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J Math Didakt (2013) 34:177–208 DOI 10.1007/s13138-013-0054-1 ORIGINAL ARTICLE Wie algebraische Symbolsprache die Möglichkeiten für algebraisches Denken erweitert – Eine Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens Alexander Meyer · Astrid Fischer Eingegangen: 13. März 2013 / Eingegangen: 18. Juli 2012 / Angenommen: 25. Juli 2013 / Online publiziert: 24. August 2013 © GDM 2013 Zusammenfassung Algebraische Symbolsprache ist ein wesentlicher Gegenstand im Mathematikunterricht. In diesem Aufsatz soll geklärt werden, auf welche Weise algebraische Symbolsprache die Möglichkeiten von Lernern erweitert, in Problem- aufgaben algebraisch zu denken. Diese Frage wird auf der Grundlage einer Analyse von Theorien zum algebraischen Denken mithilfe des Agency-Konzepts erörtert. Es zeigt sich, dass algebraisches Denken mithilfe algebraischer Symbolsprache die Fä- higkeiten beinhaltet, algebraisch Zugang zu finden, algebraisch intentional zu han- deln und algebraisch zu reflektieren. Algebraisches intentionales Handeln umfasst die Fähigkeiten eines Lerners, in der ursprünglichen Darstellung einer Problemaufga- be Beziehungen herzustellen (nicht-symbolisches intentionales Handeln), aber auch, mit diesen Beziehungen auf der Basis von algebraischer Symbolsprache umzugehen (symbolsprachliches intentionales Handeln). Dem Lerner eröffnen sich durch den je- derzeit möglichen Wechsel zwischen diesen beiden Handlungsweisen weitergehende algebraische Denkmöglichkeiten. Schlüsselwörter Algebra · Agency · Algebraisches Denken · Darstellung · Symbolsprachliches algebraisches Denken Mathematics Subject Classification C30 · H10 · H20 A. Meyer (B ) Fakultät für Mathematik, IEEM – Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts, 44227 Dortmund, Deutschland e-mail: [email protected] A. Fischer Fakultät V, Institut für Mathematik, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, 26111 Oldenburg, Deutschland

Wie algebraische Symbolsprache die Möglichkeiten für algebraisches Denken erweitert – Eine Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens; How Algebraic Symbol Use Supports Algebraic

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Page 1: Wie algebraische Symbolsprache die Möglichkeiten für algebraisches Denken erweitert – Eine Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens; How Algebraic Symbol Use Supports Algebraic

J Math Didakt (2013) 34:177–208DOI 10.1007/s13138-013-0054-1

O R I G I NA L A RT I C L E

Wie algebraische Symbolsprache die Möglichkeitenfür algebraisches Denken erweitert – Eine Theoriesymbolsprachlichen algebraischen Denkens

Alexander Meyer · Astrid Fischer

Eingegangen: 13. März 2013 / Eingegangen: 18. Juli 2012 / Angenommen: 25. Juli 2013 /Online publiziert: 24. August 2013© GDM 2013

Zusammenfassung Algebraische Symbolsprache ist ein wesentlicher Gegenstandim Mathematikunterricht. In diesem Aufsatz soll geklärt werden, auf welche Weisealgebraische Symbolsprache die Möglichkeiten von Lernern erweitert, in Problem-aufgaben algebraisch zu denken. Diese Frage wird auf der Grundlage einer Analysevon Theorien zum algebraischen Denken mithilfe des Agency-Konzepts erörtert. Eszeigt sich, dass algebraisches Denken mithilfe algebraischer Symbolsprache die Fä-higkeiten beinhaltet, algebraisch Zugang zu finden, algebraisch intentional zu han-deln und algebraisch zu reflektieren. Algebraisches intentionales Handeln umfasstdie Fähigkeiten eines Lerners, in der ursprünglichen Darstellung einer Problemaufga-be Beziehungen herzustellen (nicht-symbolisches intentionales Handeln), aber auch,mit diesen Beziehungen auf der Basis von algebraischer Symbolsprache umzugehen(symbolsprachliches intentionales Handeln). Dem Lerner eröffnen sich durch den je-derzeit möglichen Wechsel zwischen diesen beiden Handlungsweisen weitergehendealgebraische Denkmöglichkeiten.

Schlüsselwörter Algebra · Agency · Algebraisches Denken · Darstellung ·Symbolsprachliches algebraisches Denken

Mathematics Subject Classification C30 · H10 · H20

A. Meyer (B)Fakultät für Mathematik, IEEM – Institut für Entwicklung und Erforschung desMathematikunterrichts, 44227 Dortmund, Deutschlande-mail: [email protected]

A. FischerFakultät V, Institut für Mathematik, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, 26111 Oldenburg,Deutschland

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How Algebraic Symbol Use Supports Algebraic Thinking—Theoretical Insights

Abstract Algebraic symbols play an important role in school mathematics. In thispaper it will be shown, in which ways algebraic symbols enable learners to think alge-braically in non-routine problems. This issue is addressed on the basis of an analysisof theories about algebraic thinking and the concept of agency. It is shown that suchsymbolic algebraic thinking includes finding an algebraic approach, acting intention-ally in an algebraic way, and reflecting algebraically. Intentional algebraic actionsdescribe a student’s capability to both act on relations in the original mathematicalcontext (non-symbolic intentional actions) and to act in the context of its symbolicrepresentation (symbolic intentional actions). By being able to change the mode ofaction between these two modes students can think algebraically in more elaborateways.

1 Einleitung

In der Schule sollen Schülerinnen und Schüler den Umgang mit algebraischer Sym-bolsprache erlernen. Dabei stehen sie vor großen Herausforderungen. Günther Mallezeigt, dass Algebra ein vielschichtiger Gegenstand ist, in dem etwa Variablenobjekteauf verschiedene Weisen interpretiert werden bzw. je nach mathematischer Situationunterschiedliche Bedeutungen haben können (Malle 1993). Schülerinnen und Schü-ler müssen die verschiedenen Konventionen von algebraischer Symbolsprache unddie mit ihnen einhergehenden unterschiedlichen Deutungen erlernen, um diese in un-terschiedlichen Situationen anwenden zu können. Schülerinnen und Schüler sollenz.B. algebraische Symbolsprache anwenden können, um etwa mathematische Pro-bleme zu lösen oder um ein mathematisches Modell zu erstellen. Darüber hinaus sollalgebraische Symbolsprache nicht nur Selbstzweck sein, sondern den Schülerinnenund Schülern neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnen.

Algebraische Symbolsprache ist einerseits ein Mittel zum regelgeleiteten Umfor-men algebraischer Darstellungen und andererseits ein Mittel zur Beschreibung vonObjekten. Als Mittel zum Umformen hilft sie, mathematische Aufgaben durch in-terpretationsfreies, regelgeleitetes Umformen zu bearbeiten. Dabei wird darauf ver-traut, dass regelgeleitetes Umformen zu einer Lösung führen kann und das Resul-tat der Umformung einen Erkenntnisgewinn für die zu lösende Aufgabe bereitstellt.Als Mittel zur Beschreibung von Objekten erlaubt algebraische Symbolsprache dieBezeichnung von Objekten, die ohne Symbolsprache nur schwer zugänglich wären.Auf diese Weise kann eine algebraische Darstellung Strukturen aufzeigen, die ohnealgebraische Symbolsprache nicht ohne Weiteres zugänglich sind. Ein Beispiel, wiealgebraische Symbolsprache neue Strukturen aufzeigen kann, ist die Art und Weise,wie Euler die Summe der Reihe 1 + 1

4 + 19 + 1

16 +· · · bestimmen konnte. Er hat dieseReihe in Analogie zu einem allgemeinen Polynom mit dem Grad 2n bestimmt, wel-che durch Umformen den Ausdruck b1 = b0(

1β2

1+ 1

β22

+ · · · + 1β2

n) liefert (βi sind die

Wurzeln des Polynoms). Dieser Ausdruck ermöglichte ihm, Schlussfolgerungen überdie Summe der Reihe zu ziehen und so schließlich die Summe zu bestimmen (Polya1962, S. 41f). Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegung wird hier davon

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Abb. 1 Schematisierung der verschiedenen Mittel für algebraisches Denken

ausgegangen, dass algebraische Symbolsprache die Möglichkeiten zum Bearbeitenvon mathematischen Problemen für Schülerinnen und Schüler erweitern kann, indemsie neue Muster und Strukturen zugänglich macht. In der Forschung wurde jedochbisher nicht systematisch untersucht, wie diese Möglichkeiten beschaffen sind.

Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zu der Frage leisten, wie algebrai-sche Symbolsprache die Möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern für algebrai-sches Denken erweitern kann. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Entwicklungeiner Theorie, die aufzeigt, wie die Verwendung algebraischer Symbolsprache dasLösen von Problemaufgaben bedingt.

2 Algebra in der Mittelstufe

2.1 Algebraisches Denken und Handeln

Algebraisches Denken wird hier verstanden als das mentale Umgehen mit Strukturenund Mustern, mit dem Ziel, gefundene Beziehungen zu generalisieren. Mathemati-sche Darstellungen werden als Bindeglied zwischen algebraischem Denken und Han-deln angesehen: Sie machen die Objekte des mentalen Umgehens im algebraischenDenken auf je spezifische Weisen für Schülerinnen und Schüler material verfügbar.Auf diese Art können Schülerinnen und Schüler Erfahrungen mit den betreffendenObjekten machen, indem sie mit den entsprechenden Darstellungen arbeiten. So be-einflusst die Darstellung, wie ein Objekt interpretiert werden kann. Dies beeinflusstdann, wie mit diesem Objekt gehandelt wird – was sich wiederum auf das mentaleUmgehen mit diesen Objekten auswirkt. Eine algebraische Darstellung eines Sach-verhalts kann gewisse Strukturen zutage treten lassen, die eine andere mathematischeDarstellung nicht sichtbar werden lässt. Dementsprechend könnte eine algebraischeDarstellung Schülerinnen und Schülern ein elaborierteres algebraisches Denken er-lauben (vgl. Abb. 1).

Die obige Definition von algebraischem Denken hat zwei Bezugspunkte. Der ers-te Bezugspunkt ist die Auffassung, dass Algebra eine innermathematische Teilkultur

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ist, „[. . .] in der das Erfassen und Analysieren von Mustern eine besondere Rollespielt [. . .]“ (Hefendehl-Hebeker 2007, S. 149). Der zweite Bezugspunkt ist Masonsund Pimms Argumentation, dass „seeing the general in the particular“ (Mason undPimm 1984) die wesentliche Aktivität der Algebra ist. Eine Beziehung zu genera-lisieren meint somit, ein gefundenes Muster zu benutzen, um allgemeine Aussagentreffen zu können. Die Partizipation an dieser Kultur bzw. diesen Aktivitäten formtdas algebraische Denken. Schülerinnen und Schüler haben verschiedene Mittel, ummit Strukturen und Mustern umzugehen und so algebraisch zu denken. Ein Teilbe-reich algebraischen Denkens ist die Verwendung von algebraischen Symbolen, umsich neue Objekte verfügbar zu machen (vgl. Abb. 1, rechts). In diesem Teilbereichkönnen Muster und Strukturen mithilfe von algebraischen Symbolen zu Objekten desDenkens und Handelns werden.

2.2 Algebraisches Denken in der Mittelstufe

In der Mittelstufe soll der Umgang mit algebraischer Symbolsprache gelernt wer-den. Verschiedene Studien haben sich damit befasst, welche Schwierigkeiten Schü-lerinnen und Schüler mit dem Erwerb algebraischer Symbolsprache haben. So zei-gen etwa Herscovics und Linchevski (1994), dass es eine „cognitive gap“ gibt, diedarin besteht, dass Schülerinnen und Schüler nicht in der Lage sind, mit einer Un-bekannten direkt regelgeleitet zu operieren. Stattdessen wird eine Unbekannte etwamithilfe einer Umkehroperation bestimmt (Herscovics und Linchevski 1994). Küche-mann (1981) und MacGregor und Stacey (1997) benennen weitere Schwierigkeiten,die Schülerinnen und Schüler mit algebraischen Symbolen und Variablen haben. DasErlernen algebraischer Symbolsprache beinhaltet also große Herausforderungen fürSchülerinnen und Schüler.

Studien zur frühen Algebra („Early Algebra“) zeigen, dass Schülerinnen undSchüler ohne die Hilfe algebraischer Symbolsprache in der Lage sind, algebraischzu denken, indem sie z.B. nicht-formale Mittel wie Sprache, Gesten oder Mustereinsetzen (Britt und Irwin 2008; Fischer 2009; Radford 2009, 2011). In ihrer Zusam-menfassung aktueller Studien zur frühen Algebra diskutiert Kieran sieben verschie-dene Wege, wie algebraisches Denken angebahnt werden kann (Kieran 2011). Siebenennt beispielsweise das „Thinking about the general in the particular“ (Kieran2011, S. 581), welches Schülerinnen und Schüler ohne Symbolsprache beherrschen.So können Schülerinnen und Schüler mithilfe von Zahlen Strukturen erkennen, diedann verallgemeinert werden können. Vielen Ansätzen zur frühen Algebra ist ge-mein, dass algebraische Symbolsprache nur eine untergeordnete Rolle für algebrai-sches Denken spielt.

An späterer Stelle im Mathematikunterricht, wenn die Beherrschung algebrai-scher Symbolsprache vorausgesetzt wird, scheint algebraische Symbolsprache den-noch nur eine untergeordnete Rolle für das Bearbeiten von Aufgaben zu spielen.Gründe hierfür könnten einerseits sein, dass Schülerinnen und Schüler mit nicht-formalen Strategien gewisse Aufgaben weiterhin erfolgreich bearbeiten können, undandererseits, dass algebraische Symbolsprache wenig zugänglich bleibt. So zeigt Jo-hanning (2004), dass Schülerinnen und Schüler, die keine Vorkenntnisse zu alge-braischer Symbolsprache haben, gewisse Aufgaben, die durch algebraische Symbol-

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sprache besonders zugänglich wären, durch nicht-formale Strategien wie das sys-tematische Probieren von Zahlen bearbeiten können. Zazkis und Liljedahl (2002)stellen fest, dass einige Schülerinnen und Schüler, die bereits die algebraische Sym-bolsprache beherrschen, Aufgaben dennoch durch das Arbeiten mit Mustern oderZahlbeziehungen bearbeiten. Sie zeigen, dass es Übergangsprobleme zwischen demAusdrücken von Generalisierung durch nicht-formale Darstellungen einerseits unddem Ausdrücken von Generalisierung mit algebraischen Symbolen andererseits gibt(Zazkis und Liljedahl 2002). Dort, wo die Verwendung algebraischer Symbolsprachesinnvoll wäre, können offenbar dennoch andere Darstellungen und Mittel benutztwerden, um algebraisch zu denken (vgl. den mittleren und linken Bereich in Abb. 1).Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass Schülerinnen und Schüler die Fähigkeitzum algebraischen Denken nicht notwendig dadurch erwerben, dass sie den Umgangmit algebraischer Symbolsprache lernen.

Die bisherigen Studien zu algebraischer Symbolsprache und zum algebraischenDenken zeichnen somit ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite stehen Studien,die belegen, dass Schülerinnen und Schüler verschiedene Mittel und Wege haben,um (ohne algebraische Symbolsprache) algebraisch zu denken (typische Aufgabe da-für in Abb. 1 links). Auf der anderen Seite stehen Studien, die verdeutlichen, dass– wenngleich algebraische Symbolsprache erworben wurde – diese nicht unbedingtdazu dient, mathematische Anforderungen zu bewältigen. Offenbar können Schüle-rinnen und Schüler Aufgaben zur Algebra, die typischerweise mithilfe algebraischerSymbolsprache bearbeitet werden (vgl. Abb. 1, Mitte), weiterhin mithilfe andererMittel (wie systematischem Zahlprobieren) bearbeiten.

2.3 Fragestellung

Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zu der Frage leisten, welche Denk-weisen des algebraischen Denkens durch algebraische Symbolsprache bedingt sind(vgl. Abb. 1, rechts oben). Diese Frage wird bezogen auf das Lösen von Problem-aufgaben erörtert. Dabei wird ein besonderer Blick darauf gerichtet, wie algebraischeSymbolsprache die Handlungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern in Pro-blemaufgaben erweitern kann (vgl. Abb. 1, rechts). Ziel der vorliegenden Arbeit istdie Entwicklung einer Theorie, die aufzeigt, wie dieses algebraische Denken unterVerwendung algebraischer Symbolsprache in Bezug auf das Lösen von Problemauf-gaben beschaffen ist. Eine solche Theorie kann einerseits die Perspektiven darauferweitern, wie formale Mathematik durch algebraisches Denken bedingt ist, und an-dererseits aufzeigen, wie algebraisches Denken mithilfe von algebraischer Symbol-sprache in der Schule angebahnt werden könnte.

3 Algebraische Symbolsprache und die Erweiterung der Möglichkeiten füralgebraisches Denken

Im Folgenden wird erörtert, wie algebraisches Denken und algebraische Symbol-sprache miteinander in Verbindung stehen können. In Abschn. 3.1 werden Aspektezum Umformen von algebraischer Symbolsprache beleuchtet, in Abschn. 3.2 werden

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Aspekte des Beschreibens von Objekten durch algebraische Symbolsprache betrach-tet. Dies führt zu einer Definition von algebraischem Denken, welches mit algebrai-scher Symbolsprache vollzogen wird.

3.1 Regelgeleitetes Umformen in der algebraischen Symbolsprache

Ein Verständnis der Regeln, die das Arbeiten mit algebraischer Symbolspracheermöglichen, muss einerseits durch das Anwenden der Regeln in verschiedenenAnwendungsfällen und andererseits durch die Anbahnung eines Struktursinns ge-wonnen werden. Der erstgenannte Weg besteht darin, dass eine Regel, die das Umfor-men algebraischer Ausdrücke anleitet, in verschiedenen Anwendungsfällen benutztwird. Aus den verschiedenen Anwendungsfällen, in welchen diese Regel eine jeweilspassende Bedeutung hat, entsteht ein vom Anwendungsfall unabhängiges Verständ-nis der Regel. Brunner (2013) zeigt, dass eine Umformungsregel ihre Bedeutung fürdas Individuum erst durch ihren Gebrauch gewinnt. Auch Sfard bestätigt, dass dieBedeutung einer Regel aus der Summe ihrer Anwendungsfälle entsteht (Sfard 2008).

Der zweitgenannte Weg besteht darin, einen Struktursinn anzubahnen. Struktur-sinn bezeichnet die Fähigkeit, Strukturen in einem algebraischen Ausdruck wahrzu-nehmen, welche das Umformen dieses Ausdrucks anleiten können (dazu Linchevskiund Livneh 2002; Livneh und Linchevski 2007; Hoch und Dreyfus 2010). Rüede(2012) zeigt darüber hinaus, dass das Umformen algebraischer Ausdrücke durch dasHerstellen von Bezügen zwischen den Bestandteilen dieser Ausdrücke geleitet ist.Er zeigt, dass es verschiedene Ebenen gibt, auf denen diese Bezüge hergestellt wer-den können. Je nachdem, wie Schülerinnen und Schüler Teile eines algebraischenAusdrucks aufeinander beziehen, wird dieser algebraische Ausdruck unterschiedlichumgeformt (Rüede 2012). Es geht somit beim Struktursinn nicht nur um das Sehenvon Strukturen, sondern auch um das Herstellen von neuen Strukturen, indem dieTeile eines algebraischen Ausdrucks passend aufeinander bezogen werden. Struktu-ren in einen algebraischen Ausdruck „hinein“ zu sehen ist demnach eine wichtigeVoraussetzung für einen verständigen Umgang mit algebraischer Symbolsprache.

Das regelgeleitete Umformen erfordert einerseits prozedurales Wissen (d.h. einWissen mit Schwerpunkt auf Routinen und Prozeduren) und andererseits konzeptu-elles Wissen (d.h. ein Wissen mit Schwerpunkt auf Zusammenhänge und Konzepte).Rittle-Johnson und Alibali argumentieren, dass sich prozedurales und konzeptuellesWissen in Bezug auf Gleichungen als Tandem entwickeln, d.h. beide Wissensfor-men in einem Lernprozess schrittweise auf der anderen aufbauen. Sie vermuten, dasskonzeptuelles Wissen Schülerinnen und Schülern hilft, Routinen zu wählen bzw. beiBedarf zu wechseln. Weiterhin helfe konzeptuelles Wissen dabei, die Elemente kor-rekter Routinen zu erkennen und so Prozeduren auf ihre Korrektheit hin zu überwa-chen (Rittle-Johnson und Alibali 1999). Die Studie von Rittle-Johnson und Alibalikonzipiert das konzeptuelle Wissen allerdings nur mit Blick auf das Ausführen vonRoutinen.

Insgesamt zeichnen die Studien zum regelgeleiteten Umformen ein Bild, welchesdas Umgehen mit algebraischer Symbolsprache nicht als „blinde“ Routine, sondernals flexibles, situationsangemessenes Handeln zeigt. Um die Regeln algebraischer

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Symbolsprache anzuwenden, braucht es ein Bewusstsein für Strukturen in einem al-gebraischen Ausdruck sowie Erfahrungen bzw. konzeptuelles Wissen dahingehend,in welchen Fällen eine Regel anwendbar ist und zielführend sein kann.

3.2 Zugänglichmachen neuer Objekte durch algebraische Symbolsprache

Wenn der Beitrag von algebraischer Symbolsprache für das algebraische Denken un-tersucht wird, dann oft in Bezug darauf, wie durch das Bearbeiten gewisser Aufgabenalgebraisches Denken befördert werden kann. Dabei wird Symbolsprache auf ihreRolle als Darstellungsmittel reduziert (Johanning 2004; Cai und Moyer 2008). Ar-cavi (1994) gibt nur Beispiele an, in denen algebraisches Denken unter Anwendungvon algebraischer Symbolsprache erforderlich sein könnte; er gelangt aber nicht zueiner Charakterisierung dieser Form des Denkens.

An dieser Stelle soll ein Beispiel verdeutlichen, wo algebraische Symbolsprachedie Möglichkeiten für algebraisches Denken erweitern könnte. Das Beispiel ist ausArcavi (1994, S. 28) entnommen.

„Wähle eine ungerade Zahl, quadriere sie und ziehe 1 ab. Was kann man überdie Zahlen sagen, die herauskommen?“ (Arcavi 1994, S. 28, Übers. A.M.).

Der Sachverhalt in dieser Aufgabe kann durch (2n+1)2 −1 dargestellt werden. Dieskann zu 4n(n + 1) umgeformt werden. In diesem Ausdruck kann 4n als Faktor gele-sen werden, der zu einer Teilbarkeit durch 4 (oder 8) führt; der Ausdruck n + 1 mussähnlich als Faktor gedeutet werden, nur muss er zusätzlich in Bezug zu 4n bzw. n

gesetzt werden. Um zu dem obigen Ausdruck zu gelangen, müssen sich Schülerin-nen und Schüler darüber im Klaren sein, dass sie Zahlen oder Terme faktorisierenund durch die Faktorisierung Aussagen über Teilbarkeit machen können. Nur mitdiesem Wissen können sie den algebraischen Ausdruck für die ursprüngliche Zahlderart erstellen und umformen, dass sie zu einem algebraischen Ausdruck gelangen,der einer faktorisierten Zahl entspricht. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass hier eineStruktur mithilfe algebraischer Symbolsprache entdeckt werden kann; diese Strukturin der gesuchten Zahl ist ohne algebraische Symbolsprache nur schwer zugänglich.Zugleich müssen Schülerinnen und Schüler in dieser Aufgabe generalisieren: Es sollanhand einer Struktur im algebraischen Ausdruck eine generalisierende Aussage überdie in der Aufgabenstellung genannten Zahlen getroffen werden.

Das Beispiel zeigt ein wesentliches Merkmal algebraischen Denkens unter Ver-wendung von algebraischer Symbolsprache. Zunächst spielt das Handeln mit sym-bolsprachlich repräsentierten Objekten eine wesentliche Rolle. Dieses Handeln istdadurch charakterisiert, dass mithilfe der algebraischen Darstellung eines ObjektsRückschlüsse auf die Beschaffenheit dieses Objekts gezogen werden können. ImBeispiel oben kann anhand der beiden allgemeinen Faktoren 4n und n + 1 auf dieZusammensetzung der gesuchten Zahlen und deren Teilbarkeit geschlossen werden.Algebraische Symbolsprache kann also Beziehungen zugänglich machen, die sonstnur schwer zu fassen wären. Diese Beziehungen können ihrerseits neue Aspekte desdargestellten Objekts offenbaren:

„Durch das regelgeleitete Operieren mit Symbolen können innerhalb der For-melsprache auch Produkte erzeugt werden, z. B. durch symbolisches Rechnen

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gewonnene Aufgabenlösungen oder Darstellungsänderungen, aus denen neueInformationen hervorgehen“ (Hefendehl-Hebeker 2007, S. 148).

Auf der Grundlage dieses wesentlichen Merkmals soll symbolsprachliches algebrai-sches Denken als die Fähigkeit aufgefasst werden, mithilfe algebraischer Darstel-lungen mit Mustern und Strukturen umzugehen (Struktursinn) und derart gefundeneBeziehungen mithilfe von algebraischer Symbolsprache zu generalisieren („Produk-te“, die neue Informationen liefern). In dieser Definition kommt einerseits das re-gelgeleitete Operieren mit algebraischer Symbolsprache zum Tragen, denn erst dieserschließt neue Muster und Strukturen. Zum anderen deutet sich hier an, dass durchalgebraische Symbolsprache Muster und Strukturen erschlossen werden können, diemöglicherweise durch andere Darstellungen nicht oder nur schwer zu erfassen wä-ren. Dies wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der dargestelltenObjekte.

4 Grundlegendes zur Entwicklung einer Theorie symbolsprachlichenalgebraischen Denkens

4.1 Agency zur Konzeptualisierung des symbolsprachlichen algebraischen Denkens

Nachdem im vorigen Abschnitt eine erste Definition von symbolsprachlichem alge-braischem Denken vorgeschlagen wurde, soll im Folgenden entwickelt werden, wasdieses Denken charakterisiert. Die Teilprozesse, die beim symbolsprachlichen alge-braischen Denken ablaufen, sollen dazu mit dem Konzept der Agency modelliert wer-den. Agency ist die Fähigkeit eines Subjekts, selbsttätig, intentional und auf einengewünschten Zustand hin zu handeln. Boaler (2003) benutzt das Agency-Konzept,um guten Mathematikunterricht zu beschreiben; bei Gresalfi et al. (2009) wird dasKonzept benutzt, um die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern ein-zuschätzen. Die Agency eines Subjekts dient bei Boaler (2003) oder Gresalfi et al.(2009) zur Beschreibung eigenaktiven Mathematiklernens. Es ist dieser Aspekt desintentionalen eigenaktiven Handelns, der das Agency-Konzept besonders geeignetwerden lässt, um symbolsprachliches algebraisches Denken zu modellieren. Schüle-rinnen und Schüler handeln intentional (und selbstreflektiert), wenn sie einerseits inder Lage sind, ihre Handlungen selbst zu wählen, wenn sie andererseits aber auchreflektiert entscheiden können, welche Handlungen sie aus welchem Grund ausfüh-ren. Intentionales Handeln ist dabei nicht nur von besonders starken Schülerinnenund Schülern zu erwarten, sondern findet sich an verschiedenen Stellen des alltägli-chen Mathematikunterrichts. Beispielsweise fordert das Modellieren von Alltagssi-tuationen Fähigkeiten des intentionalen Handelns, z.B. wenn ein geeignetes Modellgewählt und abschließend auch die Eignung dieses Modells reflektiert werden soll.

Nach Bandura ist Agency das Vermögen eines Individuums, „to intentionally ma-ke things happen by one’s actions“ (Bandura 2001, S. 2). Er identifiziert vier Bestand-teile von Agency, nämlich Intentionalität (intentionality), Voraussicht (forethought),Selbstreaktivität (self-reactiveness) und Selbstreflexivität (self-reflectiveness). EineIntention ist nach Bandura „eine Repräsentation eines zukünftigen Handlungsver-laufs (course of action), der ausgeführt werden soll“ (Bandura 2001, S. 6, Übers.

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A.M.). Handlungen und Intentionen bedingen sich in einem Handlungsverlauf ge-genseitig, denn ein Handlungsverlauf kann in der Reaktion auf Unvorhergesehenesverändert werden. Voraussicht definiert Bandura als diejenigen Prozesse, durch dieIndividuen ihre Handlungen „[. . .] steuern (guide) in der Antizipation späterer Er-eignisse“ (Bandura 2001, S. 7, Übers. A.M.). Dies meint Bandura in einer durch-aus langfristigen Perspektive, die die Lebensspanne des Individuums umfassen kann.Selbstreaktivität versteht Bandura als die „Fähigkeit, angemessene Handlungsverläu-fe zu gestalten und deren Ausführung zu motivieren und zu regulieren“ (Bandura2001, S. 8, Übers. A.M.), etwa indem das Resultat einer Handlung mit persönlichenWerten und Standards abgeglichen wird. Selbstreflexivität definiert Bandura als eine„metakognitive Aktivität, [durch die] Individuen die Korrektheit ihrer Vorhersagenund Operationen (predictive and operative thinking) [im Vergleich] mit den Resulta-ten ihrer Handlungen beurteilen“ (Bandura 2001, S. 10, Übers. A.M.).

In diesem Aufsatz liegt eine spezifischere Auffassung des Agency-Konzepts zu-grunde: Das Agency-Konzept dient hier dazu, die kognitiven Grundlagen des eigen-tätigen Handelns mit algebraischer Symbolsprache zu beschreiben. Um die Eigen-tätigkeit des Individuums einzubeziehen, soll Agency hier auf das Problemlösen imMathematikunterricht beschränkt werden. Unter einem mathematischen Problem solleine Handlungsaufforderung (z.B. eine Aufgabe) verstanden werden, bei der keinvorgegebener Weg zwischen Ausgangslage und zu erzielendem Resultat vorliegt.Das Bearbeiten von Problemen kann Schülerinnen und Schüler zum selbsttätigen in-tentionalen Handeln anregen, das zudem auf einen gewünschten Zustand hin (derProblemlösung) ausgerichtet werden muss – dies ist nicht anderes ist als ein ,Aus-üben‘ von Agency, denn es beinhaltet Intentionalität, Voraussicht, Selbstreaktivitätund Selbstreflexivität. Beispielsweise müssen Schülerinnen und Schüler ihre Hand-lungen beim Problemlösen auf ein gesetztes Ziel ausrichten, was als Intentionalitätverstanden werden kann.

Beim selbsttätigen Problemlösen müssen Schülerinnen und Schüler gemäß Polya(2004) die folgenden Schritte vollziehen:

• „Verstehe das Problem;• entwerfe einen Plan;• führe den Plan aus;• schaue auf das zurück, was du gemacht hast“ (Polya 2004, S. 6–15, Übers. A.M.).

Diese Schritte können zur Präzisierung von Agency beim Problemlösen herange-zogen werden. Das ,Entwerfen eines Plans‘ kann als die Vorbedingung intentionalenHandelns, d.h. als „Repräsentation eines zukünftigen Handlungsverlaufs“ (Bandura2001, s.o.) aufgefasst werden. Für späteres Handeln muss ein Plan bestehen, der demintentionalen Handeln eine Zielrichtung geben kann. Um intentional handeln zu kön-nen, müssen Schülerinnen und Schüler beim Lösen eines Problems zunächst einensolchen Handlungsverlauf entwerfen. Dieses Entwerfen eines Handlungsverlaufs sollim hier vorgeschlagenen unterrichtspraktischen Agency-Konzept als algebraischenZugang finden aufgefasst werden.

Das ,Ausführen eines Plans‘, welches Polya als dritten Schritt des Problemlösensbezeichnet, kann als das Steuern von Handlungen mit Blick auf den vorher entworfe-nen Handlungsverlauf verstanden werden. Dies wird hier als analog zu dem erachtet,

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was Bandura mit Voraussicht bezeichnet. Auch Selbstreaktivität fällt unter das Aus-führen eines Plans, bezeichnet es doch das Gestalten, Regulieren und Bewerten einesHandlungsverlaufs. Somit ergibt sich für ein unterrichtliches Konzept von Agencyeine Kombination von Voraussicht und Selbstreaktivität, die hier als algebraischesintentionales Handeln bezeichnet werden soll. Algebraisches intentionales Handelnbeinhaltet das Steuern und Gestalten eines Handlungsverlaufs, der darauf ausgerich-tet ist, das im Zugang finden antizipierte bzw. entworfene Ziel zu erreichen.

Das ,Zurückschauen‘ (Schritt Vier bei Polya) ist von Prozessen durchdrungen, dieBandura als charakteristisch für Selbstreflexivität identifiziert. Diese Prozesse – alsodie Beurteilung der Korrektheit und Angemessenheit der ausgeführten Handlungenam selbst gesetzten Plan – finden im Zurückschauen im Sinne Polyas ihre Entspre-chung. Selbstreflexivität dient dazu, die eigenen Ziele, die im algebraischen Zugangfinden bestimmt wurden, und die eigenen Handlungen im algebraischen intentiona-len Handeln darauf hin zu reflektieren, ob das gewünschte Handlungsresultat erreichtwurde. Beim Problemlösen ist dies nichts anderes als zu prüfen, ob das Problem durchdas bisherige Handeln gelöst wurde. Die hier beschriebene Form der Selbstreflexivi-tät soll als algebraisches Reflektieren bezeichnet werden.

Zusammenfassend kann die Agency von Schülerinnen und Schülern im Mathema-tikunterricht als die Fähigkeit zum algebraischen Zugang finden, zum algebraischenintentionalen Handeln und zum Reflektieren verstanden werden. Der Zusatz ,alge-braisch‘ bezieht sich auf die obigen Überlegungen zum Umgang mit algebraischerSymbolsprache in der Algebra, die zu einer Definition symbolsprachlichen algebrai-schen Denkens führten. Es wurde oben gezeigt, dass symbolsprachliches algebrai-sches Denken das Erschließen neuer Beziehungen unter Zuhilfenahme des regelge-leiteten Umformens von algebraischen Darstellungen beinhaltet, wodurch neue Infor-mationen über das dargestellte Objekt zugänglich werden. Vor diesem Hintergrundlassen sich die drei Komponenten von Agency folgendermaßen fassen:

– Algebraischen Zugang finden: Die als relevant wahrgenommenen Bestandteile ei-nes Problems mit algebraischer Symbolsprache geeignet zugänglich machen;

– Algebraisches intentionales Handeln: Mithilfe algebraischer Symbolsprache amSachverhalt arbeiten, um Fortschritt bei der Lösung eines Problem zu machen.Dieser Prozess wird überwacht, etwa indem zurückgeblickt wird, was eine Verän-derung der algebraischen Darstellung für den Sachverhalt bedeutet.

– Algebraisches Reflektieren: Auf die ausgeführten Handlungen mit algebraischerSymbolsprache wird zurückgeblickt, um zu prüfen, ob das zu lösende Problemdurch die eigenen Handlungen gelöst wurde bzw. ob sich das Problem in einer neu-en Form darstellt, die zu einem erneuten Zugang finden und intentionalem Handelnführen könnten.

Die drei Komponenten von Agency sind als Merkmale derjenigen Handlungen zuverstehen, durch die Schülerinnen und Schüler eigentätig Probleme lösen. Dabei ver-weist Agency auf die den Handlungen zugrunde liegenden kognitiven Grundlagen,so dass der Umgang mit algebraischer Symbolsprache mit Blick auf symbolsprach-liches algebraisches Denken untersucht werden kann. Es wird davon ausgegangen,dass eigentätiges Problemlösen im Unterricht eng mit dem Erwerb von Agency ein-hergeht. Vermutlich stellen die drei Komponenten von Agency keine Stufenabfolge

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dar. Stattdessen sind diese Komponenten beim Problemlösen miteinander verwobenund bedingen einander auf verschiedene Weisen. Somit kann die Beschaffenheit vonHandlungen, in denen Schülerinnen und Schüler eigenaktiv algebraische Symbol-sprache anwenden, um ein mathematisches Problem zu lösen, mithilfe von Agencyauf zugrunde liegendes symbolsprachliches algebraisches Denken untersucht wer-den.

4.2 Zwischenbilanz: Das Ziel dieses Aufsatzes

Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die Erörterung der Frage, durch welche Hand-lungen und Denkprozesse symbolsprachliches algebraisches Denken charakterisiertist. Dazu wird eine Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens entwickelt(der epistemische Status dieser Theorie wird unten genauer erörtert). Grundlage derTheorie ist die Analyse bewährter Theorien algebraischen Denkens im Hinblick dar-auf, welche Indizien sie liefern, um den Zusammenhang zwischen algebraischemDenken und algebraischer Symbolsprache zu charakterisieren. Solche Theorien sindbeispielsweise von Abraham Arcavi, Carolyn Kieran oder John Mason entwickeltworden. Die Analyse der Theorien wird dabei verschränkt mit dem konzeptuellenRahmen von Agency. Das Agency-Konzept erlaubt es herauszuarbeiten, was intentio-nales Handeln mithilfe symbolsprachlicher algebraischer Denkweisen kennzeichnet.Intentionales Handeln heißt, gerichtet auf einen gewünschten mathematischen Zu-stand hin zu handeln. Es wird hier davon ausgegangen, dass Agency insbesondere mitdem Bearbeiten algebraischer Problemaufgaben verschränkt ist. Algebraische Pro-blemaufgaben sind Problemaufgaben, in denen algebraische Symbole ein nützlichesMittel sind, um zu einer Lösung zu gelangen (jedoch nicht notwendigerweise das ein-zige Mittel). In solchen algebraischen Problemaufgaben ist das (symbolsprachliche-)algebraische Denken von Schülerinnen und Schülern gefordert.

4.3 Methodologische Überlegungen

Die Herausarbeitung der Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens stehtauf zwei Säulen. Die erste Säule ist die vergleichende Analyse von in der Forschungbewährten Theorien zum algebraischen Denken. Die zweite Säule ist die Prüfung derBewährung der Theorie anhand eines empirischen Beispiels. Diese beiden Säulenwerden in den folgenden beiden Abschnitten beleuchtet.

4.3.1 Methodologische Überlegungen zum Theorievergleich

Die erste Säule für die Herausarbeitung der Theorie symbolsprachlichen algebrai-schen Denkens ist der Vergleich von bestehenden Theorien zum algebraischen Den-ken. Aus diesem Vergleich heraus sollen Bestandteile identifiziert werden, die typischsein könnten für symbolsprachliches algebraisches Denken. An dieser Stelle solleneinige methodologische Überlegungen zur Gewinnung der Theorie symbolsprachli-chen algebraischen Denkens diskutiert werden. Unter Theorie soll hier ein Netzwerkvon Konzepten verstanden werden, die einen Gegenstandsbereich beschreiben und soAussagen über diesen Gegenstandsbereich ermöglichen.

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Eine Theorie soll die kennzeichnenden Phänomene eines Gegenstandsbereichserfassen helfen. Mathematikdidaktische Forschung braucht unterschiedliche theo-retische Rahmungen, um kennzeichnende Phänomene von unterschiedlich gelager-ten mathematischen Lernprozessen (verstanden als Gegenstandsbereich) erfassen zukönnen. In Forschungsprozessen wird die Rolle der Theorie durch die Forschungs-frage bestimmt, die verfolgt wird (Lester 2005). Die Bandbreite der Phänomene, diein einer Fragestellung untersucht werden, führt mitunter dazu, dass mehrere Theo-rien herangezogen werden müssen, um diese Bandbreite erfassen zu können. Les-ter (2005) argumentiert deshalb, dass Theorien in der mathematikdidaktischen For-schung notwendig den Charakter einer Bricolage haben. Eine Bricolage ist für ihndie begründete Auswahl von Theoriebestandteilen unter der Klammer der zu unter-suchenden Fragestellung, um so den Gegenstandsbereich, der von Interesse ist, ange-messen beschreiben zu können (Lester 2005).

Bikner-Ahsbahs und Prediger (2010) zeigen auf, dass eine große Diversität vonTheorien zum Fortschritt der mathematikdidaktischen Forschung beitragen kann, daso der Komplexität des Mathematiklernens Rechnung getragen werden kann. Demstehe jedoch gegenüber, dass viele unverbundene Theorien Herausforderungen mitsich bringen. So kann eine Vielzahl von Theorien verhindern, dass zwei Vertreterunterschiedlicher theoretischer Ansätze kommunizieren können oder dazu beitra-gen, dass die Analyse von empirischen Daten zu unterschiedlichen Resultaten führt(Bikner-Ahsbahs und Prediger 2010). Sie argumentieren:

Plurality can only become fruitful, when different approaches and traditionscome into interaction. In order to meet these challenges, the diversity of theo-ries and theoretical approaches should be exploited actively by searching forconnecting strategies. (Bikner-Ahsbahs und Prediger 2010, S. 490, Hervorhe-bung im Original)

Bikner-Ahsbahs und Prediger zeigen weiter auf, dass die Pluralität von Theorienfruchtbar gemacht werden kann, indem verschiedene Theorien vernetzt werden. Aufdiese Weise kann der Komplexität des Mathematiklernens Rechnung getragen wer-den, aber zugleich den Nachteilen der Pluralität von Theorien entgegengewirkt wer-den. Strategien zum Verbinden von Theorien (“connecting strategies”) können von„understanding others“ und „making understandable“ bis hin zu „integrating locally“und „synthesizing“ reichen. Die beiden letztgenannten Strategien können zum höchs-ten Grad der Integration von Theorien führen (Bikner-Ahsbahs und Prediger 2010).Beim lokalen Integrieren (integrating locally) bzw. synthetisieren (synthesizing) wer-den eine begrenzte Anzahl von Theorien unter eine neue Rahmung gebracht und sozu einer neuen Theorie vereint.

In der hier vorgestellten Studie wird ein Synthetisieren von Theorien angestrebt.Dazu wird das bereits vorgestellte Agency-Konzept als neue Rahmung benutzt, dasdieses Synthetisieren anleiten soll. Beim Synthetisieren ist jedoch die Kompatibilitätder ursprünglichen Theorien sicherzustellen, damit es zu tragfähigen, widerspruchs-freien Ergebnissen führen kann (Jungwirth 2010).

– Übereinstimmung in den Grundannahmen, die die Theorie über den zu untersu-chenden Gegenstandsbereich macht (Jungwirth 2010, S. 529). Eine solche Grund-annahme betrifft etwa die Rolle des Subjekts im zu untersuchenden Gegenstands-bereich. Die hier zu vergleichenden Theorien algebraischen Denkens sollten darin

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übereinstimmen, dass algebraisches Denken (z.T.) eine soziale Praxis ist, die sichim Klassenraum manifestiert; das Lernen algebraischen Denkens ist somit (z.T.)ein „Zugang finden“ zu einer Kultur. Alle zu untersuchenden Theorien müssen alsoalgebraisches Denken ausgehend von den an einer sozialen Praxis partizipierendenSchülerinnen und Schülern konzipieren.

– Übereinstimmung in den Auftretensorten der zu untersuchenden Phänomene(Jungwirth 2010, S. 530). Auch wenn verschiedene Theorien die zu untersuchen-den Phänomene in unterschiedlicher Detailtiefe darstellen, so müssen sie diesePhänomene dennoch auf derselben Ebene ansiedeln. Beispielsweise ist algebrai-sche Symbolsprache ein zentrales Element der hier untersuchten Theorien; derAuftretensort dieses Phänomens sind (in der Gruppe) handelnde Subjekte. Alge-braisches Denken selbst wird als im weitesten Sinne kognitives Phänomen aufge-fasst, dass seine Entsprechung in den Handlungen der Schülerinnen und Schülerhat.

– Unterschiede im empirischen Gehalt der Theorien (Jungwirth 2010, S. 531). Theo-rien können je unterschiedlichen empirischen Gehalt haben. Erlaubt eine TheorieAussagen und Hypothesen, die durch empirische Daten widerlegt oder geprüftwerden können? In der hier vorgestellten Studie sollten die zu vergleichendenTheorien empirische Aussagen im Bereich von Phänomenen des symbolsprach-lichen algebraischen Denkens erlauben. So kann sichergestellt werden, dass dieSynthese aus diesen Theorien ebenfalls empirische Aussagen in diesem Bereichermöglicht. In diesem Aufsatz wird der empirische Gehalt der Theorie symbol-sprachlichen algebraischen Denkens durch ein Beispiel geprüft. Dafür sei auf denzweiten Teil dieses Abschnitts verwiesen (zweite Säule).

Für die vorliegende Studie wurden fünf Theorien algebraischen Denkens ausgewählt.Diese Theorien erfüllen die oben aufgezeigten Ansprüche, sodass ein Theoriever-gleich zu tragfähigen Resultaten in Form einer Theorie symbolsprachlichen algebrai-schen Denkens führen kann.

• Die Theorie des „Symbol Sense“ (Arcavi 1994, 2005) arbeitet heraus, was einenverständigen Umgang mit algebraischer Symbolsprache kennzeichnet. Dabei fo-kussiert die Theorie auf typische Handlungen, durch die sich ein verständiger Um-gang charakterisieren lässt.

• Die Theorie „Algebraic Expertise“ (Van Streun et al. 2009; Drijvers 2011) greiftden Symbol Sense auf, und versucht ebenfalls Handlungen zu identifizieren, die al-gebraisches Denken kennzeichnen. Dabei werden diese Handlungen in ihrer Dia-lektik zu Handlungen, die eher einem algebraischen Rechnen entsprechen, d.h.dem automatisierten regelgeleiteten Operieren mit algebraischen Symbolen, be-leuchtet.

• Die Theorie „Expressing Generality” (Mason et al. 2005; Mason 1996) hat alsAusgangspunkt die Annahme, dass Generalisierung die wesentliche Grundlage al-gebraischen Denkens ist. Auf der Basis dieser Annahme werden dann Handlungs-weisen identifiziert, die algebraisches Denken unter dem Aspekt von generalisie-renden Aktivitäten kennzeichnen. Es werden auch Wege aufgezeigt, wie diesesalgebraische Denken angebahnt werden kann.

• Die „GTG“ – Theorie nimmt eine breitere Perspektive auf algebraisches Denkenein, indem sie algebraisches Denken in typische Handlungsbereiche einordnet.

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Dies sind Generational Activities, Transformational Activities, Global/meta-levelActivities (Kieran 2004). Unter diesen drei Bereichen werden verschieden aus-geformte Handlungen zusammengefasst, die je auf verschiedene Weise zu einemVerständnis von Algebra führen können.

• Die Theorie „Algebraische Denkhandlungen“ (Hefendehl-Hebeker 2007; Fischeret al. 2010) stellt auf Grundlage kulturalistischer Überlegungen einen engen Bezugzwischen den Handlungen eines Lerners und seinem algebraischen Denken her. DaHandlungen und Denken nicht voneinander trennbar sind, kann algebraisches Den-ken durch algebraische Denkhandlungen beschrieben werden. Die Theorie listetalgebraische Denkhandlungen auf, die in ihrer Gesamtheit algebraisches Denkencharakterisieren können.

Die hier aufgelisteten Theorien sollen nicht im Detail vorgestellt werden, da diesim Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu leisten ist.

4.3.2 Bewährung der Theorie an einem empirischen Beispiel

Die zweite Säule des hier vorgestellten Theorievergleichs ist die Ausschärfung derentstehenden Theorie anhand der Analyse eines empirischen Beispiels. Mithilfe die-ses empirischen Beispiels soll die durch Theorievergleich entstandene Theorie sym-bolsprachlichen algebraischen Denkens validiert werden. Diese Validierung kann je-doch nur für einen Ausschnitt der Theorie vorgenommen werden, da das empiri-sche Beispiel naturgemäß nicht die Bandbreite der vielfältig denkbaren algebraischenDenkweisen abdeckt, die die entstehende Theorie beschreibt bzw. vorhersagt. Des-halb dient das empirische Beispiel einerseits der Illustration der empirischen Aussa-gekraft der neuen Theorie, und andererseits zeigt es einen Weg für die empirischeValidierung und Präzisierung der neuen Theorie auf. Die Präzisierung der Theoriedurch ein empirisches Beispiel zeigt neue Aspekte des algebraischen intentionalenHandelns auf, diese werden auf den ursprünglichen Rahmen der Agency rückbezo-gen. Auf diese Weise können die im empirischen Beispiel gefunden Aspekte für diehier zu gewinnende Theorie fruchtbar gemacht werden.

Das hier gezeigte empirische Beispiel ist aus einer Erprobung der Aufgabe Zah-lendreieck entnommen, die im Rahmen einer größeren Studie vorgenommen wurde.Bei dieser Erprobung stand die Frage im Fokus, auf welche Weise sich Schülerinnenund Schüler die Struktur von Zahlendreiecken mit und ohne den Gebrauch von Va-riablen erschließen können. Das empirische Material wurde in einer Interviewstudiegewonnen. Die Interviews in dieser Studie waren halbstrukturiert. In den Interviewswurden je zwei Zweiergruppen von Schülerinnen und Schülern der 5., 9. und 11.Klasse strukturgleiche Zahlendreiecke vorgelegt, die sie bearbeiten sollten (Beispielefür Zahlendreiecke in Abb. 2). Die Schülerinnen und Schüler wurden alle vom glei-chen Lehrer unterrichtet; die Erhebung wurde an einem norddeutschen Gymnasiumdurchgeführt. Der Interviewer (Erstautor) bemühte sich, im Interview möglichst we-nig auf die Strategien der Schülerinnen und Schüler Einfluss zu nehmen. In diesemAufsatz steht das Interview mit zwei Schülerinnen aus der 11. Klasse im Fokus.

Als Grundlage der Interviews diente eine Sequenz von ähnlichen Zahlendreiecken(Abb. 2, Zahlendreiecke in Anlehnung an Wittmann und Müller 2005). Die fehlen-den Zahlen im Zahlendreieck sind nach festgelegten Regeln zu ergänzen. Die Zah-len in zwei inneren Feldern ergeben als Summe die Zahl im benachbarten äußeren

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Abb. 2 Lösbares (links) undunlösbares Zahlendreieck(rechts)

Feld. Die Summe der Zahlen in den äußeren Feldern wird als Außensumme bezeich-net; die Außensumme ist im rechteckigen Feld rechts unterhalb des Zahlendreiecksvorgegeben. Zahlendreiecke sind Problemaufgaben, die das algebraische Denken inprototypischer Weise herausfordern, da sie durch das Analysieren von Mustern undStrukturen gelöst werden müssen. Die Verwendung algebraischer Symbole war mög-lich, jedoch zur Bearbeitung der ersten drei Zahlendreiecke nicht nötig. Die erstendrei Zahlendreiecke konnten problemlos durch Zahlprobieren gelöst werden (Bei-spiel für diese Zahlendreiecke in Abb. 2, links; diese drei Zahlendreiecke hatten je-weils andere Zahleinträge). Das vierte Zahlendreieck ist jedoch nicht lösbar, sodassdas Zahlprobieren zu keinem unmittelbaren Erfolg führt (Abb. 2, rechts; an dieserStelle des Interviews noch ohne eingetragenes x). Dies sollte Schülerinnen und Schü-ler dazu bewegen, sich mit der Struktur des Zahlendreiecks genauer auseinander zusetzen. Die Herausarbeitung der Struktur beinhaltet eine Generalisierung, die Schüle-rinnen und Schüler entweder durch prototypische/generische Zahlen oder durch denGebrauch einer Variablen vollziehen können. Letzteres wurde gegebenenfalls durcheinen neuen Interviewimpuls befördert; in diesem Interviewimpuls wurde das vierteZahlendreieck erneut vorgelegt, jedoch diesmal mit einer Variablen im linken innerenFeld (Abb. 2, rechts).

Durch die Beschaffenheit der Zahlendreiecke wird das Arbeiten mit Mustern undStrukturen herausgefordert. Es sind verschiedene Wege denkbar, diese Muster undStrukturen mit den Mitteln algebraischer Symbolsprache zugänglich zu machen. Bei-spielsweise ist die Relation zwischen der Summe der inneren Felder und der äußerenFelder ein Merkmal des Zahlendreiecks (die Außensumme beträgt 2 · (x + y + z),wenn x, y, z für die Zahlen in den inneren Feldern stehen). Des Weiteren ist der Zu-sammenhang zwischen den oberen äußeren Feldern zu den unteren inneren Feldernein Strukturmerkmal des Zahlendreiecks, welches besonders zentral ist, wenn eineZahl in einem der äußeren Felder des Zahlendreiecks bereits vorgegeben ist (dannkönnen die Zahlen in den inneren Feldern wie in Abb. 2, rechts, mithilfe von x und9 − x repräsentiert werden; entsprechend können auf dieser Grundlage die Zahlenin den äußeren Feldern repräsentiert werden). Das zuerst genannte Strukturmerkmalist ein Merkmal, welches nicht unmittelbar sichtbar ist, da es erst mittels einer mehr-schrittigen Schlussfolgerung erschlossen werden muss. Hingegen wird das zweiteStrukturmerkmal – die Beziehung zwischen einem äußeren und den benachbarten in-neren Feldern des Zahlendreiecks – unmittelbar durch die Regeln des Zahlendreieckssichtbar. Ein Übertragen dieser Struktur auf alle Zahlendreiecke (also eine Genera-lisierung) ist jedoch nur eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit. In den Interviewszeigte sich beispielsweise, dass zwei Schüler die im fünften Zahlendreieck gemein-sam entdeckte Struktur nicht auf ein nachfolgendes Zahlendreieck, in dem nichtsweiter als eine Außensumme vorgegeben war, übertragen konnten. Somit wird in

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den Zahlendreiecke algebraisches Denken herausgefordert, jedoch besteht Offenheitdahingehend, wie Muster und Strukturen zugänglich gemacht werden und ob diesegeneralisiert werden.

4.4 Vorgehen beim Vergleichen der Theorien zum algebraischen Denken

Der Theorievergleich wird entlang der drei Komponenten der Agency vorgenommen.Die einzelnen Theorien werden analysiert, indem diese Komponenten als Analyse-kategorien zugrunde gelegt werden; das anhand von Kategorien geordnete Materialwird anschließend vergleichend analysiert, um Phänomene des symbolsprachlichenalgebraischen Denkens zu identifizieren. Hierbei werden die Theorien insbesondereauf Handlungen befragt, die Ausdruck symbolsprachlichen algebraischen Denkenssind. Der folgende Abschnitt zeigt, wie das Material, dass einer Kategorie zugeord-net ist, vergleichend analysiert wird. Zugleich dient der folgende Abschnitt der Il-lustration, wie typische Ankerbeispiele bei der vergleichenden Analyse der Theorienaussehen.

5 Exemplarische Analyse von Theorien algebraischen Denkens zumalgebraischen intentionalen Handeln

An dieser Stelle soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie die Theorien algebrai-schen Denkens miteinander verglichen werden. Dazu wird auf die Komponente desalgebraischen intentionalen Handelns fokussiert. Zum Zwecke der leichteren Nach-vollziehbarkeit wird auf die Theorien von John Mason et al. (2005) und von AbrahamArcavi (1994) zurückgegriffen. Diese Theorien eignen sich besonders, um exempla-risch das Vorgehen im Theorievergleich aufzuzeigen, da beide Autoren vornehmlichauf typische Handlungsweisen des algebraischen Denkens eingehen und diese zumAusgangspunkt ihrer Theorie machen. Die übrigen Theorien nehmen z.T. eine stärkerabstrahierende Perspektive auf Schülerhandlungen ein, weshalb sie an dieser Stellezurückgestellt werden.

Bei der Analyse der beiden Theorien ergeben sich zwei wesentliche Bereiche, diedas Handeln mit algebraischen Darstellungen kennzeichnen. Der erste Bereich be-trifft die Objekte, die durch algebraische Darstellungen ausgedrückt sind bzw. ausge-drückt werden können. Der zweite Bereich betrifft die Art der Handlungen, die manaufgrund einer algebraischen Darstellung an diesen Objekten ausführen kann. DasMaterial zum ersten Bereich zeigt verschiedene Aspekte von algebraisch dargestell-ten Objekten. So argumentieren Mason et al. (2005), dass algebraische Darstellungenimmer eine Form der Generalisierung in sich tragen:

“One role of school algebra is to enable general arguments [. . .] to be workedthrough, appreciated and understood. [. . .] Experience with expressing genera-lity makes it easier [for students] to let go of particular numbers and to reasonin general than if algebra is presented simply as arithmetic with letters for sol-ving problems” (Mason et al. 2005, S. 187).

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Algebraische Darstellungen unterstützen das Erschließen von Allgemeinem. Darüberhinaus jedoch können sie auch das Erschließen von neuen Beziehungen (meanings)in Objekten unterstützen. Arcavi argumentiert, dass Schülerinnen und Schüler alge-braische Darstellungen auf letztere Weise nutzen können sollten:

“We suggest, that the feel for, and the confidence in, symbols which guide thesearch for new aspects of the original meanings constitute another facet ofsymbol sense” (Arcavi 1994, S. 28).

Zentral sei es jedoch, nicht die spezifischen Merkmale eines Objekts in den Blick zunehmen, sondern mit den Merkmalen bzw. den Beziehungen selbst zu arbeiten. DasErschließen neuer Beziehungen kann z.B. darauf gerichtet sein, anhand der algebrai-schen Darstellung eines Objekts die Merkmale einer Klasse von ähnlichen Objektenzu ermitteln:

“The shift from perceiving a property abstracted from some relationships them-selves detected among some specific objects, to reasoning solely on the basis ofthose properties is one of the reasons why mathematical reasoning has proveddifficult to teach effectively. [. . .] The significant shift involves ignoring thingsyou may know about particular objects, and concentrating solely on the an-nounced properties” (Mason et al. 2005, S. 224).

Die Objekte, die durch algebraische Symbolsprache dargestellt sind, tragen immer ei-ne Allgemeinheit in sich: Die Eigenschaft eines Objekts wird durch die algebraischeDarstellung dieses Objekts zur Eigenschaft einer Klasse von Objekten. Beispielswei-se wird durch die Faktoren 4n und n + 1 in der oben dargestellte Aufgabe zur Teil-barkeit die Eigenschaft nicht einer bestimmten, sondern einer ,Klasse‘ von Zahlendeutlich.

Der Zweite der beiden o.g. Bereiche wird von Mason unter dem Aspekt des „shif-ting attention“ betrachtet. Wenn Schülerinnen und Schüler mit einem algebraischenAusdruck konfrontiert sind, so changiert ihre Aufmerksamkeit („attention“) zwischenden Bedeutungen, die die Teile dieses Ausdrucks oder der Ausdruck selbst habenkönnen. Mason gibt fünf Bereiche an, in denen die Aufmerksamkeit je anders gela-gert ist und die das Arbeiten mit algebraischen Darstellungen bedingen:

“Awareness of or focus on wholeness: the identification of an object (whichmay be a part of some other object);a shift to awareness of or focus on discerned details comprising that object(creating sub-objects);a shift to awareness of relationships or similarities between features compri-sing sub-objects at any level of detail;a shift to awareness of or focus on properties that (sub-)objects might satisfy;a shift to awareness of or focus on properties as definitions or as axioms on thesole basis of which deductions can be made” (Mason et al. 2005, S. 291).

Mason argumentiert, dass beim Arbeiten mit algebraischen Darstellungen die ein-zelnen Bestandteile eines Ausdrucks eine Bedeutung gewinnen können. Diese Be-deutung steht nicht notwendig immer in Bezug zum ursprünglichen Sachverhalt, derrepräsentiert wird. Arcavi weist darauf hin, dass diese ursprüngliche Bedeutung vonalgebraischen Ausdrücken im Umformungsprozess vernachlässigt werden kann:

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“[. . . ] this is one of the strength of symbols – they enable us to detach from, andeven “forget” their referents in order to produce results efficiently” (Arcavi1994, S. 26);

Arcavi warnt jedoch davor, Umformen als Form eines Automatismus zu sehen. Statt-dessen soll zu Beginn darüber nachgedacht werden, welche Teile eines Problems diealgebraischen Symbole bezeichnen:

“We claim that [an ][. . .] a priori inspection of the symbols with the expectancyof gaining a feel for the problem and its meaning, is another instance of symbolsense” (Arcavi 1994, S. 27).

Im eigentlichen Prozess des Umformens soll jedoch auch darüber nachgedacht wer-den, was die jeweiligen Zwischenschritte für eine Bedeutung für den ursprünglichenSachverhalt haben könnten (ebd., S. 27). Erst dies verhindere ein Umformen, dass alsAutomatismus betrieben wird.

Dieser kurze Ausschnitt illustriert, wie die Theorien algebraischen Denkens mit-hilfe der oben entwickelten Komponenten von Agency analysiert werden können undso im Vergleich neue Hinweise auf die Natur symbolsprachlichen algebraischen Den-kens entstehen. Die Analyse zeigt neue Kategorien auf, wie z.B. einerseits die Be-schaffenheit von Objekten, die durch algebraische Symbole dargestellt sind, sowieandererseits die Handlungen, die auf dieser Grundlage mit den Objekten ausgeführtwerden können. Diese beiden Kategorien werden im Verlauf der Theorieanalyse prä-zisiert und gehen in den Kategorien „Interpretieren“ und „regelgeleitetes Umformen“auf.

6 Entwurf der Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens

Im Folgenden werden die Resultate des Theorievergleichs vorgestellt. Hierbei wirdder Fokus auf das algebraische intentionale Handeln gelegt, da dies der zentrale An-kerpunkt symbolsprachlichen algebraischen Denkens ist. Da das algebraische inten-tionale Handeln auch in die Aspekte algebraischen Zugang finden und algebraischesReflektieren hineinwirkt, werden die Ergebnisse dieser beiden Aspekte ebenfalls kurzskizziert.

6.1 Algebraischen Zugang finden

Ein Lerner muss zu einer Problemaufgabe Zugang finden, um seine Handlungenauf die Lösung des Problems auszurichten. Beim symbolsprachlichen algebraischenDenken entspricht dies der Fähigkeit eines Lerners, mithilfe von algebraischer Sym-bolsprache einen Zugang zu einem Problem zu finden und innerhalb dieses Ansatzeslösungsgerichtet handeln zu können (Drijvers). 1 Ein Beispiel hierfür ist, mithilfe vonalgebraischen Darstellungen, welche das „seeing the general in the particular“ und„seeing the particular in the general“ erlauben, Allgemeines auszudrücken (Mason)

1Im Folgenden benennt die Schreibweise „(Autor)“, dass auf die oben erwähnte Theorie des genanntenAutors Bezug genommen wird.

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und dieses so für weitere Handlungen zugänglich zu machen. Algebraische Darstel-lungen können gemäß Kieran genutzt werden, um erstens Probleme mit unbekann-ten Zahlen, zweitens Muster und Strukturen oder drittens numerische Zusammen-hänge und Regelhaftigkeiten (etwa Folgen rekursiv definieren) symbolsprachlich zubeschreiben. Um zielgerichtet eine geeignete Darstellung zu finden, müssen Schüle-rinnen und Schüler identifizieren können, welcher Natur ein Problem ist, was seinezentralen Objekte und Beziehungen sind und wie diese durch algebraische Symbol-sprache zugänglich werden können. Handelt es sich beispielsweise bei der Frage derTeilbarkeit einer Zahl (siehe Beispiel oben) um ein Problem der Bestimmung einerUnbekannten oder um die Bestimmung eines Musters? Schülerinnen und Schülermüssen sich also die Topografie des mathematischen Sachverhalts für ihre Hand-lungen auf geeignete Weise zugänglich machen. Dies beinhaltet, die besonderen Ei-genschaften der Topografie, seine Höhen und Tiefen, deren Merkmale und Bezie-hungen untereinander identifizieren zu können, so dass diese ein Objekt von Hand-lungen werden können. Weniger zentrale Merkmale der Topografie müssen dabeiebenfalls identifiziert werden und daraufhin evaluiert werden, welche Rolle sie imProblemlöseprozess spielen. Beispielsweise müssen Schülerinnen und Schüler ent-scheiden, wie sie eine Variable im Kontext des Problems deuten können oder müs-sen. Es ist davon auszugehen, dass historisch-kulturelle Handlungsmuster, die Schü-lerinnen und Schüler aus dem Unterricht übernehmen, das Vermögen eines Lernerserweitern (oder einschränken), einen algebraischen Zugang zu finden (Hefendehl-Hebeker/Fischer). Das Zugang finden ist eine Voraussetzung, damit Schülerinnenund Schüler ihre Handlungen auf den wahrgenommenen Kern eines Problems richtenkönnen.

6.2 Algebraisches intentionales Handeln

Ein Lerner, der algebraisch intentional Handeln kann, kann in Richtung antizipierterResultate handeln. Algebraisches intentionales Handeln beinhaltet also Denkweisen,durch die ein Lerner seine Handlungen an der Topografie eines Problems ausrichtet.Beispielsweise muss eine algebraische Termumformung auf ein antizipiertes Resul-tat gerichtet sein, um planvoll und zielgerichtet vollzogen werden zu können (Boero2001; Kieran 2004). Auf diese Weise kann algebraisches intentionales Handeln einenSchritt näher an die Lösung eines Problems heranführen. Denkbar wäre zum Beispiel,dass ein Lerner innerhalb eines Problemlöseprozesses versucht, einen Term zu finden,der hilft, in eine gewünschte Richtung weiter zu arbeiten, indem mithilfe des Termsinterpretationsfreie, inhaltsleere, aber auf ein gewünschtes Resultat gerichtete Um-formungen vollzogen werden (Hefendehl-Hebeker: Denkhandlung des Umformens).Dazu müssen mathematische Probleme an sinnvolle mathematische Aktivitäten an-schlussfähig sein (Mason). Zweierlei muss gemäß den Theorien algebraischen Den-kens gegeben sein, um diese Anschlussfähigkeit zu ermöglichen: Erstens muss es dasProblem erlauben, dass Schülerinnen und Schüler Resultate überhaupt antizipierenkönnen. Dies kann das Beispiel zur Teilbarkeit von Zahlen, das oben aufgeworfenwurde, verdeutlichen. In dieser Aufgabe muss der algebraische Ausdruck, der dieteilbaren Zahlen beschreibt, (2n + 1)2 − 1, so vereinfacht werden, dass in ihm eineFaktorenzerlegung der gesuchten Zahl zum Ausdruck kommt (s.o.).

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Schülerinnen und Schüler können den obigen Ausdruck ohne die Antizipation vonZielen umformen (z.B. wenn ihnen noch nicht klar ist, dass hier eine Faktorenzerle-gung sinnvoll sein könnte). Es ist aber zu vermuten, dass sie zu einem Ausdruckgelangen, an dem Teilbarkeit nur schwer abzulesen ist. Eine weitere Voraussetzung,damit Schülerinnen und Schüler Resultate antizipieren können, liegt bei den Schüle-rinnen und Schülern selbst. Arcavi wurde oben zitiert, dass es eine Facette von „Sym-bol Sense“ sei, wenn Schülerinnen und Schüler sich Gewiss sind, dass algebraischeSymbole die Suche nach neuen Bedeutungen für das ursprüngliche Problem ermög-lichen können (Arcavi 1994, S. 28, s.o). Zweitens müssen Schülerinnen und Schülerinnerhalb einer innermathematischen oder außermathematischen Anwendungssitua-tion entscheiden können, wofür eine Variable x oder ein Variablenterm steht (Dri-jvers, Mason). Wie im exemplarischen Vergleich oben zu sehen ist, erlaubt es al-gebraische Symbolsprache, nicht nur auf ein Objekt, sondern auf die Eigenschafteneines Objekts bzw. einer Klasse von Objekten zu fokussieren. Dies zeigt, dass dieEntscheidung, wofür eine Variable im Einzelnen steht (für ein Objekt oder die Eigen-schaft eines Objekts?), keine triviale Fähigkeit ist. Jedoch bedarf es dieser Fähigkeit,denn erst auf ihrer Grundlage können Schülerinnen und Schüler eine symbolischeDarstellung passend für ein Problem finden, die ein algebraisches intentionales Han-deln ermöglicht.

6.2.1 Dialektik des algebraischen Handelns: Nicht-symbolisches intentionalesHandeln und symbolsprachliches intentionales Handeln

Algebraisches intentionales Handeln ist Teil eines lokalen Erkenntnisprozesses, daes darauf gerichtet ist, eine Problemaufgabe zu lösen. In diesen lokalen Erkennt-nisprozessen sind Handlungen, die an der ursprünglichen Darstellung von mathema-tischen Objekten vollzogen werden, und Handlungen des regelgeleiteten Umformensmit dessen algebraischer Darstellung dialektisch aufeinander bezogen. Drijvers be-nennt diese Dialektik explizit mit den Konzepten Symbol Sense, also das Nachdenkenüber die Bedeutung algebraisch dargestellter Objekte, und Basic Skills, also prozedu-rales Arbeiten und algebraisches Rechnen (Drijvers). Der Symbol Sense leitet dieAktivierung von Prozeduren (Basic Skills) an.

Die Dialektik zwischen dem Handeln mithilfe von Symbolsprache und dem Han-deln in der ursprünglichen Darstellung des Problems wird hier durch symbolsprachli-ches intentionales Handeln und nicht-symbolisches intentionales Handeln konzipiert.Symbolsprachliches intentionales Handeln bezeichnet alle intentionalen Handlungeneines Lerners, die auf das regelgeleitete Manipulieren von algebraischen Darstellun-gen gerichtet sind, also z.B. eine Gleichung aufstellen, einen Term substituieren bishin zum Struktursehen und dem Umdeuten von Strukturen in algebraischen Aus-drücken, wie es z.B. Rüede (2012) konzeptualisiert. Dies ist eine andere Konzeptua-lisierung als sie Drijvers mit den Basic Skills vornimmt. Nicht-symbolisches inten-tionales Handeln bezeichnet alle intentionalen Handlungen, die auf das Herstellenvon Beziehungen in der ursprünglichen Darstellung von Objekten zielen. Mathema-tische Objekte werden verstanden als diejenigen Bestandteile einer Problemaufgabe,die Schülerinnen und Schüler zum Gegenstand ihrer Betrachtungen oder Handlun-

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gen machen (können). Diese Definition beinhaltet, dass Beziehungen bzw. Struk-turen selbst zu Objekten werden können. Das Herstellen von Beziehungen in derursprünglichen Darstellung des Zahlendreiecks beispielsweise beinhaltet das Identi-fizieren und Analysieren von Beziehungen (wie hängen die Zahlen in den Feldernmiteinander zusammen?), das Objektifizieren von solchen Beziehungen (wo findetsich die Beziehung als Element im Dreieck wieder, sodass diese zum Objekt desHandelns werden kann?) oder das Generalisieren von gefundenen Beziehungen (istdie Struktur für alle Zahlendreiecke gültig?).

Das nicht-symbolische und symbolsprachliche intentionale Handeln erinnern andie Syntax und Semantik von Symbolsprache. Genau wie Alltagssprache besitztSymbolsprache eine Syntax (Grammatik) und eine Semantik („Inhalt“). Die Unter-scheidung von nicht-symbolischem und symbolsprachlichem intentionalem Handelnbezieht sich jedoch auf den Handlungsaspekt von Symbolsprache, weshalb der Un-terscheidung von algebraischer Symbolsprache in Semantik und Syntax hier nicht ge-folgt werden soll. Oftmals wird mit der Unterscheidung Syntax/Semantik postuliert,dass Schülerinnen und Schüler mit Symbolsprache rein auf syntaktischer oder reinauf semantischer Ebene umgehen können. Diese Position soll hier aus zwei Gründennicht vertreten werden: Gesprochene Sprache kann nicht rein syntaktisch gesprochenwerden; in gesprochener Sprache ist Syntax stets ein Gerüst für die Semantik unddeshalb nicht unabhängig von Semantik denkbar. In ähnlicher Weise können alge-braische Ausdrücke nicht rein syntaktisch bearbeitet werden, sondern müssen immerauch semantisch gedeutet werden. Eine Ausnahme bilden evtl. Routineaufgaben, indenen ein Ausdruck unter Anwendung einer einfachen und bekannten Regel um-geformt werden muss – hier ist möglicherweise rein syntaktisches Arbeiten mög-lich.

Der zweite Grund besteht darin, dass die Unterscheidung Syntax und Semantiknicht die unterschiedlichen Einflüsse von Symbolsprache auf die Handlungsmöglich-keiten von Schülerinnen und Schülern beleuchten kann. Beispielsweise kann alge-braische Symbolsprache das Problemlösen erleichtern: Wenn ein algebraischer Aus-druck zunächst keine Erkenntnis für das Problem bereitstellt, kann der Ausdruck je-doch ggf. durch regelgeleitetes Umformen in eine Form gebracht werden, die neueInformationen liefert. Es eröffnen sich Handlungsmöglichkeiten im Bereich des sym-bolsprachlichen intentionalen Handelns. Man macht sich zunutze, dass ein algebrai-scher Ausdruck in einer bestimmten Form mehr Erkenntnismöglichkeiten beinhaltenkann als seine vereinfachte Form. Auf der anderen Seite kann eine algebraische Dar-stellung in jedem Schritt auf ihre Bedeutung für das ursprüngliche Problem hin be-fragt werden (wie im exemplarischen Vergleich oben durch Arcavi benannt). Es kannsich also lohnen, in einem gewissen Schritt das regelgeleitete Umformen zu verlassenund in der ursprünglichen Darstellung eines Problems weiter zu arbeiten. So eröffnetsich ein Raum für nicht-symbolisches intentionales Handeln. In den Handlungsmög-lichkeiten von Schülerinnen und Schülern ist somit keine Trennung von Semantik undSyntax möglich. Stattdessen geht es darum, welche „Lesart“ eines algebraischen Aus-drucks (regelgeleitetes Umformen oder Interpretieren) in einem gegebenen Problemeher Erkenntnismöglichkeiten bereithält und somit die Handlungsmöglichkeiten vonSchülerinnen und Schülern erweitern kann.

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Abb. 3 UnlösbaresZahlendreieck mit derAußensumme 30

6.2.2 Nicht-symbolisches und symbolsprachliches intentionales Handeln bei Emmaund Sophie

Der folgende Transskriptauszug illustriert, auf welche Weise Emma und Sophienicht-symbolisch und symbolsprachlich intentional Handeln. An dieser Stelle desTransskripts versuchen Emma und Sophie, die oberen äußeren Dreiecksfelder zu er-mitteln.

144 E: Also ich hätte ja jetzt irgendwie 7 x gleich irgendwas. . . ähm. . .minus. 21.145 S: Vielleicht hätte er 7 plus x gleich irgendwas gesagt, weil Du merkst das ja

#(2 Worte unverständlich)146 E: #Ja, 7 plus x.147 I: Mmm.148 S: Lass uns das erstmal aufschreiben, sonst ist das gleich wieder weg. (schreibt

7 + x rechts neben das Dreieck) 7 plus x.149 E: ’ber da bräuchte ich eigentlich noch ne zweite Variable, weil man weiß ja

nicht ob das (zeigt auf die oberen beiden äußeren Felder) genau die Hälfteist, sondern. . . ähm. . . 21 minus irgendwas (hält den Bleistift in 3 cm Höheüber dem oberen rechten äußeren Feld)

Emma benutzt die algebraische Symbolsprache und deren Bezug zum Zahlendrei-eck, um sich eine Grundlage für ihr symbolsprachliches intentionales Handeln zuschaffen. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich der Aussagen in Zeile 144und in Zeile 149. In Zeile 144 konstruiert Emma eine algebraische Wortvariable„irgendwas“. Sie stellt damit die Beziehung des äußeren linken Feldes („7 [plus] x“,vgl. Zeile 146) zum verbliebenen Wert der Außensumme 21 her. Dies schränktEmmas Interpretation des Zahlendreiecks ein: Die Wortvariable „irgendwas“ be-tont die Bedeutung des Objekts „7 plus x“ als unbestimmte Zahl, abstrahiert da-bei jedoch von der Zusammensetzung dieses Objekts (es ist die Summe der bei-den angrenzenden inneren Felder). Wenn Emma nun im Folgenden die Beziehungder beiden oberen äußeren Felder zueinander reflektiert, so erlaubt ihr das Ob-jekt „irgendwas“ die Schlussfolgerung, dass „man [. . .] ja nicht [weiß], ob dasgenau die Hälfte ist, sondern [. . .] 21 minus irgendwas“, also dass sich die 21nicht notwendigerweise zu einem je gleichen Betrag auf die beiden oberen äu-ßeren Felder verteilt. Die Beziehung der oberen Dreiecksfelder betrachtet Emmazunächst in der ursprünglichen Darstellung („die Hälfte“), danach wird diese Be-ziehung auch symbolsprachlich präzisiert („21 minus irgendwas“). Emma machtsomit einen großen Schritt in Richtung symbolsprachliches intentionales Handeln– um jedoch die Macht algebraischer Symbolsprache zu nutzen, interpretations-freie regelgeleitete Umformungen vornehmen zu können (Cohors-Fresenborg 2001),müsste sie ihre Wortvariable „irgendwas“ geeignet durch Symbole substituieren

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(vgl. dazu Zeile 144). Ohne dies kann sie beispielsweise nicht schlussfolgern, dassdie Beziehung der oberen äußeren Dreiecksfelder das Merkmal hat, das durch21 − (7 + x) = 14 − x dargestellt ist. Wohl aber hilft Emma die Wortvariable„irgendwas“, um zu schlussfolgern, dass sie keine zweite Variable zur Beschreibungdes Zahlendreiecks benötigt. Sophie hingegen verwendet ebenfalls „irgendwas“,jedoch bezeichnet sie damit verschiedene mathematische Objekte.

164 S: Weil x plus irgendwas (zeigt auf das untere rechte innere Feld) muss 9 erge-ben. Und irgendwas plus 7 muss n’. . . irgendwas zwischen 0 und 21 ergeben.

Dieser Transskriptauszug deutet daraufhin, dass sie „irgendwas“ nicht als Wort-variable nutzt, sondern im alltagssprachlichen Sinne. Dementsprechend kann sie„irgendwas“ offenbar nicht zum symbolsprachlichen intentionales Handeln nut-zen.

Es scheint ein Merkmal algebraischen intentionalen Handelns zu sein, zwischennicht-symbolischem und symbolsprachlichem Handeln auf natürliche Weise wech-seln zu können. Emma wechselt mehrfach zwischen nicht-symbolischem und sym-bolsprachlichem intentionalem Handeln, und erst dadurch scheint sie sich eine Be-ziehung im Zahlendreieck erschließen zu können. Emma identifiziert eine Beziehung(„die Hälfte“), präzisiert dies aber schließlich symbolsprachlich („21 minus irgend-was“) (Zeile 149, Abb. 3). Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass in dieser Mög-lichkeit des flexiblen Wechselns das besondere Potential des algebraischen intentio-nalen Handelns begründet liegt. Durch Einbezug weiterer theoretischer Überlegun-gen soll beschrieben werden, wodurch dieses besondere Potential beim algebraischenintentionalen Handeln wirksam werden kann. Dazu soll zunächst gezeigt werden,dass beide Formen des intentionalen Handelns zunächst gleichartige Möglichkeitenfür Begründungen und Schlussfolgerungen ermöglichen, jedoch je spezifische Aus-formungen des intentionalen Handelns mit Mustern und Strukturen mit sich brin-gen.

Zunächst ist an dieser Stelle jedoch eine Zwischenbemerkung angebracht. Es wur-de oben definiert, dass nicht-symbolisches intentionales Handeln auf das Herstellenvon Beziehungen zwischen Objekten in deren ursprünglicher Darstellung bzw. Be-deutung zielt. Die ursprüngliche Darstellung der Objekte in einer Problemaufgabe isthier im weitesten Sinne zu verstehen und soll auch die mentalen Repräsentationenbeinhalten, die sich Schülerinnen und Schüler von einer Problemaufgabe bilden. Inder Aufgabe Zahlendreieck sind die wesentlichen Bestandteile des Problems durchdie grafische Darstellung für Schülerinnen und Schüler besonders zugänglich. Ver-mutlich weisen die ursprüngliche Darstellung von Zahlendreiecken und deren men-tale Repräsentationen starke Parallelen auf. Die oben gezeigte Problemaufgabe zurTeilbarkeit von Zahlen hingegen ist in seiner ursprünglichen Darstellung eher ab-strakt und daher wenig zugänglich. Entsprechend ist zu erwarten, dass die kognitiveRepräsentation des Problems wenige Ähnlichkeiten zur ursprünglichen Darstellungaufweist. Anna Sfard (1994) zeigt, dass sich erfahrene Mathematiker abstrakte ma-thematische Objekte durch Repräsentationen („metaphor“) zugänglich machen, dieeher in ihrem Erfahrungsbereich liegen und die für ihre Handlungen somit leichterzugänglich sind als die ursprünglichen ,abstrakten‘ Objekte. Dementsprechend wä-re in der Problemaufgabe zur Teilbarkeit zu erwarten, dass sich die Schülerinnen

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und Schülern das Problem ebenfalls durch eine mentale Repräsentation zugänglichmachen, die ihnen das Handeln mit den relevanten Objekten eines Problems ermög-licht. Es muss hier aber ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es weitererempirischer Studien zu der Frage bedarf, wieweit die mentalen Repräsentationen,die Schülerinnen und Schüler von einer Problemaufgabe haben, beim algebraischenintentionalen Handeln (bzw. seinen beiden Teilaspekten) im Einzelnen zum Tragenkommen.

6.2.3 Nicht-symbolisches und symbolisches intentionales Handeln zur Erweiterungvon Handlungsmöglichkeiten im ,Dance of Agency‘

Das Changieren zwischen dem regelgeleiteten Umgehen mit mathematischen Sym-bolen und deren Interpretation bezeichnet Pickering (1995) als ,Dance of Agency’. Erargumentiert, dass dies beides im Zusammenwirken die Agency eines Subjekts ver-größert. Im Falle des hier diskutierten algebraischen intentionalen Handelns äußertsich dieser ,Dance of Agency’, indem Schülerinnen und Schüler ständig die Mög-lichkeit haben, zwischen nicht-symbolischem und symbolsprachlichem intentionalenHandeln zu wechseln. Nicht-symbolisches intentionales Handeln und symbolsprach-liches intentionales Handeln eröffnen je eigene Möglichkeiten für intentionales Han-deln und machen je spezifische Handlungsobjekte zugänglich. Durch das Wechselnzwischen beiden Formen des Handelns kann sich ein Lerner jedoch die Gesamtheitmöglicher intentionaler Handlungen und Handlungsobjekte aus beiden Handlungs-rahmungen verfügbar machen. Er ist nicht mehr nur auf die Handlungen beschränkt,die im Bereich des nicht-symbolischen intentionalen Handelns möglich sind, sondernkann sich auch Handlungen im Bereich des symbolsprachlich intentional Handelnsverfügbar machen (und umgekehrt).

Das Changieren zwischen nicht-symbolischem und symbolsprachlichem intentio-nalem Handeln im ,Dance of Agency‘ ist für Schülerinnen und Schüler deshalb mög-lich, weil das Referenzobjekt ihrer Handlungen gleich bleiben kann. In dem Moment,in welchem ein Lerner zwischen nicht-symbolischem und symbolsprachlichem inten-tionalem Handeln wechselt, bleibt das Objekt, mit dem in diesem Moment gehandeltwird, gleich. Dies wird insbesondere in den Zeigegesten der Schülerinnen Emma undSophie deutlich: Als nicht-symbolisches Objekt wird „21-irgendwas“ durch eine Zei-gegeste im Zahlendreieck verortet – in diesem Moment ist „21-irgendwas“ für Em-ma also vermutlich die Zahl im entsprechenden Dreiecksfeld (Zeile 149). Als sym-bolsprachliches Objekt hingegen könnte „21-irgendwas“ nun auch zu 21 − (7 + x)

werden, da „irgendwas“ zuvor mit 7 + x assoziiert wurde. In Zeile 144 sagt sie ent-sprechend: „7 x gleich irgendwas. . . ähm. . .minus. 21.“ (Anm. A.M.: Sie meint hiervermutlich 21 minus irgendwas, wie Zeile 149 zeigt).

Der ,Dance of Agency‘ des algebraischen intentionalen Handelns erschließt neueAspekte eines Objekts bzw. neue Objekte selbst. Dies wird bei Emma und Sophieprototypisch sichtbar. Emmas Handlungen zeigen, dass nicht-symbolisches intentio-nales Handeln und andererseits symbolsprachliches intentionales Handeln ein un-mittelbares Verhältnis zueinander haben. Das Wechseln zwischen beiden Formendes Handelns geschieht in Zeile 149: Einerseits denkt Emma nicht-symbolisch („dieHälfte“, Zeigegesten auf die oberen äußeren Felder), und andererseits eng damit

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verbunden symbolsprachlich („21 minus irgendwas“). Der Wechsel zwischen nicht-symbolischem intentionalem Handeln und symbolsprachlichem intentionalem Han-deln unter ständiger Bezugnahme auf die je andere Handlungsweise erlaubt es Em-ma, neue Beziehungen zu entdecken, die wiederum die Handlungsobjekte im Prozessverändern (etwa die Beziehung der oberen äußeren Dreiecksfelder zueinander). Dasnatürliche Wechseln zwischen nicht-symbolischem und symbolsprachlichem inten-tionalem Handeln, das auf Grund der dabei gleich bleibenden Objekte möglich wird,erschließt auf diese Weise je andere Aspekte desselben Objekts. Somit werden durchdieses Wechseln im „Dance of Agency“ Handlungen ermöglicht, die ein Fortschrei-ten im Problemlöseprozess erlauben, weil sie neue Aspekte eines Objekts bzw. neueObjekte erschließen. Im Transskriptauszug wechselt Emma mit „21 minus irgend-was“ nicht vollständig zur algebraischen Symbolsprache, sodass die Gelegenheit,neue Aspekte der Beziehung zwischen den oberen Dreiecksfeldern zu entdecken,nicht genutzt wird. Eine Substitution von Symbolen für „irgendwas“ hätte EmmasProblemlösehandlungen u.U. voranbringen können.

Neben der Möglichkeit, neue Aspekte von Objekten zu erschließen, eröffnet dasWechseln von nicht-symbolischem und symbolsprachlichem algebraischen Handelnneue Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, Handlungen passend zu wählen.Beim symbolsprachlichen intentionalen Handeln ist die Agency des Lerners bedingtdurch die Regeln und Normen der Symbolsprache, an die sich der Lerner bei seinenHandlungen zu halten hat – der Rahmen intentionalen Handelns wird beispielsweisedurch die erlaubten Operationen mit einem gegebenen symbolsprachlichen Term wie7+x vorgegeben. Wie oben gezeigt, kann durch das interpretationsfreie regelgeleite-te Operieren eine algebraische Darstellung so verändert werden, dass neue Informa-tionen über das algebraische Objekt in seiner ursprünglichen Darstellung gewonnenwerden können. Das symbolsprachliche intentionale Handlungen eröffnet dem Ler-ner auf diese Weise neue Handlungsmöglichkeiten, da dieser nicht in jedem Schrittdes Problemlösens eine Beziehung in der ursprünglichen Darstellung des Problemssehen (können) muss, trotzdem aber zu einer Problemlösung gelangen kann. Wennder Lerner zudem in der Lage ist, den Rahmen dieser Handlungen durch eine ge-schickt gestaltete algebraische Darstellung ein Stück weit zu gestalten, so gewinnt erweitere Handlungsmöglichkeiten.

Beim nicht-symbolischen intentionalen Handeln kann der Lerner seine Handlun-gen nach eigenem Ermessen an der Topografie des Problems orientieren. Beispiels-weise ist es möglich, weitere Darstellungen für ein Problem zu finden, die neueInformationen liefern könnten. Durch diese Erweiterung der möglichen Interpreta-tionen eines Objekts eröffnet das nicht-symbolische intentionale Handeln ebenfallsneue Handlungsmöglichkeiten. Dabei muss der Lerner jedoch entscheiden können,an welchen Stellen eines Problems ein algebraisch-symbolsprachlicher Zugang sinn-voll ist und wann dieser Zugang nicht lohnenswert ist. Emma könnte theoretisch freientscheiden, ob sie das linke äußere Dreiecksfeld als „Hälfte“, als „irgendwas“ oderals etwas Räumliches (durch Gesten) zum Objekt ihres Handelns macht. Sie müsstejedoch entscheiden können, welche Option an welcher Stelle lohnenswerter für eineProblemlösung erscheint. Es wird deutlich, dass beide Rahmungen des Handelns imalgebraischen intentionalen Handeln je andere Entfaltungsmöglichkeiten beinhaltenund so zu je anderen Handlungsmöglichkeiten führen können.

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6.3 Reflexivität und algebraisches Reflektieren

Durch den Vergleich eines Handlungsresultats mit einem gewünschten Resultat ent-scheidet ein Lerner, ob eine gewählte Handlungsrichtung angemessen gewesen ist.Hierfür muss der Lerner Maßstäbe anlegen, die es ihm erlauben zu entscheiden, obHandlung und Handlungsresultat den kulturellen Regeln der Algebra angemessensind (Hefendehl-Hebeker/Fischer). Dies geschieht jeweils vor dem Hintergrund dermathematischen Aktivität (Kieran) – beispielsweise sind beim mathematischen Be-weisen andere Maßstäbe zu beachten als etwa beim Suchen von Lösungsstrategi-en (etwa Strenge vs. Überzeugungskraft). Vermutlich liegen den Bewertungen vonHandlungen beim Reflektieren unterschiedliche Maßstäbe zugrunde: Werden Regelnbefolgt, die in der Kultur des Klassenraums ausgehandelt werden, und/oder Regeln,die etwa durch die Teilkultur Algebra gesetzt werden (zu Letzterem vgl. Lee 1996)?Im Kleinen zeigt sich ein solches algebraisches Reflektieren beispielsweise darin,dass ein Lerner eine Termumformung verwerfen kann, wenn sie kein weiterführen-des Resultat ergibt bzw. sie keinen Fortschritt im mathematischen Handeln erbringt(Arcavi). Auch Drijvers hält es für ein Merkmal des algebraischen Denkens, wenn einLerner einen anderen Ansatz verfolgen kann, sollte der Vorhergehende fehlschlagen.Die Fähigkeit zu entscheiden, wann ein Ansatz bzw. eine algebraische Darstellung,funktioniert‘ und wann nicht, soll hier als algebraische Reflexivität aufgefasst wer-den. Diese Fähigkeit zur Reflexion über die eigenen algebraischen Handlungsweisenbeinhaltet u.a. auch, dass der Lerner eine Übersicht über seine Handlungen in Re-lation zum mathematischen Problem hat bzw. in der Lage ist, eine solche Übersichtzu gewinnen. Arbeiten zum Struktursinn zeigen auf, wie eine solche algebraischeReflexivität in Bezug auf symbolsprachliches intentionales Handeln beschaffen seinkönnte (etwa Rüede 2012). In Bezug auf nicht-symbolisches intentionales Handelnlässt die Analyse der Theorien zum algebraischen Denken keine Aussagen dahinge-hend zu, wie algebraisches Reflektieren beschaffen sein könnte.

Die Reflexion der Angemessenheit und Korrektheit von algebraischen Handlun-gen und daraus erfolgender Schlussfolgerungen ist notwendiger Bestandteil algebrai-schen Denkens. Ob eine Handlung (und eine daraus erfolgende Schlussfolgerung) an-gemessen ist, hängt davon ab, ob man auf eine allgemeine Regelmäßigkeit schlussfol-gert, oder ob lediglich eine Hypothese über eine Regelmäßigkeit formuliert werdensoll. Es zeigt sich aber beispielsweise in der Kritik von Radford an Masons Theo-rie algebraischen Denkens – Radford kritisiert, dass Mason keine Aussage macht,wann eine Generalisierung mathematisch angemessen ist (Radford 1996) – dass esim Forschungsdiskurs um algebraisches Denken unterschiedliche Auffassungen gibt,wann eine Schlussfolgerung eines Lerners als angemessen gelten kann. Dementspre-chend ist auch offen, nach welchen Maßstäben ein Lerner algebraisch reflektierenkann/muss. Es kann vermutet werden, dass dabei kulturelle Normen zum Tragenkommen. In den obigen Erörterungen zum nicht-symbolischen intentionalen Handelnund symbolsprachlichen intentionalen Handeln wurden bereits Überlegungen ange-stellt, wie algebraisches Reflektieren im symbolsprachlichen algebraischen Denkenverankert sein könnte. Eine Präzisierung der genauen Natur algebraischen Reflektie-rens muss empirisch erfolgen und soll hier nicht vorgenommen werden. Eine Annä-herung an seine Natur auf der Grundlage der Theorien algebraischen Denkens könnte

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lauten: Algebraisches Reflektieren beinhaltet solche Denkweisen, die darauf zielen,die Angemessenheit und Korrektheit von Handlungen (und von Schlussfolgerungen)zu prüfen.

Im obigen Transskript ist bei Emma in Ansätzen eine algebraische Reflexion zu er-kennen. So reflektiert Emma, dass die oberen äußeren Dreiecksfelder nicht notwendig„die Hälfte“ (Zeile 149) von 21 enthalten. Sie kann daraufhin dieses Verhältnis mit„21 minus irgendwas“ genauer bestimmen. Es findet jedoch keine Reflexion des Ge-brauchs der Wortvariablen „irgendwas“ statt: Während Emma diesen Begriff konsis-tent im Sinne einer Variablen benutzt, benutzt Sophie „irgendwas“ alltagssprachlich.Hier hätte möglicherweise eine gemeinsame Reflexion der Bedeutung des „irgend-was“ weiter geholfen. Ob eine solche Reflexion im Bereich des Möglichen gelegenhätte, kann leider nicht eingeschätzt werden. Ein algebraisches Reflektieren an dieserStelle, also ein Überprüfen der Angemessenheit der bisher vollzogenen Überlegun-gen und Handlungen, hätte unter Umständen dort, wo der Transskriptauszug endet,erfolgen können, bleibt aber aufgrund des Eingreifens des Interviewers aus.

7 Zusammenfassung und Ausblick

Es ist eine grundlegende Erkenntnis von Vygotskij, dass Sprache komplexes Den-ken ermöglicht (Vygotskij 2002). Analog könnte vermutet werden, dass algebraischeSymbolsprache komplexes algebraisches Denken ermöglicht. Zweifelsohne ist dasErlernen algebraischer Symbolsprache eine große Hürde für Schülerinnen und Schü-ler. Es überrascht deshalb, dass bisher nur wenig diskutiert wird, worin der Nutzenvon algebraischer Symbolsprache für Schülerinnen und Schüler besteht und wie al-gebraisches Denken durch diese Symbolsprache befördert werden könnte.

In diesem Aufsatz wird eine Antwort auf die Frage skizziert, welches symbol-sprachliche algebraische Denkvermögen Schülerinnen und Schüler erworben habensollten, um algebraische Symbolsprache als Werkzeug für das Lösen von Problem-aufgaben benutzen zu können. Dazu wird eine Theorie symbolsprachlichen algebrai-schen Denkens entworfen, die Handlungen des algebraischen Denkens benennt, wel-che spezifische algebraisch-symbolsprachliche Ausformungen annehmen. Eine Ana-lyse von Theorien algebraischen Denkens ergibt, dass Handlungen des symbolsprach-lichen algebraischen Denkens durch drei Komponenten charakterisiert werden kön-nen:

– Algebraischen Zugang finden: In der Topografie einer algebraischen Problemauf-gabe relevante Merkmale identifizieren, die das Objekt oder das Ziel von Handlun-gen sein können, um zu einer Lösung der Aufgabe zu gelangen.

– Nicht-symbolisches intentionales Handeln und symbolsprachliches intentionalesHandeln: Der natürliche Wechsel zwischen der ursprünglichen Repräsentation ei-nes Problems und seiner algebraischen Darstellung, um die Bedeutung von Struk-turen und Objekten auszuhandeln und festzulegen. Auf Grundlage dieses Wechselsder Repräsentationen werden neue Handlungsobjekte oder -ziele verfügbar, aufderen Grundlage Schlussfolgerungen und Begründungen erfolgen können, die zueinem Fortschreiten im Problemlöseprozess führen. Auch erschließen beide For-men des Handelns je eigene Handlungsmöglichkeiten, was im Zusammengehendie besondere Kraft symbolsprachlichen algebraischen Denkens ausmacht.

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– Algebraisches Reflektieren: Die eigenen algebraischen Handlungen und Deutun-gen reflexiv bewerten, also z.B. die Bedeutung eines symbolsprachlichen Aus-drucks anders sehen, wenn die ursprüngliche Sicht auf diesen Ausdruck nicht wei-terhilft oder Handlungsziele anders wählen, wenn die ursprünglichen Handlungs-ziele keinen Fortschritt bei der Lösung einer Problemaufgabe liefern.

Diese drei Handlungskomponenten symbolsprachlichen algebraischen Denkens be-dingen sich gegenseitig und treten in den Handlungen von Lernern ineinander ver-schränkt auf, wie hier am Beispiel von Emma und Sophie exemplarisch gezeigt wird.

8 Diskussion

Die Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens gründet auf bewährtenTheorien algebraischen Denkens. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die hierbeschriebenen Handlungskomponenten des symbolsprachlichen algebraischen Den-kens diejenigen Teilbereiche algebraischen Denkens eingrenzen können, die durchalgebraische Symbolsprache bedingt sind. Die Theorie symbolsprachlichen algebrai-schen Denkens sensibilisiert auf diese Weise für solche Handlungen und Denkwei-sen, die Schülerinnen und Schüler auf Grundlage von algebraischer Symbolsprachevollziehen können. In diesem Aufsatz wird so eine erste Abgrenzung zwischen alge-braischem Denken und symbolsprachlichem algebraischen Denken vorgenommen.

Die hier beschriebene Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens hateinen beschränkten Geltungsanspruch. In der Theorie wird davon ausgegangen, dasssich symbolsprachliches algebraisches Denken in der eigentätigen Auseinanderset-zung mit einer algebraischen Problemaufgabe äußert. Erst in dieser Situation zeigtsich, ob Schülerinnen und Schüler ohne Anleitung symbolsprachlich algebraischdenken können. Aufgrund der methodischen Einschränkungen, die zur Gewinnungder Theorie nötig waren, müssen die von der Theorie geforderten symbolsprachli-chen algebraischen Denkweisen in späteren empirischen Arbeiten auf ihre Bewäh-rung geprüft werden. Insbesondere muss geprüft werden, wie sich die Theorie inalgebraischen Problemaufgaben bewähren kann, in denen die ursprüngliche Darstel-lung des Problems nicht (wie beim Zahlendreieck) das Herstellen von Beziehungenunterstützt.

Bisher liegend nur wenige Erkenntnisse zu der Frage vor, wie Schülerinnen undSchüler algebraische Darstellungen nutzen können (sollten), um einen Sachverhaltbesser zu verstehen bzw. um sich einen Sachverhalt zu erschließen. Arbeiten zumStruktursinn (Hoch und Dreyfus 2010; Rüede 2012) können den Blick darauf berei-chern, wie sich Schülerinnen und Schüler auf Grundlage algebraischer Darstellun-gen und deren Umformung neue Beziehungen erschließen und so zwischen nicht-symbolischem intentionalen Handeln und symbolsprachlichem intentionalen Han-deln wechseln können. Bisher wenig beachtet wird hingegen der umgekehrte Bezugvon symbolsprachlichem zu nicht-symbolischem intentionalen Handeln: Wie könnenSchülerinnen und Schüler mithilfe einer algebraischen Darstellung Rückschlüsse aufden Sachverhalt ziehen, der dieser algebraischen Darstellung zugrunde liegt bzw. lie-gen könnte. Eine genauere Analyse der Grundlagen dieses Prozesses des Herstellens

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von Beziehungen im natürlichen Wechsel der beiden Formen des Handelns könn-te in Anlehnung an Steinbring (2009) erfolgen. Auf diese Weise könnten die epis-temischen Grundlagen dieses Wechsels herausgearbeitet werden. Dies könnte auchdie Frage beantworten, welche Erkenntnismöglichkeiten algebraische Symbolspra-che beinhaltet, die nicht bereits in der Reichweite anderer mathematischer Darstel-lungen liegen.

8.1 Symbolsprachliches algebraisches Denken in der Schule anbahnen?

Schülerinnen und Schüler können auf unterschiedlich komplexen Ebenen symbol-sprachliches algebraisches Denken ausbilden. So ist es etwa möglich, symbolsprach-liche Ausdrücke in enger Anbindung zum Problemkontext zu interpretieren – einLerner könnte nach jedem Umformungsschritt einen Rückbezug zum eigentlichenProblem herstellen und auf diese Weise seine Umformungsschritte und Handlungensteuern. Ein anderer Lerner kann vielleicht zielgerichteter symbolische Ausdrückefinden und ist so nicht in jedem Problemlöseschritt darauf angewiesen, seine Hand-lungen eng an der ursprünglichen Darstellung eines Problems zu orientieren. Je nachEbene wären das nicht-symbolische intentionale Handeln und das symbolsprachlicheintentionale Handeln unterschiedlich aufeinander bezogen.

Ausgehend von den hier vorgestellten Überlegungen kann vermutet werden, dasssymbolsprachliches algebraisches Denken ein zentraler Baustein des mathematischenDenkens beim Anwenden von algebraischer Symbolsprache ist. Jedoch ist symbol-sprachliches algebraisches Denken nicht gleichzusetzen mit dem regelgeleiteten Um-gang mit algebraischer Symbolsprache. Dementsprechend muss symbolsprachlichesalgebraisches Denken angebahnt werden, indem Schülerinnen und Schüler in Pro-blemaufgaben selbst „symbolsprachlich sprechen“. So erfahren sie, welche Handlun-gen und Schlussfolgerungen auf der Grundlage eines algebraisch dargestellten Ob-jekts erlaubt sind und wie durch Modifikation dieser algebraischen Darstellung ande-re Handlungszugänge und Schlussfolgerungen erleichtert werden können. Dies könn-te unterstützt werden, indem Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden, dieAngemessenheit ihrer Handlungen und Schlussfolgerungen an der mathematischenSache zu prüfen (Boaler 2003). Beispielsweise könnten Schülerinnen und Schülereigenständig überprüfen, ob ihre Schlussfolgerungen, die sie mithilfe algebraischerSymbolsprache getroffen haben, zu konsistenten Beziehungen zu anderen mathema-tischen Objekten führen – dies könnte zugleich sowohl ihre Agency als auch ihreFähigkeiten zum Schlussfolgern mithilfe von algebraischer Symbolsprache erwei-tern. Es gehört zum Prozess symbolsprachlichen algebraischen Denkens, die Objekteund Ziele von Handlungen selbst zu bestimmen und so intentionales und reflektiertesHandeln zu erlernen.

8.2 Perspektiven für eine Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens

Die Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens eröffnet Perspektiven fürdie Erforschung des algebraischen Denkens von Schülerinnen und Schülern in derMittel- und Oberstufe. In weiteren empirischen Untersuchungen muss geprüft wer-den, wie die Theorie symbolsprachlichen algebraischen Denkens bei der jeweiligen

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Perspektive wirksam werden kann. Diese Perspektiven stellen einen möglichen Prüf-stein dar, um die Bewährung des Modells symbolsprachlichen algebraischen Denkenszu testen.

• Das regelgeleitete Operieren mit algebraischer Symbolsprache allein ist nichtgleichzusetzen mit der Fähigkeit, symbolsprachlich algebraisch zu denken. Esscheint notwendig, eine symbolsprachliche algebraische Denkfähigkeit gezielt an-zubahnen.

• Wenn eine symbolsprachliche algebraische Denkfähigkeit von Lernern gezielt auf-gebaut werden muss, wie kann dieser Prozess durch Diagnose und Förderung be-gleitet werden? Welche Fähigkeiten des algebraischen Denkens sollen diagnosti-ziert werden, um einschätzen zu können, wie gut ein Lerner unter Zuhilfenahmealgebraische Symbolsprache algebraisch denken kann?

• Welche Rolle spielt symbolsprachliches algebraisches Denken in der Mathematikder Oberstufe? Setzt beispielsweise der formale Beweis der linearen Unabhängig-keit zweier Vektoren symbolsprachliches algebraisches Denken voraus (und wenndie geometrische Anschauung hinzugezogen wird, wie ändert sich dieses algebrai-sche Denken)?

Danksagung An dieser Stelle möchten wir den Gutachterinnen und Gutachtern für die wertvollen undkonstruktiven Hinweise zur Verbesserung des vorliegenden Aufsatzes danken. Besonderer Dank gilt auchStephan Hußmann für die detaillierten Anmerkungen während der Überarbeitung des Manuskripts.

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