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Wilfried Reifarth Bejahen, Verneinen, Versöhnen Gurdjieff und das Enneagramm

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Wilfried Reifarth

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Wilfried Reifarth

Bejahen, Verneinen, Versöhnen

Gurdjieff und das Enneagramm

Eigenverlag des Deutschen Vereinsfür öffentliche und private Fürsorge e.V.Berlin

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Schriftenreihe Sonderdrucke und Sonderveröffentlichungen (SD 52)

Eigenverlag des Deutschen Vereinsfür öffentliche und private Fürsorge e.V.Michaelkirchstraße 17/18, 10179 Berlinwww.deutscher-verein.de

Die Auslieferung erfolgt über den Lambertus-Verlag:www.lambertus.de

Satz: Barbara Schmeißner

Sämtliche Grafiken, Abbildungen, digitale Reproduktionen und Umschlaggestaltung: Wilfried Reifarth(Titelseite unter Verwendung eines Gemäldes von Gotthard Krupp, Berlin:„Bejahen, Verneinen, Versöhnen“ [2012])

Druck: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg

Printed in Germany 2013ISBN 978-3-7841-2397-4ISBN E-Book 978-3-7841-2398-1

Veröffentlicht mit Förderung durch das Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

Autor und Verlag haben sich bemüht, die Rechte an den verwendeten Bildern und Quellen zu klären. Eventuell nicht angeführte Urheber/innen werden gebeten, sich mit dem Verlag oder dem Autor in Verbindung zu setzen.

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Meinen Schülerinnen und Schülern

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges 13

1. Einleitung: Warum (noch) ein Buch über Gurdjieff? 14

2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über eine zerstrittene Verwandtschaft 17

Gurdjieffs Erbe – eine erste Annäherung 17„Taking with the Left Hand“ – W. P. Pattersons kritische Enneagramm-Historie 20Fortsetzung vor Gericht und deren Folgen 24Und wie es danach weiterging 25

3. Eine sehr kurze Beschreibung der Arbeit im Vierten Weg 27Warum „Vierter Weg“? 27Der Unterschied zwischen eingebildetem und wirklichem Selbst 30Weg und Ziel der Selbst-Beobachtung 30Was Veränderung bedeutet und wie uns dazu verholfen werden kann 31Wie es in unserem Inneren wirklich zugeht 32Wie wir Menschen uns unterscheiden 33Der Mensch und seine vielen Ichs 34Welche Faktoren uns am Wachstum hindern 34Die Beziehung zwischen Wissen und Sein im Menschen 36Der Mensch als Sich-selbst-entwickelnder-Organismus 37Die Beziehung zwischen Essenz und Persönlichkeit 38Die Falsche Persönlichkeit 39Anstrengungen, die ein Mensch unternehmen muss 40

4. Über negative Emotionen und den richtigen Umgang damit 42Wie es praktisch gehen kann 47Umgang mit negativen Emotionen unterschiedlicher Komplexität 51

5. ÜberIdentifizierung 52Identifizierung mit dem Leben 53Wie unterschiedlich sich die Identifizierung zeigt und auswirkt 56Identifizierung mit dem Selbstbild 56Identifizierung mit dem Denkzentrum 57Identifizierung mit dem Emotionszentrum 58Umgang mit Assoziationen 59Inneres Berücksichtigen und inneres Aufrechnen 60Sein-Lied-singen 61Äußeres Berücksichtigen 62Die spirituelle Dimension des Identifiziert-Seins 63

6. Über das dreihirnige Wesen Mensch 64Allgemeines über die „dreistöckige menschliche Fabrik“ 65Zur Binnenstruktur der Zentren – mechanischer, emotionaler und intellektueller Teil 70

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Positive und negative Teile der Zentren 71Ein genauerer Blick in die Zentren und ihre Funktionen 726.1 Das Denkzentrum 73Die Binnenstruktur des Denkzentrums 75Der mechanische Teil des Denkzentrums 75Der emotionale Teil des Denkzentrums 76Der intellektuelle Teil des Denkzentrums 76Positive und negative Anteile des Denkzentrums 786.2 Das Emotionszentrum 80Die Binnenstruktur des Emotionszentrums 82Der mechanische Teil des Emotionszentrums 82Der emotionale Teil des Emotionszentrums 82Der intellektuelle Teil des Emotionszentrums 83Positive und negative Anteile des Emotionszentrums 866.3 Das Bewegungszentrum 88Die Binnenstruktur des Bewegungszentrums 91Der mechanische Teil des Bewegungszentrums 91Der emotionale Teil des Bewegungszentrums 91Der intellektuelle Teil des Bewegungszentrums 92Positive und negative Anteile des Bewegungszentrums 926.4 Das Instinktzentrum 94Die Binnenstruktur des Instinktzentrums 96Der mechanische Teil des Instinktzentrums 96Der emotionale Teil des Instinktzentrums 96Der intellektuelle Teil des Instinktzentrums 97Positive und negative Anteile des Instinktzentrums 986.5 Das Sexualzentrum 996.6 Die Höheren Zentren 1026.7 Wie die Energieversorgung der Zentren funktioniert 1046.8 Wie die Datenspeicherung in den Zentren funktioniert 1066.9 Die unterschiedlichen Arbeitsgeschwindigkeiten der Zentren 1086.10 Was es bedeutet, wenn die Zentren nicht richtig arbeiten 1106.11 Von der Stellvertretung und ihren Folgen 1126.12 Selbst-Erinnerung 114

7. Gurdjieffs Lehre – fast mit seinen eigenen Worten 117Vorbemerkung 117Kutschfahrt der Teilpersönlichkeiten 118Tut es der Mensch oder tut Es im Menschen? Über den Willen 122Die richtige Sprache 124Einprägungen in Rollen 125Wie dem Los zu entkommen ist, für immer zu vergehen 126Echter Mensch und Mensch-in-Anführungszeichen 128Von Mönchen und vom Calvados 131

8. Eine Zwischenbilanz 132

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Zweiter Teil: Gurdjieff und das Enneagramm 135

9. Zur Symbolik des Enneagramms 136Allgemeine Anmerkungen 136Zur Bedeutung elementarer Symbole – ein Überblick 139Geometrische Symbolik der Zahlen Eins bis Neun 142

10. Bejahen, Verneinen, Versöhnen: Das Gesetz der Drei 146Eine persönliche Vorbemerkung 146Über die Dreiheit im Allgemeinen 148Das Gesetz der Drei: Struktur und Dynamik 149Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen 152Drei Kräfte und der Schöpfungsprozess 153Wie die drei Kräfte in unserem Innern wirken 156Das Gesetz der Drei aus heutiger Perspektive 158Was Evolution im Sinne Gurdjieffs bedeutet 160

11. Zwischenschritt: Warum Drei plus Vier manchmal mehr als nur Sieben bedeuten kann 162

12. Das Gesetz der Sieben 165Überall ist Sieben 165Die Sieben und der schöpferische Prozess 167Eine musikalische Analogie 169Der Schöpfungsstrahl 170Von fehlenden Halbtönen und unvollendeten Oktaven 171Von Intervallen am falschen Ort 173Wie Nahrung, Schocks und Oktaven-Dynamik zusammenhängen 176Die Bedeutung des Gesetzes der Oktav – eine Würdigung 178

13. Das Enneagramm als Prozessmodell 180Ein genauerer Blick in die Charakteristika der neun Prozessstufen 182Ein genauerer Blick auf die Bedeutung der inneren Verbindungslinien 189Anwendungsbeispiele des enneagrammatischen Prozessmodells 194Beispiel 1: Eine Zwiebel schneiden 195Beispiel 2: Das Prozessmodell als (selbst-)diagnostisches Instrument 196Beispiel 3: Wie Wissenschaft funktioniert 199Draufblick: Mögliche Konsequenzen dieser Sichtweise 202Ein Vergleich zentraler Merkmale der Ennea-Muster und der Prozessstufen 203

14. WassichindenQuellenwerkendesViertenWegesüberdasEnneagrammfindet 205Was Gurdjieff zum Hauptzug mitgeteilt hat 209Mitteilungen über den diagnostischen Prozess 216Wie Maurice Nicoll den Hauptzug kommentiert hat 218Die Beziehung zwischen Hauptzug und Seinsebene 221Anmerkungen zum Gesagten aus der Ennea-Perspektive 224Erster Exkurs: Evagrius Ponticus, der Sternenhimmel und die Götter der Griechen 227Zweiter Exkurs: Weitere Erkundungen zu Evagrius und seinen Quellen 232Rodney Collins Werk 234Collins Aussagen über Entwicklung 234

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Wie sich Collin zufolge Entwicklung zeigt 235Anmerkungen dazu aus der Ennea-Perspektive 237Collins Grundannahmen – eine Pointierung von Aspekten des Vierten Weges 238Planeten, Typen und das Enneagramm: Collins Pioniertat 241Die Positionierung im Enneagramm-Symbol und deren Bedeutung 246Collins Ansichten über Persönlichkeit, Essenz, Selbst-Erinnerung, Seele 247

Schlussteil: Eine Annäherung an den Menschen Gurdjeff15. Wer war Gurdjieff? Ein ennea-diagnostischer Versuch 254

Geliebt oder gehasst 257Abneigung gegen Konventionen 258Stärke 259Möglichkeit und Verwirklichung 261Humor 261Präsenz 262Erschreckendes Wohlwollen 263Essen 264Trinken 265Gurdjieff und die Frauen 266Gurdjieff und die Autos 267Gurdjieffs Art, Lektionen erteilend zu lehren 268The Herald of Coming Good 273Gurdjieff und Ouspensky 274Nachbemerkung 276

16. Fazit: Was die zerstrittene Verwandtschaft voneinander lernen könnte 278

AnhangAnhang I: Graffiti in Gurdjieffs „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen“ 284Anhang II: Eine Skizze biografischer Daten Gurdjieffs 286

Verwendete Literatur 289

Dank 295

Kontakt 296

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Vorwort

Vorwort

Die Zahl der Menschen, die großen Nutzen aus der Kenntnis der Enneagramm-Idee ziehen konnten und alltäglich aufs Neue ziehen, nimmt weltweit zu. Auch ich zähle mich zu ihnen. Mein (Ennea-)Weg begann vor über zwanzig Jahren und mäanderte über folgende Stationen:

Eine zufällige Begegnung mit der Idee (1990); erste Ahnung von meinem Ennea-Muster und dessen allmähliches Erkennen und Gewahr-Werden; das (im Schne-ckentempo) wachsende Verständnis für dessen lebenspraktische Bedeutung; das Kennenlernen meiner sog. vorherrschenden Leidenschaft; der damit verbundene Schmerz, die narzisstische Kränkung, schließlich der Friedensschluss; nach hef-tigen Abwehrreaktionen die schleichende Erkenntnis, dass deren Energie buch-stäblich Mitbewohner jeder Zelle meines Organismus ist; die vielen alltäglichen Situationen, in denen mein Autopilot nach Art eines schlichten Reiz-Reaktions-Schemas in Echtzeit die Steuerung meines Verhaltens übernimmt; die auf impo-nierende Weise unverwüstlich scheinende Kraft und Vitalität dieser Prozesse; die vibrierende Spannung und spürbare Verunsicherung, wenn rechtzeitiges Gewahr-Werden am Beginn einer automatisch ablaufenden Reaktion dazu führt, diese zu unterbrechen, und ich stattdessen ein für mich neues und ungewohntes Verhal-ten ausprobieren kann (z. B. durch schlichtes Weglassen einer Gewohnheit); die Wachstumsfreude, die sich dabei einstellt, und – wenn ich nicht achtsam bin – das jedesmalige, ungläubige Staunen darüber, wie der (Entwicklungs-)Rückfall selbst hinter dem kleinsten Fortschritt lauert, denn die stets im Hintergrund bereitstehen-de Energie der vorherrschenden Leidenschaft benutzt die entspannte Freude als Einfallstor, um meinen Entwicklungsfortschritt in Beschlag zu nehmen; das dank-bare Registrieren der Frische und Unverdorbenheit eines jeden neuen Tages, der mit Gelegenheiten prall gefüllt ist, neues Entwicklungs-Spiel und neues Entwick-lungs-Glück zu wagen, ohne die „verschüttete Milch“ von gestern einsammeln zu wollen oder ihr gar nachtrauern zu müssen.

Ich möchte die gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr missen und keinen Tag meines jetzigen Lebens mit den unverstandenen und vergleichsweise ahnungslosen früheren Zeiten eintauschen. Und dabei beziehen sich die oben genannten Positionen der Ver-änderungs-Habenseite nur auf die Binnenschau. Daneben gibt es selbstverständlich noch die Dimension des Anderen. Auch hier werde ich im Hinblick auf das, was die Enneagramm-Idee in mir bewirkt hat, fündig:

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Vorwort

Früher war die „Anderheit des Anderen“ für mich ein eher gestaltloser, unscharfer Begriff. Wenn ich diese Anderheit schmerzhaft zu spüren bekam, habe ich – meinem unverstanden vor sich hin wirkenden Ennea-Muster gemäß – diese Unterschie-de so lange „verständnisvoll“ bearbeitet, bis sie – weil ihrer Ecken und Kanten beraubt – gleichsam „unschädlich“ gemacht worden waren. Oder ich habe mir hypothetische Erklärungen (mit entschuldigendem Beiklang) zurechtgelegt, die es mir ermöglichten, einen Rest von Grundsympathie zu bewahren. Auf dieser Basis konnte ich die zwischenmenschlichen Verbindungen so aufrecht erhalten, wie es durch die Umstände geboten schien. Wenn mir dies gelang, fühlte ich mich meistens dem Anderen überlegen; ich blickte zu meinem Gegenüber hinab. Tief im Innern war ich gerührt von der eigenen Güte und blieb dabei ziemlich blind für den histrionischen Aspekt meines Umgangs mit mir selbst. Die tatsächliche Her-ausforderung und die kräftezehrende, emotionale Anstrengung, die die Erfahrung einer unüberbrückbaren Kluft zur Anderheit des Anderen darstellt, habe ich vor mir selbst verniedlicht. Oder ich habe geglaubt, mein kommunikatives Repertoire sei einfach noch nicht ausgefeilt genug. Für ein nächstes, vergleichbares Mal habe ich mir Besserung gelobt. Oder ich habe – und dafür schäme ich mich heute – nicht selten gedacht, die störenden Unterschiede mit der Zeit „weg-lieben“ zu können.

Kurzum: Die Anderheit war für mich – je nach Situation – manchmal Unfall, meis-tens sportliche Herausforderung, hin und wieder therapeutisches Übungsfeld, oft Objekt meiner helfenden Begierde. Latent war sie fast immer Indikator für meine Fähigkeit, eigentlich Unerträgliches aushalten zu können, was mich insgeheim mit Stolz erfüllte. Manchmal war mein Umgang mit der Anderheit einfach nur repressive Toleranz. Im Rückblick fällt mir auf, dass zwei Qualitäten bei alledem Gefahr liefen, zu kurz zu kommen: wirklicher Respekt und aufrichtige Wertschät-zung. Die faktische Instrumentalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen zu verleugnen, wäre, was mich selbst angeht, nicht redlich.

Nun mag man einwenden, es sei weltfremd, den fast durchgängigen Quid-pro-quo-Charakter des alltäglich-zwischenmenschlichen Umgangs zu leugnen, denn kaum jemand tue etwas uneigennützig. Viel häufiger sei das „Um-zu-…“ der eigentliche Beweggrund. Das mag zutreffend sein. Was ich hier berichten möchte, bezieht sich allerdings auf etwas anderes: Durch die Erkenntnis meines eigenen Ennea-Musters und den lernend-suchenden Umgang damit, hat sich in mir eine innere Sperre, eine Art Widerwille entwickelt, mit dem Anderen in dieser Weise umzugehen. Als wirkliche Herausforderung sehe ich es an,

mich darin zu üben, die Anderheit des Anderen so genau, wie es mir möglich ist, wahrzunehmen; diese Wahrnehmung von meinen automatisch aufsteigenden, in-

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Vorwort

neren Bewertungstendenzen so gut wie möglich freizuhalten – also die Anderheit einfach nur in ihrem So-Sein zu registrieren; die energetische Ausstrahlung des Anderen aufzunehmen und mich ehrlich zu fragen, wie es mir damit geht; Kont-rolle über meine automatische Tendenz auszuüben, leichtfertig etwas zu verspre-chen, ohne mir in diesem Augenblick die Einlösungsmöglichkeit zu vergegenwär-tigen; eine respektvolle energetische Distanz zum Anderen zu wahren und dabei den Blick für die immanente Schönheit des Andersseins bewusst zu schärfen; den Blick für die möglicherweise vorhandene neurotische Verzerrung dieser inneren Schönheit ebenfalls zu schärfen, und – wenn es erforderlich ist – mich durch Do-sierung von Distanz und Nähe vor diesem Einfluss zu schützen; und schließlich: genauer zu prüfen, mit wem, wann und wie intensiv ich mich einlassen will.

Ich glaube ohne Übertreibung behaupten zu können, dass die Kenntnis und das all-mähliche Erlernen meines Enneagramm-Musters mein Leben stärker verändert hat (und noch immer verändert) als alles andere, was mir im Bereich psychologischer Theoriebildungen bisher begegnet ist. Das Wissen und die Einsichten, die die Enne-agramm-Idee bereithält, sind jedoch nicht mehr als eine Option. Es liegt ausschließ-lich in meiner Verantwortung, ob ich die in dieser Option enthaltenen Möglichkeiten realisiere, sie in mein Leben integriere, aus einer gedanklichen Einsicht tatsächliches Verhalten werden lasse oder mich mit einem bloßen Vorsatz zufrieden gebe. Die Welt kümmert es letztlich nicht – sie nimmt ihren Lauf, so oder so.

Weil ich mich für Entwicklung entschieden habe, dürfte es also kaum verwundern, wenn ich mich als überzeugten Anhänger der Idee bezeichne. Doch das allein wäre mir nicht genug, denn parallel zu den erlebten konstruktiven Veränderungen wuchs ein Gefühl der Dankbarkeit, für das ich noch immer eine passende Ausdrucksform suche. Vielleicht spiegelt sie sich in meinem nun vierjährigen Bemühen, mehr über den Ur-sprung der Idee in Erfahrung zu bringen. Ich habe damit auch den Wunsch verbunden, Genaueres über die Zusammenhänge zu lernen, in denen dieses für mich staunenswer-te Wissen entstanden ist – und über die Menschen, denen wir es verdanken.

In meinen beiden bereits erschienenen Enneagramm-Büchern habe ich dargelegt, dass zwei Menschen die Urheberschaft für das Enneagramm der Persönlichkeit mit Fug und Recht beanspruchen können: der Bolivianer Oscar Ichazo und der Chilene Dr. Claudio Naranjo. Beider Leistungen habe ich in diesen Büchern zu würdigen ver-sucht. Und eigentlich hätte sich damit (inhaltlich) Zufriedenheit einstellen können – doch dem war und ist nicht so. Denn da gab es noch Georg Iwanowitsch Gurdjieff.

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Vorwort

Nicht mehr so kryptisch – aber gleichwohl immer noch genauso herausfordernd – sind für mich seine berühmten Sätze, mit denen ich mein Buch „Wie anders ist der Andere? Enneagrammatische Einsichten“ abgeschlossen habe:

„Allgemein gesagt gilt es zu verstehen, dass das Enneagramm ein universelles Symbol ist. Das gesamte Wissen kann in das Enneagramm eingefügt und mit dessen Hilfe interpretiert werden. Und folglich kann man sagen, dass ein Mensch nur das wirklich weiß, also versteht, was er in das Enneagramm einordnen kann. Was er dort nicht einordnen kann, versteht er nicht wirklich … Alles kann in das Enneagramm eingeordnet und durch es verstanden werden … Das Enneagramm ist die fundamentale Hieroglyphe einer universellen Sprache, die so viele Bedeutungsebenen hat, wie es Ebenen (des Verstehens) im Menschen gibt.“ (Übers.: W. R.)

Wie gesagt: Seit einigen Jahren versuche ich, durch gezielte Studien mehr von die-sem Menschen, seinem Leben, seinem Werk und seiner Lehre zu verstehen. Mit dem Ergebnis, dass ich eine faszinierende, unbekannte, komplexe neue (Erkenntnis-)Welt betreten konnte. Im Zuge dieser Studien habe ich Kenntnis von Zusammenhängen bekommen, die außerhalb meines bisherigen Vorstellungsvermögens liegen, und die meine Achtung vor der Enneagramm-Idee noch einmal ganz erheblich gesteigert ha-ben. Das vorliegende Buch handelt von meinen Erkundungen.

Berlin, im März 2013

W. Reifarth

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Erster Teil

Die Lehre des Vierten Weges

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

1. Einleitung: Warum (noch) ein Buch über Gurdjieff?

Die Antwort fällt leicht: Weil es ohne ihn ebenso wenig eine – wie auch immer geartete – Enneagramm-Bewegung gegeben hätte, wie es ein Judentum ohne den Stammvater Abraham gäbe. Gurdjieff steht nicht nur am Beginn – er ist der Beginn. Und obgleich es in dieser jungen Bewegung nicht ganz so viele „Ableger“ gibt wie in dem großen historischen Vergleich, hat dieser Stammbaum bereits heute, nach knapp hundert Jah-ren, sehr unterschiedliche Verzweigungen ausgebildet, die – mit großem Vergnügen, mit Missvergnügen oder auch in Unkenntnis ihres Zustandes – mit dem Stamm ver-bunden sind.

Um im Bild zu bleiben: Tatsächlich ragen zwei mächtige Äste ypsilonförmig aus dem Stamm. Der eine ist gleichsam die Fortsetzung der „reinen Lehre“ Gurdjieffs, die unter Lehre des Vierten Weges firmiert; der andere ist ein – von seinem Umfang vielleicht unterdessen sogar dickerer – Ast, der auf den Namen Enneagramm der Persönlichkeit hört.

Wie es das natürliche Wesen des Baumes ist, bilden diese Äste ihrerseits Verzweigun-gen – manche harmonisch und schön anzusehen, andere, wie aus einer üblen Laune der Natur, merkwürdig, fast disharmonisch abgespreizt. Diese Eigentümlichkeit gibt es bei beiden. Anders als bei richtigen Bäumen üblich, nehmen die „beiden Äste“ diese na-türliche Tatsache nicht einfach als gegeben hin. Vielmehr haben sie ein unterschiedlich ausgeprägtes Bewusstsein davon, welcher die „rechtmäßige“ Fortsetzung des Stam-mes ist. Den sich rechtmäßig dünkenden Ast regt bereits die bloße Existenz des Ande-ren auf, während dieser wenig bis gar keine Energie darauf zu verschwenden scheint, an welchen Nahrungskreislauf er eigentlich angeschlossen ist: Hauptsache, es gibt ihn.

Die Ausführung dieser metaphorisch verkleideten Skizze in konkrete Details, his-torische Fakten, juristische Auseinandersetzungen usw. – also die Darstellung eines gleichsam innerfamiliären Konflikts – nehme ich im anschließenden Kapitel ausführ-lich vor. Im Schreibprozess passierte Folgendes: Nachdem ich dieses ziemlich detail-reiche Bild des „innerfamiliären“ Zwists ausgebreitet hatte, stand ich vor der Frage, deren Beantwortung die gesamte „Architektur“ des Buches entscheidend beeinflussen sollte: „Wie damit umgehen?“ Da ich mich bereits eindeutig als Bewohner des Ennea-gramm-der-Persönlichkeit-Astes zu erkennen gegeben habe, habe ich mein weiteres Vorgehen unter den seit Jahrtausenden bewährten Grundsatz audiatur et altera pars gestellt: Man soll auch den anderen Teil hören.

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1. Einleitung: Warum (noch) ein Buch über Gurdjieff?

Dies beherzigend, war es für mich fast zwingend, in den nun folgenden Kapiteln eine ausführliche Darstellung der Lehre Gurdjieffs vorzunehmen. Selbstverständlich konn-te ich dies nur für ausgewählte Aspekte tun. Ich hoffe aber dennoch, eine zutreffende Abbildung der Grundzüge seiner gesamten Lehre vorlegen zu können. Meine Aus-wahlkriterien beinhalteten stets auch den Blick zurück auf den Ast, auf dem ich sitze. Die Frage lautet also: Gibt es in Gurdjieffs Lehre eine mögliche Verbindung zum The-oriegerüst des Enneagramms der Persönlichkeit – sei es in bestätigender, verwerfen-der oder erweiternder Weise? Bei der weiteren Arbeit hat mich stets geleitet, was wir von Gurdjieff und seiner Lehre lernen können.

Da fast alles in diesem Buch Mitgeteilte für mich noch vor vier Jahren Neuland war, bilde ich mir ein, mich noch gut in die Lage des vergleichsweise „ahnungslosen“ Le-sers versetzen zu können. Deshalb habe ich mich bemüht, aus einer Vielzahl von Quel-len – die ich meinerseits zunächst „entdecken“ musste – ein Bild der Lehre Gurdjieffs zu zeichnen, das verständlich formuliert, in sich konsistent und sowohl logisch als auch psychologisch stimmig ist. Gewisse Redundanzen habe ich bei meiner Darstel-lung billigend in Kauf genommen, weil ich mir davon erhoffe, den Lerneffekt bei den geneigten Leserinnen und Lesern zu verstärken. Um gleichsam eine Nähe zum Originalklang herzustellen, habe ich hin und wieder Zitate von Gurdjieff eingestreut. Auch die Reihenfolge der Kapitel, die sich mit der Darstellung seiner Lehre befassen, sind von diesem Prinzip geleitet: von der allgemeinen Annäherung hin zum fast per-sönlichen Klang.

Dem Teil seiner Lehre, die vom „dreihirnigen Wesen Mensch“ handelt, habe ich ver-gleichsweise viel Raum gegeben. Das hat mehrere Gründe. Zum einen: Mir ist selten eine Theorie begegnet, auf die die Behauptung so sehr zutrifft, dass nichts praktischer sei als eine wirklich gute Theorie. Die hier mitgeteilten Daten lassen sich unmittelbar im eigenen Leben beobachten und nachprüfen; bereits erste, tastende Anwendungs-versuche zeigen erstaunliche Effekte. Zum anderen: Gurdjieff stellt in Abrede, dass es in unserem gewöhnlichen Leben so etwas wie ein stabiles Ich überhaupt gibt. Er behauptet vielmehr, dass wir von „Teilpersönlichkeiten“ regiert werden, die nicht wirklich miteinander kooperieren. Diese Behauptung besitzt meines Erachtens größ-te Sprengkraft für die grundlegenden theoretischen Annahmen des „Enneagramms der Persönlichkeit“. Zum dritten: Die neueren Befunde der Neurowissenschaften, die dank ihrer modernen, bildgebenden Verfahren enorme Erkenntnisfortschritte gemacht haben, weisen eine sehr große Schnittmenge bestätigender Einsichten zu Gurdjieffs Lehre auf. (Ein detailliertes Eingehen auf diese Zusammenhänge hätte allerdings den Rahmen dieses Buches gesprengt.)1

1 Vgl. hierzu beispielsweise die zweiteilige Fernsehdokumentation „Das automatische Gehirn“ des Autorenteams D’Amicis, Höfer und Röckenhaus (arte 2012).

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

Im zweiten Teil des Buches – nun bereits ziemlich von Gurdjieffs Denken und Welt-sicht infiziert – mache ich den Versuch, tiefer in die Geheimnisse einzudringen, die sich um das Enneagramm-Symbol ranken. Neben der Darstellung der beiden grund-legenden „Gesetze der Welt-Entstehung und Welt-Erhaltung“ (Gurdjieff), dem Gesetz der Drei und dem Gesetz der Sieben, kommt auch ein Thema zur Sprache, das man als den Versuch eines ersten (pragmatischen) Brückenschlages zwischen der „Origi-nallehre“ und dem „Enneagramm der Persönlichkeit“ werten kann: das Enneagramm als Prozessmodell. Hierbei kann ich mich dankenswerterweise auf die gründliche Vor-arbeit von Nathan Bernier und Susan Rhodes stützen. Sie stammen aus je einem der beiden Lager.

Im letzten Kapitel des zweiten Teils gehe ich der Frage nach, was sich in den Quellen-werken des Vierten Weges zum Enneagramm findet. Meine Suche wurde viel reicher belohnt, als ich es anfänglich erwartet hatte. Insbesondere der kundigen Leserin / dem kundigen Leser wird es bei aufmerksamer Lektüre wie Schuppen von den Augen fal-len, wie groß das gemeinsame Erbe ist und wie viele unterschiedliche Dimensionen Gurdjieffs Lehre tatsächlich abbildet – auch und gerade im Spiegel der Arbeiten seiner unmittelbaren bzw. mittelbaren Schüler wie Maurice Nicoll und Rodney Collin. Zwei in diesen Kontext eingebettete Exkurse berichten von Forschungen aus jüngster Zeit und beleuchten einen möglichen gemeinsamen Ursprung beider Theoriesysteme, der bis zurück in die griechische Antike reicht.

Ich schließe dieses Buch mit einem Wagnis ab, das darin besteht, mich an den Men-schen Gurdjieff aus der Perspektive des Enneagramms der Persönlichkeit anzunähern. Ausgehend von einer diagnostischen Hypothese, die in mir als eine Art grundmelodi-sche Resonanz durch die intime Beschäftigung mit seinem Werk entstanden ist, teile ich Belege und Zeugnisse mit, die diese Annahme verifizieren könnten. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, diesen Versuch zu beurteilen. Sollte er kritischer Würdigung standhalten, wäre tatsächlich gelungen, was der Titel des Buches aussagt: „Bejahen, Verneinen, Versöhnen.“ Denn keines der beiden Lager braucht sich und sei-ne Leistungen vor dem jeweils anderen zu verstecken. Beide könnten – bei wirklicher Aufgeschlossenheit und echter Neugier – sogar sehr Wesentliches voneinander lernen.

Im Anhang biete ich den Leserinnen und Lesern zwei weitere Möglichkeiten an, den Menschen Gurdjieff und dessen gigantisch-reiches Werk noch genauer zu verstehen.

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2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über eine zerstrittene Verwandtschaft

2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über eine zerstrittene Verwandtschaft

Gurdjieffs Erbe – eine erste Annäherung

Als Georg Iwanowitsch Gurdjieff am 29. Okto-ber 1949 im amerikanischen Hospital in Neuilly bei Paris starb, soll er kurz vor seinem Tod die prophetisch-folgenschweren Worte gesprochen haben: „I’m leaving you all in a fine mess“. Ob authenthisch oder bloße Anekdote – die darin enthaltene Situationsbeschreibung scheint den Punkt getroffen zu haben.2 Gurdjieff ist es zu Lebzeiten nicht gelungen, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin aufzubauen, zuzulas-

sen, zu installieren, zu berufen … Schon bei der Wahl des richtigen Verbs stellen sich Schwierigkeiten ein. Einige Schüler durften sich Jahre zuvor in dieser Rolle auspro-bieren: Pjotr Demianowitsch Ouspenky, Alfred Orage, John Gondolphin Bennett, Jean Toomer.

Gurdjieff hatte ihnen die Hoheit für bestimmte geographische Bereiche und die Ver-mittlung seiner Lehre übertragen, insbesondere für die USA und England. Er überwarf sich mit allen, außer mit seiner engen Vertrauten, Jeanne de Salzmann. Sie ernannte er auf seinem Totenbett zur obersten Verwalterin seines Erbes. Ein Jahr vor seinem Tod hatte er bereits die „Hauptverantwortung für die Förderung des Werkes in ganz Amerika auf die breiten Schultern von Henry John Sinclair, Lord Pentland“3 geladen. Mehr als dreißig Jahre war die autorisierte Version der Enneagramm-Idee in Gurd-jieffs Dunstkreis „hermetisch versiegelt“ geblieben – so nennt es James Moore, sein berühmter Biograph4.

Im Salle Pleyel, dem großen Konzertsaal der Stadt Paris, wurde das Enneagramm nach Gurdjieffs Choreographie – den sog. Movements – getanzt. Der Marmorboden der von neun Pfeilern gestützten Eingangshalle besaß ein Muster, auf das sich leicht ein großes Enneagramm-Symbol aufbringen ließ, ausladend genug, um es den Tän-

2 [Sinngemäß: „Ich hinterlasse Euch allen einen ziemlichen Schlamassel”] Webb schreibt hierzu: „When I asked Henri Tracol if this story were authentic, he smiled and spread his hands. „He did not say that”, he answered and paused, before continuing: „– but it was true!” (S. 475)

3 Moore, Gurdjieff, S. 3214 James Moore: The Enneagram. A Developmental Study. First published in Religion Today, V (3)

1986/87; vgl. auch www.Gurdjieff-Bibliography.com.

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

zern zu ermöglichen, sich entlang der inneren Verbindungslinien der neuneckigen Figur zu bewegen.

In England wurden – Moore zufolge – tiefgrün-dige Kommentare zum Enneagramm von einer ausgesuchten Schülerschar meditiert. Deren Ver-fasser waren der russische Schriftsteller P. D. Ouspensky und Dr. Maurice Nicoll, ein Psycho-analytiker und ehemaliger Schüler des Tiefen-psychologen C. G. Jung.

Bereits drei Jahre nach Gurdjieffs Tod war die Idee aus der hermetischen Versiegelung ausgebrochen und öffentlich zugänglich ge-macht worden. Schon 1950 hat Ouspensky seine Protokolle über Gurdjieffs Lehre in seinem Werk Auf der Suche nach dem Wunderbaren veröffentlicht, das bis heute ein überragendes Dokument der gurdjieffschen Gedankenwelt ist. Darin eingebettet war auch das Enneagramm. Ebenfalls bereits 1950 wurden – als Element eines umfassen-deren Programms – enneagrammatische Tänze im Londoner Fortune Theatre öffent-lich aufgeführt. Maurice Nicoll hat 1952 ein dreibändiges Werk publiziert5, in dem die Enneagramm-Idee auf mehr als sechzig Seiten dargestellt wird. Moore meint, es sei schwer, die Integrität und die essenzielle Würde dieser Dokumente in Abrede zu stellen. Für ihn sind sie autorisierte Manifestationen des Enneagramms.

Auf dieser gesicherten und werktreuen Grundlage sei alsbald ein ganzes Bündel gro-tesker Enneagramm-„Entwicklungen“ entstanden, die von „ideologischen Unterneh-mern“ errichtet worden seien. Im Wesentlichen durch Bennett inspiriert, hätten sie entscheidende Elemente von Gurdjieffs Lehre verworfen und Anwendungsbereiche im Management, in der Industrie und in der Wissenschaft gesucht. Moore datiert den Beginn der (innerfamiliären) Irrlehre auf diesen Zeitpunkt. (ebd., S. 3) Die orthodoxe Fraktion verharre seit nunmehr fünfzig Jahren in tiefem Schweigen.

Einer der Schüler Gurdjieffs, Rodney Collin – Moore nennt ihn „frühreif“ – war nach Mexiko ausgewandert und hat dort 1952 seine Schrift The Theory of Celestial Influ-ence veröffentlicht. Dieses erstaunliche Werk sei im Wesentlichen gurdjieff-inspiriert und, was für die weitere Entwicklung bedeutsam sei, es habe den ersten Zugang zum Enneagramm ins Spanische eröffnet und zur Gründung von Gruppen in Argentinien, Chile und Paraguay beigetragen. (ebd., S. 3) Andere Autoren sehen in Collin gleich-sam das missing link, welches den Kreis schließen und erklären könnte, auf welchem Weg das Enneagramm Gurdjieffs zu Oscar Ichazo gekommen ist. Dazu später mehr.

5 „Psychological Commentaries on the Teaching of G. I. Gurdjieff and P. D. Ouspensky.“

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2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über einezerstrittene Verwandtschaft

Für Moore ist das, was Ichazo, „der clevere ideologische Opportunist“ aus dem Enne-agramm gemacht habe, der endgültige Abstieg auf die Ebene einer spirituellen Varieté-Veranstaltung. Hier helfe nur noch die bittersüße Tröstung des Humors, denn Ichazo büße, indem er das Enneagramm-Symbol in den Mittelpunkt seines Systems stelle, dadurch jeden Anspruch auf Eigenständigkeit ein. Wie so viele Psycho-Bewegungen der amerikanischen Szene,6 habe er Gurdjieff so viel zu verdanken, würde aber so wenig davon anerkennen. Er habe nur die äußere Form des Enneagramm-Symbols kopiert, ohne sich auch nur einen Hauch seiner inneren Dynamik zu vergegenwär-tigen. Das konzeptionelle Instrument des Enneagramms sei ursprünglich entwickelt worden, um objektive Ideen zu transportieren; Ichazo habe es zu einem bloßen Ve-hikel verflacht, um sich ein paar persönliche Vorteile zu erschleichen. Sein Ennea- gramm verhalte sich zu Gurdjieffs Idee wie der samoanische Flugzeug-Kult zur mo-dernen Luftfahrt.

Um die in dieser Pfeil-Attacke enthaltene Giftdosis wirklich würdigen zu können, muss man wissen, was besagter Flugzeug-Kult bedeutet:

„Auf den Samoa-Inseln haben die Einheimischen nicht begriffen, was es mit den Flug-zeugen auf sich hat, die während des Krieges landeten und ihnen alle möglichen herrli-chen Dinge brachten. Und jetzt huldigen sie einem Flugzeugkult. Sie legen künstliche Landebahnen an, neben denen sie Feuer entzünden, um die Signallichter nachzuah-men. Und in einer Holzhütte hockt so ein armer Eingeborener mit hölzernen Kopf-hörern, aus denen Bambusstäbe ragen, die Antennen darstellen sollen, und dreht den Kopf hin und her. Auch Radartürme aus Holz haben sie und alles Mögliche andere und hoffen, so die Flugzeuge anzulocken, die ihnen die schönen Dinge bringen. Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei. Alles sieht genauso aus wie damals. Aber es haut nicht hin. Nicht ein Flugzeug landet.“ 7

Ichazo habe das Enneagramm in 63 Bereiche, darunter in Energien, in Heilige Ideen, Fixierungen, Tugenden, Leidenschaften und in Psychokatalysatoren aufgeteilt. Sie sei-en wie Paradiesvogelfedern um das Enneagramm-Symbol herum angeordnet. Die von ihm behauptete, unabhängige Entdeckung des Symbols und dessen darin verborgene Bedeutung seien nicht plausibel. Später habe er es Enneagon genannt. In unserer mo-dernen Welt habe diese nachgeahmte und kommerzialisierte Version in viele Gebiete der Gesellschaft Eingang gefunden und bereichere seine Vertreter – fast entsprechend einer spirituellen Variante des Greshamschen Gesetzes, dem zufolge schlechtes Geld auf die Dauer das gute Geld aus dem Umlauf verdrängt.

6 Moore nennt als Beispiele T-Gruppen, Encounter-Gruppen, Transaktionsanalyse, Myers-Briggs- Typindikator.

7 Aus: Wikipedia_ Stichwort: Cargo-Kult-Wissenschaft_Richard Feynman.

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

Moore findet es tröstlich, dass man trotz alledem doch erkennen könne, wie belastbar die Idee sei und über welche Anpassungsqualitäten sie verfüge. Was mache es da schon aus, wenn ein Großteil ihrer modernen Auslegung trivial und grotesk sei, und deren Ähnlichkeit mit dem Original eher der Proportion „Sargnagel zu Requiem“ entspre-che? Denjenigen, die das Symbol ausbeuteten, würde das ebenso wenig ausmachen, wie es irgendwelche wertfrei arbeitenden Anthropologen kümmere. Ihm jedoch – als engagiertem Kommentator – käme eine Zeile aus Matthew Arnolds Gedicht „Dover Beach“ in den Sinn: „ … and bring the eternal note of sadness in.”8

Würde es Gurdjieffs Modell an grundlegender Integrität mangeln, müsse man sich um dessen Korrumpierung ohnehin keine Gedanken machen. Und wenn es sich aber tatsächlich um eines jener seltenen Symbole handele, das eine neue Idee einer erwa-chenden Kraft in sich trage und diese übermittle, würde es auch die wildeste Verzer-rung überleben. Und einige kluge Köpfe, die anfangs dieser minderwertigen Kopie begegneten, würden sich instinktiv der echten Perspektive von Gurdjieffs Original-lehre zuwenden. Vielleicht könne allmählich auf dieser anspruchsvollen Basis eine ungleich intelligentere, verantwortungsvollere Auslegung begonnen werden. Gewiss sei sie überfällig.

„Taking with the Left Hand“ – W. P. Pattersons kritische Enneagramm-Historie

William P. Patterson – ein Schüler des eingangs bereits erwähnten Lord Pentland, dem von Gurdjieff eingesetzten „Rechteverwalter“ in Nordamerika – widmet dem oben be-schriebenen Problem nicht nur, wie Moore, einen wenige Seiten umfassenden Artikel, sondern eine Monographie. In etwa einem Drittel des Textes geht er der Frage nach, „wie das Enneagramm auf den Marktplatz kam.“ Seine Darlegung vermeidet Polemik, stattdessen lässt er über weite Strecken die (m. E. gut recherchierten) Fakten einfach nur für sich sprechen.

Er beginnt seinen Essay mit einer Beschreibung der Aktivitäten Helen Palmers, der „Mutter des Enneagramms der Persönlichkeit“. Sie sei eine der treibenden Kräfte, und sie habe sich diesen Titel im Bewusstsein vieler Angehöriger der Ennea-Gemeinde durch einen unermüdlichen Kreuzzug für die Idee und wegen einer diesbezüglichen, durch nichts zu erschütternden Gewissheit, verdient. Claudio Naranjo, der „Vater des Enneagramms der Persönlichkeit“, verhehle seine Skepsis und kritische Distanz zu der rasanten Ausbreitung der Idee und manchen grotesk anmutenden Anwendungen nicht.

8 [„Und bringen ew‘ge Trauertöne in das Land.“]

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2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über einezerstrittene Verwandtschaft

Oscar Ichazo, der „Großvater des Enneagramms der Persönlichkeit“, werfe den Enneagramm-Autoren (Naranjo, Palmer u. a.) vor, dass sie von einem Standpunkt des Glaubens ausgingen, aus dem sie ein Dogma machten. Dieses behandelten sie in der Folge so unkritisch als sei es eine göttliche Wahrheit – letztgültig und nicht hinter-fragbar. Ihre Arbeit sei unwissenschaftlich und ohne rationale Begründung. Sie hätten keine Kenntnis von den Quellen oder der wirklichen Grundlage des Enneagramms, geschweige denn von den fundamentalen Prinzipien, nach denen es arbeite. Sie näh-men es stattdessen als gegeben hin und schrieben seine Herkunft zweifelhaften Sufi-Quellen zu. Er, Ichazo, kenne den Sufismus sehr genau – das Enneagramm passe nicht zu dessen theoretischem Rahmen.

Ichazo macht den Enneagramm-Autoren also nicht nur einen Plagiatsvorwurf, mehr noch: Er unterstellt ihnen, sie hätten das Abgekupferte nicht einmal wirklich verstan-den. Nun ist er – wie bereits von Moore weiter oben eindeutig formuliert – alles andere als ein Waisenknabe, wenn es um die sorglose Selbstbedienung im Urheberrechts-Laden geht. Denn, wie oben bereits dargestellt, behauptet er ja, der Urheber des Enne-agramms zu sein.

Patterson knöpft ihn sich deshalb genüsslich vor. Er beschreibt seinen Werdegang von seiner Geburt (1931) an. Im Alter von 19 Jahren habe er einen europäischen Geschäfts-mann getroffen, der ihm Kopien von Ouspenskys Auf der Suche nach Wunderbaren und Tertium Organum gegeben habe. Von ihm habe er von einer Studiengruppe in Bu-enos Aires erfahren und sei dorthin eingeladen worden. Nach einer angemessenen Frist als fürs Kaffeekochen und sonstige Dienstleistungen Zuständiger, habe er ein ziemlich martialisches Aufnahmeritual überstehen müssen, an dessen Ende er als Mitglied in die Gruppe aufgenommen worden sei.

Zurück in La Paz (Bolivien) – je nach Ichazos Darstellungen schwankt die Dauer seines Aufenthalts in Argentinien zwischen einem und vier Jahren – habe er das System des „Enneagramms der psychologischen Fixierungen“ geschaffen. Das Wissen sei durch „Eingebung von oben“ zu ihm gekommen. Er habe dann in einem aktiven Prozess die Enneagons vor sich gesehen und sie visualisiert. Danach habe er (1951 bzw. 1955) zu lehren begonnen – unterbrochen von Reisen nach Nepal, Kaschmir, den Hindukusch und Afghanistan. Dabei habe er Kontakt mit derselben Schule gehabt, durch die auch Gurdjeff gegangen sei. Nach dem Tod eines von fünf Älteren dieser Schule sei er zum Qu Tub, also zum (geistigen) Zentrum, ernannt worden. Diesem obliege es, das Wissen in den Westen zu bringen und dort zu verbreiten.

1969 habe Ichazo am „Institut für angewandte Psychologie“ in Santiago de Chile eine Vorlesungsreihe über das Enneagramm als Instrument, die menschliche Psyche und

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

deren Charakterfixierungen abzubilden, gehalten. Unter den Hörern habe sich Clau-dio Naranjo befunden. Ichazo habe ihn als Person wenig beeindruckt, wohl aber sein theoretisches Wissen und seine Kenntnis von Techniken. Naranjo habe zwei Monate mit ihm und einer Gruppe von 27 Chilenen gearbeitet, bevor er nach Kalifornien zu-rückgekehrt sei.

Kurze Zeit später sei Naranjo von Ichazo zu einem zehnmonatigen Kurs nach Chile eingeladen worden, der für ihn und weitere 53 Amerikaner am 1. Juli 1970 begonnen habe. Nach sieben Monaten sei Naranjo die weitere Teilnahme „mit einem hundertpro-zentigen Votum der Gruppe“ (Ichazo) verweigert worden. Zurück in Kalifornien, habe er mit großer Energie das Enneagramm-Material aufgearbeitet, das er durch Ichazo kennengelernt habe. Verbindung zu Gurdjieff-Gruppen habe er, wenn überhaupt, nur kurz in Venezuela gehabt. Er sei vor allem enttäuscht gewesen, wie sich die lebendige Nachfolge-Linie der Gurdjieff-Schule dargestellt habe – aus seiner Abneigung gegen Lord Pentland habe er keinen Hehl gemacht.

Seine intensiven Studien der verfügbaren Gurdjieff-Literatur und Ichazos Ennea-gramm-Material über psychologische Zwänge hätten ihn einen Zusammenhang zwi-schen Ichazos Aussagen und den sieben christlichen Todsünden erkennen lassen. Er habe diese Erkenntnis mit der Typologie des DSM9 verbunden und daraus seine enne-agrammatische „Collage“ (Naranjo) entwickelt. Noch unter einem Schweigevorbehalt durch Ichazo stehend, habe er diesen um die Erlaubnis gebeten, die Inhalte lehren zu dürfen. Der habe nicht geantwortet, was Naranjo seinerseits als Zeichen gewertet habe, die Entscheidung selbst treffen zu sollen. 1971 habe er seine Schule gegründet und sie SAT (Seekers After Truth) genannt. Patterson weist daraufhin, dass er damit denselben Namen benutzt habe, den Gurdjieff und seine Mitstreiter ihrer 1895 gegründeten Ge-sellschaft gegeben hatten.

Im kalifornischen Berkeley habe Naranjo etwa vier Jahre lang sein Wissen an zwei Gruppen weitergegeben: Die erste, die SAT-Gruppe, habe unter einem Geheimhal-tungsvorbehalt gestanden. Ihre Mitglieder hätten eine Verpflichtungserklärung unter-zeichnen müssen, diese Inhalte an niemanden weiterzugeben. Eine zweite, informel-lere Gruppe habe nicht unter diesem Vorbehalt gestanden. Dieser Gruppe habe Helen Palmer angehört. Naranjo rückblickend: Er hätte nicht vorausgesehen, dass irgend-jemand dieses unausgereifte Wissen weitergeben würde, weshalb er auf eine solche Verpflichtung verzichtet habe.

Zwischenzeitlich habe Naranjo die Bekanntschaft von Kathleen Speeth gemacht. Ihre Eltern seien Schüler von Gurdjieff und dessen Schüler Alfred Orage gewesen;

9 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders.

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2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über einezerstrittene Verwandtschaft

sie selbst habe deren Ideenwelt gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen. In dieser Welt sei sie aufgewachsen und habe alle bedeutsamen Personen der Gurdjieff-Szene gekannt. Daneben habe sie einen Zugang zu einem Großteil der Informationen gehabt, und sie habe auch die Movements praktiziert. Speeth sei von Naranjos „Collage“ aus den DSM-Kategorien (histrionisch – zwanghaft – vermeidend – schizoid u.ä.) und den christlichen Todsünden fasziniert gewesen.10 Patterson meint, dass sie als Person für Naranjo eine wahre Fundgrube bezüglich der tieferen Zusammenhänge der Gurdjieff-Ideen gewesen sein müsse. Er schreibt, dass sie Naranjo auch in die Movements einge-führt habe, die bis dahin nur innerhalb der Gurdjieff-Gruppen weitergegeben worden waren. Naranjo machte sie zur Gruppenleiterin.

Um 1975 hätten sich in Naranjos Gruppen deutliche Auflösungserscheinungen ge-zeigt. Die Mitglieder seien wegen ihrer Charakter-Fixierungen in Streit geraten: Ent-weder hätten sie krampfhaft an ihnen festgehalten, oder sie hätten einander deswegen attackiert. Naranjo habe sich nach Südamerika zurückgezogen, und Kathleen Speeth habe seine Lehrtätigkeit fortgesetzt. Auch Helen Palmer habe zu ihrer Gruppe gehört. Bald darauf habe Letztere ihre eigene „Schule“ gegründet und begonnen, ihrerseits die Enneagramm-Typologie zu lehren. Naranjo rückblickend: Dies alles sei nicht ohne die ausdrückliche Unterstützung seiner frühen Schüler, die der Versuchung zu lehren nicht hätten widerstehen können, möglich gewesen.

Speeth, die Naranjos Enneagramm-Interpretation bis in die späten 1980er Jahre lehrte, habe einige Jahre später geglaubt (so geäußert in einem Vortrag anlässlich der 1. In-ternationalen Enneagramm Konferenz in der Stanford University, 1994), das „schädli-che Potenzial“ dieser Lehre zu erkennen. Trotz gegenteiliger, guter Absichten würden Menschen dazu neigen, die Idee in destruktiver Weise zu verwenden, weil die Schat-tenseiten ihrer Seele sie dazu veranlassten. Sie als Person könne die „karmische Last“ der Ideenweitergabe nicht länger auf sich nehmen und werde deshalb die Lehrtätigkeit beenden. Sarkastisch habe sie gemeint, es gebe „gute“ Gründe, die Idee zu lehren: viel Geld damit zu verdienen und viel Prestige damit zu erwerben. Diese Lehre aber sei für die wirkliche Entwicklung eines Menschen nicht geeignet. „Truly, I must say I have never seen anyone developing using the enneagram of personality”.11 (zit. n. Patterson, S. 33)

Der (Jesuiten-)Pater Robert Ochs, der gemeinsam mit Helen Palmer an den abend-lichen Enneagramm-Unterweisungen teilgenommen hatte, habe nach seiner Rück-kehr an die Loyola-University in Chicago Enneagramm-Kurse veranstaltet. Selbst-

10 Vgl. hierzu: Naranjo, Claudio: Character and Neurosis. An Integrative View.11 [„Ehrlich gesagt, muss ich feststellen, dass ich nie jemanden sich entwickeln gesehen habe, der

das Enneagramm der Persönlichkeit benutzte.“ Übers. W. R.]

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

verständlich unter dem ausdrücklichen Siegel der Verschwiegenheit (und jedem offen zugeneigt, der etwas davon habe hören wollen). Ein Kollege von ihm, Pater Patrick O´Leary, habe bald darauf als Co-Autor das erste Enneagramm-Buch veröffentlicht.12 Ihm seien Veröffentlichungen von Don Richard Riso, einem Ex-Jesuiten, und Helen Palmer gefolgt. Damit sei – wie es Patterson formuliert – der Enneagramm-Geist aus der Flasche gewesen und habe sich „auf dem Marktplatz“ ausbreiten können.

Fortsetzung vor Gericht und deren Folgen

1989 habe Ichazo und sein Arica-Institut O´Leary und seine Co-Autoren wegen Copy-right-Verletzung verklagt. Die Autoren hätten öffentlich anerkennen sollen, dass „the entire theory originated in me exclusively“, dass er, Ichazo, also der alleinige Urheber der Theorie sei. Es sei zu einem außergerichtlichen Vergleich im Sinne des Klägers gekommen.

Zwei Jahre später habe Ichazo gegen Helen Palmer geklagt. Kernpunkte seines Vor-wurfs: Sie lehre ein Enneagramm, das theoretisch falsch sei; sie weiche von der allseits akzeptierten Lehre ab und habe das Enneagramm von seiner spirituellen und philoso-phischen Verankerung abgeschnitten. Er, Ichazo, habe die Fixierungen entdeckt, und diese seien eine wissenschaftlich belegte Tatsache.

Das Gericht habe argumentiert, wenn dem so sei, könne Arica keine legalen Eigen-tumsansprüche einfordern. Vielmehr sei die Klage ein Versuch, „to prevent heresy“ [eine „ketzerische“ Verfälschung der Lehre zu verhindern]. Es habe die Klage abge-wiesen und Palmer das Recht zugebilligt, zu lehren, was immer sie wolle, sei es rich-tig oder falsch. Vor der Berufungsinstanz habe Arica argumentiert, Ichazo hätte das „System enneagrammatischer Fixierungen“ nicht entdeckt, sondern geschaffen. Diese habe geurteilt, Ichazo versuche mit der Akzentverschiebung lediglich seine Rechts-position zu verbessern, und außerdem stehe diese Argumentation im Widerspruch zur vorherigen Klage. Sie habe ihm zugebilligt, dass sein Beitrag zur Entwicklung der Enneagramm-Theorie den minimalen Grad an schöpferischer Leistung enthalte, um einen urheberrechtlichen Schutz beanspruchen zu können. Aber das Gericht habe auch geurteilt, dass Helen Palmers Umgang mit dem Enneagramm ein fair use [angemesse-ne Verwendung] sei, was nach amerikanischem Recht bedeute, dass ihr die nicht auto-risierte Nutzung von geschütztem Material zugestanden werde, sofern sie der öffent-lichen Bildung und der Anregung geistiger Produktionen diene. Palmers Lehrtätigkeit habe nun nichts mehr im Wege gestanden.

12 Vgl. Maria Beesing, Robert Nogosek, Patrick O´Leary: „The Enneagram – A journey to self-discovery”. New Jersey 1984.

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2. In herzlicher Abneigung verbunden – Bericht über einezerstrittene Verwandtschaft

Im August 1994 habe Helen Palmer gemeinsam mit David Daniels und anderen die bereits weiter oben erwähnte 1. Internationale Enneagramm-Konferenz an der renom-mierten, (südöstlich von San Francisco gelegenen) Stanford-University veranstaltet. Ichazo und Naranjo seien der Konferenz ferngeblieben. Letzterer habe sich zu dieser Zeit in Spanien befunden, wohin er einen Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit verlagert hatte. Er habe die Teilnehmenden jedoch mit einer längeren Video-Botschaft begrüßt.13 Darin habe er sich von Ichazo abgegrenzt und darauf verwiesen, dass er stets seine eigene Interpretation der Idee gelehrt habe. Er habe deutlich gemacht, dass ihm die Verbreitung der Enneagramm-Idee in diesem „frühreifen“ Stadium überhaupt nicht behagt habe. Diejenigen, die jetzt für die Verbreitung der Idee sorgten, seien nur mit einem Bruchteil des viel komplexeren traditionellen Theorie-Korpus vertraut. Diese Kritik habe er 1996 in einem Zeitschriften-Interview noch einmal zugespitzt, in dem er die Seichtigkeit, den schlechten Geschmack und die generelle Unreife der aktuellen Veröffentlichungen angeprangert habe. Die fragwürdige Ethik der „frühreifen“ Leh-renden habe „kulturelle Konsequenzen“ gehabt: Er sehe die Ennea-Bewegung durch eine Mischung von Gier, Arroganz und einem mangelnden Respekt vor den Quellen des Wissens pervertiert.

Die Empörung darüber sei zwangsläufig erfolgt. Helen Palmer habe ihm in einem In-terview in derselben Zeitschrift geantwortet. Darin habe sie ihm vorgeworfen, dass er es schließlich gewesen sei, der im Anschluss an sein Training in Arica 1970 von Ichazo mit dem Rauswurf bestraft worden sei, weil er diese „mystische Tradition“ an gierige Psychologen verkauft habe. Zwar sehe auch sie manches in der Bewegung kritisch, be-sonders wertvoll aber sei, dass das Enneagramm eine Brücke zwischen weltlichen und esoterischen Interessen schlage. Naranjo blieb bei seiner Einschätzung: „Yet I have said what I have said …“ So viel also zu Pattersons historisch-kritischem Bericht.

Und wie es danach weiterging

Machen wir einen Zeitsprung: Vom 6. – 8. August 2004, anlässlich der 10. Jahreskon-ferenz der International Enneagram Association in Arlington, Virginia, kehrte Claudio Naranjo in den Schoß der – unterdessen prächtig gewachsenen – Enneagramm-Familie zurück. In seiner Begleitung befanden sich 27 Mitarbeiter, denen offensichtlich keine Anreise zu weit war, um mit ihrem Lehrer gemeinsam die Philosophie und Geheim-nisse der 27 Ennea-Subtypen (deren Bezeichnung als Mustervarianten ich bevorzuge) darzustellen, zu üben und zu vertiefen. Die Vorab-Spannung war ebenso groß wie die Begeisterung bei einigen und das erzeugte Ressentiment bei anderen Kongressteil-

13 Das Transskript der Videobotschaft ist in Enneagram Monthly, Vol. 2, Feb. 1996, S.16 f. veröf-fentlicht.

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

nehmern.14 Letzteres wurde ausgelöst durch ein ebenso heikles wie kontroverses The-ma des „Enneagramms der Persönlichkeit“: die Diagnostik. Aus ihrem Herzen keine Mördergrube machend, kommunizierten die 27 Gehilfen frank und frei ihre Zweifel, die ihnen an den diagnostischen Selbst-Einschätzungen (bzw. durch die Autorität re-nommierter „Enneagramm-Größen“ vermittelten Diagnosen) vieler Kongressteilneh-merinnen und -teilnehmer kamen: Sie komplimentierten sie in eine Gruppe mit der Bezeichnung „ZEHN“, was im Klartext so viel hieß wie „mitgebrachte Musterdiagno-se falsch oder zweifelhaft“.15

Das Eis ist und bleibt vermutlich auf absehbare Zeit dünn. Die langen Schatten der jüngeren Vergangenheit bleiben sichtbar, und Stoff für kontroverse Debatten gibt es in ausreichender Menge. Ich persönlich werte das aber eher als ein Zeichen von Vita-lität. Schließlich ist das Konzept des Enneagramms der Persönlichkeit noch gar nicht sehr lange in die Phase der Volljährigkeit eingetreten. Und das bedeutet – in ideenge-schichtlichen Dimensionen betrachtet – eigentlich, knapp den Windeln entwachsen zu sein: Wir haben es im besten Sinne des Begriffs mit work in progress zu tun.

Im weiteren Verlauf möchte ich Sie, verehrte Leserinnen und Leser, an meinen Erkun-dungen in der Ideenwelt Georg Iwanowitsch Gurdjieffs teilhaben lassen. Ich bin mir der Anmaßung bewusst, die in diesem Vorhaben liegt: Durch das, was ich mitzuteilen beabsichtige, soll sich eine Ahnung und zunehmend genauer werdende Vorstellung davon entfalten, worin Gurdjieffs Lehre dem Grunde nach besteht. Ich verbinde den-noch damit die Hoffnung, einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, in nicht allzu ferner Zukunft wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen. Wie hoffentlich aus meinen sehr subjektiven Eingangsbemerkungen deutlich wurde, glaube ich nämlich – im Gegensatz zu den referierten kritischen Positionen – nicht, dass es sich bei „unse-rem“ Enneagramm der Persönlichkeit um einen beklagenswerten Anwendungsfall des „samoanischen Flugzeug-Kults“ handelt.

Und wenn es dennoch so wäre? Dann würde ich fröhlichen Herzens, heiteren Sinnes und ohne Bedauern darüber staunen, was Attrappen faktisch bewirken können. Hoch lebe Placebo! Ich bin mir unterdessen jedoch ziemlich sicher, dass ein unvoreinge-nommener Blick auf Gurdjieffs Lehre für alle, die mit dem Enneagramm umgehen,

14 Vgl. hierzu die Kongressberichte von M. Monks und A. Kirby in Enneagram Monthly, Nr. 107, S. 8 f.

15 M. Monks schreibt: „I felt queasy as I observed other attendees being told they were not the type they had determined for themselves – and a discomfort with seeing the IEA’s ethical stance ignored by Naranjo’s SAT members during their interactions with participants in type/subtype-groups.” (S. 8) [„Mir wurde mulmig, als ich beobachtete, wie anderen Teilnehmenden mitgeteilt wurde, sie seien nicht der Typ, für den sie selbst sich gehalten hätten – und sehr unbehaglich wur-de mir, als ich sah, wie der ethische Standpunkt der IEA von den Mitgliedern der SAT-Gruppe während ihrer Interaktionen mit den Teilnehmenden in den Typ/Subtyp-Gruppen ignoriert wur-de.“ Übers. W. R.]

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3. Eine sehr kurze Beschreibung der Arbeit im Vierten Weg

ziemlich erhellend sein kann. Manche unserer bisherigen Annahmen erscheinen in an-derem Licht, andere erweisen sich als dringend erweiterungsbedürftig, wie z. B. unsere Grundannahmen über den gesamten Bereich, der mit Entwicklung zusammenhängt.

3. Eine sehr kurze Beschreibung der Arbeit im Vierten Weg „In dieser Arbeit haben wir gutes Leder an Menschen zu ver-kaufen, die sich auf den Weg machen wollen. Aber die Men-schen müssen ihre Schuhe aus diesem Leder selbst herstellen.“ (Gurdjieff)

Warum „Vierter Weg“?

Alle spirituellen bzw. religiösen Traditionen zielen letztlich darauf ab, uns Menschen Wege zur Unsterblichkeit aufzuzeigen. Es gibt sehr viele dieser Wege, einige sind länger, andere sind kürzer, einige sind leichter, andere sind schwerer, aber alle weisen in dieselbe Richtung und stellen eine ähnliche Frage: Was muss ein Mensch tun, wie muss er sein Leben gestalten, damit ihm die Aussicht auf Unsterblichkeit zur Verhei-ßung wird?

Gurdjieff ging davon aus, dass Unsterblichkeit kein Geburtsrecht des Menschen sei, dass er sie aber sehr wohl erwerben könne. Er unterstellte, dass alle existierenden und allgemein bekannten Wege zur Unsterblichkeit letztlich in drei Kategorien unterteilt werden können:

• den Weg des Fakirs,• den Weg des Mönchs,• den Weg des Yogis.

Der Weg des Fakirs ist die lebenslange Auseinandersetzung mit dem physischen Kör-per. Der Fakir versucht, einen Willen zu entwickeln, mittels dessen er die Macht über seinen Körper erringt. Er benutzt dazu vielfältige, unvorstellbar komplizierte Übun-gen, die ihm schreckliche Schmerzen bereiten und für seinen Körper eine ungeheuerli-che Tortur bedeuten. So steht er z. B. stundenlang, manchmal tage-, monate- und sogar jahrelang regungslos in derselben Körperhaltung. Oder er sitzt mit ausgestreckten Ar-men auf einem bloßen Stein und ist dabei Sonne, Wind, Regen oder Schnee ausgesetzt. Oder er peinigt sich mit Feuer und glühenden Gegenständen, steckt seine Beine in einen Ameisenhaufen und ähnliches mehr. Wenn er die Tortur überlebt, entwickelt sich in ihm das angestrebte Ziel: Er besitzt einen physisch-orientierten Willen und hat

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Erster Teil: Die Lehre des Vierten Weges

durch ihn die Macht über seinen Körper. Seine anderen Funktionen, wie z. B. die emo-tionalen und intellektuellen, bleiben unentwickelt. Und sein erworbener Wille ist ihm keine Hilfe, deren Entwicklung voranzubringen. Für eine Selbstvervollkommnung in dieser Hinsicht ist er dann meistens bereits zu alt.

Hinzu kommt, dass er seinen Weg von Anfang an ohne ein wirkliches Verständnis seines Zieles und seiner Möglichkeiten begonnen hat. Oft werden in asiatischen Län-dern Kinder von ihren Eltern einer Fakir-Schule übergeben, weil es Brauch ist, dies als Dank für ein glückliches Ereignis in ihrem Leben zu tun. Oder diese Schulen adoptieren Waisen; manchmal kaufen sie armen Eltern ihre Kinder auch schlicht gegen Geld ab. Die Kinder werden ihre Schüler und ahmen sie nach. Und manchmal geschieht es auch, dass sich Menschen einfach vom Anblick eines praktizierenden Fakirs magisch angezogen fühlen und darin einen Weg für sich entdecken, dem sie fortan folgen.

Der Weg des Mönchs ist der Weg der Hingabe, der Weg der religiösen Gefühle und der religiösen Opfer. Es liegt auf der Hand, dass nur ein Mensch mit starker religiöser Emotionalität und einer starken religiösen Vorstellungskraft für diesen Weg geeignet ist. Auch er ist hart und schwer. Er verlangt einen oft jahrzehntelangen Kampf mit sich selbst, mit seinen Begierden und Zweifeln. Die Konzentration des Mönchs richtet sich auf seinen Gefühlsbereich. Er ordnet alle seine Emotionen dem einen großen Gefühl unter: der Hingabe an seinen Glauben. Er glaubt und gehorcht seinem Lehrer und geht davon aus, dass seine Mühen, seine Opfer und sein Fasten „gottgefällig“ sind. So kann er in sich selbst einen geeinten Willen erreichen, der ihm Macht über seine Gefühle verleiht. Sein physischer Körper und sein Denken können dabei ziemlich unentwickelt bleiben. Er müsste neue Opfer bringen, neue Härten in Kauf nehmen, zu neuen Ent-sagungen bereit sein, um seinen im emotionalen Raum erreichten Zustand auch auf die beiden anderen Bereiche auszudehnen. Gurdjieff vermutet, dass nur sehr wenige Menschen dieses Ziel erreichen.

Der dritte Weg ist der Weg des Yogis. Der Yogi geht den Weg des Wissens, den Weg des Verstandes, des Denkens und der Vernunft. Er entwickelt sein Bewusstsein und er-langt die Kontrolle über seine Gedanken. Er weiß, was er will, was er braucht, und auf welchem Weg er es am besten erwerben kann. Aber sein Körper und seine Emotionen bleiben vergleichsweise unentwickelt, sodass er – wie der Mönch und der Fakir – seine Errungenschaften auf diese Bereiche ebenfalls nicht ausdehnen kann. Jedoch hat er den Vorteil, seine Defizite zu erkennen. Er weiß, was ihm fehlt, was zu tun ist, und in welche Richtung er gehen muss.

Page 30: Wilfried Reifarth Bejahen, Verneinen, Versöhnen · PDF fileGurdjieff und Ouspensky 274 Nachbemerkung276 16. Fazit: Was die zerstrittene Verwandtschaft voneinander lernen könnte 278

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3. Eine sehr kurze Beschreibung der Arbeit im Vierten Weg

Alle drei Wege haben eines gemein: An ihrem Beginn steht eine vollständige Verände-rung des Lebens und seiner bisherigen Umstände. Sie geht einher mit einer Abkehr von weltlichen Dingen: Ein Mensch gibt sein Zuhause, seine Familie und seine Freunde auf. Er entsagt seinen Vergnügungen und entlässt sich selbst aus seinen bisherigen Ver-pflichtungen. Er geht in die Wüste, in ein Kloster oder in eine Yogi-Schule und „stirbt“ gleichsam für seine bisherige Welt. Nur so kann er hoffen, auf einem dieser drei Wege an sein Ziel zu gelangen.

Der Vierte Weg unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von den genannten drei We-gen. Er verlangt keinerlei Rückzug, weder ins Kloster, noch in die Wüste, noch von den gewohnten sozialen Beziehungen. Dieser Weg hat keine feste bzw. definitive Form, wie das bei den vorgenannten Wegen der Fall ist. Deshalb ist er nicht ohne Wei-teres sichtbar, sondern muss von dem Suchenden gefunden werden; man sagt, das sei der erste Test. Hat der Suchende eine solche Möglichkeit gefunden, kann er in seiner gewohnten Umgebung weiterleben wie bisher: Er geht seiner Arbeit nach und lebt in seinen vertrauten Beziehungen.

Wenn „die Arbeit im Vierten Weg den Suchenden gefunden hat“, dann ist es hingegen geradezu erforderlich, dass ein Mensch in seiner natürlichen Umgebung verwurzelt bleibt, denn diese Bedingungen sind er selbst, sie machen ihn aus, sie sind, was er ist – sein So-Sein. Alles andere wäre aufgesetzt und künstlich und würde verhindern, dass alle Seiten des suchenden Menschen gleichzeitig angesprochen werden. So arbeitet er gleichsam synchron im körperlichen, im emotionalen und im kognitiven „Raum“, denn alle diese Seiten des Menschen werden von der Arbeit im Vierten Weg berührt. Sein Kloster heißt Alltag.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist die Forderung an den Suchenden, zu verste-hen, was er tut. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass er nichts tun darf, was er nicht versteht. Es wird gesagt, der Ertrag der Arbeit entspreche dem Grad seiner Bewusst-heit und der Einsichtstiefe seines Verstehens. Hierfür braucht es keinen Glauben, im Gegenteil: Jede Form des „Glaubens“ läuft den Prinzipien des Vierten Weges zuwider. Ein Mensch muss sich selbst ein Bild machen, er muss auf den Prüfstand stellen, was ihm als „Wahrheit“ verkündet wird. Solange er nicht von innen heraus einverstanden und überzeugt ist, muss er nichts tun.

Nun folgt ein Überblick, der wesentliche Elemente bzw. Grundannahmen dieses Vierten Weges in einer ersten Annäherung zusammenfasst. Es ist meine kompri-mierte Version einer Synopse, die Maurice Nicoll unter dem Titel: „Simple Expla-nation of Work Ideas“ erstellt hat und die erstmals 1961 in London veröffentlicht