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Igel Verlag Literatur Wilhelm Kunze Heinrich von Ofterdingen erzählt seine Geschichte (Novelle) Lyrik und Erzählminiaturen

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Mit diesem Band erscheint posthum eines der zentralsten schriftstellerischen Projekte Wilhelm Kunzes (1902-1939). An Hermann Hesse, den eine langjäh-rige, intensive Korrespondenz mit dem jungen Schriftsteller verbunden hatte, schrieb Kunzes Witwe über das Manuskript Heinrich von Ofterdingen: „Sehr schmerzlich ist es, dass mein Mann eine Arbeit, die er seit vierzehn Jahren vor-bereitet hat und die zur Niederschrift auf seinem Schreibtisch bereitliegt, im Stich hat lassen müssen.“Dass Kunze bis zu seinem frühen Tod an dem Romanvorhaben festhielt und arbeitete, macht den Text für die Erschließung seiner schriftstellerischen Ent-wicklung unverzichtbar: Von seinem sprachgewaltigen, expressionistisch inspi-rierten Debüt Der Tod des Dietrich Grabbe (Igel Verlag 2008) über seinen ge-sellschaftskritischen Roman Die Angstmühle (Igel Verlag 2004) findet er hier zu einem klassisch-romantischen Erzählstoff und Ton.Viele der in diesem Band ebenfalls gesammelten Gedichte und Erzählminiatu-ren belegen Kunzes Tendenz, sich zunehmend in eine mystisch gefärbte Inner-lichkeit zurückzuziehen.Es is ein wesentliches Merkmal des zu jung verstorbenen und zu Unrecht ver-gessenen Literaten, so verschiedene Pole in sich zu vereinen und mit immer gleicher stilistischer Brillanz und Intensität zum Ausdruck zu bringen.

Außerdem im Igel Verlag erschienen:

Hermann Hesse/Wilhelm Kunze: Briefwechsel 1920 bis 1930. ISBN 978-3-89621-209-2.

Wolfgang Adam: Das kurze Leben des Nürnberger Dichters Wilhelm Kunze. Biographische Darstellung. ISBN 978-3-89621-224-5.

Wilhelm Kunze: Die Angstmühle und andere Texte. ISBN 978-3-89621-181-1.

Wilhelm Kunze: Der Tod des Dietrich Grabbe. Das Salz der Erde. ISBN 978-3-86815-005-6.

ISBN 978-3-86815-202-9 14,00 Euro

Igel Verlag Literatur

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Wilhelm Kunze wird am 1. September 1902 in Nürnberg geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters folgt die religiös motivierte Erziehung durch die Mutter Anna und den Onkel, Gymnasialprofessor Hans Wohlbold, in dessen Haus Kunze Thomas und Hein-rich Mann sowie Rudolf Steiner kennen-lernt. Kinderlähmung und eine schwere Herz-krankheit überschatten die Kinderzeit. Wäh-rend seiner Gymnasialzeit in Nürnberg und Nördlingen (1912-1919) beginnt Kunze mit Tagebuchaufzeichnungen. Er macht eine Buchhandelslehre, gründet einen literari-schen Gesprächszirkel und liest die Werke Rudolf Steiners. Ab 1922 werden erste Ge-dichte und Novellen veröffentlicht, die Hermann Hesse und Heinrich Mann zu enthusiastischen Rezensionen bewegen. Mit beiden freundet er sich an und es kommt zu einem regen Briefwechsel mit Hesse. Kunze heiratet 1925 und wird freier Schriftsteller. Zahlreiche, teils unveröffentlichte Werke entstehen.

Von 1925 bis 1933 liefert er regelmäßig kulturkritische Beiträge für verschiedene Zeitungen Nürnbergs. In den 20er Jahren unternimmt er zahlreiche Reisen in Mittel-europa, die er in den 30ern wegen zuneh-mender Herzschwäche nicht mehr fortset-zen kann. 1930 kommt es zum Bruch mit Hermann Hesse, der Kunzes Roman Die Angstmühle scharf kritisiert. Wegen seiner indirekten, doch deutlichen Kritik am Fa-schismus unterbinden die Nationalsoziali-sten nach 1933 Kunzes freie Mitarbeit bei der Nürnberger Zeitung, so dass ihm sei-ne ohnehin dürftige Lebensgrundlage ent-zogen ist. Sein letztes Buch Blauer Himmel um die Erde (1936) wird 1939 beschlag-nahmt. Wilhelm Kunze stirbt am 1. Juli 1939 an Herzinsuffizienz in der für ihn hochproblematischen Heimatstadt Nürn-berg.Der Roman Heinrich von Ofterdingen er-zählt seine Geschichte, an dem Kunze seit 1925 gearbeitet hatte, liegt zu diesem Zeitpunkt „zur Abschrift bereit“ auf sei-nem Schreibtisch und erfährt keine Veröf-fentlichung mehr. Die in diesem Band ebenfalls versammelte Auswahl von Er-zählminiaturen stammt aus dem beschlag-nahmten Blauer Himmel um die Erde; seine Gedichte konnte Kunze zum Teil in kleinen Sammlungen publizieren, viele wurden erst posthum herausgegeben oder blieben unveröffentlicht.

Wilhelm Kunze

Heinrich von Ofterdingen erzählt seine Geschichte

(Novelle)Lyrik und Erzählminiaturen

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Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diesen Titel in der Deutschen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten sind unter http://dnb.ddb.de verfügbar.

Covergestaltung unter Verwendung der Litographie „Die Wartburg bei Eisenach im Thüringer Land“ (u. 1840)

bpk, Berlin, 2009, Jörg P. Anders

Wilhelm Kunze: Heinrich von Ofterdingen erzählt seine Geschichte Lyrik und Erzählminiaturen 1. Auflage 2009 | ISBN: 978-3-86815-642-3 © IGEL Verlag GmbH , 2013. Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany

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Heinrich von Ofterdingen erzählt seine Geschichte (Fragment, 1925-1939)

„Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden“

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1. Die Geschichte, meine Geschichte, die ich beschreiben will, ist ernster, als es dem flüchtigen Eindruck scheinen mag. Die Men-schen neigen gerne dazu, das Leid des Lebens zu unterschätzen, – sie wissen nicht, daß die Liebe nichts wäre ohne die abertausend Schmerzen, die ihr vorausgehen. Und so ist vielleicht meine Ge-schichte die Geschichte eines ewigen Schmerzes, eben darum, weil sie die Geschichte einer Liebe ist.

Auch die Irrtümer lieben die Menschen nicht; ich weiß es. Aber sind nicht gerade die Irrtümer unseres Herzens die kleinen Seiten-wege, auf denen Gott zu uns kommen kann? Der Gott, der uns unserer Irrwege halber zürnen wollte, wäre für meine Augen kein Gott. Wie könnte er’s uns zurechnen, wenn wir auf seiner Erde, ehe wir den Frieden finden, im Unfrieden leiden, ehe wir das Glück finden, das Unglück achten?

Wenn wir nur endlich zum Licht kommen, sei’s heute oder morgen; wenn wir nur nicht müde werden, die tausend Bitternisse in unserer Seele aufzunehmen, ohne zu hassen oder irgendwem zu zürnen! Aus dem dornenvollen Dunkel unserer Mühsale, die klein sind vorm Blick des Ewigen, schwingt sich ganz gewiß der gewal-tige Vogel des neuen Daseins zur neuen, ewig jungen Sonne. Wer wollte verzagen, wenn auch die Nacht noch so lange währt; wer wollte dem Licht darum zürnen? …

Es wird seltsam aussehen, daß ich jetzt nichts als meine Ge-schichte erzähle. Halten mich doch viele für eine sagenhafte Ge-stalt; gibt es doch solche, die der Meinung leben, das Volk habe mich und meine Geschichte erfunden und ich hätte gar nicht gelebt. Es ist etwas Wahres daran, – obgleich ich gelebt habe, wie ich heute wieder lebe und wohl noch öfter leben werde.

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Denn was wäre der Mensch, wenn er nicht immer wiederkommen dürfte? Wo bliebe sein Werk und sein Wille, wenn nicht er selbst sich dessen annähme? … Sind wir gestern wach gewesen, so werden wir’s auch heute und morgen sein, und was gestern unser gewesen, bleibt es über alle Nächte hinaus. Die Freunde kommen wieder, bis sie eins mit uns geworden; die Feinde von gestern sind auch die heutigen, bis sie unsere Freunde und auch sie mit uns eins werden. Denn eins werden ist not! – Alle Qualen, die wir aus Furcht nicht auskosten mögen, bleiben neben uns stehen, bis wir, wir selber, uns ihrer erbarmen. Denn auch die Qualen wollen erlöst werden zum Leben, indem wir sie erleben. Es bleibt uns nichts erspart, was zu unserer Entwicklung dient; wir müssen lernen. Und wenn wir uns heute widersetzen, so bleiben wir stehen und müssen morgen an eben dieser Stelle fort-fahren. Ja: wir fahren fort, wo wir aufhörten; wie der Bildhauer am frühen Morgen da weiterarbeitet, wo er am späten Abend zuvor den Mei-ßel aus der Hand legte. Dazwischen ist die Nacht. Dazwischen hinein fällt immer wieder der undurchdringliche Vorhang, durch den uns Gott für einige kosmische Stunden den Quellen der Kraft anheimgibt. Gott meint es gut mit uns; er will nicht das Böse. Nie-mand will das Böse, wenn nicht der Mensch. So wandre denn mein Blick jetzt zurück; er hebe den Vorhang, den Gott dem guten Wil-len gern zur Seite rückt. Er lese in der Vergangenheit mit uner-schrockenem Mut und einem unerbittlichen Wahrheitssinn. Was wir sehen, indem wir den Schleier heben, ist nichts als ein Mensch.

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2. Ich habe meine Mutter nie gekannt. Aus den Erzählungen meines Vaters erfuhr ich, daß sie ein schöner Mensch gewesen sei; eine einfache, etwas unbeholfene Person, die er im Alter von etwa zwanzig Jahren geehelicht. Er selber mag damals ungefähr vierzig Jahre gewesen sein. Ich kenne ihn als einen verschlossenen, grüble-rischen Menschen, der ein gutes, aber weiches Herz hatte und viele Enttäuschungen erleben mußte. Er zog sich von der Welt, die von vielerlei Geschrei widerhallte, zurück und lebte mit seinem einzi-gen Kind auf der Höhe über einem Dorf unweit eines Kapuziner-klosters. Manchmal war ihm dieses Kloster eine heimliche Zuflucht in den Nöten seiner Seele; die Brüder und Väter des Ordens liebten ihn und seine Gesellschaft, und so durfte er manche Stunde in ih-rem Kreis verbringen. Der Tod seiner Gattin Elisabeth, an dem eigentlich meine Geburt schuld haben soll (ich bin an Johanni geboren), ging ihm so zu Herzen, daß er sich mit dem Gedanken trug, den Rest seines Erden-lebens ganz dem heiligen Orden zu weihen; und er hätte, wäre ich nicht gewesen, den Gedanken gewiß in die Tat umgesetzt. Doch war kurz nach meiner Geburt bei meiner Mutter ein fremder, dunkler Ritter gewesen, Klingsor mit Namen, der meiner Mutter ihren baldigen Tod voraussagte und sie bat, ihn als Paten für den Neugeborenen annehmen zu wollen. Da er Geschenke für mich auspackte und meine Eltern infolge der unbilligen Zeiten in mißli-chen Verhältnissen lebten, nahm meine Mutter, wenn auch betrüb-ten Herzens, die Patenschaft an. Mein ursprünglicher Name, Johannes, wurde mir abgesprochen, und der Fremde nannte mich Heinrich.

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Ich vermute, daß mein Vater über den Eingriff des Fremden nicht wenig erzürnt war. Es mag zu einem Streit zwischen ihm und mei-ner Mutter gekommen sein, an dessen Folgen sie dann starb. Doch hatte Gottfried, mein Vater, so viel Ehrfurcht, daß er das Verspre-chen, das sie dem fremden Mann gegeben, zu halten willens war. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr sollte ich von ihm aufgezogen werden; alsdann würde ich in die Dienste des unbekannten Ritters treten dürfen. Sobald ich von dem unbekannten Mann, der mich schon bei meiner Geburt für seine Dienste bestimmt hatte, nur hörte, war ich voller Zuversicht und Neugierde und konnte kaum erwarten, seine Be-kanntschaft zu machen. Ich dachte nicht an meinen armen Vater, der mich all die einsamen Jahre hindurch liebgewonnen hatte; die Schmerzen, die ich ihm mit meiner Gedankenlosigkeit zugefügt habe, brennen mir noch heute in der Seele. Denn was mochte er gelitten haben, wenn er bemerkte, wie ich von dem Herrn meiner Zukunft in fantastischen Bildern sprach und in Märchenträumen schwelgte, als wäre ich ein verwunschener Prinz, von dessen Gnade mein guter Vater lebte, und der zukünftige Held würde mich be-freien und an meinen eigentlichen Platz stellen … Indessen lebte mein Vater sein stilles Dasein hin, er fand sich im Lauf der Zeit mit dem Schicksal ab und lenkte seine frommen Ge-danken auf das Kloster, in das er, wäre ich nur erst aus der Heimat, eintreten wollte. Ich habe viel in dieser kurzen Zeit von meinem lieben Vater ge-lernt. Er wußte manches über die irdische Welt zu sagen; Steine, Pflanzen und Tiere waren ihm vertraut, ihre Gesetze, Gewohnhei-ten und Pflichten. Den Gang der Sterne besah er mit klugem Geist, auch sah er aus den Wolkenbildungen oft kommendes Wetter um Tage voraus. Am liebsten verweilte er bei den Steinen, deren Bil-dungen er auf die mannigfaltigste Weise als die Verwandlungen irdischen Lebens deutete. Stundenlang saß ich mit ihm vor einem

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Haufen Steine und lauschte den Worten, die so liebevoll auf die zarten Gebilde eines tieferen Daseins eingingen. Die Ehrfurcht vor dem, was tief unter uns steht, und die Liebe zu ihm, hätte ich schon von meinem Vater mit Leichtigkeit lernen können. Als ich älter wurde, durfte ich ihn zuweilen zu dem Kloster beglei-ten und durfte den Mönchen die Hand hinreichen, was ich nicht etwa schüchtern, sondern stolz und mit dem Bewußtsein tat, das Patenkind eines großen Unbekannten zu sein. Doch waren auch diese Menschen nur freundlich zu mir und meinten es mit mir gut. Man versprach mir, wenn ich artig wäre, die Teilnahme an einem Gottesdienst in der Kapelle; ich würde die Orgel spielen hören und würde vor dem Muttergottesbild still hinknien dürfen. Nach langem Warten kam dieser feierliche Tag, den ich nur selten vergessen habe. Die Kapelle war von den Brüdern angefüllt; mein guter Vater saß auf einem Gestühl an der Seitenwand und ließ den sorgenden Blick nicht von mir. Es ist mir später oft gewesen, als wären ihm in dieser Stunde Bilder meines künftigen Schicksals vor der Seele gestanden. Sein Antlitz war ernst wie noch nie! Das Herz pochte in meiner Brust, die Augen gingen mir manchmal über, während der Choral der Brüder im Wechselgesang den Raum füllte. Es ward mir seltsam weh ums Herz. Gibt es einen schmerzlicheren und doch größeren Augenblick als den, in welchem wir uns plötz-lich klein und unbedeutend gegenüber einer mächtig aufrauschen-den Weltenharmonie empfinden? Wir spüren die Gerechtigkeit in unserer Erniedrigung, und gerade deshalb ist dieser Augenblick groß und schmerzlich. Doch wie sank mein Stolz erst zusammen, als ich unter dem Bild der Mutter Maria kniete und mit inniger Teilnahme den Gebeten des Priesters folgte. Die Sinne schwanden mir, da ich den Kopf zu der heiligen Jungfrau aufhob. Überirdi-scher Glanz blendete meine Augen, für ewig blieb das Bild des strahlenden Weibes in meiner Seele haften. Zu dem allem war mir in dieser Sekunde, als trüge die Heilige auf ihrem Arm nicht den kleinen Knaben Jesus, sondern mich! Ich sah mich selber auf dem

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Arm der Mutter. Ich erschrak darüber so sehr, daß ich weinte und man mich schier bewußtlos aus der Kapelle schaffen mußte. Es war mein siebenter Geburtstag gewesen: Johanni Elfhundertsie-benundsiebzig.

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3. Die Gegend, in der wir wohnten, war bergig und einsam. Zu Füßen unserer Hütte lag das Dorf, in ihrem Rücken stieg der Gipfel eines kleinen Berges an, über den die Straße in die ferne Welt führte. Ich stand oft auf der Kuppe und sah in die waldigen Fernen, die sich zuletzt in Nebel und Wolken verloren. Dort hinten mochte die Burg meines Paten liegen; sie reichte wohl über die Wolken hinauf, und auf dem goldleuchtenden Turm blies der Wächter sein morgendli-ches Lied … Ich bin nie allein gewesen, auch wenn ich wie verlassen durch die wilden Wälder lief. Immer war mir, als ginge ein unsichtbarer Ge-spiele mit, und wir tauschten Gedanken und Eindrücke gegenseitig aus. Einmal nannte er mir seinen Namen – Angelus –, und seitdem konnte ich ihn rufen, wann ich wollte, er kam und half, wo es ging. Er führte und beschützte mich. Der Sturm toste in den hohen Bäumen des Forstes, die Wolken, dunkel und schwer, brausten am Himmel hin, Erde und Himmel begannen im Kampf der Elemente sich zu berühren; Blitze knatter-ten in das Getöse des einsetzenden Regens –, ich aber stand einsam auf der Kuppe unseres Berges. Erst schüttelte mich die Angst; aber ich sah in die weite Ferne und schöpfte Mut und biß die Zähne zusammen. Da faßte mich das Tosen der Elemente im Innersten, daß ich die Arme zum Himmel emporwarf und jauchzte … Ein greller Blitz fuhr vor mir nieder; in seinem Aufleuchten schaute ich das Bild der Maria, wie es im Kloster stand, und mit dem Ruf „An-gelus!“ stürzte ich zu Boden …

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Angelus hatte mich gerettet, das wußte ich. In meiner Seele stieg eine warme Dankbarkeit gegen den unsichtbaren Freund auf, der so viel über mein Leben vermochte, und im stillen fragte ich mich schon jetzt, wie ich seine Treue würde vergelten können. Aber jedesmal trat mit jener Frage gleichzeitig die Himmelskönigin in dem strahlenden Glanz, wie ich sie kannte, mir entgegen, und ich rätselte lange, bis ich erfuhr, daß meine Treue gegen Maria diejeni-ge meines unsichtbaren Freundes gegen mich bezahle. Doch über-fiel mich lange Zeit hindurch beim Anblick Marias mit dem Kinde noch immer das erste Schwindelgefühl, als müsse ich wie damals zu Boden stürzen. Künftig blendete mich freilich kein Glanz, der nicht der ihre war. Alle Eindrücke des äußeren Lebens waren schwach und ohnmächtig gegen diesen einzigen der Seele. Der blieb und wuchs, wenn auch in den Untergründen und wenn auch zeitweise überwuchert von häßlichen Wünschen und trägen Irrlich-tern. Meine Phantasie begann frühzeitig wach zu werden. Da ich nur mit meinem einsamen Vater lebte, in dessen Umgang ich höchstens die Mönche von Mariahilf kennenlernte, so hatte ich noch nie eine weibliche Gestalt erblickt; Maria war die erste, aber ich betrachtete sie mit der frommen Scheu des unsicheren Menschen. Ihre Heilig-keit strahlte in allen dunklen Stunden dieses jungen Daseins auf und erhellte meine Gedanken. Nur die rege Phantasietätigkeit konn-te ihrer Gestalt sich nähern; und hielt ich sie auch ängstlich wie vor dem Heiligsten, was ich besaß, zurück, so wachte doch meine Neu-gier zugleich auf und ließ mich nicht ruhen, bis ich das göttliche Bild zerstört hatte. Ich weiß, Angelus hatte mich oft gewarnt und war in den düstersten Augenblicken meiner inneren Qualen immer an meiner Seite gestanden, um mir zu helfen. Er hat viel ungestüme Bosheit von meiner Seite empfangen, und es ist ihm nicht leicht geworden mit mir; denn selbst die Nächte brachen mir in den frü-hen Schmerzen zusammen und wollten mich nicht mehr als ihren Freund kennen. Ich war ein ungeduldiger Patient des Lebens. Oft war ich vor Tag wieder draußen in den Wäldern und flehte auf den

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Knien zur Mutter Gottes, sie möge zu mir herniedersteigen. Dazwi-schen rief ich Angelus, mir zu helfen; die Leiden wuchsen, die Bilder der Welt tanzten vor meinen Augen; kaum wußte ich, wer ich war. Oh, hätte meine Mutter gelebt, – wie wäre doch alles an-ders gekommen. Jahraus, jahrein kam niemand zu meinem Vater. Seine Stimme, die klar und klangvoll war, hörte ich nur, wenn er mit mir sprach (was selten geschah), oder im Kloster. Ich weiß, daß mein Vater Sinn für den Gesang hatte, und er mochte wohl auch in den frühesten Jah-ren, da meine Mutter noch lebte, mit ihr gemeinsam manches frohe Lied gesungen haben. Jetzt hatte der Schmerz seinen Frohsinn verstummen lassen. Er hielt ihm die Kehle zu, so daß er selbst während der Gottesdienste bei den frommen Brüdern nicht in den Gesang einstimmen mochte, sondern stumm ergriffen auf die heili-gen und göttlichen Wesen des Altars blickte. Seine Seele weilte ferne; und einmal versah er sich nachher, mir zu erzählen, er habe meine Mutter erblickt. Ich beneidete ihn sehr um dieses glückliche Los und wünschte nichts sehnlicher, als ebenso ihre Nähe erfahren und sie an mich und mich an sie drängen zu dürfen! Um diese Zeit war ich oft auf dem Weg zum Kloster. Man ging links von unserer Hütte zu Tal und lief an einem Hang eine gute Weile hin, ehe man einen Bach überqueren und wieder ein Stück aufwärts steigen mußte. Der Pater Albertus unterrichtete mich in einigen Fächern, so gut es ging. Ich durfte in seiner Zelle neben ihm auf meinem Schemel hocken und seinen feinen Worten lau-schen, die manchmal unvermittelt auf einen Scherz verfielen. Da-zwischen hinein zeigte er mir von dem schmalen Fenster aus immer und immer wieder dieselbe Gegend, – aber jedesmal war etwas Neues in ihr zu entdecken. Der Blick lief über den Garten drunten, wo zur Sommerszeit Rosen, Nelken und Reseden blühten; dann kamen die Astern und die Zeit der Äpfelreife. Auf den sauberen Wegen wandelten zuweilen Brüder des Ordens. Da war Bruder Hilarius, auf den der Vater mich freundlich aufmerksam machte;

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der betete jeden Mittag eine Stunde für seine fernen Eltern. Mir lief ein leiser Schauer über den Rücken –, ich wußte nicht, warum. Oder es wandelte dort der graue Abt, ein stiller Greis von strahlen-dem Äußeren, der mir manchmal gütig zulächelte. Es war mir selt-sam zumute mitten unter diesen frommen Menschen, und mein heftiges Verlangen nach der Mutter Maria – die unser aller Mutter ist – kam mir frevelhaft und frech vor; ich würde gewiß nicht mehr daran denken, gelobte ich. Dieses Gelöbnis habe ich nicht gehalten. Nicht selten überfiel mich die Qual, wenn ich eben die Zelle meines Lehrers verließ, so daß ich nach der Kapelle schlich und mich auf die Stufen des Altars warf. Die Stille umfing mich. Ein paar Mük-ken summten um die verwelkten Kränze. Die Sonne schien durch die farbigen kleinen Fenster in der Höhe und warf einen Strahl auf das Bild Marias. Der Schmerz brannte in meiner Seele doppelt, und ich weinte schluchzend und unaufhörlich in mich hinein. Stunden danach erst erhob ich mich zerknickt und versuchte ungesehen aus dem Kloster zu entkommen. Einmal in dieser Situation, da ich unverwandt zur heiligen Jungfrau emporsah, wandte sie sich plötzlich ab und verschwand vor meinen Augen. Das Postament stand leer; ich erschrak bis ins Innerste meines Herzens und glaubte nicht anders, als sie verachte mich und wolle nichts mehr von mir wissen. „Angelus“, flüsterte ich, „ich bin verloren. Wie müssen meine Gedanken sie geschmerzt haben.“ … Angelus antwortete, und ich glaubte, er wolle mich nur trösten: „Sie ist vor deinen Augen dir vorausgegangen; du wirst ihr folgen und sie suchen.“ Jetzt fiel mir ein, daß ich an diesem Tag zwölf Jahre alt geworden und daß meine Stunde gekommen war, in der ich von allem scheiden sollte, was mich umgab. Es berührte mich seltsam und kam eigentlich unerwartet, wenn ich auch durch alle Jahre diesen Tag ersehnt hatte. Es berührte mich seltsam und fremd. Die Welt schien mir anders als zuvor. Es war nichts Heimli-ches und Vertrautes mehr in ihr, es war kalt um mich geworden: Maria war vorausgegangen.

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Am Abend dieses letzten Tages nahm mich mein Vater bei der Hand und schritt mit mir auf die Bergkuppe und stand im abendli-chen Licht der untergehenden Sonne lange, mich umschlingend, mit mir still. Dann setzten wir uns auf einen Felsen und hielten einer des anderen Hand. Der Schmerz der Trennung und die Unru-he in die Ferne kämpften in meiner Brust miteinander zum ersten Mal. Später habe ich diesen Streit immer wieder erleben und erleiden müssen. Aber dieses eine Mal habe ich nicht vergessen. Die Worte meines Vaters verklangen an meinen Ohren. Seine Liebe zu mir war groß, und er segnete mich still und sprach von dem Leben, das uns zerreißen kann wie ein wildes Tier, das wir aber auch erheben können zur göttlichen Feier; und dann ist es fruchtbar nach innen und außen. Ich schlief in jener Nacht zum letzten Mal auf dem Lager. Die Augen brannten mir von dem Salz der Tränen. Der Körper zitterte vor Schmerz und Ungeduld. Zum Fenster schien der Mond herein und wanderte, Stunde um Stunde, von einer Ecke des Zimmers in die andere. Die Uhr tickte, das Käuzchen schrie wie in jeder Nacht. Aus der Werkstatt meines Vater schien noch das Licht durch die Ritzen der Türe. Ich hörte seine Schritte; er ging auf und ab und fand, wie ich, den Schlaf nicht. Die Nacht rückte vor, und ich mochte wohl flüchtig geschlafen haben, als ich von einem zarten Klang erwachte. Das Bild des Zimmers war wenig verändert. Der Mond beleuchtete jetzt das Kruzifix in der Ecke, Angelus stand davor und lächelte mir zu. In der Werkstatt brannte noch immer Licht, und eben dorther kamen jetzt die freundlichen Töne, die ich damals zum ersten Mal in meinem Leben vernahm. Es war der Klang einer Laute, – ich wußte das nicht, sondern war überrascht von den himmlischen Tönen, und noch mehr, als gar die Stimme meines Vaters zu singen anhob; erst scheu und verhalten. Dann aber drang die feierliche Melodie kräftig in die sternklare Nacht und in mein trübes, ängstliches Herz. Ich stand vom Lager auf und trat ans Fenster, das offen war. Ich sah die Sterne und den schwar-

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zen Wald, über dem der Mond in voller Klarheit leuchtete. Sein mildes Licht glättete die Wogen meiner sehnsüchtigen Seele und goß Frieden in meine Gedanken. Der Vater hatte zu singen aufgehört und kam herein, er fand mich am Fenster und schloß mich in seine Arme. Er legte mich auf mein Bett und blieb bei mir sitzen, bis ich eingeschlafen war. Der Rest der Nacht rauschte vorüber. Der neue Tag stieg aus der Versenkung und Versunkenheit. Meine Abreise kam mit ihm.

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4. Klingsor erwartete mich; mehr wußte ich damals nicht. Man sagte mir, ich müsse mich nach Südosten wenden. Ein Klosterbruder, der die Orden des Ostreiches besuchte und bei Leopold vorsprechen wollte, brachte mich ein Stück des Weges, bis wir einige reisende Spielleute trafen, die mich gerne bei sich aufnahmen. Ich verab-schiedete mich von dem klösterlichen Freund, mit dem das letzte Stücklein meiner Heimat aus meiner Nähe ging, und setzte mich auf einen der zwei Wagen, die die Reisegesellschaft benutzte. Die Fahrt begann, wir kamen bald mit Singen und Gelächter zur Donau und fuhren zeitweise an ihrem Ufer auf der breiten Straße hin. Die Mannsleute unserer Gesellschaft hatten ordentliche Schußwaffen bei sich, denn die Gegend war verrufen und unheimlich genug. Die Frauenspersonen mochten nur mit Scherzen ihre Angst verbergen, wozu sie denn mich reichlich ausnutzten. Ich war zu Anfang, da ich mit meinen Gedanken noch immer bei meinem armen Vater weilte, lange wortkarg und ernst gewesen. Erst allmählich überwand ich die Scheu und den Schmerz und ließ mich endlich selber zu allerlei Tollheiten herbei. Die Leute tranken viel Wein und gaben auch mir davon, der ich dergleichen bis jetzt nicht bekommen hatte; so war es ihnen ein Leichtes, mich zu berauschen und ihre Allotria mit mir zu treiben. Sie schmückten mich mit Laub und setzten mir einen Kranz ins Haar, der mir nicht übel anstehen mochte. Ich selber war trunken und voll Unmut. Alle Bilder der Welt tanzten vor meinen Augen, als ich das schönste der mitfahrenden Mädchen auf den hübschen Mund küßte. Die Gesellschaft lachte herzlich über meine Kühnheit. Das hübsche Kind errötete über meinen Kuß, aber es schloß mich innig in seine Arme und küßte mich wieder. Mir war, als müßte in dieser Minute die Welt um mich versinken. Maria sah ich hoch über mir stehen mit ernsten Augen; ich wandte mich in-

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nerlich von ihr ab, da sank sie in meine Arme, und ich hielt statt des Mädchens sie an meinem Herzen. Ich entschlief, und da ich wieder erwachte, war es Nacht. Die Wagen hielten am Waldrand, die Pferde waren ledig und die Gesellschaft saß um ein Feuer auf der Erde. Ich fand mich mit dem Mädchen allein im Wagen. In seinen Armen wachte ich auf und traf mit meinen Augen den freundlichsten Blick der Welt. Als ich mich regte, küßte es mich und ich küßte es wieder. Unsere Reise dauerte Tage und Wochen, ich zählte sie nicht. Die Zeit verflog rasch, wenn ich nur in der Nähe jenes Mädchens sein durfte, und ich floh vor dem Gedanken der Trennung wie vor dem Tod. Die Spielleute gewannen mich rasch für sich, und da ich kein bestimmtes Ziel anzugeben hatte und wohl auch selber mich nur ungern des unbestimmten erinnerte, so ließen sie mich bei sich, wo sie sich auch aufhielten. Sie spielten oder tanzten in diesem oder jenem Ort, und ich half bei den nötigen Veranstaltungen, schlug die Pauke zu Beginn, blies die Fanfare und entbot den Zuschauern den letzten Gruß, indem ich die Geldmünzen einsammelte. Wenn Syl-phe tanzte, war mein Herz aufs peinlichste beklommen. Ich wartete hinter den Kulissen auf sie, nachdem ich ihr beim Ankleiden behilf-lich gewesen; ich zitterte für sie, solange sie tanzte und sang, und war beglückt, wenn sie wieder zu mir kam und erschöpft in meine Arme sank. In den Nächten, wenn die übrige Gesellschaft schlief, das Feuer nur noch niedrig brannte, stahlen wir uns beide heimlich fort und liefen in den dichteren Wald, wo wir uns miteinander nie-derließen und uns eng umschlangen. Ein einziger ewiger Kuß schien uns für alle Zeiten aneinanderknüpfen zu wollen; eine ganze Ewigkeit des Herzens tat sich vor uns auf, während die andere Welt versank; und in seligen Empfindungen flogen wir befreit durch den unendlichen Raum. Ach, bliebe doch für alle Zeit der Beginn unseres Lebens bestehen, und müßten wir nicht unaufhörlich Abschied nehmen und weiter-ziehen! Jeder Abschied macht uns das Herz schwerer und macht

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unser Gemüt zum Tummelplatz toter Liebesseufzer und zerbroche-ner Schwüre. Die Gespenster des Lebens gewinnen mehr Macht über unsere Seele als die Lebensgeister, und eben sie sind es, die uns die Ruhe rauben. Wir knüpfen an hundert Seelen die unsere und verpflichten uns vor dem Angesicht des Ewigen, mit diesen unser Teil zu leben und zu lernen. Wir fesseln uns an sie und sie an uns und müssen mit ihnen, sei es heute oder morgen, zu einem guten Ende kommen. Wen wir unterwegs verlassen, ohne mit ihm fertiggeworden zu sein, den treffen wir wieder, und er uns; so lan-ge, bis wir eins mit ihm geworden und er mit uns. Auch diesen Tag erhellte die Sonne, der mir die Trennung von Sylphe brachte. Ich hatte mich in einem Dorf von der Gesellschaft flüchtig getrennt, war aber zu weit abseits geraten und sah mich augenblicklich von einigen handfesten Männern umstellt, die mir an den Leib wollten. Da ich meinem Stern vertraute, wehrte ich mich heftig meiner Haut; aber es nutzte nichts. Es war ein leichtes, zu vieren mich meiner dürftigen Waffen zu berauben und mich kurzerhand zu fesseln. Man verband mir die Augen, führte mich eine Strecke Wegs und hob mich auf ein Gefährt, das sich sogleich in Bewegung setzte. Nach einiger Zeit wurde mir die Binde abge-nommen und man löste mir die Fesseln unter der Bedingung, daß ich nicht versuchte zu entfliehen. Was hätte mir die Flucht genützt! Der Gedanke, von Sylphe ewig getrennt zu sein, betrübte mich tiefer als irgendein anderer. Was wollte ich mit der Freiheit ohne das Mädchen beginnen. Es dämmerte über den Bergen; meine vier Begleiter redeten lachend in einer Sprache, die ich nicht verstand. Aus der Dämmerung lösten sich die ersten Sterne am Firmament; die Nacht zog herauf. Mein Herz suchte in dem steigenden Dunkel die ferne Geliebte; die unglücklichste Traurigkeit bemächtigte sich meiner; ich glaubte, Sylphe wäre trostlos ohne mich. Ich war ein Narr, ich weiß es. Und wieder gesellte sich nach geraumer Zeit zu dem Schmerz der Trennung die Neugier in die Ferne. Wo führte man mich hin? Was