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Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet Zentralasien ins Blickfeld deutscher Politik und militärischer Interessen. Das Vordringen des Za- renreiches wurde in Berlin mit einiger Sympathie verfolgt. Die Russen übernahmen anscheinend eine zivilisatorische und ordnungspolitische Mission in einem unübersichtlichen Raum der muslemischen Welt, der durch Rückständigkeit, Unruhe und Machtzerfall gekennzeichnet schien. Die Usbeken wurden als asiatisch-mongolischer Stamm wahrgenom- men, dessen kulturelle, wirtschaftliche und militärische Bedeutung nicht eingeschätzt werden konnte. Eine politische Gliederung oder eigenstän- dige Staatsbildung im europäischen Sinne war nicht erkennbar. Usbe- ken bildeten, so informierte das deutsche »Militär-Wochenblatt« 1873, die Hauptbevölkerung in den drei Oasen-Reichen von Chiwa, Buchara und Kokand, umgeben von riesigen Steppengebieten, in denen Noma- denvölker wie die Kirgisen und Turkmenen lebten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam Usbekistan im deutschen militärischen Kal- kül insbesondere aufgrund seiner Nachbarschaft zu Afghanistan – dem Sprungbrett zum britisch beherrschten Indien – Bedeutung zu. Im Bild turkestanische Freiwillige der Wehrmacht bei der »Sandkastenausbil- dung« im Jahre 1944. BArch, 101I-295-1561-04/Müller

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Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet Zentralasien ins Blickfeld deutscher Politik und militärischer Interessen. Das Vordringen des Za-renreiches wurde in Berlin mit einiger Sympathie verfolgt. Die Russen übernahmen anscheinend eine zivilisatorische und ordnungspolitische Mission in einem unübersichtlichen Raum der muslemischen Welt, der durch Rückständigkeit, Unruhe und Machtzerfall gekennzeichnet schien. Die Usbeken wurden als asiatisch-mongolischer Stamm wahrgenom-men, dessen kulturelle, wirtschaftliche und militärische Bedeutung nicht eingeschätzt werden konnte. Eine politische Gliederung oder eigenstän-dige Staatsbildung im europäischen Sinne war nicht erkennbar. Usbe-ken bildeten, so informierte das deutsche »Militär-Wochenblatt« 1873, die Hauptbevölkerung in den drei Oasen-Reichen von Chiwa, Buchara und Kokand, umgeben von riesigen Steppengebieten, in denen Noma-denvölker wie die Kirgisen und Turkmenen lebten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam Usbekistan im deutschen militärischen Kal-kül insbesondere aufgrund seiner Nachbarschaft zu Afghanistan – dem Sprungbrett zum britisch beherrschten Indien – Bedeutung zu. Im Bild turkestanische Freiwillige der Wehrmacht bei der »Sandkastenausbil-dung« im Jahre 1944.

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Operationen auf der Seidenstraße? Usbekistan im deutschen militärischen Kalkül während der Weltkriege

Der Mythos alter Kulturstä�en wie Buchara und Samarkand verband sich im 19. Jahrhundert mit der Wiederentdeckung der Seidenstraße als einer Verbindungslinie zwischen Europa und Asien, deren Ursprünge sich in Urzeiten verlieren. Doch dieser Mythos interessierte allenfalls einige Gelehrte und Reisende. Für Kaufleute und Industrielle war die Region bedeutungslos, allen-falls als Land alter Pferdezucht gerühmt.

Die Kolonialpolitik Russlands, mit dem Preußen und ab 1871 das Deutsche Reich lange Zeit freundscha�lich verbunden war, verstand man in Berlin als positiven Faktor. Mit der Errichtung des Generalgouvernements Turkestan 1867 und der Übernahme der Kontrolle über das Emirat Buchara verscha�e sich Moskau ein Sprungbre� in Richtung Afghanistan. Dass damit englische Interessen durchkreuzt wurden, machte die gesamte Region zu einem Konfliktfeld internationaler Politik. Auch in Berlin inter-pretierte man diese Entwicklung als Bestätigung der damals modernen Theorien von Geopolitik, die Zentralasien als »Herz-land« jeglicher Weltherrscha� ansahen.

Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges musste der deutsche Ge-neralstab damit rechnen, dass sowohl Russland als auch England zu Feindmächten werden könnten. Deren gegenseitige Verwick-lung und Bindung in Zentralasien konnte aus diesem Blickwin-kel nur willkommen sein. So sandte man nach Kriegsausbruch eine geheime Militärdelegation nach Afghanistan. Im Gegensatz zum Land der Usbeken, das sich als Generalgouvernement fest in russischer Hand befand, verfügte der Emir in Kabul über ein gewisses militärisches Potenzial. Deshalb erkannte Deutschland 1916 die Unabhängigkeit Afghanistans an und versuchte, von hier aus den Aufstand gegen die britische Herrscha� über den reichen indischen Subkontinent zu schüren.

Das Bla� wendete sich ein Jahr später, als mit der Nieder-lage der Zarenarmee raumgreifende deutsche Operationen und stärkere Einflussnahme auch in Zentralasien möglich schienen. Die antibritische Strategie zielte auf einen Vorstoß über den Kau-

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kasus und Nordpersien sowie über Turkestan und den Hindu-kusch nach Kabul. Verfechter einer solchen Option war der Chef der Militärmission in Afghanistan, der bayerische Offizier Oskar Ri�er von Niedermayer. Mit dem Zusammenbruch des Deut-schen Reiches und dem Kriegsende in Europa 1918/19 änderte sich die Situation aber grundlegend.

Die Weimarer Republik war auf ein gutes Verhältnis mit Großbritannien angewiesen, um der französischen Vorherr-scha� auf dem Kontinent widerstehen zu können. Die deut-sche »Speerspitze« Afghanistan verlor damit ihre Schärfe. Nach Kabul schickte man nun Lehrer und Ingenieure. Sta�dessen verlagerte sich das militärische, politische und wirtscha�liche Interesse auf die Region der alten Seidenstraße, wo zunächst die Auswirkungen des Russischen Bürgerkrieges eine Klärung der Machtverhältnisse verzögerten. Die Sowjetisierung Turkes- tans, das 1924 als Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik erstmals Namen und territoriale Ausdehnung erhielt, wie sie in etwa der heutigen Gestalt entsprechen, schürte noch lange einen religiös motivierten Widerstand. Wenn die Rote Armee »mit großer Strenge« und zahlreichen Erschießungen jeden Aufstand unterdrückte, wurde dieses Vorgehen in deutschen militärischen Kreisen emotionslos registriert.

Niedermayer war zwischenzeitlich aus Kabul nach Berlin zurückgekehrt. Dort propagierte er trotz der deutschen Nieder-lage die Vertreibung der Briten aus Indien. Eine entsprechende Vorbereitung in Turkestan und Afghanistan sollte langfristig ge-plant und in Zusammenarbeit mit Sowjetrussland erfolgen. Die Heeresleitung in Berlin unter General Hans von Seeckt zeigte sich gegenüber solchen Ideen durchaus aufgeschlossen. Nie-dermayer wurde der Verbindungsmann Seeckts in Moskau und organisierte die geheime Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. Das betraf nicht nur Ausbildung und Rüstung, sondern auch die gemeinsame Unterstützung des chinesischen Nationalismus.

Aus deutscher Sicht war das Land der Usbeken nun eine wichtige Drehscheibe für die Verbindung nach China. Deshalb wurde die »Festigung« der russischen Stellung in Turkestan sowie der Ausbau der Straßen- und Bahnverbindungen nach Westchina begrüßt. Das »Reich der Mi�e« befand sich im Stru-

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del von Revolution und Auflösung, wo Kriegsherren eine vom Militär getragene Modernisierung zu organisieren versuchten. An ihre Spitze setzte sich General Tschiang-Kai-Schek durch, dessen nationalistische Kuomintang-Bewegung zeitweilig mit der damals noch kleinen Kommunistischen Partei (KP) koope-rierte. Die chinesischen Nationalisten wehrten sich gegen den Einfluss der westlichen Großmächte und Japans. Dafür brauch-ten sie militärische Technologie und Ratgeber, die ihnen von deutscher und sowjetischer Seite gern gestellt wurden. Seeckt persönlich ließ sich nach seiner Verabschiedung ebenso wie an-dere deutsche Generale »im Ruhestand« von den Nationalchi-nesen Anfang der dreißiger Jahre engagieren, obwohl die inter-nationale Lage nunmehr komplizierter geworden war.

Die Kommunisten unter Mao Tse-tung bekämp�en die Zen-tralregierung, und in der Mandschurei drangen die Japaner auf chinesischem Territorium vor. Japan war im Ersten Weltkrieg Kriegsgegner Deutschlands gewesen und ha�e dessen Besit-zungen in China okkupiert. In den dreißiger Jahren setzte die deutsche Militärpolitik deshalb auf die guten Kontakte zu Pe-king, zumal das Riesenreich im Fernen Osten auch wirtscha�-lich interessanter schien und über kriegswichtige Rohstoffe verfügte. Diese waren auf dem transkontinentalen Weg zu-gänglich, unabhängig von einer möglichen britischen Blockade im Kriegsfall, aber natürlich abhängig vom russischen Eisen-bahnweg.

Militärische und politische Planungen während des Nationalsozialismus

Obwohl Adolf Hitler nach seiner Machtübernahme die Bezie-hungen mit Japan ausbauen ließ, blieb in Kreisen von Wirtscha�, Diplomatie und Militär die chinesische Option erste Wahl. Hitler hingegen setzte aus strategischen Überlegungen auf ein mögli-ches Bündnis mit Japan, und zwar in der Absicht, die angelsäch-sischen Mächte in Asien und im Pazifik zu binden. Da die Japa-ner ihre Expansion schri�weise entlang der chinesischen Küsten entwickelten, konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges

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die deutsch-chinesischen Beziehungen aber aufrecht erhalten werden.

Mit dem überraschenden Abschluss seines Nicht-Angriffs-Paktes mit Josef Stalin schien Hitler im August 1939 die alte eu-rasische Vision deutscher Weltmachtpolitik aufnehmen zu wol-len. Doch es war nur ein Schachzug, um sein eigentliches Ziel, die Eroberung von »Lebensraum im Osten«, einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, unter günstigeren Bedin-gungen aufnehmen zu können. Am 22. Juni 1941 war es soweit. Die Wehrmacht begann ihren Vormarsch in Richtung Moskau. Als Operationsgrenze war die Linie Astrachan–Archangelsk anvisiert, was auch Vorstöße über den Kaukasus und nach Zen-tralasien möglich machen würde. Doch der deutsche Blitzkrieg scheiterte und entwickelte sich zu einem zähen Ringen an der Ostfront. Um wie im Ersten Weltkrieg die russische Armee zu zersetzen, wandte sich die deutsche Propaganda speziell an die nicht-russischen Nationalitäten der Sowjetunion.

Deren ehemalige Führungseliten waren in den zwanziger Jah-ren vor der Terrorherrscha� Stalins nach Westeuropa geflohen und konnten annehmen, jetzt mithilfe Hitlers in ihrer Heimat an die Macht zurückkehren zu können. Zu ihnen gehörten Vertreter Turkestans, die das Ziel einer Zusammenfassung aller zentral- asiatischen Völker verfolgten. Sie erhielten seit Herbst 1941 Gelegenheit, ihre Landsleute unter den Sowjetsoldaten zu be-suchen, die sich in deutschen Kriegsgefangenen-Lagern befan-den. Aus dieser Aktion entwickelte sich eine militärische Koo-peration, bei der sich bis zu 250 000 Turkestaner, unter ihnen mehrheitlich Usbeken, bereit zeigten, in den Reihen der Wehr-macht gegen den Stalinismus zu kämpfen: als Asiaten fühlten sie sich von den Russen o� als minderwertige Kolonialvölker behandelt. Asiaten spielten unter den Minderheiten der UdSSR im deutschen Machtbereich die bedeutsamste Rolle.

Das neugeschaffene Nationalturkestanische Einheitskomitee unter Weli Kajum-Khan bildete eine von deutscher Seite nicht offiziell anerkannte Exil-Regierung. An der Universität Gö�in-gen wurden muslimische Militärgeistliche (Mullahs) ausgebil-det sowie Zeitungs- und Rundfunkpropaganda betrieben, eine Schauspieltruppe sowie Musikkapellen für die Truppenbetreu-ung aufgestellt. In der Wehrmacht war der »General der Freiwil-

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ligenverbände« für die Rekrutierung ehemaliger Sowjetsoldaten und ihre Ausbildung zuständig. Dieser wandte sich an Nieder-mayer, der in den dreißiger Jahren als Professor an der Berliner Universität seine Ideen der »Wehrgeografie« verbreitet ha�e.

Im Jahre 1942 wurde er als General reaktiviert und stellte in der Ukraine die 162. (Turk.) Infanteriedivision auf. Diese Spe-zialtruppe bestand aus Aserbaidschanern und Turkestanern unter deutschem Führungspersonal, die nach einer erfolgrei-chen Eroberung des Kaukasus einen Vorstoß nach Zentralasien unternehmen sollten. Daneben bildete man in den zwei Aufstel-lungszentren der Ostlegionen im besetzten Polen Usbeken auch in eigenständigen Infanteriebataillonen aus, die zunächst im Kaukasus zum Einsatz kommen sollten, und dann – nach dem Scheitern der deutschen Offensive – im Hinterland der Ostfront meist zur Partisanenbekämpfung verwendet wurden.

In Konkurrenz zur Wehrmacht bemühte sich die SS ebenfalls um die Aufstellung von Einheiten aus ehemals kriegsgefange-nen oder übergelaufenen Usbeken und Turkestanern. Ende 1943 betrieb man die Aufstellung des »1. Ostmuselmanischen SS-Regiments« in einer geplanten SS-Division »Neu-Turkestan«. Damit verbanden sich abenteuerliche Vorstellungen, eine Streit-macht von rund 40 000 Mann teilweise auf dem Lu�wege nach Zentralasien überführen und den Aufstand gegen das Sowjet- regime schüren zu können. Die Werber der SS versuchten mit allen Mi�eln, unter den zumeist im besetzten Polen stationier-ten turkestanischen Heereseinheiten, hauptsächlich Arbeits- und Baubataillone, Freiwillige für den Übertri� zu gewinnen. Dagegen wandte sich nicht zuletzt auch Oberst i.G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg vom Allgemeinen Heeresamt.

Die SS-Führung beharrte auf ihrer Formation eines »Os�ürki-schen Waffenverbandes« mit rund 3000 Mann. Er sollte dem SS-Standartenführer Harun al-Raschid Bey unterstehen, einem zum Islam konvertierten früheren deutschen Oberstleutnant im türki-schen Generalstab. Im Herbst 1944 wurde der Verband zur Nie-derwerfung des Nationalaufstandes in der Slowakei eingesetzt. Dabei desertierte eine große Zahl von Turkestanern unter der Führung des hochdekorierten usbekischen SS-Obersturmführers Gulam Alimow. Die Partisanen erschossen jedoch Alimow, und viele Usbeken kehrten zu den deutschen Linien zurück.

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Usbekische Rotarmisten im Blick der deutschen Feindau�lärungDas Krä�everhältnis zwischen Wehrmacht und Roter Armee entwi-ckelte sich nach dem Scheitern der deutschen »Blitzkriegsstrategie« zugunsten der sowjetischen Streitkrä�e, welche zunehmend die Initi-ative gewannen. Insbesondere das frühzeitige Erkennen der Feindab-sichten erwies sich vor diesem Hintergrund für die Wehrmacht als elementare Voraussetzung für zukün�ige Operationen. Ihre Feind-au�lärung versuchte Standorte, Stärke und Art, aber auch den Anteil nationaler Minderheiten in den Reihen des Gegners zu ermi�eln. Auf taktisch-operativer Ebene versprachen sich die Führungsstäbe hier-durch Rückschlüsse auf die Kamp�ra� des Feindes. Die rund 1,5 Mil-lionen Usbeken, die im Zweiten Weltkrieg Dienst in der Roten Armee leisteten, wurden unter dem Oberbegriff »Mi�elasiaten (Turk)« sub-summiert.

Der Generalstab beobachtete neben der taktisch-operativen auch die strategisch-militärpolitische Ebene: Die Auswertung von Kriegsge-fangenenbefragungen sowie sowjetischen Presseerzeugnissen bei der Abteilung Fremde Heere Ost diente neben der Au�lärung der feind-lichen Binnenstruktur auch dem Erkenntnisgewinn über politische Entwicklungen in den verschiedenen Teilen der Sowjetunion. Den sowjetischen Zeitungen »Prawda« (Wahrheit) und »Iswestija« (Mi�ei-lungen) vom 24. Dezember 1944 konnte die Abteilung beispielsweise entnehmen, dass rund 24 000 verdienten usbekischen Soldaten Orden und Ehrenzeichen verliehen und über 50 zu »Helden der Sowjetuni-on« ernannt worden waren.

Über die Auswertung offener Quellen hinaus verfolgten deutsche Nachrichtendienste den Einsatz usbekischer Rotarmisten und die Lage in der Sowjetrepublik auch mit geheimdienstlichen Mi�eln wie dem Einsatz von Agenten und technischer Au�lärung. Diesen Bemü-hungen lag die Hoffnung zugrunde, in Zentralasien könnten – wie 1916, als sich die nichtrussische Bevölkerung während des Basmatschi-Aufstandes der Einberufung zum Wehrdienst verweigert ha�e – groß-flächige Aufstände gegen die Sowjetherrscha� ausbrechen. Eine Wie-derholung der Geschichte blieb im Zweiten Weltkrieg jedoch aus. Josef Stalin ha�e es verstanden, auch die muslimische Bevölkerung in Zen-tralasien für den »Großen Vaterländischen Krieg« zu mobilisieren.

Noch in den letzten Kriegsmonaten, als die Rote Armee schon vor den Toren Berlins stand, beschä�igte sich die Wehrmacht gleichwohl

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In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs formierte sich ein Turkestanischer Nationalkongress mit 537 Delegierten. Am 18. März 1945 erkannte die Reichsregierung offiziell die Unab-hängigkeit Turkestans an. Die Legionen in deutscher Uniform erhielten den Status einer »Nationalen Armee Turkestans«. Überlebende gingen in Ostdeutschland und in Norditalien in Gefangenscha�, von wo aus sie in sowjetische »Filtrierlager« transportiert wurden, die viele nicht überlebt haben.

Ihre Heimat gehörte während des Krieges zum sicheren Hin-terland, das vollständig in den Dienst der sowjetischen Krieg-führung gestellt wurde. Als »Großen Vaterländischen Krieg«, wie ihn die Propaganda darstellte, haben ihn viele Einheimi-sche sicherlich nicht empfunden. Die meisten Männer dienten in Frontverbänden der Roten Armee. Betriebe der Leichtindust-rie ha�e man nach Usbekistan verlagert. Die Baumwolle wurde für Uniformen benötigt. Nach Aussagen usbekischer Kriegs-gefangener listete man im Oberkommando der Wehrmacht al-lein in Taschkent mehr als 80 Fabriken auf – Ergebnis auch der langjährig betriebenen, sowjetischen»Modernisierung«. Dem Land blieben aber zumindest Besatzung, Ausbeutung und Zer-störung erspart. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich bei Taschkent erneut ein Internierungs- und Kriegsgefangenen-lager, in dem verschleppte Zivilisten und gefangene Soldaten der Achsenmächte festgehalten wurden.

mit der Lage in Zentralasien und trug Berichte zusammen, welche auf den inneren Zerfall der Sowjetunion hinzudeuten schienen: Verneh-mungen von Kriegsgefangenen ha�en einem Bericht des Lu�waffen-führungsstabes zufolge ergeben, dass sich Usbeken der Einberufung in die Rote Armee durch Bestechungen und Freikauf entzögen, und die Fahnenflucht »ungeheure Ausmaße« angenommen habe. Gefangene Rotarmisten wollten erfahren haben, dass alleine in Samarkand bis-weilen mehrere tausend Deserteure täglich gefasst würden, während organisierte Banden entlaufener usbekischer Soldaten das Land unsi-cher machten. Freilich dür�e den gutinformierten Lu�waffen-Analys-ten zu diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass solche Ereignisse im fernen Zentralasien – sofern sie denn überhaupt zutrafen – die drohen-de deutsche Niederlage nicht mehr abwenden konnten. (mp)

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Deutsche und usbekische Soldaten

Usbeken gehörten zu den ersten Soldaten des zaristischen Hee-res, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges auf deutsche Trup-pen stießen. Anfang 1915 geriet ihr Korps im polnischen Raum in schwere Kämpfe. Bei den Turkestanern erbeutete man einen Befehl, der zur strikten Hasserziehung der Soldaten aufforderte, weil die Deutschen angeblich alles Slawische und Asiatische ver-achten würden. Tatsächlich wurde die Propaganda beider Seiten nicht müde, Hass zu predigen. Gerade in Ostpreußen wirkte der Schrecken des feindlichen Einmarsches lange nach. Auch wenn damit hauptsächlich das Feindbild des »Kosaken« gemeint war, so repräsentierten die Usbeken doch das Schreckgespenst des »Mongolen« aus älteren Zeiten. Daraus entstand später das Zerr-bild des »asiatischen« Bolschewismus, mit dem die Nationalsozi-alisten Propaganda betrieben.

Die Realität sah anders aus. Zwar erlebten deutsche Kriegsge-fangene, die 1915 in das ferne Taschkent gebracht worden waren, durch die russischen Bewacher eine harte Behandlung. Hunger und Seuchen machten die Baracken von Troitzki zu einem Todes-lager. Bis zum nächsten Frühjahr waren von 13 000 Österreichern und 1000 Deutschen mehr als die Häl�e ums Leben gekommen. Kriegsgefangene russische Soldaten muslemischen Glaubens, also auch Usbeken, wurden während des Ersten Weltkrieges hingegen in einem speziellen Lager bei Zossen südlich von Ber-lin eher zuvorkommend behandelt. Sogar Moscheen wurden für sie gebaut. Das Bild von Deutschland, das Usbeken nach Kriegs-ende in die Heimat brachten, schien jedenfalls so positiv, dass die nächste Soldatengeneration die deutsche Gefangenscha� of-fenbar nicht gefürchtet hat, und sich viele in den Lagern sogar zum Dienst in der Wehrmacht zur Verfügung stellten. Dabei ha�e zumindest die SS noch 1941 ein tief sitzendes Feindbild, das sie veranlasste, »asiatische« Kriegsgefangene rücksichtslos zu töten. Die militärischen Rückschläge und die Bemühungen der Wehrmacht, das Potenzial turkestanischer Freiwilliger zu nutzen, führten dann zu einem Umdenken.

Die Zusammenarbeit bei der Aufstellung und Ausbildung von Turkbataillonen mit vermutlich einigen zehntausend Mann war von Anfang an schwierig. Das deutsche Rahmenpersonal

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kannte in den allermeisten Fällen weder Sprache noch Kultur der usbekischen Legionäre. Die Erzwingung formaler Disziplin und Pflichterfüllung nach deutschem Vorbild erwies sich als kaum durchführbar. Älteren usbekischen Offizieren aus der Emigra-tion fehlte eine moderne militärische Ausbildung, jüngere aus der Roten Armee desertierten häufig, erst recht im Zeichen der deutschen Niederlage. Auch deshalb mussten die Bataillone weit im deutschen Hinterland eingesetzt werden.

Eine Ausnahme auf deutscher Seite war Major Andreas Mayer-Mader, ein Orientkenner, der mehrere turkestanische Dia- lekte beherrschte. Er ha�e lange in Ostasien gelebt und war Mi-litärberater der südchinesischen Kwangsi-Regierung gewesen. Bei seinen deutschen Kameraden galt er 1942 als »chinesischer« Offizier. Damit drückte man seine Distanz zu deutschen militä-rischen Gewohnheiten aus, die im Umgang mit den Turkesta-nern wohl auch nicht sonderlich hilfreich waren. Mayer-Mader jedenfalls verfolgte das weitreichende Ziel, die Völker Turkes-tans zum Aufstand gegen die Sowjetherrscha� in der Tradition der Basmatschi (vgl. Info-Kasten auf S. 49) zu führen.

Usbekische Dorfbewohner werden über die Geschehnisse an der Front unterrichtet, 1944.

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Unter seiner Führung wurde das verstärkte »Turkestanische Infanteriebataillon Nr. 450« Anfang 1942 einsatzbereit gemacht und neu organisiert. Seine Soldaten sollten nicht das Gefühl haben, eine Wehrmach�ruppe zu sein, sondern der Grundstock für eine kün�ige turkestanische Armee. Die Einheiten wurden daher nach einzelnen Nationalitäten gegliedert: 1. Kompanie Kirgisen, 2. Kompanie Usbeken mit einem Zug Tadschiken, 3. Kompanie Kasachen, 4. Kompanie Turkmenen mit einem Zug Os�ürken, MG-Kompanie je mit einem Zug Kirgisen, Usbeken und Kasachen.

Fast alle Unterführer- und Führerstellen besetzte Mayer-Mader eigenmächtig mit Turkestanern, was das deutsche Rah-menpersonal als Zurücksetzung empfand. Im Frühsommer 1942 wurde das Bataillon mit 934 Turkestanern und 27 Deutschen zur Partisanenbekämpfung im Bereich der Heeresgruppe Süd einge-setzt. Gegen teilweise stark überlegenen Feind hat es sich nach deutschem Urteil »tadellos« bewährt. Die Männer hingen offen-sichtlich an ihrem deutschen Major, der für sie eine Vaterfigur geworden war. Für vorgesetzte höhere Dienststellen bildete das Bataillon aber einen Fremdkörper. Mayer-Mader wurde abge-löst, worauf sich dieser an die SS wandte, um seine Pläne zu ver-wirklichen. Seine Bemühungen zur Aufstellung einer SS-Divisi-on verliefen 1944 im Sande. Als SS-Sturmbannführer überwarf er sich auch mit seinen neuen Vorgesetzten. Er soll angeblich mit einigen turkestanischen Offizieren von der SS standrechtlich er-schossen worden sein.

Die Einschätzung der Turkbataillone aus deutscher Sicht war insgesamt schwankend. Ausbildungsmängel, fehlende Kampf- erfahrung sowie mangelha�e Ausrüstung und Bewaffnung mit sowjetischem Beutegerät führten zu skeptischen Urteilen. Den Turkestanern fehle es am Verständnis für »deutsche Kampfart«. Für ernste Angriffe und schwere Abwehrkämpfe seien sie nicht geeignet, hieß es, brauchbar aber für die Bekämpfung von Parti-sanen und Au�lärungszwecke. Sie erli�en teilweise große Ver-luste, solange sie in Südrussland kämp�en. Hier stand ihnen ein grausames Schicksal vor Augen, sollten sie wieder in kommunis-tische Hände fallen. An der Kaukasusfront tönte am 28. Dezem-ber 1942 ein sowjetischer Lautsprecher in turkestanischer Sprache herüber: »Eure Frauen und Kinder entgehen uns nicht, wir haben

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sie in unserer Gewalt, wenn ihr nicht überlau�.« Überläufern drohte aber nach zunächst guter Behandlung und Vernehmung die Erschießung, wie deutsche Agenten berichteten.

Bei der Bekämpfung von Partisanen in den Wäldern beobach-ten die Deutschen eine natürliche Scheu der »Steppenbewohner« vor Baumbewuchs, bei den Usbeken wurde die Verstädterung als Hemmnis betrachtet. Eine verständnisvolle Behandlung der »Bundesgenossen und Kameraden« forderten zumindest einzel-ne Divisionskommandeure. Sie seien »gutmütige Naturkinder«, wenngleich von »läppischer Disziplinlosigkeit«, die ihren »ei-genen Vorteil nicht ertrotzen, sondern durch weinerliches Bit-ten erflehen«. Der zunehmenden Zahl von Desertionen 1943/44 begegnete man mit der Verlegung nach Polen, Italien und Süd-frankreich. Wiederholte Fälle von Vergewaltigungen sloweni-scher Frauen durch Usbeken machten den deutschen Vorgesetz-ten zu schaffen. Die Turkestaner wurden nun endgültig zu einer Art von Fremdenlegion, die für Zwecke Anderer kämpfen sollte. Aus ehemaligen Freiwilligen formierten die Deutschen sogar ein Arbeitsbataillon, das dem »Beau�ragten für Schro�- und Altme-tallerfassung« zur Verfügung gestellt wurde.

Am Rande der Pyrenäen gerieten Einheiten am 23. August 1944 bei ihrem Rückzug in einen Hinterhalt, der sie zur Kapitu-lation gegenüber Franzosen und US-amerikanischen Offizieren zwang. Diese behandelten die Turkestaner besser als das deut-sche Rahmenpersonal. In Mi�elitalien stießen Panzer der 88. US-Division auf das Turkbataillon 303 und zermalmten die herum-liegenden Verwundeten, weil man sie für Japaner hielt. Und die NS-Propaganda schließlich bediente sich im letzten Kriegsjahr wieder verstärkt des Schreckenbildes »asiatischer Horden«, um die Wehrmacht zum Endkampf gegen die Rote Armee anzu-feuern. Diese alten Zerrbilder blieben nicht ohne Folgen für die berechtigte Angst der ostdeutschen Bevölkerung vor der Rache sowjetischer Truppen, unter denen die zentralasiatischen Rotar-misten aber nur eine kleine Minderheit bildeten.

Rolf-Dieter Müller