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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg EBERHARD SCHOCKENHOFF Wie frei ist der Mensch? Zum Dialog zwischen Hirnforschung und theologischer Ethik Originalbeitrag erschienen in: Christof Gestrich u.a. (Hrsg.): Freier oder unfreier Wille? Berlin: Wichern-Verl., 2005, S. [53] - 71

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

EBERHARD SCHOCKENHOFF Wie frei ist der Mensch? Zum Dialog zwischen Hirnforschung und theologischer Ethik Originalbeitrag erschienen in: Christof Gestrich u.a. (Hrsg.): Freier oder unfreier Wille? Berlin: Wichern-Verl., 2005, S. [53] - 71

VI. EBERHARD SCHOCKENHOFF

Wie frei ist der Mensch?Zum Dialog zwischen Hirnforschung

und theologischer Ethik

Es gehört zur Grunderfahrung des Menschen, dass er sich als frei erlebt und seinHandeln auf die Selbstbestimmung seines eigenen Willens zurückführt; sofern wirkeinem äußeren oder inneren Zwang unterliegen, erfahren wir uns selbst alsUrheber unserer Handlungen. Obwohl die Erfahrung der Freiheit unbezweifelbarin unserem Selbsterleben verankert ist, bleibt sie ein zweideutiges Phänomen, dawir uns in unseren Willensentscheidungen von vielfachen inneren und äußerenFaktoren abhängig fühlen. Inmitten einer komplexen Gemengelage von Wün-schen, Empfindungen, Triebregungen, emotionalen Ich-Zuständen und Umwelt-einflüssen, von Fremderwartungen und gesellschaftlichen Rollenmustern lässt sichdas „Ich selbst" meiner Entscheidungen und Willensakte oftmals nicht eindeutigausmachen.

Vertrauen wir uns in dieser verwirrenden Ausgangslage unserer Sprache an, umsichere Auskunft über die Bedeutung des Wortes „frei" zu gewinnen, so stoßen wirauf eine kaum geringere Bedeutungsvielfalt. Wir verwenden die Begriffe „frei" oder„Freiheit" in Zusammenhängen, die kaum etwas miteinander zu tun haben odersich in ihrer Bedeutung sogar direkt ausschließen. Einen Gefangenen nennen wirunfrei, weil sein äußerer Handlungsspielraum auf ein Minimum beschränkt ist,doch kann er in der Weise, wie er sich zu seiner Situation verhält, ein hohes Maßinnerer Freiheit beweisen. Ähnliches gilt für einen Kranken; der Radius seinerLebensführung ist aufs Äußerste begrenzt; doch kann er darin, wie er sein Schick-sal annimmt, seine Freiheit unter Beweis stellen. Auch der Sklave, der seinemBegriff nach unfrei ist, kann im Bereich des Denkens frei sein; so schickt Paulusden entlaufenen Sklaven Onesimus zu seinem christlichen Herrn zurück, undermahnt sie beide, sich in der Freiheit des Glaubens gegenseitig zu achten (vgl.Phlm 8-20). Umgekehrt nennen wir einen Menschen, der nicht ans Krankenbettgebunden ist oder nicht im Gefängnis sitzt, frei, doch kann derselbe Mensch in derArt seiner Lebensführung einen höchst unfreien Eindruck erwecken. Einemanderen erlauben es die äußeren Lebensumstände, in schrankenloser Willkür zuleben; er kann tun oder lassen, was er will und sich jeden Wunsch erfüllen. Aufden ersten Blick neigen wir dazu, in der schier unendlichen Vielfalt äußererHandlungsmöglichkeiten das Wesen der Freiheit zu sehen. Doch dann entdeckenwir: Dieser Parvenü ist gar nicht innerlich frei, denn seine Triebe und Leiden-schaften sind Herr über ihn. Wollten wir dagegen den eigentlichen Sinn derFreiheit in das Freiwerden von unseren Wünschen, Empfindungen und Strebun-

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gen verlegen, so blickt uns plötzlich die Unfreiheit in einer ganz anderen Gestaltan. Wer nach mühsamer Selbsterziehung von sich sagen kann, er sei gegenübel -

seinem Ehrgeiz, seinem Streben nach Macht und den Verlockungen des Reich-tums frei geworden, der wird sich zugleich fragen müssen, ob er am Ende nicht ineine strengere Knechtschaft geraten ist: in die Unfreiheit eines rigorosen mora-lischen Anspruchs oder eines alle Spontaneität tötenden Über-Ichs.'

Die Bedeutungsvielfalt, die dem Freiheitsgedanken anhaftet, zeigt sich indiesen Beispielen geradezu als Janusköpfigkeit. Die Freiheit blickt uns mit ent-gegengesetzten Gesichtern an; was von einer bestimmten Warte aus als frei er-scheint, zeigt sich von einem anderen Standpunkt aus als unfrei. Freiheit scheintschon auf der sprachlichen Ebene ein schillernder Begriff zu sein, der sich in vielenFacetten zeigen kann, je nach dem, unter welchem Gesichtspunkt wir sie betrach-ten.

1. Die Willensfreiheit in den neurowissenschaftlichen Theorien der Gegenwart

1.1 Ergebnisse der modernen Hirnforschung

Aufgrund ihrer unbestreitbaren Fortschritte ist es den Neurowissenschaften ge-lungen, immer speziellere Strukturen und Funktionsabläufe im Gehirn zu unter-scheiden, die für das subjektive Erleben und die Bewusstseinsvorgänge des Men-schen von hoher Bedeutung sind. Neurobiologische Theorien sind heute in derLage, die neuronalen Korrelate bestimmter mentaler Phänomene mit hoherGenauigkeit zu beschreiben; insbesondere können visuelle Wahrnehmungen wiedas Farberleben, Speicherungs- und Gedächtnisleistungen sowie das Schmerz-empfinden mit großer Wahrscheinlichkeit synchron ablaufenden neuronalenOszillationen in einzelnen oder mehreren Hirnregionen zugeordnet werden. Demlimbischen System gilt in der Debatte um die menschliche Willensfreiheit insofernbesondere Aufmerksamkeit, als es diejenigen Zentren umfasst, die im Gehirn ander Steuerung des Gedächtnisses, an der emotionalen Bewertung der Folgenunseres Handelns und an der Vorbereitung von Entscheidungen beteiligt sind.Ebenso sind wir über die Funktion der cortiko-thalamischen Schleifen und ihreEntkoppelungs- und Rückkoppelungsprozesse recht gut unterrichtet; die Be-deutung dieser Erkenntnisse für die Vorgänge der Informationsverarbeitung imGehirn und die Unterscheidung von Schlaf-, Wach- und Traumphasen kannnicht mehr ernsthaft bezweifelt werden. Den so genannten Rückkoppelungs-schleifen kommt hohe Bedeutung für die Steuerung unserer Empfindungen undGefühle beim Aufbau der zeitübergreifenden Identität der Person zu; durch siewerden die Empfindungen, Wünsche und Erwartungen, die unser Verhaltenunbewusst prägen, daran gemessen, ob sie zum Gesamtkonzept der Person passenoder nicht.

1 Vgl. W. WEISCHEDEL, Skeptische Ethik, Frankfurt a.M. 1976, 113.

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Die Hirnforschung beschränkt sich längst nicht mehr darauf, unser Erlebenund Bewusstsein global im Gehirn zu lokalisieren, sondern es gelingt ihr inzwi-schen, bestimmte Teilleistungen mit hoher Evidenz immer spezifischeren Berei-chen zuzuordnen. Dabei geht sie davon aus, dass die Bewusstseinserlebnisse nichtdurch eine zentrale Instanz im Gehirn hierarchisch reguliert werden (Homunkulus-Theorie), sondern durch parallele Verschaltungen verschiedener Hirnareale vonhöchster Komplexität zustande kommen. Die bildgebenden Verfahren (die sogenannte Positronen-Emissions-Tomographie [= PET] und die Kernspintomogra-phie) können die Stoffwechselprozesse (z.B. den Glukose- und Sauerstoffver-brauch) sichtbar machen, die mit der erhöhten Aktivität von Nervenzellen in denbetreffenden Hirnregionen einher gehen. So entstehen farbige Bilder, die denEindruck erwecken, wir könnten unserem Gehirn gewissermaßen beim Denkenzuschauen und den Prozess begreifen, wie aus Hirnaktivität Bewusstsein, Geist undFreiheit hervorgehen. 2

Der Gebrauch von technomorphen Metaphern - in popularwissenschaftlichenDarstellungen ist vom „Feuern" der Neuronen und von einer Art „Blitzlicht-gewitter" im Gehirn zu lesen - zur Charakterisierung der Hirnaktivität tut einÜbriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Ebenso suggeriert die Rede von einertopographischen Karte, die über die Verknüpfung neuronaler Netzwerke in be-stimmten Hirnarealen und ihre Zuordnung zu genau definierten Erlebnisqualitätenund Bewusstseinsvorgängen Aufschluss gibt, wir wüssten nunmehr wenigstens imGroben, wie unser Bewusstsein funktioniert und wie das, was wir „Freiheit" nen-nen, zustande kommt. Manche Neurowissenschaftler verbinden mit dieser Ent-wicklung die Hoffnung, in naher Zukunft durch immer engmaschigere Zuschrei-bungen das menschliche Bewusstsein in seiner Entstehung und spontanen Tätig-keit vollständig erklären zu können, wobei sie unter „erklären" die Zurückführungmentaler Phänomene auf neuronale Vorgänge verstehen. Die Auseinandersetzungmit dieser radikalen Variante eines so genannten „reduktiven Physikalismus" ist fürdie philosophische und theologische Ethik von besonderer Bedeutung, weil hierdie Grenzen einzelwissenschaftlicher Forschung überschritten und aus empirischenBefunden weit reichende Folgerungen gezogen werden.

1.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Modell eines reduktiven Physikalismus

Ethisch relevante Handlungen, die wir in unserer Alltagssprache auf die rationaleSelbststeuerung der Person und ihre moralische Verantwortung zurückführen,sollen in einer wissenschaftlich exakteren Beschreibungssprache als neuronaleEreignisse interpretiert werden, die zwar im Handelnden lokalisierbar sind, ihmaber nicht mehr in der Weise der verantwortlichen Urheberschaft zugeschriebenwerden können. Das Verhältnis der Person zu „ihren" Handlungen wird dabei inder Weise gedeutet, dass sie als Instanz sittlicher Verantwortung hinter dem „Ort"

2 Vgl. dazu G. ROTH, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a.M. 2003, 9-29.

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verschwindet, an dem die neurophysiologischen Prozesse ablaufen, die der Gehirn-forschung empirisch zugänglich sind. Die Rede von der moralischen Verant-wortung und vom freien Willen des Menschen soll dadurch als eine Illusionentlarvt werden, die uns unser Gehirn vorspiegelt. Während wir uns aufgrunddieser undurchschauten Selbsttäuschung einbilden, die Ausführung unsererHandlungen durch einen Willensentschluss selbst ins Werk zu setzen, verhält essich tatsächlich genau umgekehrt. Sobald sich im Gehirn die notwendigen Erregungsmuster gebildet haben und das Bereitschaftspotential zu solchen Hand-

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lungen aufgebaut ist, erfolgt ihre Auslösung durch einen Mechanismus, den wiruns selbst durch die ihn begleitende Willensäußerung nur sekundär zuschreiben.

a. Die Unterscheidung von Ursachen und GründenWie problematisch diese Überlegung aus der Sicht einer systematischen Ethik ist,lässt sich anhand der erstmals von Plato entwickelten Unterscheidung von Ursa-chen und Gründen verdeutlichen, die für eine philosophische Handlungstheorieunverzichtbar bleibt.' Auf die Frage: „Warum floh Sokrates nicht aus dem Gefäng-nis?" sind zwei Arten von Antworten denkbar: Der erste Antworttypus (A) lautet:Weil seine Sehnen und Knochen sich nicht bewegten. Er fragt nach den Ursachen,welche die Tatsache, dass Sokrates nicht aus dem Gefängnis floh, wie ein beliebi-ges anderes Ereignis in der physikalischen Welt erklären können. Der zweite Typus(B) dagegen erforscht die Gründe, die Sokrates bewogen. In dieser Frageperspektivekann die Antwort heißen: weil er seinem Daimonion folgen und den Gesetzen desStaates gehorchen wollte. Gründe „bestimmen" menschliche Handlungen, aber sie„verursachen" sie nicht. Was menschliche Handlungen von physikalischen Er-eignissen unterscheidet, ist die Struktur ihrer Intentionalität; Menschen handelnum der Ziele willen, die sie durch ihr Handeln erreichen wollen. Ein erkanntes undbewusst gewähltes Ziel „verursacht" ihr Handeln jedoch nicht, denn es bleibtihnen die Möglichkeit, auch anders zu handeln.

Nun ist es offenkundig von hoher Bedeutung für unser Selbstverständnis alshandelnde Subjekte, dass die Unterscheidung von Ursachen und Gründen nichtauf einer Illusion beruht und wir uns in der Annahme nicht täuschen, unserHandeln durch vernünftige Gründe bestimmen zu lassen. Wenn „Gründen" nurinsofern Wirksamkeit im Handeln zugestanden wird, als sie mit wissenschaftlicherkennbaren „Ursachen" konvertibel sind, wird das Phänomen des Handelns undsomit die Fragestellung der Ethik bereits durch die Wahl einer solchen wissen-schaftlichen Beschreibungssprache eliminiert. Wollten wir auf die Frage, warumSokrates nicht aus dem Gefängnis floh, antworten: weil sich in seinem Gehirn keinBereitschaftspotential aufgebaut hatte, so wäre dies zweifellos ein erheblicherwissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt gegenüber dem trivialen Hinweis auf dieMechanik des menschlichen Bewegungsapparates. Trotz ihres höheren wissen-

3 Vgl. PLATO, Phaidon 98 d. 996. Vgl. dazu E. SCHOCKENHOFF, Wer oder was handelt? Überlegungenzum Dialog zwischen Neurobiologie und Ethik, in: G. RAGER (Hg.), Ich und mein Gehirn. Persönli-ches Erleben, verantwortliches Handeln und objektive Wissenschaft, Freiburg/München 2000,239-287.

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schaftlichen Elaborierungsgrades müsste eine solche Auskunft aber noch immer zudem Antwort-Typus A gezählt werden, in dessen Geltungsbereich die Frage nachden Gründen, die Sokrates bestimmten, als sinnvolle Frage überhaupt nicht gestelltwerden kann.

b. Die ungeklärten Prämissen der naturalistischen BasisontologieDas Programm eines naturalistischen Reduktionismus verdankt seine Attraktivitätin hohem Maß dem Umstand, dass es grundlegenden methodologischen Prinzi-pien der modernen Naturwissenschaften zu entsprechen scheint. Oftmals sugge-riert bereits die wissenschaftliche Fragestellung und eine entsprechend formalisierteBeschreibungssprache, unter der moralische Alltagsphänomene dargestellt werden,die theoretische Überlegenheit der dargebotenen Erklärung. Hinzu kommt die tiefsitzende 'Überzeugung vieler Forscher vom nicht-metaphysischen oder gar ontolo-giefreien Charakter wissenschaftlicher Erklärungsversuche, während ihnen Grund-begriffe der philosophischen Handlungstheorie wie Intentionalität, Absichtlichkeitund Zurechenbarkeit gerade aufgrund ihrer ontologischen Implikationen obsoleterscheinen.

c. Die Elimination des Subjekts aus der wissenschaftlichen BeschreibungsspracheDie implizite Option vieler neurowissenschaftlicher Erklärungsmodelle für eineereignisontologische Deutung der kleinsten wissenschaftlich erfassbaren Entitätensowohl des physikalischen Bereichs wie der mentalen Sphäre bringt für die Ethikeine besondere Schwierigkeit mit sich: Werden die Handlungen von Personenebenso wie ihre Überzeugungen, Wünsche und Absichten auf die univoke Vor-stellung neuronaler Ereignisse reduziert, so löst sich nicht nur der Begriff eineskomplexen Handlungsgefüges, sondern auch die ihm zugrunde liegende Vor-stellung einer in ihrem Handeln präsenten Person und ihrer Lebensgeschichte auf.Eine „Handlung" wäre demnach in der wissenschaftlich erfassbaren Welt nur alsSequenz kausal verknüpfter neuronaler Ereignisse, aber nicht mehr als ein inten-tionaler Zusammenhang gegeben. Dass eine wissenschaftliche Theorie zu solchenaus der Sicht der Ethik und unserer lebensweltlich plausiblen Alltagsannahmenkontraintuitiven Konsequenzen führt, qualifiziert sie nicht von vornherein alsfalsch. Angesichts der weit reichenden Konsequenzen, die sich aus ihren ontologi-schen Annahmen ergeben, trägt sie jedoch die Beweislast für diese Implikationen.

Aufgrund der methodischen Verschleierung ihrer eigenen ontologischenVoraussetzungen kommen die meisten neurowissenschaftlichen Theorien, diemenschliche Handlungen als eine Unterart der Klasse natürlicher Ereignisseverstehen, dieser Argumentationsverpflichtung in keiner Weise nach. Vielmehrbewegt sich die reduktionistische Erklärung menschlicher Handlungen, Überzeu-gungen und Zielsetzungen immer schon in zirkulären Annahmen. Wenn Hand-lungen nur als Unterklasse von Ereignissen statt als Alternativbegriff zu ihneneingeführt werden, dann ist in dieser definitorischen Beschreibung bereits jeneunpersönliche Ontologie wirksam, welche durch die wissenschaftliche Analyse desHandlungsphänomens erst begründet werden sollte. Die handlungstheoretischeEliminierung der subjektiven Perspektive des Handelnden und die Verfälschung

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der Wer-Frage (Wer handelt? — Antwort: Ich gehe spazieren; ich treffe Vorbereitun-gen zu einem Mord) zu einer reinen Was-Frage (Was geschieht? — Antwort: Es gibtein Gehen in mir; in mir baut sich eine Bereitschaft zum Töten auf) sind über-haupt nur möglich, wenn die Vorentscheidung zugunsten einer verdinglichtenEreignisontologie bereits gefallen ist. 4

d. Die innere Widersprüchlichkeit des reduktionistischen ProgrammsNeben diesen Vorbehalten lässt sich aus prinzipiellen Gründen bezweifeln, ob diereduktionistische Rückführung mentaler Überzeugungen, praktischer Intentionenoder emotionaler Erlebnisgehalte auf physikalische Basisentitäten im Rahmeneiner neurophysiologischen Theorie des Gehirns überhaupt leistbar ist. Einewissenschaftliche Theorie, die mentale Phänomene aus neuronalen Gegebenheitenerklären möchte, ist selbst ein mentales Phänomen, denn der Vorgang des wissen-schaftlichen Erklärens spielt sich im Bewusstsein ab. Insofern beruht eine reduktiveTheorie des Bewusstseins, die dessen Eigenständigkeit durch die Rückführung aufbasale Vorgänge oder Ereignisse auflösen möchte, auf einer petitio principii, die daszu Erklärende (das menschliche Bewusstsein) im Vollzug des Erklärens (durch dasAufstellen einer reduktionistischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeitbereits voraussetzt. Das Bewusstsein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis desErklärens; es kann daher auch nicht „wegerklärt" oder auf noch ursprünglicherePhänomene zurückgeführt werden. Eine wissenschaftliche Theorie, die einensolchen Versuch unternimmt, zerstört ihre eigenen Voraussetzungen; sie endet ineinem Selbstwiderspruch, da sie ihre notwendigen Entstehungsbedingungen nichtmitreflektiert, sondern nachträglich wieder aufhebt.

Wenn Überzeugungen keine eigenständigen mentalen Zustände des Menschensind, fällt eine wissenschaftliche Erklärung, die diesen Sachverhalt benennt, unterihr eigenes Verdikt. Sie lässt sich nicht mehr durch Argumente begründen, wennman Argumenten und Gründen durch eben diese Theorie jede kausale Wirksam-keit abspricht. Der Philosoph Hans Jonas illustriert die Gefahr eines so genanntenperformativen Selbstwiderspruchs im Vollzug der Wissenschaftspraxis durch eineAnekdote aus der Frühzeit der experimentellen Physiologie. Um das Jahr 1845trafen sich einige Wissenschaftler — es sollen Ernst Brücke und Emile du Bois-Reymond gewesen sein, zu denen sich später noch der junge Hermann vonHelmholtz gesellte — zu wöchentlichen Verabredungen, auf denen sie sich unterEid auf ein ehrgeiziges Wissenschaftsprojekt verpflichteten: Sie wollten in gemein-samer Anstrengung den Nachweis erbringen, dass der menschliche Organismusvon keinen anderen Kräften bewegt wird als von physikalisch-chemischen. Alledrei legten eine glänzende akademische Laufbahn zurück, die sie zu höchstenEhren führte, ohne dass sie ihr ursprüngliches Erkenntnisziel jemals erreichthätten. Was ihnen trotz aller wissenschaftlicher Erfolge entging, war die Tatsache,dass sie „mit dem Eingehen eines Versprechens [ ...] dem besonderen Inhalt dieses

4 Vgl. E. RUNGGALDIER, Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit demNaturalismus, Stuttgart 1996, 30f. und P. RICCEUR, Das Selbst als ein anderer, München 1996, 77ff.

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Versprechens bereits zuwider handelten'. Indem sie sich in ihren subjektivenAbsichten gegenseitig bestärkten, widerlegten sie ihre eigene wissenschaftlicheÜberzeugung von der kausalen Unwirksamkeit ihres Bewusstseins. „In der Tatsa-che des Gelöbnisses trauten sie einem ganz und gar Nichtphysischen, ihremVerhältnis zur Wahrheit, eben die Macht über das Benehmen ihrer Gehirne zu, diesie im Inhalt des Gelöbnisses generell verneinten." 6

Die Widersprüchlichkeit einer reduktiven Deutung von Bewusstsein undFreiheit lässt sich auch durch ein aktuelles Gedankenexperiment aufzeigen. An-genommen, es käme im gegenwärtigen Streit um die Willensfreiheit zu einemZusammentreffen der besten Köpfe auf beiden Seiten. In einem Fachgesprächhinter geschlossenen Türen, das eher einer mittelalterlichen Disputation als einermodernen Talkshow vor medialem Publikum ähnelt, werden Argumente ausge-tauscht und Standpunkte abgeklärt. Am Ende gelingt es den Neurobiologen und.Hirnforschern, nach deren Annahmen die Perspektive der Freiheit nur ein fik-tionales „als ob" darstellt, die eingefleischten Vertreter der alteuropäischen Ethik-tradition von ihrem wissenschaftlichen Standpunkt zu überzeugen. Ihre empiri-schen Forschungsergebnisse waren einfach durchschlagend, ihre Erklärungenbesser, ihre Argumente überzeugender, so dass den Freunden Platos und Kantskeine andere Wahl blieb, als ihre Überzeugung zu revidieren. Die Hintergründig-keit dieses Gedankenexperiments liegt darin, dass eine derartige Situation, sollte siejemals eintreten, paradoxerweise nicht die Moralisten der alten Schule, sondern dieradikalen Protagonisten der Hirnforschung ins Unrecht setzte. Es wäre ihnen zwargelungen, ihre wissenschaftlichen Gesprächspartner von der Richtigkeit ihrerneuen Theorie zu überzeugen, aber sie könnten — grausame List der Vernunft —eine solche Bekehrung der Vernunft auf der Basis ihrer hirnphysiologischenAnnahmen selbst nicht erklären. Wenn Argumenten, Überlegungen und rationa-len Erwägungen keine eigenständige Wirksamkeit in den Orientierungsversuchendes Menschen zukommt, wird auch der Versuch sinnlos, Andersdenkende durchdie Beibringung von Gründen überzeugen zu wollen. Die Teilnahme an derWissenschaftspraxis wird selbst widersprüchlich, wenn unsere mentalen 'Überzeu-gungen sich nicht mehr nach der Beweiskraft von Gründen, sondern nach derunterschiedlichen Intensität der beim Denken auftretenden Hirnaktivität richtensollen.

1.3 Die Nicht-Eliminierbarkeit der subjektiven Weltperspektive

Die Grenzen einer naturwissenschaftlichen Handlungserklärung, die das inten-tionale, zielgerichtete Handeln einer Person aus empirisch zugänglichen De-terminanten ableiten möchte, werden von vielen Forschern aus Gründen dermethodischen Selbstbeschränkung ausdrücklich anerkannt. Die Einsicht, dass sich

5 HJONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des PrinzipsVerantwortung, Frankfurt a.M. 1987, 13.

6 H. JoNAS, Macht, a.a.O., 14.

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die Beobachterperspektive von außen, in der eine Handlung kausal determinierterscheint und die subjektive Perspektive des Handelnden, die von dem unwiderleg-baren Gefühl der Freiheit bestimmt ist, nicht aufeinander zurückführen lassen, istim Streit um die Willensfreiheit vielen Geistes- und Naturwissenschaftlern gemein-sam. Sie folgt zum einen aus dem Unterschied zwischen „Verstehen" und „Er-klären", der nicht nur für die historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, son-dern auch für die sozialen Handlungswissenschaften und die psychiatrischeMedizin von grundlegender Bedeutung ist. Die Beschränkung naturwissenschaft-licher Erklärungsmodelle auf eine Außenperspektive, in der menschliche Hand-lungen aus der Position eines unbeteiligten Beobachters (also gerade nicht als.

Handlungen) analysiert werden, entspricht aber zum anderen auch der metho-dischen Selbstreflexion naturwissenschaftlicher Erkenntnis.

Kein geringerer als Max Planck hat darauf bereits im Jahre 1936 in einem aufEinladung der Deutschen Philosophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag mitdem Titel „Vom Wesen der Willensfreiheit" hingewiesen. Darin lässt er an derGültigkeit eines allgemeinen Kausalgesetzes keinerlei Zweifel zu und beharrtdennoch auf der Eigenständigkeit einer subjektiven Handlungsperspektive, die sichnicht in eine Beobachterperspektive von außen übersetzen lässt.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte um die Willensfreiheiterscheint es besonders bemerkenswert, dass Planck die Innen- und Außenper-spektive als zwei notwendige Betrachtungsweisen unterscheidet, die „von vornher-ein gleichberechtigt nebeneinander stehen'. Die bleibende Verschiedenheit vonäußerer Beobachtungsperspektive und innerer Handlungsperspektive rührt dabeidaher, dass sich der Mensch nicht in gleicher Weise vergegenständlichen kann, wiedies in der Naturbeobachtung mit den Objekten seiner äußeren Welt geschieht.Die Einheit beider Perspektiven ergibt sich hingegen daraus, dass der Mensch alsSubjekt der Welterkenntnis und als Subjekt moralischen Handelns mit sich selbstidentisch bleibt. „Es ist ein und derselbe Mensch, der die Welt objektiv analysiert,in der er als Subjekt lebt und handelt."' Eine solche differenzierte Einheitsper-spektive, die an der Eigenständigkeit von Freiheit und Vernunft festhält, stellt einebessere Plattform für das interdisziplinäre Gespräch über die Grundlagen derWillensfreiheit bereit, als diejenigen Ansätze der gegenwärtigen Hirnforschung, diediese aus der Sicht der Ethik zentrale Frage bewusst im Unklaren belassen.

2. Freiheit als praktische Aufgabe des Menschen: die philosophische Perspektive

Die Frage nach der Freiheit des Menschen benennt nicht eine unter vielen anderenphilosophischen Problemstellungen, sondern die ethische Grundfrage, mit deralles Nachdenken über das moralische Handeln des Menschen seinen Anfangnimmt. Ob der Mensch frei ist oder nicht, das entscheidet sich nicht zuerst in der

7 M. PLANCK, Vom Wesen der Willensfreiheit, Leipzig 1936, 23.8 M. ROSENBERGER, Das unwiderlegbare Gefühl der Freiheit. Anmerkungen zur neueren Determinis-

musdebatte, in: Theologische Revue 98 (2002) 91-102, bes. 98.

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theoretischen Philosophie oder im Bereich empirischer Einzelwissenschaften, umdann im Bereich des Handelns wie eine technische Erfindung „umgesetzt" oder„angewandt" zu werden. Die Antwort auf die Grundfrage der Ethik, ob undinwiefern der Mensch frei ist, fällt vielmehr auf dem Feld des menschlichenHandelns selbst. Weil der Mensch nicht einfach vorhanden ist wie ein Ding, istauch seine Freiheit nicht einfach als empirisches Faktum konstatierbar. Die Redevon der Freiheit bedeutet demnach zuallererst: Der Mensch so// frei sein. Freiheitund Selbstbestimmung sind nicht natürliche Gegebenheiten seines Daseins,sondern ein Ziel und ein Auftrag, unter dem sein Leben steht. Freiheit ist deshalbkein empirischer und deskriptiver, sondern ein eminent praktischer Begriff. Strenggenommen dürfen wir das Wort frei gar nicht in der Weise des „ist"-Sagens alsPrädikat verwenden. Als Naturwesen ist der Mensch ja gerade nicht frei, sondernauf vielfältige Weise determiniert.

Dass Freiheit dem Menschen nicht als Naturanlage, sondern als sittlicheAufgabe gegeben ist, hat Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Auflösung derAntinomie von Freiheit und Notwendigkeit in paradigmatischer Weise herausge-stellt. Die Einsicht, durch die Kant den gordischen Knoten des Freiheitsproblemszerschlägt, ist im Grunde sehr einfach: Freiheit meint nicht eine Leerstelle desallgemeinen Kausalzusammenhangs in der empirischen Welt, gewissermaßen einoffen gelassenes „Loch" der Natur, sondern eine neue Form von Kausalität, durchdie sich der Mensch als Vernunftwesen ansieht und durch das Vernunftgesetzbestimmen lässt.

Der theoretische Streit zwischen Behauptung und Leugnung der Freiheit lässtsich nur dadurch lösen, dass der Mensch sein Leben unter verschiedenem Blick-winkel betrachtet. Als Naturwesen, so weit er zur Welt der Erscheinungen gehört,weiß der Mensch sich unfrei; auf dieser Ebene wird er seiner selbst gleichsam vonaußen gewahr, als Teil der Natur, so als wäre er nichts anderes als ein Gegenstandunter anderen Gegenständen. Daneben gibt es aber eine zweite Ebene: DerMensch kann sich auch von innen heraus, aufgrund seiner eigenen Selbsterfahrungbetrachten. Unter diesem Gesichtspunkt entdeckt er in sich die Möglichkeit, jaoder nein zu sagen zu dem, was auf ihn zukommt. Er erfährt sich als Urheberseines Handelns, er versteht sich in seiner eigene Selbsterfahrung so, dass er es war,der dies getan hat, dass er Schuld und Reue empfindet, und dass er auch anderenvorwirft, was sie getan haben. In der Sprache Kants heißt dies: Der Mensch siehtsich nicht nur als homo phainomenon, als Naturwesen an; als homo noumenon, alssittliches Wesen versteht er sich darüber hinaus als Glied der übersinnlichen Welt,die eine Welt der Freiheit und Unbedingtheit ist. Der Mensch denkt sich als freiund eo ipso ist er frei. Das ist eine souveräne Antwort auf Humes deterministischeTheorie der Willensfreiheit, die einerseits der empirischen Betrachtungsweise aufder Ebene der Natur ihr Recht belässt und andererseits den Standpunkt der Frei-heit durch den Wechsel auf eine andere Betrachtungsebene aus eigenem Rechtkraftvoll zur Geltung bringt. Doch der Preis, den Kant dafür bezahlen muss, dasser den Determinismus durch den triumphalen Selbsterweis der Freiheit in dieSchranken weisen kann, ist hoch. Er besteht in einem Dualismus zwischen homonoumenon und homo phainomenon, einem Hiatus, der sich insofern im Menschen

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auftut, als dieser sich als Bürger zweier Welten denken muss, ohne dass er in seinerSelbsterfahrung eine Brücke findet, die von der einen zur anderen hinüberführt.'Aus der Sicht einer theologischen Ethik, die sich ihrer eigenen, durch die phi-losophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts bestätigten Tradition einesganzheitlichen Denkens verpflichtet fühlt, führt dies zu einer kritischen An-frage an Kant: Ist der Aufweis der Freiheit durch den Dualismus nicht zu teuererkauft?

Diese kritische Gegenfrage an das kantische Freiheitsdenken zielt darauf, ob einweniger emphatischer Freiheitsbegriff, der sich mit den Problemstellungen empiri-scher Einzelwissenschaften leichter vermitteln lässt, nicht auch für die eigenenZwecke der Ethik ausreichen könnte. Werden nämlich Freiheit und Vernunft imSinne ihrer aristotelisch-thomanischen Auffassung nicht als Gegeninstanzen zurNatur, sondern als spezifische Momente — des rationalen Erwägens, des Mit-sich-selbst-Zurategehens, des Abwägens und Überlegens — im naturhaften Streben desMenschen verstanden, wäre nicht nur der missliche Dualismus hinsichtlich derhandlungstheoretischen Grundlagen der Ethik vermieden, sondern auch einebessere Anschlussfähigkeit des ethischen Freiheitsdiskurses an die Fragestellungengegenwärtiger Hirnforschung gewährleistet.

Die Fähigkeit des Menschen, in der Verfolgung der eigenen StrebenszieleSelbstdistanz einzunehmen und eine rationale und emotionale Bewertung mögli-cher Handlungsfolgen vorzunehmen, wird von der gegenwärtigen Hirnforschungdurch ihre Einsicht in die Funktion der so genannten Rückkoppelungsschleifen aufeindrucksvolle Weise bestätigt. Die vorauslaufende Kontrolle von Handlungs-plänen anhand von Bildern, die im episodischen Gedächtnis gespeichert sind, dasmonitoring zukunftsgerichteter Eigenaktivitäten, die Fähigkeit des Menschen,zwischen dem Auftreten eines Bedürfnisses und seiner Befriedigung, eine durchÜberlegung und Erwägung angeratene Pause einzulegen — all diese Facetten desmenschlichen Freiheitsvollzugs finden in den Ergebnissen gegenwärtiger Hirnfor--schung eine überraschende Bestätigung!' Der bessere Einblick in neurowissen-schaftliche Zusammenhänge, den uns die Hirnforschung ermöglicht, muss daherkeineswegs zwangsläufig in dem Versuch enden, die Willensfreiheit als Illusionoder bloßes kulturelles Konstrukt zu entlarven. Wenn sich Hirnforschung undtheologische Ethik jeweils mit bescheideneren Ansprüchen begegnen, könnte derinterdisziplinäre Dialog über die Willensfreiheit von der konfrontativen in einekonstruktive Phase übergehen.

Ein weniger emphatischer Freiheitsbegriff, der Freiheit als inneres Moment imnatürlichen Strebensvollzug des Menschen statt aus einem dualistischen Gegensatzzur Natur versteht, lässt uns auch die psycho-sozialen Anhängigkeiten unseresHandelns besser verstehen, die uns die Humanwissenschaften vor Augen führen.

9 Vgl. S. RITZENHOFF, Die Freiheit des Willens. Argumente wider die Einspruchsmöglichkeit desDeterminismus, München 2000, 138.

10 Vgl. E. PÖPPEL, Grenzen des Bewusstseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht die Wirklich-keit, Frankfurt a.M. 1997,43-49 und M. SPITZER, Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage:Was sollen wir tun?, Heidelberg/Berlin 2004.

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Personale Selbstbestimmung und biologische, soziale und psychologische Beein-flussung schließen sich nicht aus, weil Freiheit nicht eine von empirischen Ein-flüssen unerreichbare Insel inmitten allgemeiner Fremdbestimmung meint. Freiheitist nicht ein letztes Residuum, eine trotzig verteidigte Fluchtburg, in die sich dasSubjekt vor seinen Leidenschaften und sozialen Abhängigkeiten flüchtet. Freiheitmeint vielmehr die Fähigkeit des Menschen, das Wechselspiel der unterschied-lichen Determinanten seines Handelns aktiv und autoregulativ zu beherrschen.Der Mensch kann sich zu den Vorprägungen seines Handelns nochmals verhalten;personale Identitätsfindung geschieht in dem Maß, in dem er sich seiner Trieb-impulse bewusst wird, ihre besonderen Gefährdungen durchschauen und seineGrenzen annehmen lernt. Freiheit erweist sich somit nicht dadurch, dass wir ausder Natur heraustreten und die vielfältigen Determinanten unseres Tuns leugnen,sondern in der Fähigkeit, den Mechanismus psycho-sozialer Fremdsteuerung, demwir unterliegen, zu durchschauen und ihn auszubalancieren. Frei ist der Menschin dem Maß, in dem er es lernt, die sozialen Abhängigkeiten und inneren Bedingt-heiten seines Lebens in die Gesamtgestalt der Person und ihr reflektiertes Selbst-konzept zu integrieren.

3. Freiheit als verdankte Freiheit: die theologische Perspektive

Die Frage ob es unbegrenzte, vollkommene Freiheit gibt, muss innerhalb desHorizontes moralphilosophischer Fragestellungen offen bleiben. Zwar gibt esMenschen, die in bewundernswerter Weise frei und unabhängig sind, aber für diemeisten von uns gilt doch, dass unsere Freiheit in vielfacher Weise beschränkt ist:beschränkt durch die uns zur Verfügung stehenden äußeren Möglichkeiten,beschränkt durch innere Widerstände, die sich ihr entgegenstellen, beschränktdurch bestehende Verpflichtungen, die wir gegenüber anderen haben. Es gehörtzur Grundsignatur menschlicher Freiheit, dass ihr ein Streben nach Grenzenlosig-keit innewohnt und dass sie gleichwohl begrenzte, endliche Freiheit bleibt.

Ein noch tieferes Missverhältnis, das die faktische Situation menschlicherFreiheit kennzeichnet, rührt daher, dass sie nicht nur aufgrund der Endlichkeit desDaseins in ihren Möglichkeiten begrenzt, sondern durch die Verstrickung in dieSünde auch sich selbst entfremdet ist. Das biblische Freiheitsverständnis, wie esinsbesondere in der paulinischen Theologie hervortritt, sieht in der innerenSelbstgefährdung der Freiheit eine Folge der Versklavung des Menschen an dieSünde; auch die Freiheit des Menschen steht unter dem Vorzeichen einer unent-rinnbaren Unheilsituation. Das düstere Bild, das Paulus von der Freiheit dessündigen Menschen zeichnet, ist freilich nur die Kontrastfolie, vor der er dasGegenbild eschatologischer, vom Bösen befreiter Freiheit entwirft. Weil der unterdem Gesetz stehende Mensch der Macht des Bösen hilflos ausgeliefert ist, kannihm die Freiheit, die Forderung des Gesetzes zu erfüllen, nur von außen zukom-men. Freiheit gründet daher für Paulus nicht im Selbstverhältnis des Menschen,sondern in seinem Angerufensein vonseiten Gottes, in einer Externrelation zumschöpferischen Ursprung seines Daseins; sie kann dem in der Sünde gefangenen

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Menschen nur durch das Urteil einer befreienden Außeninstanz zugesprochenwerden.

Damit stellt Paulus die Freiheitsthematik unter ein neues Vorzeichen: DerMensch ist nicht deshalb frei, weil Freisein zur natürlichen Auszeichnung seinesWesens gehört, sondern weil ihm aus der Bindung an Christus, im Gehorsamgegenüber dem Kyrios, die eschatologische Freiheit zuwächst, die nach der Theolo-gie der synoptischen Evangelien den Anbruch der Gottesherrschaft kennzeichnet.Jesus Christus ist für Paulus der schlechthin freie Mensch, der „Sohn" inmittenvon Sklaven, die durch ihn „Töchter" und „Söhne" und also frei werden. DerÜbergang vom alten Sklavendasein zur Freiheit ist für Paulus nur im Horizont deseschatologischen Zeitumbruchs zu verstehen, den die Herrschaft Christi inaugu-riert. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einerFrau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetzstehen und damit wir die Sohnschaft erlangen" (Gal 4,4). Das paulinische Freiheits-verständnis ist negativ auf das Gesetz und positiv auf das Wirken des Geistesbezogen, der in der Taufe verliehen wird. „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gottden Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater. Daher bistdu nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbedurch Gott" (Gal 4,6). Die „Töchter" und „Söhne" sind die ersten Freigelassenender Schöpfung, die als Ganze in den Freiheitsraum der Herrschaft Christi ein-bezogen ist: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und der Verlorenheitbefreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8,21). Inäußerster Prägnanz beschreibt Paulus den neuen Lebensraum der Freiheit 2 Kor3,17: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."

In der Auseinandersetzung mit seinen korinthischen Gegnern benutzt Paulusein Wortspiel, das die Struktur eschatologischer Freiheit verdeutlicht: Er ist denGesetzlosen ein Gesetzloser geworden, aber nicht als ein anomos theou, nicht alsGesetzloser vor Gott, sondern als ein ennomos Christou, als ein an das GesetzChristi Gebundener (vgl. 1 Kor 9,21). Dieses Gesetz Christi, das der Jakobusbriefspäter das „vollkommene Gesetz der Freiheit" (1,25; vgl. 2,12) nennt, meint einTun des Gesetzes aus dem Geist der Freiheit, ein Gesetz ohne Gesetzlichkeit, dassich in der Liebe vollendet. Der Weg des Christseins ist daher auch für die JüngerJesu ein Weg der Freiheit, doch nicht ein solcher, der ins Ziellose führt und eineScheinfreiheit offenbart, sondern der Weg der Liebe, auf dem sich die Freiheit alsFreiheit vollendet, indem sie sich im anderen findet und erfüllt.

Die innere Struktur des paulinischen Freiheitsbegriffs, nach dem Freiheit keinnatürliches Vorrecht des Menschen, sondern befreite, geschenkte und somitverdankte Freiheit ist, lässt sich durch eine theologische Überlegung einsichtigmachen, die ich am Ende nur andeuten, aber nicht mehr in allen Voraussetzungenentfalten kann. Freiheit entsteht nicht aus sich selbst oder aus gegenständlichemSein, sondern nur in der Begegnung mit anderer Freiheit. Dies lässt sich unterMenschen vielfach beobachten. In einem Klima geistiger Unterdrückung undAbschottung erstirbt der Freiheitswille der Einzelnen, wenn diese sich nichtuntereinander bestärken; umgekehrt kann die Begegnung mit Menschen, die sichihre Freiheit erkämpft haben, für andere befreiend wirken. Die Freiheit des Kindes

Wie frei ist der Mensch? 65

erwächst an der Freiheit, die es im Umgang der Eltern und der Erwachsenenuntereinander beobachtet; wer selbst unfrei ist in seinem Denken und Tun, kannandere nicht zur Freiheit erziehen. Dass Freiheit zwischen Personen geschieht, diesich wechselseitig als frei anerkennen, und somit als Beziehungsbegriff zu denkenist, gilt aber auch im Verhältnis zu Gott: Endliche Freiheit findet ihren Grund underfüllenden Gehalt nur in der Begegnung mit unendlicher Freiheit. Die Ermuti-gung, die wir in der Gegenwart anderer spüren, die sich ihre Freiheit erkämpft odersie unter Anfechtungen bewahrt haben, kann nicht der letzte Grund der Freiheitsein, denn der auf mich befreiend wirkende Andere bedarf selbst der Befreiung. Dadie Dimension des Mitseins mit den anderen immer auch „die Sphäre der unter-drückten Freiheit"' ist, lässt sich der Erstanstoß der Freiheit nicht in einemAufeinander-Wirken der endlichen Freiheit aller festmachen.

Was aus philosophischer Sicht als ein Selbstentschluss der Freiheit (oder mitKants Worten: als eine Revolution der Denkungsart) erscheint, durch den derMensch den Standpunkt der Freiheit einnimmt und sich als frei denkt, muss intheologischer Hinsicht als ein dialogisches Geschehen gedacht werden, durch dasder Mensch auf den Anruf der göttlichen Liebe antwortet. Die unendliche Machtgöttlicher Freiheit und Liebe zeigt sich darin, dass sie endlicher Freiheit neben sichRaum gibt und dem Menschen die Freiheit zur Annahme der Liebe (oder ihrerVerweigerung) gewährt. Wenn es der endlichen Macht menschlicher Freiheitentspricht, durch den Selbstentschluss zur Freiheit einen Anfang setzen und eineHandlungskette beginnen zu können, so zeigt sich die unendliche AllmachtGottes in der Fähigkeit, im Anderen seiner Selbst das Vermögen der Freiheithervorzubringen. Die göttliche Liebe erweist ihre Allmacht gerade darin, dass siezugleich mehr und weniger als Macht ist und deshalb in keiner Konkurrenzsitua-tion zur endlichen Freiheit des Menschen steht. Die Allmacht der göttlichen Liebebegrenzt sich selbst, um endlicher Freiheit neben sich Raum zu gewähren. Diefreie Selbstbeschränkung der Allmacht durch die Liebe ist die einzige Art vonEinschränkung, die mit dem Gedanken der Allmacht verträglich ist: Eine Be-grenzung von außen, durch den Anspruch eines größeren fremden Seins wäre mitder Göttlichkeit von Gottes Allmacht unvereinbar. Die Selbstbeschränkung derMacht, die geschöpfliches Sein neben sich zulässt und zu endlicher Freiheitfreisetzt, kann dagegen nicht als Depotenzierung der göttlichen Macht, sondernnur als ihre höchstmögliche Vollendung gedacht werden. In seinen Tagebüchernhat Sören Kierkegaard dieses Verständnis göttlicher Allmacht und Liebe eindring-lich formuliert: „Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan werden kann,ist, es frei zu machen. Eben dazu gehört Allmacht, um das tun zu können. Dasscheint sonderbar, da gerade die Allmacht abhängig machen sollte. Aber wennman die Allmacht denken will, wird man sehen, dass gerade in ihr die Bestimmungliegen muss, sich selber so wieder zurücknehmen zu können, in der Äußerung derAllmacht, das gerade deshalb, dass durch die Allmacht Gewordenes unabhängig

11 W. PANNENBERG, Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 45.

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sein kann."' Der Anfang der Freiheit ist so nicht als ein Akt menschlicher Selbst-ermächtigung zu denken, sondern als Initiative der grundlosen Liebe Gottes, derdas Geschöpf zur freien Antwort ermächtigt und so Freiheit hervorbringt. Wenndie Entscheidungen endlicher Freiheit für Gott selbst Bedeutung haben, weil er siefür sein Werk in Dienst nehmen will, weil er nicht anders in der Welt handelt, alsdurch den Menschen, den er zum freien Tun der Liebe befreit, dann findetmenschliche Freiheit nicht nur ihren Ursprung, sondern auch ihr Ziel in Gott. Ihrgeschichtlicher Erfolg oder, mit Karl Rahner gesprochen, die „getane Essenz derFreiheit"' hat dann über den Tod hinaus Bestand. Wie die Verwandlung unsererirdischen Geschichte in die neue Welt Gottes geschehen wird, bleibt unsererErkenntnis, unserem Wissen und unseren theologischen Fragen diesseits derGrenze des Todes verborgen. Der Hoffnung ist nur eines gewiss: „Die Liebe wirdbleiben, wie das, was sie einst getan hat."' Erst in diesem Bekenntnis christlicherHoffnung ist die angefochtene, brüchige Wirklichkeit menschlicher Freiheit fürimmer gesichert.

Abstract

Der Beitrag setzt sich kritisch mit den reduktiven Tendenzen radikaler Spielartender modernen Neurowissenschaften auseinander. Dabei werden die Verwechslungvon Ursachen und Gründen, ungeklärte Prämissen einer naturalistischen Onto-logie sowie die Elimination des Subjekts aus der neurowissenschaftlichen Be-schreibungssprache diskutiert. Im zweiten Teil wird die Freiheit als praktischeAufgabe des Menschen im Anschluss an die aristotelisch-thomanische Traditionerörtert, in der Freiheit als das rationale Moment am natürlichen Streben desMenschen erscheint. Im dritten Teil erfährt die philosophische Grundaussage, dassFreiheit keine natürliche Eigenschaft des Menschen, sondern ein praktischerAuftrag ist, eine theologische Bestätigung.

This article critically tackles reductive tendencies within radical varieties of modernneurosciences. The confusion of motives and reasons, unspecified premisses of anaturalistic ontology, and the elimination of the subject from the neuroscientificdescriptive language are discussed. The second part primarily deals with humanfreedom as a practical responsibility according to the aristotelian-thomist traditionin which freedom appears as the rational factor of every human being's naturalstriving. Finally, in the third part, the philosophical axiom that freedom is not anatural quality of the human being but a practical task to be fulfilled is theolo-gically confirmed.

12 S. KIERKEGAARD, Tagebücher, München 1949, 216.13 K. RAHNER, Erfahrungen eines katholischen Theologen, München 1984, 119.14 ii. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes, Nr. 39.

Diskussion zum Vortragvon Prof. Schockenhoff

Prof. Bieri:Zum einen: Sie beschreiben die Gehirnforschung so, als sei sie automatischreduktionistisch in dem Sinne, als behaupte sie, alles was in der Sprache derPsychologie beschrieben werden könne, könne ohne Rest auch in der Sprache derGehirnphysiologie beschrieben werden. Das ist nicht das, was die Gehirnforschungtut. Die Gehirnforschung fragt: Was ist, in der Sprache des Gehirns beschrieben,der Fall, wenn bestimmte psychologische Wahrheiten über uns ausgesprochenwerden. Daraus folgt nicht, dass man die psychologische Sprache auf die physiolo-gische usw. reduzieren müsste. Nicht die Gehirnforschung hat den Reduktio-nismus versucht, sondern die Philosophen, nämlich die eliminativen Materialisten,Leute wie Churchland und Feyerabend.

Das Zweite: Sie haben viel gemacht aus dem Unterschied zwischen Ursacheund Grund. Ich bin damit nicht sehr glücklich gewesen, weil Sie kein Argumentgeliefert haben, warum Gründe nicht auch Ursachen sein können. Sie haben jaimmerhin selber Worte gebraucht wie „unsere Gründe bestimmen unser Verhal-ten" und tatsächlich wollen wir ja etwas tun aus Gründen. Wie kann dies andersgehen, als dass wir sagen, dass die Gründe auch die kausale Veranlassung von demsind, was wir tun? Ich sehe auch gar nicht, warum die Dignität von Gründen alsGründen damit verloren gehen sollte. Natürlich sieht es komisch aus, wenn mansagte, die Ziele sind die Ursachen. Aber das hat nur damit zu tun, dass die Spracheder Gründe einfach als die Sprache der Ziele formuliert werden kann. Wenn wirsagen „um dieses Zieles Willen verfolge ich etwas", kann man das eben übersetzen,indem man sagt: „... weil ich etwas Bestimmtes will und denke, dass dies dieMittel dazu sind ...".

Ein Drittes: Das Argument, dass ja auch wissenschaftliche Theorien und einGespräch, wie wir es hier führen, mentale Strukturen sind und deshalb durch ihreExistenz den Reduktionismus widerlegen, zieht nicht. Denn ein eliminativerMaterialist würde sagen: Natürlich gibt es für alles, was jetzt in diesem Raumgeschieht, außer einer semantischen oder einer psychologischen Beschreibungauch eine rein physikalistische Beschreibung. Deshalb ist das kein pragmatischerSelbstwiderspruch.

Letzter Punkt: Ich bin mit Ihnen natürlich ganz einig, dass die Freiheit eheretwas ist, was man sich erarbeiten muss. Auch die Metapher vom richtigen Gleich-gewicht der diversen Faktoren — äußerer Einfluss, innerer Einfluss, Bildungs-geschichte, Kommunikation — finde ich vollkommen überzeugend. Nur klang esbei Ihnen so, als sei da noch ein Regisseur in uns, der gewichten und die Konkor-danz herstellen könnte. Diesen hinzutretenden Regisseur sehe ich nicht, sondernes ist mehr ein transzendentales Ich. Ich denke, manchmal haben wir eben Glück,dass Erziehungsprozesse, Umstände — äußere, innere — uns in dieses Gleichgewicht

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bringen. Und manchmal haben wir Pech gehabt. Es gibt einfach Leute, die habenviel Pech damit, mit sich selber, mit den Umständen, und andere haben ziemlichviel Glück damit und deshalb würde ich zögern, die Sprache des „Wir müssendieses Gleichgewicht herstellen" zu aktivistisch zu lesen.

Prof. Schockenhoff:Vielen Dank für diese Fülle von Aspekten. Ich möchte in meiner Antwort vorallem zwei herausgreifen.

Der erste Einwand war, dass ich gewissermaßen ein reduktionistisches Zerrbildder Hirnforschung gezeichnet hätte: Ich habe am Ende selbst hervorgehoben, dasses innerhalb der verschiedenen Forschungsansätze der Hirnforschung auch andereRichtungen gibt, und ich habe dabei an Autoren wie etwa Herrn Pöppel in Mün-chen oder Herrn Spitzner in Ulm gedacht, deren Ergebnisse ich für eine Deutungdes menschlichen Freiheitsvollzuges im Sinne eines Teilmomentes des natürlichenStrebens des Menschen in aristotelisch-thomistischer Tradition in Anspruchnehmen kann.

Ich habe allerdings im Anfang sozusagen die stärkste Variante ausgewählt fürdie Auseinandersetzung, weil ich das im gegenwärtigen Diskurs für notwendighalte. Es gibt im interdisziplinären Gespräch zwei Formen, wie man es zu leichtmachen kann. Die erste: Man verharrt nur in der Konfrontation. Das ist dannunfruchtbar. Die zweite: Man entflicht die Fragestellungen, indem man sagt, „Dashat ja gar nichts miteinander zu tun, das sind zwei unterschiedliche Beschrei-bungsebenen". Und bei beiden Formen kommt es nicht zu einem konstruktivenDialog. Ein konstruktiver Dialog muss auch in der gleichen Sache sich begegnen.Sonst kommt es nicht zu einem wirklichen Dialog. Darin liegt aus meiner Sichtdas Problem, dass etwa in Schriften von Herrn Roth und Herrn Singer aus meinerSicht Kategorien verwechselt werden. Herr Roth hat vorhin gesagt: „Ich sage dasjetzt in anthropomorphen Begriffen — ,das Gehirn entscheidet', ‚das limbischeSystem hat das erste und das letzte Wort". Jetzt ist die Frage, sind das nur an-tropomorphe Begriffe, wobei wir uns aber bewusst sind, dass sie eigentlich nichttreffen? So dass wir eigentlich nicht sagen können, das Gehirn entscheidet, son-dern es ist die Person, die entscheidet? Dann wäre aller Streit in dieser Sachebeendet. Aber ich habe eben Zweifel, ob das nicht ein zu vorschneller Pazifizie-rungsversuch wäre. Die Begriffe „Das Gehirn entscheidet, der freie Wille ist eineIllusion" habe ich ja nicht gewählt, sondern die sind in der öffentlichen Diskussionvon Vertretern der Hirnforschung gewählt und in sie eingeführt worden. Dahintersteht ein grundlegender Kategorienfehler, der eben die Eigenständigkeit dermenschlichen Person als verantwortliche Instanz und die Orientierungsfähigkeitdes Menschen an Gründen aufhebt. Das ist aus Sicht der Ethik eine sehr weitrei-chende Konsequenz. Wenn das gemeint ist, dass die Prozesse im Gehirn in kausa-ler Weise das determinieren, was der Mensch sich in der Form einer illusionärenSelbstzuschreibung als freie Entscheidung vorspiegelt, dann muss sich dieseradikale Variante innerhalb der Hirnforschung auch bei ihrer Position behaftenlassen.

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Den zweiten Ball, den Sie mir zugespielt haben, möchte ich gerne aufnehmen:Ist nicht auch die Unterscheidung von Gründen und Ursachen weniger klar, alsich sie voraussetze? Gründe bestimmen das Handeln, ein Willensentschluss löst dasHandeln aus. Wenn ich sage, eine Ursache verursacht ein Ereignis, dann hat dasEreignis gegenüber dieser Verursachung keinen Freiheitsspielraum und ist kausaldeterminiert. Wenn dagegen Gründe menschliches Handeln bestimmen, dann istdie Auswahl dieser Gründe aus einem Zusammenspiel mehrerer Erwägungen einVorgang des Entscheidens, den ich der Person zuschreibe und ist dadurch wenigerdeterminiert, sondern es bleibt ein größeres Spielfeld der Freiheit. Der Ort diesesAusbalancierens ist das Ich. Es gibt in der Debatte auch so etwas wie eine Mystikdes freien Willens, als ob der freie Wille es wäre, der entscheidet. Es ist nicht dasGehirn, das entscheidet, und auch nicht der freie Wille, sondern die Person ist es,die entscheidet. Mit Hilfe des Gehirns, durch ihren freien Willen — aber dieeigentliche Instanz ist die Person.

Prof. Schieder:Meine Frage an Sie ist, ob Sie vielleicht nicht doch Kant ein bisschen unterbe -werten. Denn die Unterscheidung zwischen transzendentalem Subjekt und empiri-schem Subjekt ist an dieser Stelle enorm wichtig. Ich denke, Sie haben mit IhremHinweis auf den Kategorienfehler darauf anspielen wollen. Wenn ich zwischenSein und Denken unterscheide, zwischen transzendentalen und empirischenSubjekt, zeige ich eine Grenze auf. Und gerade dadurch werde ich fähig, auchunterschiedliche Beschreibungsmöglichkeiten des Menschen zu akzeptieren.

Eine weitere Frage: Wollten Sie mit dem, was Sie zuletzt auf die Fragen vonHerrn Bieri gesagt haben, sagen, dass ein kategorialer Unterschied besteht, für dasPerson-Sein in der bewussten Abwägung, dem bewussten Sich-Entwerfen, und demUnbewussten? Denn wenn ich Herrn Roth richtig verstanden habe, will er unssagen, dass das ein einheitliches Geschehen ist, ein Vorgang der sich nicht ausein-anderdividieren lässt.

Prof. Roth:Zwei kurze Sätze auch zu dem, was Herr Bieri gesagt hat. Entscheiden kann nurdie ganze Person. Es sind verschiedene Teile im ganzen Körper, die zu einerEntscheidung der Person beitragen. Im Gehirn sind es viele Zentren, die bewussteGroßhirnrinde, das Unbewusste, aber es sind auch Muskeln, Skelett so weiter. Dieempirische Frage ist dabei: Welches der vielen Zentren trägt den größten Teil zurEntscheidung bei? Es können, wenn ich todmüde bin, meine Muskeln sein undgar nicht das Gehirn. Es entscheidet, da haben Sie völlig recht, die ganze Person.Und das Gehirn entscheidet nur zum Teil und innerhalb des Gehirns einigeZentren auch nur zum Teil. Aber ohne das Gehirn findet keine Entscheidung statt;es kann zum Beispiel den Körper veranlassen, sich zu bewegen, auch wenn diesertodmüde ist.

Das Zweite: Die Sicht, als ob Hirnprozesse Ursachen wären und Intentionenwoanders angesiedelt wären, ist falsch. Es gibt keine oder ganz wenige Hirnprozes-se, die nicht intentional sind, die nicht gesteuert werden durch den intentionalen,

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d.h. bedeutungshaften Gehalt von dem, was man denkt und erlebt, und zwar auchunbewusst. Wenn ein System intentional ist, ist es unser Gehirn. Mit heutigenBildgebungsmethoden können Sie sogar sehen, dass verbale, sprachlich sozialvermittelte Gründe im Gehirn in anderer Weise wirken als nicht verbale, als nichtbewusste und nicht-intentionale. Ich halte deshalb die Unterscheidung zwischenUrsachen und Gründen für unser Handlungssteuern für fatal falsch. Da denktman, das Gehirn sei eine Maschine, die mechanistisch irgendetwas berechnet undunsere Intentionen kommen aus der Gesellschaft. Das ist nach dem heutigen Bilddes Gehirns falsch. Das Gehirn ist ein intentionales System, das für gesellschaftli-che Intentionen angelegt ist, sonst könnten wir gar nicht überleben.

Prof. Schockenhoff:Ich gehe gern auf die Fragen von rückwärts ein. Der Satz von Herrn Roth „Ent-scheiden kann nur die ganze Person" wäre natürlich eine Einigungsformel. DieFrage ist jetzt, wie sie jeweils verstanden wird. Mein Vorwurf des Kategorienfehlersbezog sich auf Formulierungen wie „das Gehirn entscheidet", wenn ein solcherSatz in der Weise verstanden wird: Wenn das Gehirn einmal entschieden hat,dann hat die Person überhaupt keine Chance mehr anders zu entscheiden oderdiesen neuronalen Prozessen gegenüber noch irgendeine Distanz einzunehmen.Dann wäre auch der Satz „Die ganze Person entscheidet" nicht ernst genommen.Wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass die ganze Person entscheidet unterZuhilfenahme ihres Gehirns, und indem sie versucht, sich die unbewussten Anteilesoweit wie möglich bewusst zu machen und vor Augen zu stellen, dann ist das eineBeschreibung, der ich zustimmen kann. Aber dann kann man am Schluss nichtmehr sagen: Freiheit ist eine Illusion, sondern dann ist Freiheit genau das Ver-mögen der Person, dieses Wechselspiel der Determinanten, die ihr Handelnbestimmen, zu durchschauen und zu verantworten.

Damit bin ich auch schon eingegangen auf die Frage nach dem kategorialenUnterschied. Ich bin nicht der Meinung, das bewusste Motive und unbewussteAnteile sich gänzlich ausschließen, sondern wir haben einen großen Anteil unbe-wusster Handlungsdeterminanten und die Aufgabe ist es, sich im Selbsterkennender eigenen Handlungsdeterminanten den Freiraum zu erwirken, in dem wir zuihnen Stellung nehmen und dieses Wechselspiel dann ausbalancieren können.Wenn ich ein schwermütiger Mensch bin, mache ich Erfahrungen mit meinerSchwermut. Dann bin ich ihr auch dann, wenn sie mich bestimmt, nicht gänzlichausgeliefert.

Zur zuerst genannten Frage: Die Unterscheidung zwischen dem transzendenta-len und dem empirischen Ich ist unverzichtbar, um einen Freiheitserweis zu.führen, das sehe ich auch so. Ich frage mich nur, ob man das in dieser duali-stischen Weise tun muss wie es bei Kant in seiner Anthropologie geschieht und obman nicht die Transzendenz der Person in ihren geistigen Vermögen auch in-nerhalb einer Theorie des naturhaften Strebens aufzeigen kann, die eben geradedas den spezifischen, das Menschsein charakterisierenden Strebensvollzug nennt.Da bin ich als katholischer Moraltheologe eben dieser aristotelisch-thomanischenAuffassung näher.

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Ich glaube nicht, dass mein Freiheitsaufweis unvereinbar ist mit dem pauli-nischen Menschenbild. Denn ich habe ja gezeigt, das Freiheit kein empirischerBegriff ist, sondern Freiheit ist ein Auftrag an den Menschen und um ihn erfüllenzu können, bedarf er - das ist das paulinische Menschenbild - eines befreiendenAußenanstoßes. Zunächst werden wir frei, indem wir der Freiheit an anderenMenschen begegnen. Aber dahinter steht nicht nur eine Befreiung durch eine vonMenschen vermittelte Außeninstanz. Auch die Begegnung endlicher Freiheitenführt an ihre Grenze. Es bedarf einer Außeninstanz, die uns zur Freiheit befreit.Das ist die Erfahrung des christlichen Glaubens. Das ist die einzige Form, wie manden Begriff „göttliche Macht" denken kann, nicht als eine Übermacht, die be-herrscht und das Geschöpf in Abhängigkeit hält, sondern als jene Macht, dieanderes Sein, geschaffenes Sein freisetzt in ein Gegenüber zum göttlichen Sein undzu einem Dialog der Liebe.