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1 DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler „Wie eine schöne Wolke am Himmel“ Roland Barthes und die Poesie Von Roland Koch Autor: Schüler: Zitator: REGIE: Claudia Kattanek Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 20. Juli 2012, 20:10 – 21:00 Uhr

„Wie eine schöne Wolke am Himmel“ Roland Barthes und die ... · 3 Autor: Ich habe bei Roland Barthes immer wieder über das Wesen des Schreibens, die Poesie gelesen. Vor allem

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DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler „Wie eine schöne Wolke am Himmel“ Roland Barthes und die Poesie Von Roland Koch Autor: Schüler: Zitator:

REGIE: Claudia Kattanek

Urheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 20. Juli 2012, 20:10 – 21:00 Uhr

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O-Ton Barthes =b2:

„Entrer en littérature, en écriture; écrire, comme si je ne l’avais jamais

fait; ne plus faire que cela“. (D1, 01. 49:29-49:40)

Zitatsprecher:

„In die Literatur, ins Schreiben eintreten; schreiben, als hätte ich es

noch nie getan: nichts mehr tun als das“. (V 38)

Autor:

Ich kenne Roland Barthes als jemanden, der unerwartet abweicht,

eine neue Richtung findet, Haken schlägt, das hat mich seit der

ersten Lektüre seines kleinen Buches „Die Lust am Text“ nicht mehr

losgelassen.

O-Ton Schimmang js1:

„Das Allerwichtigste finde ich, daß er immer gegen die Doxa war,

gegen die Verfestigung bestimmter Sprachen, bestimmter

Sprachgesten“ (2:52-3:07)

Autor:

Jochen Schimmang, Schriftsteller.

Zitatsprecher:

„In Metaphern, nicht in Adjektiven reden, das ist es, was die Dichter

getan haben.“ (N 111)

3

Autor:

Ich habe bei Roland Barthes immer wieder über das Wesen des

Schreibens, die Poesie gelesen. Vor allem in seinen Ende der 70er

Jahre gehaltenen Vorlesungen „Das Neutrum“, „Wie zusammen

leben“ und „Die Vorbereitung des Romans“, die in den letzten

Jahren auf Deutsch erschienen sind, blitzen Gedanken auf, die mich

anregen, über mein Schreiben nachzudenken, alles in Frage zu

stellen, aber auch, neu anzufangen.

Schüler:

Was kann ich machen, um diese Stimmung zu erreichen, um etwas

wirklich Neues hervorzubringen?

Zitatsprecher:

„Man braucht die Regeln nur zu verletzen, um einen subversiven,

herausfordernden, verwirrenden Text (Gesprächsbeitrag)

hervorzubringen: das rätselhaft Unerwartete: manisch, ironisch,

dunkel, übertrieben elliptisch reden, sich außerhalb von Wahr und

Falsch stellen, Irrelevantes (nach Maßgabe des eben Gesagten) oder

Versponnenes äußern.“ (N 188f.)

O-Ton Schabacher gs1:

„Das ist ein großer Feind von ihm, die Doxa“ (26:22-26:25)

Autor:

Gabriele Schabacher, Medienwissenschaftlerin und Barthes-Expertin.

Schüler:

Und was, wenn ich Fehler mache?

4

O-Ton Barthes 12:

„Les plus belles céramiques, celles où un défault, un excès de cuisson

de la couleur produit des nuances incomparables, des trainées

inattendues, volupteuses. D’une certaine facon, la Nuance: ce qui

irradie, diffuse, traine (comme le beau nuage d’un ciel).” (D1, 07.

8:50-9:29)

Zitatsprecher:

„Am schönsten sind diejenigen Keramiken, die einen Fehler

aufweisen, die zu lange gebrannt wurden und deshalb

unvergleichliche Farbnuancen zeigen, unerwartete, wollüstige

Spuren. In gewisser Weise ist die NUANCE das, was ausstrahlt, sich

zerstreut, sich in die Länge zieht (wie eine schöne Wolke am

Himmel).“ (V 94)

O-Ton Schimmang js2:

„Also die Macke an dem fertigen Produkt ist vielleicht wie die eigene

Unterschrift, wie die Signatur“ (17:13-17:26)

Autor:

Ich weiß über Roland Barthes, daß er von 1915 bis 1980 lebte, als

Theoretiker, als Semiologe, als Strukturalist bekannt war, doch für

mich ist er viel mehr Schriftsteller, Poet, jemand, der die Art und

Weise, etwas zu sagen, sich auszudrücken, erneuert. Dies in vielen

Büchern, in den „Mythen des Alltags“, in den „Fragmenten einer

Sprache der Liebe“.

Schüler:

Wie kann ich Meister werden?

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Zitatsprecher:

„Mein Ziel: weder Meister noch Schüler zu sein, sondern ‚Künstler‘“.

(N 120)

Schüler:

Und wie lerne ich das Schreiben?

Zitatsprecher:

„Man setzt die Farben auf der Leinwand nebeneinander, statt sie auf

der Palette zu mischen. Ich setze die Figuren im Vorlesungssaal

nebeneinander, statt sie zu Hause, am Schreibtisch, zu mischen. Der

Unterschied besteht darin, daß es am Ende kein fertiges Gemälde

gibt“. (Z 216)

O-Ton Schabacher gs2:

„Ich würde sagen, daß ein ganz wichtiges Charakteristikum seiner

Schreibweise eben das ist, was man eben als kurze Schreibweise, als

Schreiben in Fragmenten als etwas, wo auch er immer wieder

versucht, sich nicht festlegen zu lassen“. (6:19-6:33)

Autor:

Ich sehe ihn als jemanden, der schwankt, zwischen dem Schreiben,

der akademischen Welt, das Schwanken macht auch die Stärke

seiner Gedanken aus.

O-Ton Barthes 3:

„Ecrire sert à sauver, à vaincre la Mort: non pas sa sienne, mais celle

de ceux qu’on aime, en portant témoignage pour eux, en les

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perpétuant, en les érigeant hors de la non-Mémoire”. (D1, 01. 1:00:25-

1:00:46

Zitatsprecher:

„Das Schreiben dient der Rettung, dazu, den TOD zu besiegen; nicht

den eigenen, sondern den Tod derer, die man liebt, indem man von

ihnen Zeugnis gibt, indem man sie fortdauern läßt, sie aus dem

Nichterinnern heraushebt.“ (V 40)

Schüler:

Wie kann ich so etwas Schweres tun?

Zitatsprecher:

„Wenn es mir dennoch gelingt, diesen Tod durch eine meisterliche

Schreib-Leistung auszusprechen, beginne ich wieder aufzuleben; ich

kann Antithesen aufstellen, Ausrufe hören lassen, ich kann singen“.

(F 91)

O-Ton Schabacher gs3:

„Es ist vor allem jemand, den man schwer einordnen kann, und der

es auch geliebt hat, schwer einordnenbar zu sein (00:26-00:34)

Schüler:

Und was wäre ein Ratschlag für mich?

Zitatsprecher:

„Den Begriff durch die Metapher ersetzen: schreiben.“ (N 261)

Schüler:

Und wie kann ich leben, wenn ich mich dem Schreiben hingebe?

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O-Ton Barthes 8:

„Car l‘énigme de l’écriture, sa vie tenace, son désirable, c’est qu’on

ne peut jamais la séparer du monde, un peu d’écriture sépare du

monde, beaucoup y ramène”. (D1, 05. 2:33-2:57)

Zitatsprecher:

„(..) denn das Rätsel des Schreibens, sein zähes Leben, das

Begehrenswerte an ihm ist ja, daß man es niemals von der Welt

trennen kann; ‚ein wenig Schreiben führt ab von der Welt, viel davon

führt zu ihr zurück‘“. (V 71)

O-Ton Schimmang js3:

„Daß er ein Liebhaber des Offenen, des Unfertigen und des

Fragments ist, (…) dieses Fragile, dieses Luftige von Barthes zu lesen

(…) das ist einfach auch ein ästhetischer Genuß, ihn zu lesen“ (4:20-

4:58)

Schüler:

Und wie bleibe ich bei der Sache?

Zitatsprecher:

„Tendenziell wäre sogar ein Werk, eine Vorlesung vorstellbar, die

aus nichts als Abschweifungen bestünde: ausgehend von einem

fiktiven Titel, dem ‚Thema‘ (der quaestio), das (die) durch die List

einer unaufhörlichen Flucht zerstört würde. Das Thema ist beinahe

inexistent, eine sehr vage, blitzartig aufleuchtende Erinnerung“. (Z

217)

8

Autor:

Ich sehe Roland Barthes als jemanden, der im Sommer in Sandalen

über den Treidelpfad in Urt im französischen Südwesten spaziert,

der eine Vorlesung nur aus den Büchern konzipiert, die er zufällig in

seinem Haus dort vorfindet. Als jemanden, der in der Gegend

aufgewachsen ist, früh den Vater verliert, Zeit seines Lebens mit

seiner Mutter zusammenlebt. Dessen freies Denken nicht aus seinem

Leben erklärt werden kann.

Zitatsprecher:

„Das Neutrum ist dieses unbeugsame Nein: ein Nein, das gegenüber

den Verhärtungen des Glaubens und der Gewißheit gleichsam in der

Schwebe bleibt, unbestechlich gegenüber dem einen wie dem

anderen.“ (N 45)

O-Ton Schabacher gs4:

„daß er über die von ihm so geliebten Doppelwörter sagt, daß sie

kostbar zweideutig seien und daß der eine Wortsinn gewissermaßen

dem anderen zuzwinkern würde“. (22:30-22:44)

Schüler:

Wenn ich immer hart arbeite?

O-Ton Barthes 23:

„La joie productrice d‘écriture est une autre joie: c’est une jubilation,

une ex-tase, une mutation, une illumination, ce que j’ai appelé

souvent un satori, une ébranlement, une conversion”. (D1, letzter

Track, 01. 21:25-21:57)

9

Zitatsprecher:

„Die schöpferische Freude am Schreiben ist eine andere Freude: Sie

ist ein Jubel, ein Ek-stase, eine Verwandlung, eine Erleuchtung, das

was ich oft als satori bezeichnet habe, eine Erschütterung, eine

‚Konversion‘.“ (V 212)

Autor:

Ich sehe Roland Barthes auf Fotos, ernst oder lächelnd, mit Krawatte,

als Professor, im Tweedjackett, aber lieber stelle ich ihn mir vor, wie

er über einen Einfall lacht oder verwundert ist, wie er zu Hause

fünfzig Ideen gleichzeitig hat und aufschreibt, wie er Klavier spielt

und frei ist.

Zitatsprecher:

„Was mir bei der Vorbereitung der Vorlesung vorschwebte, ist eine

Einführung ins Leben, ein Lebensratgeber (ein ethisches Projekt): ich

möchte gemäß der Nuance leben. Nun gibt es eine Instanz, die über

die kleinen Unterschiede wacht: die Literatur.“ (N 40)

O-Ton Schabacher gs5:

„Die Forschung nimmt dann gerne Zuflucht dazu, Listen zu machen

und zu sagen, er ist Semiologe, er ist Literat, er ist Schriftsteller, er ist

Philosoph, und Ottmar Ette, ein Forscher, der sich viel mit Barthes

beschäftigt hat, hat mal so schön gesagt, wenn man sein Werk

sozusagen zur Kenntnis nehmen will, muß man in Buchhandlungen

das regelrecht erlaufen, man muß von Regal zu Regal gehen, um

dann in der einen Ecke die Schriften zur Fotografie zu finden, in der

nächsten Ecke die Schriften zur Zeichentheorie, in der anderen Ecke

die Sachen, die dann literarischer sind, jedenfalls hat er immer

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großen Wert darauf gelegt, daß man ihn nicht so ohne weiteres zu

fassen kriegt“. (00:44-1:24)

Schüler:

Es ist doch schwer, etwas Neues zu tun, alles ist schon geschrieben.

Zitatsprecher:

„Gerade weil das literarische Schreiben nichts bleibendes mehr

schafft, ist es von seinem konservativen Gewicht, von seiner Last der

Erhaltung befreit und läßt sich aktiv als ein Werden denken, als etwas

Leichtes, Aktives, Berauschendes, Frisches“. (V 442)

Autor:

Das Leben Roland Barthes‘ erscheint mir tragisch durch seinen

Unfalltod. Ich stelle ihn mir vor, beim Mittagessen mit Francois

Mitterand. Anschließend wird er angefahren, ist nicht

lebensgefährlich verletzt, aber stirbt aufgrund seiner

Lungenkrankheit, einer Infektion. Er war angekommen in der

akademischen Welt, er war berühmt, aber er hoffte, sich wieder

befreien zu können.

Zitatsprecher:

„Vielleicht ist die Zeit zum Verstehen eine göttliche Zeit: der

angemessene (zarte, langsame, wohlwollende) Übergang von einer

Logik zur anderen, von einem Körper zum anderen: Wenn ich einen

Gott zu erschaffen hätte, würde ich ihn mit einer ‚langen Leitung‘

versehen: ein Problem gleichsam tropfenweise verstehen.“ (N 81)

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O-Ton Schimmang js4:

„Also ich denke, das Schreiben (…) es erlaubt, wenn man‘s geschickt

anstellt, gewisse Grandiositätsgefühle zu entwickeln und die

Kränkungen, die man erfahren hat (…) zu heilen“ (12:25-13:05)

O-Ton Barthes 4:

„Les blessures du Désir peuvent etre recueillies, transcendées par

l’idée de ‘faire un Roman’, de dépasser les contingences de l’echec

par une grande tache, un Désir Général don’t l’objet est le monde

entier. Roman: sorte de grand Recours – sentiment qu’on ne se sent

bien nulle part”. (D1, 02. 34:14-34:55)

Zitatsprecher:

„Mit dem Gedanken, ‚einen Roman anzufertigen‘, lassen sich die

Kränkungen des Begehrens auffangen und überwinden; Roman: eine

Art großer AUSWEG – Gefühl, daß man sich nirgendwo sonst wohl

fühlt.“ (V 47)

O-Ton Schabacher gs6:

„es ist selbst zu nem Mythos geworden, daß Barthes immer auf dem

Weg zum Schriftsteller gewesen ist“. (3:14-3:20)

Autor:

Ich höre von Roland Barthes als Sohn, der den Tod seiner Mutter nie

verwindet, dessen Lebenskraft mit der Trauer schwindet. Und ich

lese, daß er selbst „Mamie“ genannt wurde von seinen jungen

Schülern, Freunden und Geliebten.

Schüler:

Und wie vom Gekritzel zum Roman gelangen?

12

O-Ton Barthes 22:

„Quand je produits des Notations, elles sont toute vraies: je ne mens

pas (je n’invente jamais), mais précisement, je n’accède pas au

Roman; le roman commencerait non au faux, mais quand on mele

sans prévenir le vrai et le faux: le vrai criant, absolu, et le faux

colorié, brillant, venu de l’ordre du Désir et de l’Imaginaire – le

roman serait poikilos, bigarré, varié, tacheté, moucheté, couvert de

peintures, de tableaux, vetement brodé, compliqué, complexe“. (D1,

13. 01:02:57-01:04:11)

Zitatsprecher:

„Wenn ich NOTIZEN mache, sind sie alle ‚wahr‘: ich lüge nie (ich

erfinde nie), doch gerade so gelange ich nicht zum ROMAN; der

Roman würde zwar nicht beim Falschen beginnen, sondern dort, wo

Wahres und Falsches unvorhersehbar ineinandergehen: das

schreiende, absolute Wahre und das kolorierte, glänzende, aus der

Ordnung des BEGEHRENS und des IMAGINÄREN stammende

Falsche – Der Roman wäre poikilos, bunt, veränderlich, gescheckt,

getüpfelt, mit Gemälden, mit Bildern bedeckt, ein besticktes,

verwickeltes, komplexes Gewand“. (V 181)

Schüler:

Wenn ich eine Idee habe, soll ich sie dann ausführen?

Zitatsprecher:

„Der Schriftsteller glaubt an die Wichtigkeit des Geschriebenen, nicht

des Gedachten – also nicht Treue zur Idee, sondern Festhalten an

einer Praxis = das, was der Schriftsteller ‚arbeiten‘ nennt.“ (N 269)

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O-Ton Schimmang js5:

„Ich glaube, daß Barthes, in dessen Zentrum der Begriff der

Schreibweise stand, für Schriftsteller, für den Blick auf ihre eigene

Arbeit eine ganz wichtige und entscheidende Figur ist, und ich finde

es ein Paradox, aber eins, das mich amüsiert, daß dieser Mann ja am

Ende eigentlich einen Roman schreiben wollte“ (9:00-9:33)

O-Ton Barthes 5:

„Présent: avoir le nez collé à la page; comment écrire longuement,

couramment (d’une facon courante, coulée, filée) en ayant un oeil sur

la page et l’autre sur ce qui m’arrive’?”. (D1, 03. 01:20-01:49)

Zitatsprecher:

„Gegenwart: mit der Nase am Papier kleben; wie soll man mit

langem Atem, fließend (gewandt, flüssig, behende) schreiben, wenn

man mit einem Auge aufs Blatt und mit dem anderen auf das starrt,

‚was mir widerfährt‘?“ (V 53)

O-Ton Schabacher gs7:

„Ich würde sagen, es ist vor allem ein Werk, das versucht, in

Bewegung zu bleiben“. (1:42-1:46)

Autor:

Ich stelle mir Roland Barthes vor, wie er in seinem roten Käfer durch

Paris fährt, wie er auf dem Land einen Blaumann trägt, wie seine

Mutter immer dabei ist: der Sohn wird berühmt, um ihr eine Freude

zu machen.

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Schüler:

Und wenn Tausende von Eindrücken gleichzeitig auf mich

einstürzen?

O-Ton Barthes 1:

„Car face au ronron de la gestion, deux votes s’ouvrent: 1. Ou bien la

silence, le repos, le retrait (Assis paisiblement, sans rien faire, le

printemps vient, et l’herbe croit d’elle meme) 2. Ou bien reprendre la

marche dans une autre direction, c’est-à-dire batailler, investir,

planter”. (D1, 01. 34:20-35:30)

Zitatsprecher:

„Denn um sich dem ‚Gesumm‘, der Geschäftigkeit zu entziehen,

stehen zwei Wege offen: 1. Entweder das Schweigen, die Ruhe der

Rückzug (‚Ruhig sitzen, nichts tun. Der Frühling kommt, und das

Gras wächst von selbst‘); 2. oder aber in eine andere Richtung

weitergehen, das heißt kämpfen, besetzen, pflanzen“. (V 35)

O-Ton Schimmang js6:

„Den beginnenden Romancier, sozusagen den fragmentarischen

Romancier finde ich aber an ganz vielen Stellen bei Barthes, selbst in

teilweise eher theoretisch daherkommenden Aufsätzen leuchtet das

in einzelnen Sätzen immer wieder auf“ (28:24-28:46)

O-Ton Barthes 6:

„On peut écrire le Présent en le notant – au fur et à mesure qu’il

tombe sur vous ou sous vous (sous votre regard, votre écoute)”. (D1,

03. 03:10-03:25)

15

Zitatsprecher:

„Man kann die Gegenwart schreiben, indem man sie aufzeichnet – im

selben Maße, wie sie uns ‚überfällt‘ (oder vorfällt, vor Augen tritt,

oder zufällt, zu Ohren kommt“. (V54)

O-Ton Schabacher gs8:

„Er wollte das auch durchdringen, was es heißt, einen Roman zu

schreiben, und ich glaube, daß man eher sagen müßte, Barthes hat

eine unglaubliche Vorliebe gehabt für die Praxis des Schreibens, also

es ging vielleicht wenige darum zu sagen, er selbst wollte einen

Roman schreiben, sondern er wollte vor allen Dingen darüber

sprechen, wie man einen Roman schreibt, und der Haiku, die kurze

Schreibweise, das Schreiben in Fragmenten, das sind ja alles Sachen,

die er in vielen Texten schon praktiziert hat“. (4:30-4:59)

Schüler:

Soll ich aus meinem Leben schöpfen?

O-Ton Barthes 7:

„La vie – qui est texte à la fois enchainé, filé, succesif, et texte

superposé, histologie de textes en coupe, palimpseste -, et d’un geste

sacré: marquer”. (D1, 03. 05:37-06:40)

Zitatsprecher:

„Das Leben – das ein verketteter, zusammenhängender, fortlaufender

Text und zugleich eine Schichtung histologischer Textschnitte, ein

Palimpsest ist – wird mittels einer sakralen Geste eingeschnitten,

markiert“. (V 54)

16

O-Ton Schimmang js7:

„Was er dort über das Schreiben, über den Schreibprozeß, über die

Vorbereitung des Romans uns nahegebracht hat, das finde ich

großartig, also es ist selten jemand so wirklich in den Schreibprozeß

eingedrungen, also nicht als jemand, der über Literatur spricht, über

Literatur, die schon vorliegt, sondern der uns erklärt, was der

Schreibprozeß eigentlich ist und was wir da machen, das denke ich

ist für lange Zeit unübertroffen“ (10:17-10:47)

Autor:

Ich empfinde Scheu oder Scham beim Lesen der Klatschgeschichten

über Barthes, über seinen Körper, seine Begierden. Auch wenn es zu

ihm gehört, auch die Erfahrung, nicht mehr attraktiv zu sein für die

jungen Männer, auf dem Markt der Körper zu versagen.

Schüler:

Und woran erkenne ich, daß ich ein Dichter werde?

O-Ton Barthes 17:

„Ceci purrait etre la définition de la Poésie: elle serait en somme le

langage du réel, en ce qu’il ne plus se diviser ou ne s’interesse pas à

se diviser davantage.“ (D1, 10. 52:58-53:14)

Zitatsprecher:

„So könnte die Definition der Poesie lauten: Letztlich wäre sie die

Sprache des Realen, insoweit es nicht weiter teilbar ist oder an seiner

weiteren Zerlegung nicht interessiert ist“. (V 134)

17

O-Ton Schabacher gs9:

„Diese Kategorie des Zwischenraums ist ja eine, die ihm sehr wichtig

ist, man könnte zum Beispiel sagen, daß dieses Schreiben in

Fragmenten, was er immer wieder praktiziert, auch so etwas ist, wo

er dann so schön sagt, ich schreibe in Fragmenten, jedes Fragment ist

quasi der Nachbar anderer Fragmente oder der Zwischenraum der

anderen Fragmente und was bedeutet es sozusagen reinen

Zwischenraum zu produzieren, (…) er sieht sich immer in einem

Raum der sozusagen nicht im Vollen ist, sondern der immer an der

Kante, am Rand, im Zwischen“ (16:40-17:10)

Zitatsprecher:

„Platz des Schriftstellers: der RAND? Deren gibt es viele: Am Ende

wird selbst der Anspruch auf MARGINALITÄT anmaßend – Ich

ziehe ihm das BILD des ZWISCHENRAUMS vor: SCHRIFTSTELLER

= der Mensch des ZWISCHENRAUMS.“ (V 445)

O-Ton Schimmang js8:

„Daß der Schriftsteller ein Mann des Zwischenraums ist, das ist

etwas, was mir sehr gut gefällt, weil ich diese Ansicht teile“ (1:42-

1:50)

O-Ton Barthes 10:

„On peut dire que la civilisation grégaire d’aujourd’hui se définit par

le rejet (agressif) de la nuance.” (D1, 07. 02:54-03:10)

Zitatsprecher:

„Man kann sagen, daß sich die Medienzivilisation durch die

(aggressive) Ablehnung aller Zwischentöne definieren läßt.“ (V 93)

18

Autor:

Barthes war jemand, der immer zu früh kam, lese ich, der an

Langeweile litt, der abends in den Pariser Brasserien Menschen

beobachtete.

O-Ton Schabacher gs10:

„Die Kategorie der Abweichung, des Driftens, nicht zum Stereotyp

zu werden, der es also auch genossen hat, wenn die Leute wieder

versucht haben, ihn wieder zum Meister von XY zu machen, also

gerade in dieser Phase, wo er sich viel mit dem Strukturalismus

auseinandergesetzt hat, hat er es glaube ich mit einem

Augenzwinkern auch gesehen, wenn die Leute ihn als

Strukturalisten adressierten, und er sich aber selbst schon auf andere

Felder begeben hatte“. (2:14-2:44)

Schüler:

Was beschreiben?

O-Ton Barthes 9:

„L’eté capturé dans la chambre est plus intense: il est capturé comme

absence, capturé dehors. C’est dans l’intérieur, là d’où il est repoussé

que l’eté est le plus fort: il triomphe dehors et presse – son intensité:

Intensité de l’indirect; comme quoi l’indirect est la voie meme de

communication, de manifestation de l’Essence”. (D1, 05. 41:53-42:30)

Zitatsprecher:

„Der in dem Zimmer gefangene Sommer ist intensiver: Er ist darin

gefangen als abwesender, insofern er draußen ist. Am stärksten ist

der Sommer im Inneren, dort, von wo er verdrängt wurde: Er

19

triumphiert draußen und übt von dort Druck aus – seine Intensität:

INTENSITÄT DES INDIREKTEN; was besagt, daß der Umweg der

eigentliche Weg der Mitteilung, der Erscheinung des Wesens ist.“ (V

78)

O-Ton Schimmang js9:

„Weil er ein Mensch vom Rande ist, auch schon durch seine

Biographie, ein Quereinsteiger gewissermaßen, der ja nicht diese

übliche französische akademische Ochsentour gemacht hat“ (00:39-

00:58)

O-Ton Barthes 11:

„D’où nécessité aujourd‘hui de lutter pour la Poésie: la Poésie devrait

faire partie des Droits de l’Homme; elle n’est pas décadente, elle est

subversive et vitale.” (D1, 07. 06:46-07:05)

Zitatsprecher:

„Daher ist es heute notwendig, für die DICHTUNG zu kämpfen: Die

POESIE sollten zu den ‚MENSCHENRECHTEN‘ gehören; sie ist

nicht ‚dekadent‘, sondern subversiv: subversiv und vital.“ (V 94)

Autor:

Ich kann mir gut vorstellen, wenn berichtet wird, daß Roland Barthes

die Gabe besaß, seine Gesprächspartner klug zu machen, ihnen das

Gefühl zu geben, jemand zu sein.

O-Ton Schabacher gs11:

„Was man ihm anmerkt, daß er sehr gerne weitergibt“. (9:54-9:58)

20

Schüler:

Kann ich überhaupt etwas Wahres schreiben?

O-Ton Barthes 21

„Au plan de l’écriture: Moment de vérité = solidarité, compacité,

fermeté de l’affect et de l’écriture, bloc intraitable. Le Moment de

vérité n’est pas dévoilement, mais au contraire surgissement de

l’ininterprétable, du dernier degré du sens, de l’après quoi plus rien à

dire“. (D1, 13. 52:24-52:58)

Zitatsprecher:

„Auf der Ebene des Schreibens: AUGENBLICK DER WAHRHEIT =

Verbundenheit, Dichte, Geschlossenheit von Affekt und Schrift,

unerbittlicher Block. DER AUGENBLICK DER WAHRHEIT ist keine

Enthüllung, sondern vielmehr Auftauchen des Uninterpretierbaren,

des letzten Grades des Sinns, dessen, wonach es nichts mehr zu sagen

gibt“. (V 178)

O-Ton Schimmang js10:

„Seine Kunst war ganz gewiß auch, sozusagen Vorschläge zu

machen und zu sagen, jetzt fangt was damit an, ich sag euch nicht,

was, weil ich weiß es vielleicht selbst nicht, oder ihr müßt was

anderes damit anfangen, als ich damit anfangen würde.“ (32:55-

33:10)

O-Ton Barthes 13:

„Créer (poetiquement), c’est vider, exténuer, faire mourir le choc (le

son) au profit du Timbre.” (D1, 07. 13:16-13:32)

21

Zitatsprecher:

„(Poetisch) schöpferisch sein heißt den Schock (den Ton) zugunsten

der KLANGFARBE verströmen, schwinden, sterben lassen.“ (V 96)

O-Ton Schabacher gs12:

„Ein kleines Detail, ein Riß, eine Störung, etwas, das sozusagen in

irgend einer Weise nicht paßt, und dieses Nicht-Passende, dieses

Störende, das, was nicht dazugehört, das ist immer wieder das, was

Interesse auslöst, was überrascht, und insofern wäre das ein

Moment, was auch für das Schreiben extrem wichtig wäre“ (18:51-

19:10)

O-Ton Barthes 14:

„Par exemple, on ne m’empechera pas de préférer la facon don’t

Proust parle du chagrin à celle don’t Freud parle du deuil.” (D1, 07.

38:13-38:27)

Zitatsprecher:

„Zum Beispiel werde ich immer die Art, wie Proust vom Kummer

spricht, der Art, wie Freud von der Trauer spricht, vorziehen.“ (V

101).

O-Ton Schimmang js11:

„Ein zentraler Begriff von ihm ist ja die Schreibweise, also daß ein

Autor sich durch eine Schreibweise auszeichnet, und das ist etwas

anderes als zu sagen, daß ein Autor einen bestimmten Stil hat (…),

daß sein Umgang mit der Sprache ihm auch in gewisser Weise

vorgibt und steuert, was er schreibt, der Autor setzt sich ja nicht hin,

das habe ich durch Barthes (…) verstanden, um zu sagen, ich möchte

jetzt etwas sagen und ich möchte etwas vermitteln, sondern der

22

Autor schreibt einfach, und er hat eine bestimmte Schreibweise und

das steuert auch in gewisser Weise das, was er sagt (5:19-6:02)

O-Ton Barthes 15:

„Quelque chose qui n’est pas le silence, qui ne signifie pas le silence

(lui-meme toujours signifiant), mais – différence subtile – le son

coupé, la parole au loin, présente et effacée, là sous le gommage

inaudible sans que ce soit par confusion, brouillage, brouhaha;

l’inaudible pur, qui ne provient pas d’un bruit; muet: sourd-et-muet:

toute la peinture; l’image est ainsi muette avec force.” (D1, 08. 33:54-

34:46)

Zitatsprecher:

„Etwas, das nicht das Schweigen ist, das nicht das Schweigen

bedeutet (das als solches immer bedeutsam ist), sondern – ein feiner

Unterschied – der gedämpfte Ton, das Sprechen von ferne, präsent

und ausgelöscht, unter der Lösung präsent, unhörbar, aber nicht

wegen Stimmengewirrs, Tonstörung, Tumult; das reine Unhörbare,

aber nicht wegen eines Lärms; stumm: taub-und-stumm; die ganze

Malerei, das BILD ist sozusagen intensiv stumm.“ (V 111)

O-Ton Schabacher gs13:

„Und das ist letzten Endes so seine große Idee, zwischen alles immer

noch was einzuschieben zu wäre, und das praktiziert er teilweise ja

auch mit großem Genuß, daß man sich immer sagt, aber das ist ja

noch ein Einschub, und dann das sozusagen nicht ausschachtet,

sondern plötzlich an einer Stelle einfach abschneidet“ (25:46-26:04)

23

Autor:

Den verzweifelten, trauernden, alten, müden, nicht mehr

begehrenswerten Roland Barthes sehe ich hinter seinem Schreiben

verschwinden.

Schüler:

Und wenn ich Zweifel habe?

O-Ton Barthes 24:

„Pour l‘écrivain, l’écriture est d’abord (d’abord et sans cesse) une

position absolue de valeur: introjection de l’Autre sous les espèces

d’un langage essentiel. Quel que soit le devenir de ce sentiment (et il

n’est pas simple), l’écrivain possède, est constitué par une croyance

narcissique première – J’écris, donc je vaux, absolument, quoi qu’il

arrive. Classiquement, on appellerait cette croyance: l’Orgueil: il y a

un orgueil de l’écrivain, et cet orgueil est un primitif.” (D2, 03. 15:24-

16:16)

Zitatsprecher:

„Für den Schriftsteller ist das Schreiben zunächst (und dauerhaft)

eine Position von höchstem Wert: Introjektion des ANDEREN in

Gestalt einer essentiellen Sprache. Wie immer dieses Gefühl

entstanden sein mag (das ist nicht einfach), der Schriftsteller verfügt

über einen ursprünglichen narzißtischen Glauben, ohne den er nicht

auskäme – Ich schreibe, also habe ich Wert, unbedingt, was auch

geschieht. Klassisch würde man diesen Glauben als Stolz bezeichnen;

es gibt einen Schriftstellerstolz, und dieser ist ursprünglich.“ (V 255)

24

O-Ton Schimmang js12:

„Und der Körper schreibt selbstverständlich auch in dem

Augenblick, um ein Beispiel nur zu nennen, wenn man Szenarien

entwirft oder Figuren schafft, das ist wie ich finde kein primär

geistiger Prozeß“ (7:38-7:56)

O-Ton Schabacher gs14:

„Ja diese Frage der Körperlichkeit ist natürlich eine heißdiskutierte

bei Barthes, immer gewesen“. (7:04-7:10)

O-Ton Barthes 25:

„J’écris, donc je m’assure moi-meme (idéal du moi), mais en meme

temps je constate que: non, ce que j’ai écrit n’est pas tout moi; il y a

un reste, extensif à l’écriture, que je n’ai pas dit, qui fait ma valeure

entière, et qu’il me faut à tout prix dire, communiquer,

monumentaliser, écrire: Je vaux plus que j’ai écrit.” (D2, 03. 21:28-

22:22)

Zitatsprecher:

„Ich schreibe, also versichere ich mich meiner selbst (Ichideal), doch

gleichzeitig stelle ich fest: nein, das, was ich geschrieben habe, bin

nicht ganz ich; es bleibt ein ausgedehnter Rest dessen, was ich nicht

gesagt habe, ein Ungesagtes, das meinen ganzen Wert ausmacht, und

das ich um jeden Preis sagen, mitteilen ‚monumentalisieren‘,

schreiben muß: ‚Ich bin mehr wert als das, was ich schreibe.‘“ (V 256)

Autor:

Susan Sontag beschreibt Roland Barthes als kindlich, voller Wehmut,

mit einem rundlichen Körper, sanfter Stimme, schöner Haut und

ganz auf sich bezogen. (Li 102)

25

O-Ton Schabacher gs15:

„Das Wertende der Schreibweise, das ist ja auch was, was ihm immer

sehr wichtig ist, daß der Geschmack, daß dieses ich liebe ich liebe

nicht ich mag ich mag nicht, daß das irgendwie Bedeutung hat fürs

eigene Schreiben“. (12:52-13:03)

O-Ton Barthes 16:

„J’entends par effet de réel l’évanouissement du langage au profit

d’une certitude de réalité: le langage se retourne, s‘énfouit et

disparait, laissant à nu ce qu’uil dit. En un sens, effet de réel =

lisibilité”. (D1, 10. 01:09-02:19)

Zitatsprecher:

„Ich verstehe unter ‚Wirklichkeitseffekt‘ das Verlöschen der Sprache

zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück,

verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt

übrigbleibt. In gewissem Sinne ist der Wirklichkeitseffekt =

Durchsichtigkeit.“ (V 126)

O-Ton Schimmang js13:

„Barthes war jemand, der einfach uns gezeigt hat und selber

neugierig darauf war, nicht nur, was wir mit der Sprache machen

können, sondern auch, was dieses System Sprache mit uns macht“

(23:02-23:20)

Schüler:

Einfach eine Geschichte beginnen?

26

Zitatsprecher:

„An der Haltestelle der Linie 89 vor dem Senat: zwei Frauen und ein

kleiner Junge, den sie hinter sich herziehen; die eine trägt ein

kaftanartiges weißes Hemd. Sie geht mit übertrieben wiegender

Bewegung. Damit diese Begebenheit in meinen Augen notiert zu

werden verdient, muß sie gleichsam einen Umweg nehmen; ich muß

mir klarwerden, daß ich, um das Übertriebene dieses Gehens

darzustellen, sagen müßte: Wenn ein Mann so ginge wie sie, würde

man sagen: er geht wie eine Frau!“ (V 159)

O-Ton Schimmang js14:

„Auf der anderen Seite ist in dieser Stelle natürlich auch derjenige zu

erkennen, jedenfalls im Nachhinein, der kryptisch über seine

Homosexualität spricht, weil er sich sein ganzes Leben lang

verpflichtet fühlte, sie zu verbergen gegenüber seine Mutter, mit der

er sein Leben lang zusammengelebt hat“ (27:50-28:12)

Autor:

Nach dem Tod seiner Mutter hat Barthes mit dem „Tagebuch der

Trauer“ versucht, Abschied zu nehmen, aber das Leben ohne sie

scheint ihm nicht mehr zu glücken, nicht einmal das Schreiben ist ein

Ausweg.

Schüler:

Und wenn ich wie ein Maler werde? Gedichte schreibe?

O-Ton Barthes 18:

„Il ne peut y avoir de vérité générale: c’est ce que dit le haiku, haiku

après haiku.” (D1, 11. 24:03-24:11)

27

Zitatsprecher:

„Es kann keine allgemeine Wahrheit geben: das sagt das Haiku, ein

Haiku nach dem anderen.“ (V 142)

O-Ton Schabacher gs16:

„Es geht ihm nicht darum, Wissen zu vermitteln, ihm geht es darum

zu zeigen, wie Dinge gemacht sind“ (10:17-10:22)

O-Ton Barthes 20:

„Par ce que cette radicalité du concret désigne ce qui va mourir: plus

c’est concret, plus c’est vivant, plus cela va mourir”. (D1. 13. 46:23-

46:44)

Zitatsprecher:

„Weil diese Radikalität des Konkreten dasjenige bezeichnet, was

sterben wird: Je konkreter es ist, desto lebendiger, und je lebendiger,

desto mehr wird es sterben“. (V 177)

O-Ton Schimmang js15:

„Man begibt sich ja sozusagen in die Szenerie, die man beschreibt

selbst mit hinein mit seinem ganzen Körper und deshalb schreibt der

Körper die Bücher“ (8:11-8:20)

Schüler:

Und deswegen muß ich den Körper in Schreibstimmung bringen?

O-Ton Barthes 26:

„Une epreuve concrète, pratique: la conduite, pàs à pàs, de l’Ecrire

(ècrire l’objet choisi); d’où la nécessité d’organiser sa vie en fonction

du travail d’écriture et de surmonter les mille traverses, extérieures

28

et mentales, de cet accomplissement; c’est l’epreuve du Temps: la

Patience.” (D2, 03. 01:29:01-01:29:44)

Zitatsprecher:

„Eine konkrete, praktische Prüfung: das SCHREIBVERHALTEN; die

Fähigkeit, beim Schreiben des gewählten Gegenstandes ‚einen Fuß

vor den anderen zu setzen‘; daher die Notwendigkeit, sein Leben

gemäß den Anforderungen des Schreibens zu organisieren und die

tausend äußeren und geistigen Hindernisse, die sich der Ausführung

dieser Arbeit entgegenstellen, zu überwinden; das ist die Prüfung

der ZEIT: die GEDULD.“ (V 272)

O-Ton Schabacher gs17:

„Er hat ja auch seine Tagesabläufe so organisiert, daß er nicht nur

Zeit fürs Schreiben hatte, sondern auch für das Kritzeln, auch für das

Malen, auch für das Klavierspielen“. (7:40-7:46)

Schüler:

Wie ist mein Arbeitstag?

O-Ton Barthes 34:

„Le problème de l’Horaire, c’est en effet de le tenir, car sa régularité

meme – sans quoi il ne serait rien – est ruinée, menacée par des

dérangements (c’est à dire par les autres: Ci-git moi, tué par les

autres)”. (D2, 08. 47:03-47:42)

Zitatsprecher:

„Das Problem des Stundenplans besteht nun in der Tat darin, ihn

einzuhalten, denn ohne seine Regelmäßigkeit ist er nichts. Was ihn

29

zunichte macht, was ihn bedroht, sind Störungen (= die anderen:

‚Hier ruhe ich, getötet von den anderen‘)“. (V 376)

Autor:

Der schwache Mensch Roland Barthes ist mir nah, seine

Empfindlichkeit, sein Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, seine

Freiheit zu haben. Er fühlt sich oft verfolgt von Bewunderern und

Anhängern. Er sucht die Nähe der Menschen, aber will sich nicht

festlegen.

O-Ton Schimmang js16:

„Interessant ist ja bei Barthes, daß er sozusagen jeden Auftrag, jede

Anfrage, ob er nicht hier oder dort etwas schreiben wollte oder

darüber etwas schreiben wollte, angenommen hat, also ihm war

sozusagen alles ein Anlaß“ (13:59-14:13)

Schüler:

Und wenn ich es nicht schaffe?

O-Ton Barthes 33:

„Face à l’exigence de l’Oeuvre, le corps de l‘écrivain se sent démuni,

insuffisant, impuissant à trouver une justesse, une équation juste

entre la Phrase et le Corps; le corps se sent à la fois et

contradictoirement endormi, opaque, vaseux, bourbeux, paresseux,

ininventif – il faut le reveiller, l’exiter – et en meme temps il faut

controler l’excitation, qui a tendance à continuer infiniment”. (D2, 07.

30:07-30:50)

30

Zitatsprecher:

„daß sich der Körper des Schriftstellers gegenüber den

Anforderungen, die das Werk stellt, ohnmächtig, unzulänglich fühlt,

unfähig, ein rechtes Maß zu finden, eine Balance zwischen dem SATZ

und dem KÖRPER; der Körper fühlt sich schläfrig,

undurchdringlich, ‚unwohl‘, morastig, schlaff, uninspiriert – man

muß ihn wecken, erregen –, doch zugleich gilt es im Gegensatz dazu

die Erregung, die sich tendenziell unendlich fortsetzt, unter

Kontrolle zu halten“. (V 351)

O-Ton Schabacher gs18:

„Also er greift ja alles auf vom Citroen DS über den Striptease über

das Gesicht der Garbo über Pommes frites und Beefsteak, was es

alles gibt, Omo, Persil alles kommt vor, also Werbung, gleichzeitig ist

es natürlich so, daß er sich immer sehr stark mit der Machart dieser

Sachen beschäftigt hat, also er hat eben auch einen Text über eine

Nudelwerbung von Panzani“. (8:34-9:00)

Schüler:

Was ist die wichtigste Eigenschaft, die ich brauche?

O-Ton Barthes 35:

„On peut penser par inspiration, on ne peut écrire que par labeur.”

(D2, 08. 52:11-52:19)

Zitatsprecher:

„Zum ‚Denken‘ mag Inspiration genügen, zum Schreiben braucht

man Ausdauer.“ (V 377)

31

Autor:

Barthes hat eben nicht offen über seine sexuelle Orientierung

geschrieben, über seinen Körper, über seine Jagd nach Befriedigung,

über sein Altern, sondern schwebt schreibend darüber hinweg,

wendet sich immer neuen Themen zu.

O-Ton Schimmang js17:

„Er hat das auch sehr gerne gemacht und das macht auch am Ende

natürlich die auf den ersten Blick Disparatheit seines Werks auch

aus“ (14:13-14:30)

O-Ton Barthes 28:

„Désir, à un moment de la vie (je ne décide pas lequel): ce n’est pas

forcément la vieillesse), d’un livre où l’on va mettre Tout: le Tout de

sa vie, de ses souffrances, de ses joies, et donc, bien sur, le tout de son

monde et peut-etre le tout du monde“. (D2, 04. 43:09-43:37)

Zitatsprecher:

„Irgendwann im Leben (ich entscheide nicht, zu welcher Zeit; nicht

unbedingt im Alter) entsteht das Begehren nach einem Buch, in das

man ALLES legen wird; das GANZE seines Lebens, seiner Leiden,

seiner Freuden und natürlich das Ganze seiner Welt und vielleicht

das Ganze der Welt“. (V 287)

O-Ton Schabacher gs19:

„Exprimer, das eben einerseits ganz simpel heißt, einen Saft

ausdrücken, und sich ausdrücken“ (22:49-22:59)

32

Schüler:

Und wenn ich verlorengehe?

O-Ton Barthes 29:

„Seule la littérature ne puisse en elle-meme aucun secours, ne loge

pas en elle-meme, est à la fois jeu et désespoir. Ce default

d’indépendance, ce default de toute possibilité d’auto-assurance

vient de ce que la littérature est langage, et langage pur, participant

entièrement au statut du langage, ordre sans preuve; pleine mer sans

repère”. (D2, 05. 07:11-07:39)

Zitatsprecher:

„Nur das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß

und Verzweiflung. Dieser Mangel an Unabhängigkeit, dieser Mangel

an Möglichkeit der Selbst-Sicherheit kommt daher, daß die Literatur

Sprache ist, und reine Sprache, die ganz am Status der Sprache

teilhat, Ordnung ohne Beweis ist, offenes Meer ohne

Orientierungspunkt.“ (V 300)

O-Ton Schimmang js18:

„Was mich also an dieser Figur Barthes interessiert, ist auch die

Tatsache, daß er, nachdem er es gewissermaßen geschafft hat (…),

daß er dann plötzlich gesagt hat, ich möchte gerne etwas anderes

machen (…) und sein Phantasma war dann der Roman, den er

schreiben wollte“ (19:52-20:48)

Zitatsprecher:

„Das Buch, der heilige Ort der Sprache, wird entheiligt, verflacht; es

verkauft sich, gewiß, so wie Tiefkühlpizza, aber es hat nichts

33

Würdevolles mehr. Die Autoren selbst, mitgerissen von dieser

PROFANEN VERDINGLICHUNG, glauben nicht mehr an das Buch.

Sie verstehen es kaum noch als GROSSES HEILIGES OBJEKT“. (V

281)

O-Ton Schabacher gs20:

„und ich glaube, dagegen muß der Text dann gleichzeitig wieder

opponieren, er muß einerseits überdauern, er muß andererseits in

Bewegung bleiben“. (20:57-21:04)

Autor:

War der Körper, der diese Vorlesungen und Bücher voller Freiheit

geschrieben hat, der dem Schreiben Freiheit gegeben hat, so unfrei?

Und was würde das ändern? Für mich sind die „Fragmente einer

Sprache der Liebe“ nicht nur das Resultat einer unglücklichen Liebe

zu einem anderen Mann.

Schüler:

Und was ist mein Ziel?

O-Ton Barthes 30:

„La Maitrise serait plutot un appauvrissemenet dirigé, une économie

épicurienne des plaisirs qu’on est apte à donner (et à se donner) en

écrivant”. (D2, 05. 33:56-34:11)

Zitatsprecher:

„‘MEISTERSCHAFT‘ wäre eher eine kontrollierte Verarmung, eine

epikureische Ökonomie der Lüste, die man als Schriftsteller zu geben

(und sich zu geben) vermag.“ (V 305)

34

O-Ton Schimmang js19:

„Und er steht eben innerhalb der damaligen Zeit und der damaligen

Meisterdenker doch in gewisser Weise auch wieder am Rande oder

um ihn selber zu zitieren er tummelt sich dazwischen, er versteckt

sich auch teilweise“ (32:10-32:28)

Autor:

Einsamkeit, Bücher, Männer, Freiheit, Getriebenheit, Roland Barthes

hat nicht versucht, die Widersprüche zu leugnen, auch in seinem

Leben nicht.

O-Ton Barthes 31:

„On écrit un livre sur l’Amour pour se rapprocher de l’etre aimé,

pour l’inclure dans l’oeuvre, mais ce livre, précisement, l’etre aimé ne

l’aime pas, parce qu’il ne laisse pas parler; à peine s’il le lit, avec

mauvaise humeur, ressentiment; l’Oeuvre d’amour sépare encore

davantage les deux partenaires; l’Oeuvre a triomphé”. (D2, 05.

01:17:20-01:18:05)

Zitatsprecher:

„Man schreibt ein Buch über die Liebe, um dem geliebten Wesen

nahezukommen, um es ins Werk einzuschließen, doch ebendieses

Buch liebt das geliebte Wesen nicht, weil es ihm keine Stimme

verleiht; kaum hat es das Buch gelesen, üble Laune, Verbitterung,

das WERK der Liebe trennt die beiden Partner noch mehr

voneinander; das WERK triumphiert“. (V 317)

O-Ton Schabacher gs21:

„Zuzutrauen ist ihm das, also auch da wieder zu gucken, was man

aus dem machen kann, was da ist“ (12:15-12:21)

35

O-Ton Barthes 32:

„Substituer à la charité (où, si ce mot gene, à la générosité) (etre

disponible à tous) une autre instance, qui participe, elle aussi, d’un

certain religieux, c’est-à-dire d’un lien fondamental à la nature, au

monde – et qui est l’Ecriture”. (D2, 07. 03:05-03:39)

Zitatsprecher:

„An die Stelle der Nächstenliebe (oder, wenn Sie das Wort stört, an

die Stelle der Großzügigkeit) (allen zugänglich sein) eine andere

Instanz setzen, die ebenfalls ‚religiöse‘ Bezüge hat, das heißt in einer

elementaren Verbindung zur Natur, zur Welt steht – nämlich das

Schreiben“. (V 347)

O-Ton Schabacher gs22:

„Die Schmiedung ist etwas, wo er dann noch einmal sehr deutlich

sagt, man muß Gegensätze sozusagen bringen, damit man überhaupt

etwas sagen kann.“ (23:47-23:56)

Schüler:

Was für ein Mensch muß ich sein?

O-Ton Barthes 36:

„Le travail de l’Oeuvre est donc une conduite de type initiatique

pour atteindre non le succès, mais ce qu’on appellera (compte tenu

de l’existence nietschéenne du mot) une Vie Noble”. (D2, 08.

01:00:04-01:00:27)

36

Zitatsprecher:

„Die Arbeit am WERK ist also ein Verhalten von der Art einer

Initiation, nicht um den Erfolg zu haben, sondern das, was man (mit

einem Blick auf das Vorkommen dieses Wortes bei Nietzsche) ein

VORNEHMES LEBEN nennen kann.“ (V 378)

(O-Töne Barthes 19 u. 27, ursprünglich mitgezählt, existieren nicht.)

37