Wissen und Sein, so kann man sich mitder Antwort begnügen, daß das Bewußtsein, wenn man es in einenWeltpunkt 0 hineinsetzt, die Auszeichnung des einen Kegels vordem anderen eindeutig vollzieht. Ein Seinsproblem aber entsteht,sobald man glaubt, daß das einen physischen Grund haben müsseund daß auch rein physikalisch der eine Kegel vor dem anderenausgezeichnet sei; daß also z. B. ein Atom in 0 wohl eine von 0

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auslaufende Kugelwelle, nicht aber eine gegen 0 einlaufende Welleerzeugen könne und daß infolgedessen der letzte Vorgang imVergleich zum ersten außerordentlich viel unwahrscheinlicher sei,viel seltener vorkomme (weil er nämlich nur durch sehr viele, rundum das Atom in 0 verteilte, zufällig genau aufeinander abgestimmteAtome erzeugt werden kann, deren Einzelwellen sich durch Inter-ferenz zu der gegen 0 einlaufenden Kugelwelle zusammenfügen).Für eine solche Auszeichnung des Zeitsinnes ist in der Feldphysikkein Platz; man hat eine Zeitlang gemeint, daß die statistischeThermodynamik das Wunder fertig brächte, durch Mittelwert-bildung aus umkehrbaren Gesetzen nicht-umkehrbare entstehen zulassen; heute werden wohl alle Physiker den Irrtum zugeben, Insolchen Gesetzen aber, welche die Erregung des Feldes durch einAgens zum Ausdruck bringen, kann die Einsinnigkeit der Zeitsehr wohl zur Geltung kommen. Das geschieht z. B. in der LIE-NARD-WIEcHERTschen Formel, nach welcher ein sich bewegendesElektron von einem elektromagnetischen Feld umgeben ist,dessen Zustand auf dem von 0 ausgehenden vorderen Kegel nurvon dem Bewegungszustand des Elektrons in 0 abhängt (0 bedeutetdabei irgendeinen Punkt auf der Weltlinie des Elektrons). Heutesieht es so aus, als ob man den Effekt der Erregungsvorgänge nurin Summa, als statistische Regelmäßigkeit erfassen kann; man be-rechnet ihn, indem man die Elementarvorgänge als zufällige, miteiner gewissen numerischen Wahrscheinlichkeit behaftete ansetztund sie - abgesehen von den Wirkungen, welche sie einander zu-strahlen - als unabhängige Ereignisse im Sinne der Statistikbehandelt. Vielleicht trifft das letzte nur für die anorganischeMaterie zu; die Lebenspotenz äußert sich vielleicht darin und wirdin dieser Form einmal für die Wissenschaft faßbar sein : daß siestatistische Korrelationen zwischen den atomaren Einzelereignissenbegründet. - Man muß jedenfalls zugeben, daß gegenwärtig, sowie die Physik tatsächlich betrieben wird, in ihr die Kausalitätein merklich anderes Gesicht zeigt als zu SPINOZAS und KANTSZeiten und das Determinationsproblem viel von seiner Schärfeverloren hat1).

*) Vgl. dazu: SCHOTT K Y: Das Kausalproblem der Quantentheorie alseine Grundfrage der modernen Naturforschung überhaupt, Naturwissen-schaften Bd. 9, 1921; NERNST: Zum Gültigkeitsbereich der Naturgesetze,Naturwissenschaften Bd. 10, 1922.

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Massenträgheit und Kosmos.

Massenträgheit und Kosmos.(1) Es soll versucht werden, den Tatbestand etwas genauer

weltgeometrisch zu schildern. Aber abstrahieren wir zunächstvon der Zeit und sprechen nur vom Raum! In der NewtonschenPhysik wird angenommen, daß die wirklichen Vorgänge sichanschaulich vorstellen lassen als Bewegungen substantieller Körperin einem stehenden Euklidischen Raum. Die Relativitätstheorieläßt es zwar auch zu, daß man das dreidimensionale Raum-kontinuum auf einen Euklidischen Raum abbildet (das bedeutetim wesentlichen die Einführung eines Koordinatensystems) ; aberso gewinnt man nur ein Bild, in demselben Sinne wie die geogra-phischen Karten Abbilder der wirklichen Erdoberfläche sind. DiesVerfahren ist bequem, vielleicht sogar unvermeidlich, weil es dieMöglichkeit verschafft, sich ,,bildlich“ mit Hilfe der gewöhnlichengeometrischen Begriffe auszudrücken. So werde ich etwa im Hin-blick auf die Merkatorkarte sagen, daß San Francisco, die Süd-spitze von Grönland und das Nordkap in gerader Linie liegen;werdemich dann aber nicht wundern, daß auf einer orthographischenProjektion, welche die nördliche Halbkugel der Erde darstellt,dies keineswegs der Fall ist. Zwei Abbildungen gehen ineinanderüber durch stetige Deformation; aber von vornherein genießt keineder möglichen Abbildungen den Vorzug, allein ,,richtig“ zu sein,vor allen anderen. Gehen wir zur W e l t über, streichen aber. umder Anschaulichkeit willen eine Raumdimension, so hatten wirschon in dem vorhergehenden Aufsatz ,,Was ist Materie?“, S. 3,in einem Euklidischen Bildraum mit ausgezeichneter Vertikal-richtung die Newtonsche Welt, welche auf eine absolute Weise inRaum und Zeit zerspalten ist, zur Darstellung gebracht. Einruhender Körper beschreibt darin eine vertikale Gerade. DieAusbreitung eines an der Weltstelle 0 gegebenen Lichtsignals wirddargestellt durch einen geraden Kreiskegel mit vertikaler Achseund Spitze in 0 (Lichtkegel). (Auf seinem Mantel liegen diejenigenWeltpunkte, in denen das Lichtsignal eintrifft; sein Öffnungs-winke1 ist go”, wenn auf der vertikalen Zeitachse die Strecke für1 Sek. ebenso lang gemacht ist wie die Strecke, welche in der hori-zontalen Raumebene die Länge von 300 000 km repräsentiert).Aber auch ohne die Newtonschen Voraussetzungen kann die Welt,das Medium der in ihr möglichen Koinzidenzen, wie jedes drei-dimensionale Kontinuum (wir strichen eine Raumdimension), auf

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Erläuterungen und Zusätze.

einen Euklidischen Bildraum mit ausgezeichneter Vertikalen ab-gebildet werden ; und man kann dann die vorhin verwendetengeometrisch-kinematischen Ausdrücke auf dieses Bild übertragen(man wird also z. B. von einem Körper, dessen Weltlinie als einevertikale Gerade erscheint, sagen, daß er ruhe). Objektive Bedeu-tung haben jedoch nur solche Beziehungen, welche bei beliebigerDeformation (Übergang von einer Abbildung zur anderen) erhaltenbleiben. Daß sich zwei Weltlinien schneiden, daß eine Weltröhrezusammenhängend oder unverzweigt ist (vgl. S. 77), sind beispiels-weise derartige Beziehungen. Der Winkel, unter dem zwei Sterneeinem Beobachter im Weltpunkt 0 erscheinen, wird durch einegewisse geometrische Konstruktion ermittelt aus den Weltliniender beiden Sterne (z), der Weltlinie des Beobachters (B), demPunkte 0 selber, dem von 0 ausgehenden rückwärtigen Lichtkegel

9 und den auf ihm verlaufenden Welt-linien (n) derjenigen beiden Lichtsignale,die von den Sternen her in 0 eintreffen.Diese Konstruktion, welche natürlichvon fundamentaler Wichtigkeit ist fürdie Beziehung zwischen objektiver Wirk-lichkeit und Wahrnehmungsbild, ist vonsolcher Art, daß sie zum gleichen Winkel-

Abg. 7. Bestimmung des Win-wert führt, wenn sie, nach einer belie-

kelabstandes zweier Sterne. bigen Deformation des ganzen Bildes, vonneuem gemäß der gleichen Vorschrift an

dem verzerrten Bilde vorgenommen wird. Bemerkenswert ist, daßdie Konstruktion außer den wirklich vorhandenen Weltlinien 2, Bnoch den die kausale Struktur der Welt (das metrische Feld) kenn-zeichnenden rückwärtigen Lichtkegel R benutzen muß. Es isteine mathematische Selbstverständlichkeit, daß man die Natur-gesetze, wie sie auch lauten mögen, in solcher Weise zum Ausdruckbringen kann, daß sie invariant sind gegenüber beliebigen Koordi-natentransformationen, gegen beliebige Deformationen des graphi-schen Bildes; nur wird in sie dann eine Feldstruktur eingehen, wiees die Kausalstruktur ist oder das elektromagnetische Feld. -Führt man spezielle Koordinatensysteme ein, so muß man siephysikalisch, auf Grund der wirklichen Vorgänge und der Struktur,definieren. So behauptet z. B. die spezielle Relativitätstheorie,daß man die Abbildung insbesondere so einrichten kann, daß alle

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Lichtkegel als vertikale gerade Kreiskegel vom Öffnungswinkel90 O erscheinen. - Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschiehtnicht. Nur vor dem Blick des in der Weltlinie seines Leibes empor-kriechenden Bewußtseins ,,lebt“ ein Ausschnitt dieser Welt ,,auf“und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlungbegriffenes Bild. Ich zitiere ein paar schöne Verse von WILH.VON SCHOLZ :

,,Wandernd erwacht ihr. Da beginnt zu gleitender Boden, der euch reglos trug ;und unaufhaltsam wächst in euer Schreitendes Bildes stiller Weiterzug.“

So kommt in der modernen Physik - nachdem sie sich langstvon den Sinnesqualitäten befreit hatte - die große ErkenntnisKANTS zur Geltung, daß Raum und Zeit nur Formen unserer An-schauung sind, ohne Gültigkeit für das Objektive.

(2) Während NEWTON nur Kausalgesetze kannte, nach denenKörper auf Körper wirken, treten hier neben die eigentlichenKausalgesetze, welche lehren, wie das Feld durch die Materie er-regt wird, Strukturgesetze, welche die Ausbreitung der Wirkungenim Felde betreffen. Nur relativ zu dieser Struktur können wirüberhaupt die Materie kennzeichnen. Trotz der Selbständigkeitder Struktur ist es ganz gut zu verstehen, daß ich nicht andersals durch die Materie hindurch imstande bin, auf das Feldeinzuwirken; denn Ich bin nicht Feld, sondern das, was auseinem Jenseits des Feldes über die inneren Feldsäume derMaterie hinüber ins Feld hineinwirkt (vgl. den Abschn. IV desvorigen Aufsatzes).

(3) Es ist recht nützlich, diese Analogie genau durchzudenken.Wenn alle Wasserteilchen ganz gleichartig sind, so sind zwei Zu-stände des Seebeckens 2, Z’, die dadurch auseinander hervorgehen,daß die Teilchen ihre Orte irgendwie untereinander vertauschen,jeder für sich betrachtet, durch nichts unterschieden. Nur nach-dem man die Teilchen mit Nummern versehen hat, welche künst-liche Unterschiede unter ihnen einführen und während der Be-wegung an ihnen haften bleiben, kann man von zwei verschiedenenmateriellen Zuständen sprechen. In Wahrheit ist aber nicht dereinzelne materielle Zustand 2, die Anordnung, etwas Faßbares,sondern nur die Verschiebung des materiellen Zustandes 2 -+ Z’,die Permutation. Dem Prinzip vom zureichenden Grunde, sofern

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es einen eindeutig bestimmten Gleichgewichtszustand verlangt,widerspricht es also nicht, daß der materielle Zustand des See-beckens sich vom Morgen zum Abend verschoben haben kann.In der Newtonschen Physik war das Führungsfeld zerlegt in diehomogene Galileische Trägheit (Ruhelage der Wasserteilchen)und die Gravitation (= Elongation). Daß unter allen möglichenderartigen Zerlegungen eine einzige den Vorzug der allein richtigengenießt, wird von EINSTEIN bestritten; aber damit steht es nichtim Widerspruch, wie aus unserer Analogie hervorgeht, daß mitdem Verschwinden der erregenden Materie das Führungsfeld inden homogenen Galileischen Zustand übergeht.