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Wirtschafts- und Unternehmensethik 1 Wirtschafts- und Unternehmensethik Skript Sommersemester 2017 Prof. Dr. Olaf Winkelhake RheinAhrCampus Remagen [email protected] http://ethik.myrac.de Inhalt 0. VORBEMERKUNG 2 1 ZUR HISTORISCHEN ENTSTEHUNG VON MORAL 7 Evolutionstheorie 7 Spieltheorie 9 Evolutionäre Spieltheorie 11 Schlußfolgerungen 12 2 WIRTSCHAFTSETHIK 14 Begriffsklärungen 14 Ordnungsethik 15 Libertarismus 17 Vertragstheorie 20 Kommunitarismus 23 Utilitarismus 25 3 GLÜCKSFORSCHUNG 28 4 UNTERNEHMENSETHIK 32 Vorüberlegungen 32 These: Unternehmensethik besteht in Gewinnmaximierung 33 Gegenthese: Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen 34 Kritik der Positionen 35 5 KONSUMENTENETHIK 37 6 GEWINNMAXIMIERUNG UND ETHIK 40 7 MARKT UND MORAL 43

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 1

Wirtschafts- und Unternehmensethik

Skript Sommersemester 2017

Prof. Dr. Olaf Winkelhake

RheinAhrCampus Remagen

[email protected]

http://ethik.myrac.de

Inhalt

0. VORBEMERKUNG 2

1 ZUR HISTORISCHEN ENTSTEHUNG VON MORAL 7

Evolutionstheorie 7

Spieltheorie 9

Evolutionäre Spieltheorie 11

Schlußfolgerungen 12

2 WIRTSCHAFTSETHIK 14

Begriffsklärungen 14

Ordnungsethik 15

Libertarismus 17

Vertragstheorie 20

Kommunitarismus 23

Utilitarismus 25

3 GLÜCKSFORSCHUNG 28

4 UNTERNEHMENSETHIK 32

Vorüberlegungen 32

These: Unternehmensethik besteht in Gewinnmaximierung 33

Gegenthese: Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen 34

Kritik der Positionen 35

5 KONSUMENTENETHIK 37

6 GEWINNMAXIMIERUNG UND ETHIK 40

7 MARKT UND MORAL 43

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0. Vorbemerkung

In diesen Vorbemerkungen wird dargestellt, das Wirtschaften immer ethische Aspekte hat, so dass Ethik und Wirtschaft keine Gegensätze sind, sondern Ethik eine Eigenschaft von Wirtschaften ist.

In diesem Abschnitt werden eine Reihe von zentralen Begriffen wie Moral, Ethik, Sitte ge-klärt, Wirtschafts- von Unternehmensethik abgegrenzt und zentrale Ausgangspunkte vor-gestellt.

Wirtschaft, Ethik und Ressourcenverteilung

Der Ausgangspunkt von Wirtschaften ist die Tatsache, dass Ressourcen knapp sind. Sei-en es Güter, Rohstoffe oder einfach die Zeit, die uns zur Verfügung steht. Wenn das so ist,

ist Effizienz als Quotient von 𝐸𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔

𝐴𝑢𝑓𝑤𝑎𝑛𝑑 von ganz zentraler Bedeutung. Je nachdem, ob wir

ein bestimmtes Ziel haben oder eine gegebene Ressourcenmenge, versuchen wir aus dieser Situation der Knappheit das „Beste“ zu machen. Eine Strategie der Effizienzsteige-rung besteht in Arbeitsteilung. Diese Strategie gibt es auch bei Tieren und Pflanzen in Form von Symbiosebeziehungen.

Arbeitsteilung bei Menschen bedeutet, dass Personen kooperieren, weil sie über die Steigerung der Effizienz ihre Ziele besser erreichen können. Eine solche Kooperation muss für alle Beteiligten eine „win“ Situation sein, weil sonst kein Grund für die Koope-ration besteht.

Wie die Gewinne aus der Kooperation zwischen den Kooperierenden verteilt werden, ist zunächst einmal unklar. Wenn eine beteiligte Partei den Großteil des Gewinns ein-streicht, neigen wir dazu, dies als „ungerecht“ zu bezeichnen. Damit begeben wir uns auf die Ebene der Ethik, da Ethik darin besteht, Regeln für die Bewertung menschlichen Handelns aufzustellen bzw. darin, solche Regeln zu begründen.

Wenn Ethik sich mit der Bewertung menschlichen Handelns befasst, dann befasst sich Ethik in den meisten Fällen mit der Verteilung von Ressourcen, denn menschliches Han-deln, dass keinen Einfluss auf die Ressourcenverteilung hat, hat im Regelfall keine ethi-sche Relevanz. Wenn ich heimlich in der Nase bohre, ist das keine Frage der Ethik. Wenn ich mich in der Schlang vordrängle, versuche ich, Zeit zu sparen, indem ich die Wartezeit der anderen verlängere, also die Ressource „Zeit“ zu meinen Gunsten umzuverteilen.

Das bedeutet, dass Ethik und Wirtschaft zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Arbeits-teiliges Wirtschaften hat immer eine ethische Dimension und Ethik befasst sich mit der Frage, wie Ressourcen verteilt werden sollen, also der Kernfrage der Ökonomie.

Sitte, Gesetze, Moral, Werte und Ethik

Ein Unterschied zwischen Philosophie (Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie) und Ökonomie ist, dass viele philosophische Begriffe nicht sehr trennscharf sind und „jeder“ Philosoph sie ein wenig anders verwendet.

Daher sollen zunächst ein paar relevante Begriffe betrachtet werden. Eine allgemeingül-tige Definition gibt es, wie gesagt nicht.

Moral bezeichnet meistens faktische Handlungsregeln, die in einer bestimmten Gruppe gelten. Dieser Begriff überlappt stark mit dem Begriff Sitte, der etwas einfacher zu

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handhaben ist. Tischsitten sind ein gutes Beispiel. In verschiedenen Ländern und ver-schiedenen sozialen Schichten unterscheiden sich die Tischsitten. Diese Sitten haben ein hohes Maß an Willkür. Die Position der linken Hand ist in den USA eine andere als in Deutschland. Was hier als ungezogen gilt, ist dort regelkonform (und umgekehrt).

Gesetze legen solche Handlungsmuster verbindlich fest. Hierbei gibt es willkürliche Festlegungen, wie die Regel, dass man in Deutschland auf der rechten Seite der Straße fährt. In anderen Ländern ist das anders und wie bei der „korrekten“ Verwendung des Messers gibt es keinen inhaltlichen Grund, warum das eine „richtig“ und das andere „falsch“ ist. Außer dem Argument, dass alle anderen das auch so machen. Bei den Tisch-sitten wird man bei einem Verstoß gegen die Regel komisch angesehen, beim Autofah-ren ist man tot. Das ist ein Grund, warum es Gesetze für das korrekte Fahren eines Autos gibt, aber keine Gefängnisstrafen für Rülpsen bei Tisch.

In vielen Fällen werden die Begriffe Moral, Ethik und Werte als Synonyme verwendet. Manche Philosophen verwenden den Begriff der Ethik aber für das, was sich nach philo-sophischer Reflexion als richtig erweist. Eine solche Herangehensweise ist dann hilf-reich, wenn es konkurrierende Moralvorstellungen gibt. Ist z.B. Lügen immer unmora-lisch oder gibt es Ausnahmen? Immanuel Kant vertritt die erste Auffassung, viele andere Philosophen die zweite. Um hier eine Position zu vertreten, braucht man Argumente, mit denen man seinen Standpunkt begründet, denn sonst ist die Position willkürlich. In die-sem Sinne wird der Begriff Ethik als eine Art Theorie verwendet, aus der sich morali-sches Verhalten ableitet.

Wenn man sich mit diesen Fragen befasst, liegt es nahe, noch einen Schritt weiter zu ge-hen, und sich mit der Frage zu befassen, ob es überhaupt möglich ist, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Die Position, die das verneint, wird moralischer Skepti-zismus genannt. Eine noch weitergehende Position ist, dass es gar keinen Unterschied zwischen richtig und falsch gibt. Das wird Nihilismus genannt. Die Position, dass die In-halte dessen, was als richtig und falsch angesehen wird, vom sozialen und kulturellen Umfeld abhängen, wird moralischer Relativismus genannt. Weil diese Fragen noch ei-ne Ebene oberhalb der Frage der Ethik („nach welchen Regeln bestimmt sich richtig und falsch“) liegt, wird das Nachdenken über diese Fragen als Metaethik bezeichnet.

Wenn die eigentliche Denkrichtung von Ethik ist, nach welchen Regeln man zwischen richtig und falsch unterscheiden kann, dann kann man diese Denkrichtung auch umdre-hen und sich in Bezug auf eine bestimmte Handlung die Frage stellen, ob diese Handlung richtig oder falsch ist. Ist Abtreibung eindeutig falsch? Ist es falsch Fleisch zu essen? … Die-se Herangehensweise wird angewandte Ethik genannt.

Wirtschaftsethik, Unternehmensethik und Individualethik

Als Ökonomen sind sie es gewohnt, mit sehr genau und sehr einheitlich definierten Be-griffen zu hantieren. Die Ökonomie ist eine insgesamt sehr konsensorientierte Wissen-schaft, nicht zuletzt, weil relativ klar ist, „worum es geht“.

In der Philosophie, zu der Ethik gehört, ist das anders, weil die Frage „worum es geht“ viel weniger klar ist. Je nach Ausgangspunkt folgen andere Überlegungen und Fragen, so dass verschiedene Ethiker zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen und Begriffe auch ganz unterschiedlich benutzen.

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Aus diesem Grund möchte ich mich dem Gegenstand über das nebenstehende Modell nähern, das die Begriffe Wirtschafts-ethik, Unternehmensethik und Individualethik zueinander in Beziehung setzt.

In diesem Modell stecken be-reits eine Reihe von Annahmen, die im Anschluss diskutiert werden. Zunächst soll es um die Begriffe gehen.

Individualethik soll die Regeln bezeichnen, die ein Individuum für sein eigenes Handeln als

verbindlich betrachtet. Da wir aus einer ökonomischen Perspektive an die Sache heran-gehen, interessiert uns an Individualethik weniger Fragen, wie z.B. die, ob körperliche Züchtigung ein legitimes Instrument von Erziehung ist, sondern ökonomisch relevantes Handeln des Einzelnen. Für uns ist das in erster Linie das Handeln als Konsument. Daher wird in diesem Zusammenhang viel von Konsumentenethik bzw. ethischem Konsum die Rede sein.

Mit Wirtschaftsethik werden hier Theorien bezeichnet, bei denen es um wirtschaftlich relevante Spielregeln für ganze Gesellschaften geht. Diese Theorien werden auch als po-litische Philosophie bezeichnet, wobei „politisch“ vom griechischen πολις (Staat) stammt, also Staatsphilosophie bedeutet.

Unternehmensethik bezeichnet Regeln für ethisch relevantes Handeln in Unternehmen.

Pluralismus als Ausgangspunkt

Der Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass die moralischen Vorstellungen der Indivi-duen der Ausgangspunkt jeder Wirtschafts- und Unternehmensethik ist. Das klingt plau-sibel, ist aber nicht unstrittig. Der Philosoph Kant wäre anderer Auffassung.

Wenn man von dieser Annahme ausgeht, wird es kompliziert, sobald wir nicht davon ausgehen können, dass die moralischen Vorstellungen aller Individuen gleich sind. Wäre das so, könnte man die moralischen Vorstellungen in Gesetzen ausformulieren, so dass individuelles moralisches Fehlverhalten immer gesetzeswidrig wäre. Wenn das nicht so ist, wird man mit rechtlichen Regelungen leben müssen, die Verhalten, das der eine als unmoralisch wahrnimmt, und der andere als moralisch vertretbar nicht zur Zufrieden-heit beider wird regeln können.

Die Alternative zu einem solchen gesellschaftlich moralischen Pluralismus besteht in ei-ner Homogenisierung der moralischen Vorstellungen der Bevölkerung. Eine Möglichkeit besteht in der Errichtung eines Gottesstaats, eine andere darin, Menschen mit abwei-chenden moralischen Vorstellungen auszuschließen („Ausländer raus“). Abgesehen da-von, dass man diese Strategien selbst als unmoralisch ansehen kann, sind sie wenig er-folgsversprechend. Das Modell des Gottesstaats funktioniert nur so lange, wie der Terror auf Andersdenkende groß genug ist, was dauerhaft nicht funktioniert. Das Ziel einer ei-ner ethnisch/völkischen Homogenität löst das Problem der unterschiedlichen Moral und

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Sitte nicht. Wenn alle Türken wieder in der Türkei sind, gibt es immer noch Sachsen und Rheinländer. Die einen sind katholisch, die andern seit Generationen konfessionslos.

Einen dritten Weg, den der Parallelgesellschaften, wird im Kontext des Kommunitaris-mus dargestellt.

Konsequenzen für die Unternehmensethik

Die Forderung, dass Unternehmen sich an geltende Gesetze halten sollen, ist banal. The-orien der Unternehmensethik stellen die Frage, ob Unternehmen moralische Pflichten haben, die über diese Gesetze hinausgehen.

Hier wird die Auffassung vertreten, dass es solche moralischen Pflichten von Unterneh-men nicht gibt.

Mein Eindruck ist, dass viele Ansätze, die sich mit der Frage ethischen Verhaltens in Un-ternehmen befassen, „in der Luft hängen“, weil sie Ansprüche an ethisch „korrektes“ Verhalten an Unternehmen erheben, diese Ansprüche aber nicht hinreichend begründen können. In vielen Fällen beschränkt sich die Begründung auf eine Variante von Unter-nehmen sollen ... tun, weil wir das als Gesellschaft so wollen und erwarten.

Diese Begründung ist aber nicht überzeugend, da man einen solchen einheitlichen ge-sellschaftlichen Willen in Gesetze gießen kann und Verstöße entsprechend bestrafen könnte. Wenn es solche Gesetze nicht gibt, ist das ein Hinweis darauf, dass nur ein Teil der Bevölkerung das Verhalten als moralisch verwerflich ansieht und ein anderer Teil als vertretbar.

Wenn das so ist, könnte man die moralisch relevanten Aspekte in der Produktion von Gütern durch Unternehmen als Produkteigenschaften dieser Güter ansehen. Damit wird Unternehmensethik zu einem Teil der Produktpolitik des Unternehmens. Die Produkt-politik leitet sich aber nicht aus irgendeinem übergeordneten moralischen Prinzip her, sondern aus der Orientierung an den Kundenwünschen. Damit leitet sich moralisch mo-tiviertes Handeln der Unternehmen, das über rechtliche Regelungen hinausgeht, aus moralischen Überzeugungen der Kunden ab.

Überblick über die Veranstaltung

Der erste Abschnitt der Veranstaltung befasst sich mit der Entstehung von Moral. Die Evolutionstheorie bietet hierzu einen überzeugenden Erklärungsansatz. Mit Instru-menten der Spieltheorie kann man zeigen, dass Strategien, bei denen Menschen ihr ei-genes Interesse dem gemeinsamen Interesse unterordnen, langfristig erfolgreicher sind als rein egoistische Strategien.

Im zweiten Abschnitt werden einige wichtige Denkschulen der politischen Philosophie vorgestellt: Die Ordnungsethik, der Libertarismus, die Vertragstheorie und der Utili-tarismus. Die politische Philosophie befasst sich mit den Spielregeln, nach denen eine Gesellschaft funktionieren soll. Der Teil, der hier von besonderem Interesse ist, die öko-nomischen Spielregeln, ist weitgehend mit dem Begriff Wirtschaftsethik deckungs-gleich.

Im dritten Abschnitt werden Ansätze der Glücksforschung vorgestellt. Wenn ein gesell-schaftliches Ziel ist, das Glück, die Lebensqualität, … der Bevölkerung zu erhöhen, dann muss man dies irgendwie messen können. Die Glücksforschung versucht das.

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Der vierte Abschnitt befasst sich mit Unternehmensethik. Die zentrale Frage ist, ob die Gesellschaft von Unternehmen moralisches Verhalten erwarten kann, das über die ge-setzlichen Vorschriften hinausgeht. Dazu werden zwei gegensätzliche Thesen unter-sucht und kritisiert.

Im fünften Abschnitt wird der Entwurf einer Konsumentenethik entwickelt, die die Grundlage für moralisch relevantes Verhalten der Unternehmen bildet.

Auf dieser Basis wird im siebten Abschnitt eine Ethik-BWL vorgestellt, die mit dem öko-nomischen Standardinstrumentarium die Bedingungen zeigen kann, unter denen Unter-nehmen die moralischen Vorstellungen ihrer Kunden aufgreifen.

Den Abschluss bildet eine Diskussion der Kritik, dass der anonyme Markt moralisches Verhalten untergräbt.

Begründen, Erklären, Gestalten

In dieser Veranstaltung werden eine Reihe sehr un-terschiedlicher Ansätze vorgestellt. Das folgende Schema soll helfen, den Überblick zu behalten, auf welcher Ebene ein Ansatz argumentiert.

An den passenden Stellen wird auf dieses Schema zurückgegriffen und der vorgestellte Ansatz eingeordnet.

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1 Zur historischen Entstehung von Moral

Zur Entstehung der Moral gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Der erste besteht darin, dass Gott die Menschen mit moralischen Vorstellungen geschaffen hat. Das wäre ein An-satz, der in den Bereich der Theologie gehört und (so sehen das die Theologen selbst) mit Argumenten nicht begründet werden kann, sondern geglaubt werden muss. In einer Gesell-schaft, in der alle Menschen das (ohne Terrorregime eines Gottesstaates) wirklich glauben, könnte ein solcher Ansatz hinreichen. Ist das nicht so, braucht man einen Ansatz, der Be-gründungen und Argumente umfasst. Die Evolutionstheorie liefert mit der Idee des „sur-vival of the fittest“ einen solchen Ansatz. Mit Instrumenten der Spieltheorie kann man zei-gen, wie sich moralisches Verhalten langfristig etablieren kann.

Evolutionstheorie

Survival of the Fittest

Nimmt man an, dass die Evolutionstheorie die (prä)historische Entwicklung halbwegs zutreffend beschreibt und man nicht auf theologische Glaubenssätze zurückgreifen will, dann muss Moral etwas sein, das sich im Zeitablauf entwickelt hat. Eine Grundannahme der Evolutionstheorie ist, dass diejenigen Lebewesen überleben, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, dem survival of the fittest. Hierbei ist der „fitteste“ nicht der Stärkste, sondern der, der am besten an seine Umwelt angepasst ist.

Wenn moralisches Verhalten darin besteht, eigene Interessen zugunsten anderer zu-rückzustellen, dann ist das aus der Sicht des Individuums ein Nachteil. Diesem Nachteil muss irgendein größerer Vorteil an anderer Stelle gegenüberstehen, denn sonst hätten Individuen, die sich nicht so verhalten, einen Vorteil und würden die moralisch han-delnden Individuen langsam verdrängen.

Menschliche Biologie

Diesen größeren Vorteil moralischen Verhaltens sehen die Evolutionstheoretiker in der Biologie des Menschen begründet. Durch seinen Körperbau ist der Mensch auf das Le-ben in Sippen angewiesen. Babys kommen aufgrund des großen Kopfes relativ unreif auf die Welt und brauchen lange Unterstützung, bis sie selbständig sind. Ohne die Unter-stützung einer Sippe wären Menschen längst ausgestorben. Aus diesem Grund denken Evolutionstheoretiker bei „survival of the fittest“ auch nicht unbedingt an „fitness“ als einem Merkmal eines einzelnen Individuums, sondern in Begriffen wie „Gruppen-fitness“.

Dieser Vorteil moralischen Verhaltens muss sich nicht auf genetischer Ebene nieder-schlagen, sondern kann auch über Nachahmung über Generationen weitergegeben wer-den.

Moral bei Tieren

Wenn moralisches Verhalten sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, dann wäre an-zunehmen, dass moralisches Verhalten sich nicht nur bei Menschen finden lässt, son-dern (zumindest in ähnlicher Form) auch bei Tieren. Das ist tatsächlich so.

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In vielen Symbiosebeziehungen nimmt ein Symbiosepartner Nachteile oder Gefahren auf sich, um dem anderen Partner einen Vorteil zu verschaffen oder ihn zu beschützen.

Ein Beispiel ist die Symbiose zwischen einem Putzer- und einem Raubfisch.1 Der Putzer-fisch reinigt die Zähne des Raubfischs und schwimmt da-zu in sein Maul. Dieses Szena-rio stellt eine win-win Situati-on für beide dar. Der Raub-fisch hat saubere Zähne und der Putzerfisch Nahrung. Hierbei leben die Fische nicht

in einer Partnerschaft, sondern es gibt Reinigungsplätze, d.h. Orte, an denen sich die Putzerfische aufhalten. Die Raubfische schwimmen bei Bedarf dort hin und lassen sich putzen.

Der Putzerfisch selbst ist schmackhaft. Der Raubfisch könnte ihn nach dem Putzen fres-sen. Das tut er nicht, sondern er beschützt ihn sogar vor dessen Fressfeinden und öffnet sein Maul, damit der Putzerfisch Zuflucht findet. Der Raubfisch verzichtet also auf Vor-teile und nimmt Kosten auf sich. Das könnte man als moralisches Verhalten ansehen.

Da es sich um Fische handelt, ist es unwahrscheinlich, dass so etwas wie „Gewissen“ und „Anstand“ für den Raubfisch eine Rolle spielt, sondern es sich tatsächlich um das Ergeb-nis eines Selektionsprozesses handelt.

1 Trivers, Robert. "Social evolution". Menlo Park, Calif.: Benjamin/Cummings, 1985. S. 48

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Spieltheorie

Konzept

Die Spieltheorie befasst sich mit Entscheidungsproblemen. Die Standardannahme ist, dass jeder Entscheider versucht, die Entscheidung zu treffen, die seinen eigenen Nutzen am besten dient. Das Besondere an der Spieltheorie ist, dass das Ergebnis einer Ent-scheidung durch das Verhalten anderer beteiligter Entscheider beeinflusst werden kann, die ebenfalls ihren eigenen Nutzen verfolgen.

Diese Theorie ist der Mathematik entwickelt worden und heißt Spieltheorie, weil das ur-sprüngliche Ziel war, Brettspiele wie Schach mathematisch zu analysieren, also ein Spiel, in dem die Spieler in Konflikt miteinander geraten, weil jeder Spieler das Spiel gewinnen will, das aber nur auf Kosten des anderen geht. Schnell erkannte man, dass Schach eine Art Kriegssimulation ist und dass Spieltheorie auch auf militärische Fragen angewendet werden kann. Anschließend wurde deutlich, dass die Konstellation verschiedener Ent-scheider, die alle ihre eigenen Interessen verfolgen und durch ihre Entscheidungen die Interessen anderer Entscheider berühren, überall vorkommt, so dass Instrumente der Spieltheorie auf alle möglichen Fragestellungen angewendet wurden.

Das Gefangenendilemma

Das bekannteste spieltheoretische Modell ist das Gefangenendilemma. Es ist nach der Geschichte benannt, die sich die Autoren zur Illustration ausgedacht haben. Diese Ge-schichte ist etwas abstrus und nicht in allen Teilen inhaltlich belastbar.

Zwei Verbrecher (A und B) sind bei einem Einbruch erwischt worden. Die Polizei ist sich sicher, dass die beiden auch einen Raubüberfall begangen haben, kann das aber nicht beweisen. Sie macht A folgenden Vorschlag: Wenn B schweigt und A als Kronzeuge ge-gen B aussagt und den Raubüberfall gesteht, geht A ohne Strafe aus und B muss für 6 Jahre ins Gefängnis. Wenn B ebenfalls gesteht, kann nicht bestimmt werden, wer der An-führer war, so dass dann beide für 4 Jahre ins Gefängnis gehen. Schweigen beide, müs-sen beide für 2 Jahre ins Gefängnis.

Diese Konstellation kann man in Form einer Auszahlungsmatrix darstellen, die bei der Ana-lyse hilft. Die Zeilen und Spalten stellen die Handlungsalternativen für A und B dar. Die Werte in den Zellen die Gefängnisjahre.

A kann nun folgende Überlegung anstellen:

Angenommen B schweigt o Ich schweige auch 2 Jahre Gefängnis o Ich gestehe kein Gefängnis

Angenommen B gesteht o Ich schweite 6 Jahre Gefängnis o Ich gestehe auch 2 Jahre Gefängnis

Für den Fall, dass B schweigt, ist „gestehen“ die bessere Alternative. Für den Fall, dass B gesteht, auch. Das bedeutet, dass „gestehen“ für alle denkbaren Verhaltensweisen des

B

schweigen gestehen

A schweigen -2,-2 -6,0

gestehen 0,-6 -4,-4

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Anderen die bessere Alternative ist. Der andere Verbrecher befindet sich in der gleichen Lage. Auch für ihn ist „gestehen“ immer besser.

Wenn beide Spieler egoistisch sind, d.h. ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgen und davon ausgehen, dass der jeweils andere das auch tut, dann werden beide gestehen und beide für vier Jahre ins Gefängnis gehen. Das ist insofern schmerzlich, als dass beide auch nach zwei Jahren aus dem Gefängnis kommen könnten, wenn sie beide schweigen würden.

Ethische Relevanz

In der Originalgeschichte geht es um Verbrecher, die sich vor Strafe drücken wollen. Da finden wir es vielleicht gut, dass sie für lange Zeit ins Gefängnis gehen. Das ist aber nicht die ethische Relevanz. Wichtig ist die Interessenkonstellation. Jeder der Beteiligten ver-folgt seine eigenen Interessen. Auf diese Weise kommt es zu einer relativ schlechten Lö-sung. Im Vergleich zu dieser schlechten Lösung gibt es eine Lösung, mit der beide besser fahren würden. Viele ökonomisch relevante Sachverhalte haben genau diese Struktur.

Ein Beispiel ist die Frage, wie sich der Treibhauseffekt be-grenzen lassen könnte. Dazu muss der CO2-Ausstoß gesenkt werden. Es ist aber offen, wer das tun soll. In der nebenste-henden Matrix werden Indust-rieländer und Schwellenländer jeweils als Einheit behandelt.

Es wäre wünschenswert, wenn beide CO2 sparen würden. Dann gäbe es weniger Klimaschäden. Die Länder müssten aber auf wirtschaftliches Wachstum verzichten. Aus Sicht jeder Ländergruppe wäre die beste Lösung, wenn der andere den Ausstoß verringert, man selbst aber nicht. Wie bei der Gefangenengeschichte ist in dieser Variante „kein CO2 sparen“ für beide Länder-gruppen die attraktivere Variante. Das wird dazu führen, dass die Temperatur stark an-steigt. Die Lösung, dass beide den Ausstoß verringern wäre für beide besser, aber eben nur, wenn beide sich daran halten, was nicht der Interessenlage entspricht.

Wenn jeder Spieler nur seine eigenen Interessen verfolgt, d.h. egoistisch ist, führt das zu einem schlechten Ergebnis. Es reicht aber schon, wenn nur ein Spieler egoistisch ist und der andere Spieler das weiß (oder davon ausgeht). Selbst ein Spieler, der gern CO2 ein-sparen würde und seinen Teil zum Erreichen dieses Ziels erbringt, müsste davon ausge-hen, dass der andere nicht kooperativ ist, sondern egoistisch und ihn so über den Tisch zieht. Das Ergebnis des Kooperierenden ist dann ganz besonders schlecht. Um dieses Ri-siko zu vermeiden wird auch ein Kooperationswilliger kein CO2 sparen, weil er davon ausgeht, dass das nichts nutzen wird.

Wenn solche Interessenkonstellationen häufig vorkommen, dann würde das häufig zu sehr schlechten Lösungen für alle Beteiligten führen. Ethiker und Evolutionsbiologen haben an dieser Stelle die Frage aufgeworfen, ob es einen Weg aus diesem Gefangenen-dilemma gibt. Die Ethiker, weil für alle Beteiligten ein besseres Leben möglich wäre, die Evolutionsbiologen, weil eine bessere Lösung evolutionär vorteilhaft wäre.

Industrieländer

CO2 sparen

kein CO2 sparen

Schwellen-länder

CO2 sparen 0,0 -3,1

kein CO2 spa-ren

1,-3 -2,-2

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Evolutionäre Spieltheorie

Einmalspiele und repetitive Spiele

Die Welt der ursprünglichen mathematischen Spieltheorie war sehr einfach gestrickt. Im Gefangenendilemma gab es kein Vorher und kein Nachher. Das ist eine Schwäche der Geschichte, von der das Gefangenendilemma seinen Namen hat. Man fängt sofort an, die Geschichte weiterzuspinnen und kommt zu dem Schluss, dass es einen guten Grund gibt, den Mund zu halten, weil die Gefangenen irgendwann aus dem Gefängnis kommen und sich an dem Verräter rächen werden. Aber dieses „später“ gibt es in dem Originalspiel einfach nicht. Solche Spiele werden auch Einmalspiele genannt.

Da lag es nahe, den Gedanken der Evolution als kontinuierlichem Prozess mit der Idee der Spieltheorie zu kombinieren und zu überlegen, was passiert, wenn die gleichen Spie-ler das gleiche Spiel immer wieder miteinander spielen und es kein für die Spieler vo-raussehbares Ende des Spiels gibt. Solche Szenarien werden „repetitive Spiele“ genannt. In diesem Feld tummeln sich sowohl Biologen als auch Spieltheoretiker, so dass auch von evolutionärer Spieltheorie gesprochen wird.

Evolution of Cooperation

Robert Axelrod entwickelte ein Simulationsprogramm, in dem virtuelle Spieler immer wieder in Gefangenendilemma-Situationen miteinander “spielten”. Er bat um Vorschläge für Strategien, wie sich die Spieler verhalten sollten. Die klassische Lösung des Einmal-spiels war „immer gestehen“. Das war einer der Kandidaten. Ein anderer war „immer schweigen“, ein dritter „wirf eine Münze. Kopf ist schweigen, Zahl ist gestehen“ usw. Insge-samt gab es etwa 20 mehr oder minder komplizierte Strategien.

Zuerst spielten die Strategien zufällig ausgelost miteinander. Trifft ein „immer gestehen“ Spieler auf einen „immer schweigen“ Spieler, nutzt der erste Spieler den zweiten perma-nent aus. Der erste Spieler fährt dauerhaft sehr gute Ergebnisse ein, der zweite perma-nent sehr schlechte. Trifft „immer gestehen“ auf einen anderen „immer gestehen“, dann fahren beide permanent schlechte (aber nicht sehr schlechte) Ergebnisse ein.

Dynamik

In einem zweiten Schritt führte Axelrod die Idee des „survival of the fittest“ ein. Er ging davon aus, dass Strategien, die insgesamt schlecht abschnitten, aussterben würden und Strategien, die insgesamt gut abschnitten, sich vermehren würden. Er definierte eine Ausgangspopulation, in der alle Strategien vertreten waren und lies Verliererstrategien ausscheiden und Gewinnerstrategien sich vermehren. Das kann man tatsächlich als den Tod von Individuen interpretieren oder als Aufgabe schlechter Strategien und Imitation erfolgreicher Strategien.

Axelrod fand heraus, dass die Ausgangspopulation, in der alle Strategien vorhanden wa-ren, sich immer mehr in Richtung einer Population mit nur einer Strategie entwickelten, die er „tit for tat“ nannte.

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Tit for Tat

Tit for Tat kann man mit „wie Du mir, so ich Dir“ übersetzen. Die Strategie besteht aus zwei Teilen

1. Beim ersten Spiel immer schweigen 2. Bei allen folgenden Spielern sich so verhalten, wie der andere im vorangegangenen

Spiel

Diese Strategie war nicht in jedem Einzelfall die beste, dauerhaft aber schon. Die beste denkbare Kombination ist, als „immer gestehen“ auf einen „immer schweigen“ zu tref-fen. Doch „immer schweigen“ ist eine Strategie, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus-sterben wird. Dann ist „immer gestehen“ keine gute Strategie mehr.

Trifft „tit for tat“ auf „immer gestehen“ lässt sich tit for tat beim ersten Mal über den Tisch ziehen und danach nicht mehr. Auf die lange Frist gesehen, ist tit for tat kaum schlechter als die Standardstrategie „immer gestehen“. Trifft „tit for tat“ auf „immer schweigen“ profitieren beide dauerhaft. Das gleiche gilt für den Fall, dass „tit for tat“ auf einen anderen „tit for tat“ Spieler trifft.

Dieser Erfolg führte insgesamt dazu, dass „tit for tat“ alle anderen Strategien verdrängte. Am Ende bestand die ganze Population nur aus „tit for tat“.

Schlußfolgerungen

Moral steigert die Fitness

Für das Gefangenendilemma gibt es eine theoretische Lösung, die für alle Beteiligten gut ist. Die Gefangenen gehen für nur zwei Jahre ins Gefängnis, alle Länder sparen CO2 usw. Diese Lösung kommt aber nur dann zustande, wenn die Spieler darauf verzichten, sich maximal egoistisch zu verhalten. Im Einmalspiel macht ein solcher Verzicht keinen Sinn. Bei wiederholten Spielen ist das anders. Eine Strategie wie „tit for tat“ setzt sich der Ge-fahr aus, vom anderen ausgebeutet zu werden, weil sie nicht nur egoistisch ist, sondern auch bereit ist, die eigenen Interessen den gemeinsamen Interessen unterzuordnen. Ein solches Verhalten könnte man als moralisch bezeichnen, ohne dass hinter diesem Ver-halten eine ethische Theorie, warum man das tun sollte, stehen muss, sondern nur ein blinder evolutionärer Auswahlprozess, bei dem solche Strategien besser abschneiden als egoistische und sich daher als „fitter“ erweisen und die weniger guten Strategien ver-drängt. Aus diesem Grund lässt sich auch Verhalten bei Tieren beobachten, das bei Men-schen als „moralisch“ bezeichnet werden würde.

Besonders beachtenswert ist, dass die Strategie der maximalen Kooperationsbereit-schaft („immer schweigen“) keine sehr gute Strategie ist. „Tit for tat“ ist so erfolgreich, weil es nicht nur kooperieren, sondern auch die Kooperation einstellen kann.

Materialistische Ethik

Mit Instrumenten der evolutionären Spieltheorie lässt sich die Entstehung von morali-schem Verhalten erklären, ohne dass man auf theologische Begründungen oder einen dem Menschen irgendwie innewohnendem Sinn für das Gute zurückgreifen muss. Das bedeutet, dass moralisches Verhalten nicht auf metaphysische Ursachen zurückgeführt werden müssen, sondern ein materialistischer Ansatz ausreicht, das Phänomen zu er-klären.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 13

Der Philosoph William Ockam hat einmal den Satz aufgestellt, dass bei zwei Theorien, die den gleichen Sachverhalt erklären, die Theorie, die mit weniger Annahmen aus-kommt, die bessere ist. Unter diesem Aspekt ist die (evolutionäre) Spieltheorie eine gute Theorie zur Erklärung der Entstehung von Moral.

Begründen, Erklären, Gestalten

Die Einordnung der evolutionären Spieltheorie in das auf S.vorgestellte Schema ist fol-gende:

Der Grund, warum sich Menschen an Normen halten sollten, die ihnen individuelle Nachteile bringt, ist, dass Moral die Gruppen-fitness erhöhen kann. Aufgrund ihrer biologischen Ausstattung sind Menschen sehr stark auf die Gruppenfitness angewiesen.

Menschen verhalten sich moralisch, wenn sie dieses Verhalten als (langfristig) erfolgreich wahrnehmen, indem sie moralisches Verhalten imitieren.

Worin dieses moralische Verhalten besteht, welches Verhalten die Gruppenfitness stei-gert und wie man solches Verhalten fördern kann, ist eine Frage, mit der sich dieser An-satz nicht befasst.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 14

2 Wirtschaftsethik

Begriffsklärungen

Politische Philosophie

In den Vorbemerkungen ist schon angesprochen worden, dass das, was hier als „Wirt-schaftsethik“ bezeichnet wird, zu großen Teilen deckungsgleich mit dem ist, was an an-derer Stelle auch als politische Philosophie bezeichnet wird. Es geht um „Spielregeln“, nach denen Gesellschaften funktionieren sollen.

Politische Philosophie geht bis in die Anfänge philosophischen Denkens in der griechi-schen Antike zurück und ist sehr umfangreich. In den folgenden Kapiteln werden daher nur die wichtigsten Ansätze vorgestellt.

Verhältnis von Ökonomie und Gerechtigkeit

Ein zentraler Begriff der politischen Philosophie ist Gerechtigkeit als ein Zustand, der in einer Gesell-schaft herrschen soll. Gerechtigkeit ist aber eine Frage der Ressourcenverteilung. Ressourcenvertei-lung ist aber der zentrale Gegenstand der Ökono-mie. Das bedeutet, dass Wirtschaft und Ethik eng miteinander verbunden sind. Dieser Zusammen-hang ist in der nebenstehenden Grafik dargestellt.

Ökonomik als angewandte Ethik

Wenn man Wissenschaft grob als systematisches Nachdenken und Forschen über einen Gegenstand bezeichnet, gibt es in der Wirtschaftsethik zwei Wissenschaften: Die Philosophie und die Wirt-schaftswissenschaften (auch „Ökonomik“ – mit „k“ am Ende – genannt). Die Frage ist, wie diese beiden Wissenschaften zueinander stehen.

Eine Lösung könnte darin bestehen, Konsequenzen, die man aus der politischen Philo-sophie zieht, mit dem Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften umzusetzen. Wirtschaftsethik ist dann eine Form von angewandter Ethik, so wie z.B. Medizinethik die Anwendung eines philosophischen Instrumentariums auf medizinische Fragen ist. Öko-nomik ist dann eine Hilfswisssenschaft der Ethik, die diese braucht, um ihre Ergebnisse umzusetzen.

Das Dumme ist nun, dass es „die Ethik“, die man mit dem ökonomischen Instrumentari-um umsetzen soll, nicht gibt. Es gibt einen Haufen verschiedener Denkansätze, die teil-weise zu ähnlichen, teilweise zu ganz unterschiedlichen Forderungen kommen. Auf S. 4 ist bereits dargelegt worden, dass der Ausgangspunkt dieser Veranstaltung die Beobach-tung ist, dass wir in pluralistischen Gesellschaften leben, in denen es keinen umfassen-den Konsens über moralische Fragen gibt. Ökonomik als angewandte Ethik ist daher ein nur bedingt tragfähiger Ansatz.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 15

Ökonomische Theorie der Ethik

Eine zweite Möglichkeit, wie Ethik und Ökonomik zueinander stehen könnten ist, dass man das ökonomische Instrumentarium auf ethische Fragen anwendet. Das kann man ökonomische Theorie der Ethik oder (etwas holperig) Ethikwirtschaft nennen, so wie man die ökonomische Analyse von Sozialunternehmen Sozialwirtschaft nennt und bei Sportvereinen Sportökonomie usw.

Wenn man so an die Sache herangeht, wird schnell klar, dass Ökonomik nicht die einzige Wissenschaft ist, die hier eine Rolle spielt. Mit gleichem Recht gibt es z.B. eine biologi-sche Theorie der Ethik usw.

Ein erster Schritt in diese Richtung war die Frage nach der historischen Entstehung von Moral. Ein Instrumentarium mit mathematisch/ökonomisch/biologischem Hintergrund wurde auf eine Frage aus dem Bereich der Philosophie angewendet (wie ist Moral ent-standen).

Diese Idee der ökonomischen Theorie der Ethik kann man weiter treiben und fragen, un-ter welchen Rahmenbedingungen moralisches Verhalten erwartbar ist und unter wel-chen nicht. Das ist die zentrale Frage der ethischen Ordnungsethik, die als erste wirt-schaftsethische Denkschule vorgestellt werden soll.

Ordnungsethik

Menschenbild

Der Begriff Ordnungsethik ist von dem Ökonomen und Philosoph Karl Homann entwi-ckelt worden.2 Er geht davon aus, dass das Menschenbild des Homo Oeconomicus inso-fern zutreffend ist, als dass das Hauptmotiv des individuellen Handelns die Verfolgung der Eigeninteressen ist.

Dilemmastrukturen

Im Spieltheorie-Kapitel auf S. 9 ist das Gefangenendilemma vorgestellt worden. Indivi-duelles rationales Verhalten führt zu suboptimalen Ergebnissen, einer sogenannten so-zialen Falle. Diese soziale Falle entsteht dadurch, dass jeder Entscheider nur seine eige-nen Interessen berücksichtigt und nicht die des anderen. Täte er das, käme ein besseres Ergebnis heraus. Diese Dilemmastrukturen tauchen sehr häufig auf und führen daher zu gesellschaftlichen Ergebnissen, die schlechter sind als sie sein könnten.

Massengesellschaften und Sippen

Die evolutionäre Spieltheorie hat eine Lösung für dieses Problem: Wenn die Individuen sich immer wieder in Dilemmastrukturen begegnen, gibt es eine Chance, dass sich Stra-tegien, die die Interessen der anderen Individuen berücksichtigen, durchsetzen. Das passt ganz gut zur Entwicklungsgeschichte des Menschen, der die meiste Zeit in Sippen mit wenigen Dutzend gelebt hat. In den modernen Gesellschaften ist die Zahl der Perso-nen, mit der ein Individuum interagiert aber viel größer, so dass die von einer Dilemma-

2 Homann, Karl und Lütge, Christoph. Einführung in die Wirtschaftsethik, Münster: Lit-Verlag, 2013.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 16

situation Betroffenen nicht wissen, ob sie sich noch einmal begegnen werden. Dann greift aber wieder die Logik des Einmalspiels mit bekannt schlechtem Ergebnis.

Schaffung von Rahmenbedingungen

Unter diesen Bedingungen ist es unrealistisch, von Individuen zu erwarten, dass sie ihre eigenen Interessen den gemeinsamen Interessen unterordnen. Die Idee der Ordnungs-ethik ist nun, dass der Staat in solche Dilemmasituationen eingreift, indem er die Aus-zahlungsmatrix so verändert, dass es keinen Gegensatz zwischen individuellen und kol-lektiven Interessen mehr gibt.

Das kann er natürlich nicht im konkreten Einzelfall, aber er kann Rahmenbedingungen schaffen, in denen moralisches Verhalten dem Eigeninteresse des Handelnden ent-spricht.

Ein Beispiel für solche Rahmenbedingung ist die Bewertungsfunktion bei eBay. Käufer und Verkäufer interagieren normalerweise nur einmal. Die Interessenlage entspricht dem des Gefangenendilemmas. Es wäre zu erwarten, dass unter diesen Bedingungen keine Transaktionen stattfinden würden, weil jeder Beteiligte erwartet, vom anderen hereingelegt zu werden. Die Institution, die das verhindert, ist die Bewertungsfunktion. Indem die Beteiligten ihre Erfahrungen mit Anderen öffentlich machen können, schaffen sie einen Ersatz für den guten/schlechten Ruf, den Mitglieder kleiner Sippen sich über immer wiederkehrende Interaktionen erwerben. Ohne diese Bewertungsfunktion wäre eBay gescheitert. eBay ist auch ein Beispiel dafür, dass diese Rahmenbedingungen nicht notwendigerweise durch den Staat geschaffen werden müssen. Hier ist es ein Unter-nehmen, das erkennt, dass ohne einen solchen Rahmen das Geschäftsmodell nicht funk-tionieren wird, weil es auf Vertrauen basiert und Vertrauen in der Erwartung besteht, dass der, dem man vertraut, in Dilemmasituationen auf die Verfolgung seines (kurzfris-tigen) Eigeninteresses verzichtet, also moralisch handelt.

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Ordnet man die Ordnungsethik in das nebenstehende Raster ein, dann liegt der Schwerpunkt dieses Ansatzes auf Erklärung und Gestaltung.

Menschen handeln in erster Linie eigeninteresseorientiert. Man kann kein moralisches Verhalten erwarten, wenn dies deutlich gegen ihr Eigeninteresse verstößt. Dieser Ansatz entspricht weitgehend dem Modell des Homo Oeconimicus.

Aufgabe der Ordnungsethik ist es, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass morali-sches Verhalten dem Eigeninteresse entspricht.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 17

Libertarismus

Selbsteigentum

Libertarismus ist eine Denkschule, die vor allem in den USA verbreitet ist. Die Ursprünge stammen aus der gedanklichen Auseinandersetzung mit der Sklaverei. Der Ausgangs-punkt des Libertarismus ist, dass jeder Mensch sich selbst gehört. Er hat alle Verfü-gungsrechte über sich selbst und kann, so lange er niemandem damit schadet, tun und lassen, was er will. Wenn er sich Dinge erarbeitet, gehören diese Dinge ihm. Niemand darf sie ihm gegen seinen Willen wegnehmen. Alles andere schränkt die Autonomie des Individuums ein und stellt eine Form von Sklaverei dar.

Diese banal klingende Überzeugung hat weitreichende Auswirkungen.

Freiwilliger Verzicht auf Autonomie

Das Individuum kann seine Autonomie freiwillig einschränken. In vielen Fällen ist das ratsam, z.B. indem es seine Arbeitskraft anbietet und die Verfügung über einen Teil sei-ner Zeit gegen Geld an jemand anderen verkauft. Die Dinge, die er in dieser Zeit herstellt, gehören nicht ihm, sondern dem Arbeitgeber. Diese Überlassung von Zeit und Arbeitser-gebnissen ist aber ein freiwilliger Vorgang und findet zu den Bedingungen statt, die das Individuum für akzeptabel hält.

Staat und Steuern

Die Legitimation des Staates besteht im Wesentlichen darin, dass der Staat öffentliche Güter bereitstellt und Einkommensumverteilung betreibt, wobei man die Umverteilung auch als öffentliches Gut ansehen könnte. Um diese Aufgaben zu finanzieren, erhebt er Steuern von seinen Bürgern.

Diese Steuern haben Zwangscharakter. Ihre Zahlung ist nicht freiwillig. Wenn ein Indivi-duum 50% seines Einkommens als Steuern zahlt, dann bedeutet dass, dass er 50% des Geldes, das er sich erarbeitet, zwangsweise abgeben muss, also eine Art Teilzeitsklave ist. In dieser Zeit gehört er sich nicht selbst. Er muss zwar nicht den Arbeitsanweisungen des Staates folgen, aber die Hälfte der Früchte seiner Arbeit hergeben, was auf das glei-che hinausläuft.

Das bedeutet, dass der Staat sich seine Bürger wie Sklaven hält, was dem Recht auf Selbstbestimmung widerspricht. Letztlich ist jeder Staat aus diesem Grund abzulehnen.

Anarchismus und Minarchismus

Die zuletzt beschriebene Position wird Anarchismus genannt. Das Bild von Anarchisten ist häufig das von bombenwerfenden Terroristen und Chaoten. Dieses Bild ist aber we-nig repräsentativ. Der anarchistische Mainstream besteht darin, dass es keinen Staat ge-ben soll, der die Dinge „von oben“ regelt, sondern die jeweils Betroffenen ihre Angele-genheiten in kollektiver Selbstverwaltung selbst regeln.

Minarchismus ist eine Variante des Anarchismus, die davon ausgeht, dass die Existenz eines Staats, der einige wenige öffentliche Güter bereitstellt, nützlich ist, wenn diese Gü-ter über andere Lösungen nicht bereitgestellt werden können. Dieser Staat braucht Steuereinnahmen und muss daher die Autonomie der Bürger einschränken. Das soll

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aber nur im unbedingt notwendigen Umfang geschehen. Der Philosoph Robert Nozick hat dieses Konzept Minimalstaat genannt. Die Hauptfunktion dieses Staates ist die Si-cherung der Eigentumsrechte, d.h. der Staat ist für Polizei und Gerichte zuständig. Für mehr nicht. Um diese Leistungen zu finanzieren, darf er Steuern eintreiben. Beim Kon-zept des Ultraminimalstaats können sich die Individuen auch gegen Steuerzahlungen entscheiden. Der Ultraminimalstaat garantiert dann aber ihr Eigentum auch nicht.

Markt

Das Konzept des Minimalstaats ist machbarer als es klingt. Die meisten Staatsleistungen sind keine echten öffentlichen Güter, sondern könnten auch über Märkte bereitgestellt werden, die sich über die (freiwilligen) Zahlungen der Kunden finanzieren. Der Markt könnte das Bildungssystem organisieren, die Infrastruktur (Straßen, Kanalisation, …) usw. Ob wir persönlich das gut finden, ist eine andere Sache, aber wenn diese Leistun-gen angeboten werden sollen muss es nicht der Staat sein, der das tut.

Selbstverantwortung

Wenn der oberste Wert einer Gesellschaft Autonomie ist, dann bedeutet das, dass jeder Mensch für sich selbst verantwortlich ist. Er hat das Recht, den Nutzen aus guten Ent-scheidungen zu ziehen und muss den Schaden aus schlechten Entscheidungen tragen. Er hat kein Recht, seinen Schaden auf andere abzuwälzen.

Die Einkommensverteilung einer Gesellschaft ist die Konsequenz der Entscheidungen der einzelnen Individuen. Ein Leben in absoluter oder relativer Armut ist die Folge einer Reihe (vermutlich) schlechter Entscheidungen. Für diese Entscheidungen ist die Person selbst verantwortlich und hat daher kein Recht, Hilfe von anderen einzufordern. Das be-deutet nicht, dass die Menschen rein egoistisch sind. Es bedeutet nur, dass Solidarität immer freiwillig ist und nicht eingefordert werden kann. Einkommensumverteilung ist daher keine Aufgabe des Staates sondern ein freiwilliges Verhalten der Einzelnen.

Schwachstellen

Man muss diese Denkschule nicht mögen. Menschen, die in sozialstaatlich geprägten Ge-sellschaften aufgewachsen sind, finden diesen Ansatz häufig ganz unpassend. Es soll aber nicht um persönliche Werte gehen, sondern um konzeptionelle Schwächen.

Eine gravierende Schwäche ist die offene Frage, wie man mit Unmündigen umgehen soll, d.h. Personen, die nicht in der Lage sind, selbstverantwortlich zu handeln. Dabei muss man nicht einmal an geistig Behinderte denken. Die Biographie jedes Menschen weist eine Phase mit geringer Fähigkeit zur Selbstverantwortung auf, die „Kindheit“ genannt wird. Die Frage ob, mit welchem Recht und wie lange die Autonomie solcher Personen eingeschränkt werden darf, ist eine Frage, für die der Libertarismus keine tragfähige Antwort gefunden hat.

Eine zweite Schwäche ist der Umstand, dass die heutigen Einkommen durch die Ein-kommen der Vorfahren bestimmt sind. Zum einen stellt sich die Frage, wie man mit Ein-kommen umgeht, dass durch Eigentumsverletzung entstanden ist. Welche Ansprüche hat der Ururenkel des Indianers an den Ururenkel des Farmers, dessen Ururgroßvater dem Indianer das Land weggenommen hat? Zum anderen stellt sich die Frage, wie mit Erbschaften umgegangen werden soll. Wenn der Eine fleißig spart und der andere alles

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vertrinkt, haben die Nachkommen des einen bessere Startchancen im (privat finanzier-ten) Bildungssystem als die des anderen.

Die vielleicht wichtigste Schwäche des Libertarismus ist sein unhistorisches Menschen-bild. Im Zentrum steht das Individuum, das seine Interessen, sein Eigentum und seine Autonomie gegen andere Individuen behauptet. Wenn ein Individuum mit anderen in-teragiert tut er das auf der Basis freiwilliger Verträge. Von allem, was wir über die Ent-wicklungsgeschichte des Menschen wissen, hätte dieses Konzept sehr schnell zur Auslö-schung der Art geführt. Die Annahme, dass die Autonomie des Einzelnen der Ausgangs-punkt jedes Nachdenkens über menschliches Zusammenleben sein muss, ist daher aus der jüngeren Ideengeschichte nachvollziehbar, aber als Absolutforderung willkürlich.

Aufgrund dieser Schwächen ist die Konzeption des Libertarismus nur bedingt tragfähig. Besonders die Bedeutung, die dieser Ansatz dem Markt zuweist, wird aber noch wichtig werden.

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Aus der Annahme des Selbsteigentums jedes Menschen wird ein gemeinsamer Werterahmen abgelehnt und eine maximale Auto-nomie des Einzelnen gefordert.

Wenn der Einzelne vollkommen autonom ist (sein soll), muss man sich nicht mit der Frage befassen, warum er seinen Werten und Prinzipien nicht folgt.

Die Gestaltung der Gesellschaft besteht in einem möglichst weit-gehenden Abbau staatlicher Strukturen. Dort wo es einen Ersatz für staatliche Leistun-gen gibt, wird das der Markt regeln.

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Vertragstheorie

Staatstheorien vor der Aufklärung

Bis zum Zeitalter der Aufklärung im 17. u. 18 Jhr. legitimierte sich die Herrschaft von Fürsten, Königen und Kaisern über ihre Untertanen durch „Gottesgnadentum“. Diese Begründung geht auf Textstellen aus dem neuen Testament zurück und geht davon aus, dass Gott in die Geschichte eingreift und die „richtigen“ Herrscher auf ihren Thron setzt. Daher mussten sich die weltlichen Herrscher auch durch die Kirche bestätigen lassen.

Aufklärung und Gesellschaftsvertrag

Mit Reformation und Aufklärung wurde deutlich, dass dieses Konzept nicht mehr über-zeugend war. Es gab nicht mehr „die“ Kirche, sondern nur noch Konfessionen, so dass es auch nicht mehr „den“ Statthalter Gottes gab, der den Willen Gottes umsetzen konnte.

1651 veröffentlichte Thomas Hobbes den Leviathan und entwickelte mit dem Gesell-schaftsvertrag ein neues Konzept, mit dem Herrschaft begründet werden kann. Der Ge-sellschaftsvertrag ist ein Gedankenexperiment. Darunter versteht man die Konstrukti-on einer (meist sehr unrealistischen) Situation, mit der man eine Position untermauern bzw. widerlegen möchte.

Das Gedankenexperiment spielt im Naturzustand, d.h. einer Welt, in der es keinerlei Herrschaftsformen gibt. Anders als bei anarchistischen Vorstellungen geht Hobbes da-von aus, dass in diesem Naturzustand keine selbstverwaltete Ordnung, sondern Chaos, Mord und Totschlag, d.h. das Recht des Stärkeren herrschen würde. Unter solchen schlechten und unsicheren Lebensbedingungen würden sich (so Hobbes) die Menschen freiwillig darauf einigen, dass es einen Herrscher geben soll, der für Recht und Ordnung sorgt. Damit würden sie auf einen Teil ihrer Autonomie verzichten und an den Herrscher abgeben. Diese freiwillige Einigung aller Menschen aus eigenem Interesse einen Herr-scher zu akzeptieren, nennt man Gesellschaftsvertrag.

Nun war immer klar, dass dieses Experiment keine historische Begebenheit beschreibt. Das Argument ist ein anderes: Wenn die Menschen sich in einer fiktiven Welt ohne Herr-scher freiwillig einem Herrscher unterwerfen würden und es in der realen Welt einen Herr-scher gibt, dann ist diese Herrschaft legitim, weil die Menschen genau diese Herrschaft ha-ben wollen würden.

John Rawls‘ Schleier des Nichtwissens

In den 1970er Jahren griff John Rawls die Idee des Gesellschaftsvertrags auf und wen-dete sie auf die Frage an, wie eine gerechte Einkommensverteilung aussehen müsste. Das ist eine zentrale Frage der politischen Ökonomie und der Wirtschaftsethik.

Die fiktive Situation seines Gedankenexperimentes nannte er Schleier des Nichtwis-sens. Das Problem der Bestimmung einer „gerechten“ Einkommensverteilung ist, dass die Betroffenen ihre Eigeninteressen verfolgen. Die Armen wollen eine maximale Um-verteilung, die Reichen wollen bestenfalls einen Teil ihres Reichtums teilen. Um dieses Eigeninteresse zu neutralisieren, stellte sich Rawls einen Zustand vor, in dem die Men-schen nicht wissen, welche Position sie in der Einkommensverteilung einnehmen wer-

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den. Sie wissen nicht, in welchem Land sie leben, welche Hautfarbe sie haben, ob sie be-sonders intelligent oder dumm sind usw.

Rawls‘ Frage war nun, auf welche Form der Einkommensverteilung die Menschen unter diesen Bedingungen einigen würden. Eine solche Einkommensverteilung, bei der nie-mand weiß, ob er in der realen Welt zu den Gewinnern oder Verlierern gehören würde, wäre eine gerechte Einkommensverteilung, weil sie auf den Eigeninteressen der Men-schen basiert, ohne dass die Menschen ihre Eigeninteressen kennen würden.

Die Konstruktion des Experiments hat viel Zustimmung gefunden. Die Lösung, die nach Rawls dabei herauskommen würde, nicht. Rawls war der Auffassung, dass die Menschen bei der Wahl zwischen zwei Verteilungen immer die wählen würden, bei der die Ärms-ten ein höheres Einkommen hätten.

Könnten die Menschen zwi-schen den nebenstehenden Verteilungen A und B wählen, würden sie nach Rawls A wählen, da die Ärmsten 0,1 % marginal mehr Einkommen haben. 99,9 % der Bevölke-rung hätte bei Verteilung B ein doppelt so hohes Einkom-men, aber das wäre nicht ent-scheidend, sondern nur die Lage der Ärmsten.

Das entspricht nicht dem, was wir über die Risikobereit-schaft von Menschen wissen. Wenn der Maximalverlust ge-ring genug ist, sind Menschen

bereit, Risiken einzugehen. Die Wahl der Einkommensverteilung wäre dann eine Lotte-rie, bei der man hofft, nicht der eine Verlierer unter vielen Gewinnern zu sein.

Die Ökonomen verwendeten das Gedankenexperiment und verwarfen das nach ihrer Ansicht unplausible Ergebnis. Die plausible Lösung ist, dass die Menschen bei einem Schleier des Nichtwissens sehr wohl bereit wären, eine ungleiche Einkommensvertei-lung zu akzeptieren, wenn die Chancen und Risiken akzeptabel wären. Würden alle Menschen zustimmen, wäre diese ungleiche Einkommensverteilung gerecht. Aus einer ungleichen Einkommensverteilung aber notwendig zu schließen, dass diese Einkom-mensverteilung ungerecht ist, wäre nicht richtig und das Ziel, eine möglichst gleichmä-ßige Einkommensverteilung zu erzielen, würde nicht unbedingt den Interessen der Menschen entsprechen.

601 1000

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Verteilung A Verteilung B

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Spieltheorie und Vertragstheorie

Auf S. 9 ist das Gefangenendilemma, als bekanntestes spieltheoretisches Problem vorge-stellt worden. Eine andere bekannte Konstellation wird Hirschjagd genannt.

Die Auszahlungsmatrix sieht wie nebenstehend aus. Die Jäger können einen Hirsch erlegen, aber nur durch bei-derseitige Kooperation. Ohne Kooperation können sie ei-nen Hasen erlegen. Besonders ungünstig ist es, wenn nur ein Jäger kooperiert. Er wird gar nichts erbeuten.

Mit spieltheoretischen Instrumenten kann man zeigen, dass es zwei Gleichgewichte gibt: Ein Gleichgewicht, in dem beide Spieler kooperieren. Beide Spieler erzielen dann die höchstmögliche Auszahlung. Im zweiten Gleichgewicht gibt es keine Kooperation und die Auszahlungen sind geringer.

Die Interessenlage in diesem Szenario liegt anders als im Gefangenendilemma, da es zwei Gleichgewichte gibt und unklar ist, welches Gleichgewicht herrschen wird.

Verlässt man die Geschichte und schaut auf die allgemeine Botschaft, dann zeigt diese Konstellation, dass eine Gesellschaft nach der Regel „jeder macht sein Ding“ aufgebaut sein kann und auch funktioniert, aber „wir arbeiten zusammen“ zu besseren Ergebnis-sen für alle führt. Das Dumme ist nur, dass man von „jeder macht sein Ding“ nicht zu „wir arbeiten zusammen“ dadurch kommen kann, dass einer der beiden sich aufrafft.

Eine solche Konstellation kann man als spieltheoretische Variante des Gesellschaftsver-trags ansehen. Es läge im Interesse beider Spieler in einer „jeder macht sein Ding“ Ge-sellschaft, eine Institution zu schaffen, die das Verhalten der Spieler in Richtung „Koope-ration“ bewegt. Diese Überlegung steht der bereits vorgestellten Idee der Ordnungsethik nahe.

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Der Schwerpunkt der Vertragstheorie liegt auf der Begründung von staatlichen Strukturen, die berechtigt sind, Zwang auszu-üben, um dafür zu sorgen, dass sich die Bürger an die Spielregeln halten, was im Interesse der Bürger selbst ist.

Die Gestaltung findet über die Installation eines Staates statt, der die gemeinsamen Interessen der Bürger durchsetzt.

B

Hase Hirsch

A Hase 2,2 2,0

Hirsch 0,2 3,3

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 23

Kommunitarismus

Tugendethik

Die Vorstellung, dass moralisches Handeln ein tugendhaftes Handeln ist, geht bis auf Aristoteles zurück. Unter „Tugenden“ werden Charaktereigenschaften (Klugheit, Tapfer-keit, Gerechtigkeit, Mäßigung, …) verstanden, die durch Einübung gelernt werden.

Ob eine konkrete Handlung moralisch ist oder nicht, hängt von den Umständen ab, so dass Absolutaussagen wie „du sollst nicht töten“ nicht möglich sind. Der Tugendhafte wählt aufgrund seines Charakters die richtige Handlung aus.

Der Mensch als soziales Wesen

Der Kommunitarismus, eine Denkschule, die sich in den USA in den 1980er Jahren ent-wickelt hat, greift das Konzept der Tugendethik auf und betont, dass moralisches Verhal-ten in Wertegemeinschaften eingeübt werden muss und nichts ist, das „vom Himmel fällt“. Die Kommunitaristen beklagen einen allgemeinen Werteverfall in den westlichen Gesellschaften und führen dies auf fehlenden Bürgersinn zurück, der durch ein fehlen-des gemeinsames Wertegerüst entsteht.

Der Ausgangspunkt des Kommunitarismus ist die maximale Gegenposition zum Liberta-rismus. Dort ist der Mensch maximal autonom und schuldet seinen Mitmenschen nichts. Die Kommunitaristen begreifen den Menschen als soziales Wesen, das seiner sozialen Umwelt gegenüber verpflichtet ist.

Historische Entwicklung der sozialen Umwelt

Im Kontext der Evolutionstheorie ist auf S. 7 schon angesprochen worden, dass der Mensch aufgrund seiner Biologie nur als Mitglied einer Sippe überlebensfähig ist. Eine Lebensweise als Jäger und Sammler beschränkt die Sippengröße auf wenige Dutzend Individuen, die eng miteinander verwandt sind.

Für einen Großteil der Menschheit ändert sich an der Größe der für sie relevanten sozia-len Umwelt bis in das 19. Jhr. nicht sehr viel. Die Menschen werden zwar sesshaft, aber dafür immobil. Bis zur Erfindung der Eisenbahn gibt es keine Massenmobilität. Das be-deutet, dass die relevante soziale Umwelt eines Individuums typischerweise die anderen Dorfbewohner umfasst. Diese Gruppe ist ebenfalls sehr überschaubar und die Unter-scheidung zwischen „Dorfbewohner“ und „Fremden“ ist ganz eindeutig.

Die Theorie der Dunbar-Zahl geht davon aus, dass es im Gehirn des Menschen eine kognitive Grenze für die Anzahl von Personen gibt, mit denen der Mensch eine soziale Beziehung haben kann. Diese Grenze liegt bei etwa 150 und wird durch die Größe des Hirnareals bestimmt, in dem man diese Funktion vermutet. Facebook-Freunde in mitt-lerer dreistelliger Zahl sind demnach keine „Freunde“, sondern flüchtige Bekannte, mit denen man keine soziale Beziehung hat.

Wenn die relevante Soziale Umwelt überschaubar ist, dann verwandeln sich Einmalspie-le in wiederholte Spiele, weil jeder immer wieder mit den gleichen Individuen intera-giert. Die spieltheoretischen Dilemmata entstehen vor allem dadurch, dass sich die Spie-ler nie wieder begegnen, weil die „Welt“ nach dem Spiel beendet ist.

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Das bedeutet, dass die moderne Massengesellschaft, in der viele Menschen ohne tiefe soziale Beziehungen miteinander interagieren, einander also fremd sind, erst seit weni-gen Generationen existiert; seit es billige Massenmobilität und billige, schnelle Kommu-nikationsmittel gibt. Bis zu dieser Zeit hat Moral als „Sippenmoral“ funktioniert.

Logik des kollektiven Handelns

Der Ökonom Mancur Olson hat eine Theorie des kollektiven Handelns entwickelt, die sich mit der Gruppengröße von Interessengruppen befasst und die gut in diesen Kontext passt. Kleingruppen können ihre Interessen besser verfolgen, weil in kleinen Gruppen das Verhalten jedes Einzelnen entscheidungsrelevant ist. In Großgruppen nicht. Wenn das Verfolgen kollektiver Interessen dem Einzelnen Kosten verursacht, das Ergebnis aber nicht beeinflusst, wird er versuchen, sich vor den Kosten zu drücken. In der Klein-gruppe weiß das Individuum, dass ein „sich drücken“ dazu führen kann, dass das Grup-peninteresse überhaupt nicht verfolgt wird.

Parallelgesellschaften

Wenn Moral im Rahmen enger sozialer Beziehungen entsteht und die anonyme Massen-gesellschaft diese Beziehungen nicht bietet, kann eine Förderung moralischen Verhal-tens nur in der Förderung von Kleinstrukturen bestehen, in denen die sozialen Bezie-hungen für das Verhalten der Menschen wieder relevant werden.

Das können traditionelle Strukturen wie Familie und Nachbarschaft sein oder kleine Pa-rallelgesellschaften, die in sich eine homogene Wertegemeinschaft bilden.

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Der Kommunitarismus befasst sich mit allen drei Ebenen. Er be-gründet moralisches Verhalten über den Umstand, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Ohne soziale Beziehungen (so die Erklärung) verkümmert Moralität. Abhilfe sind Wertegemein-schaften, in denen moralisches Verhalten eingeübt werden kann.

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Utilitarismus

Bevor die Grundidee des Utilitarismus vorgestellt wird, sollen zunächst ein paar wichtige Begriffe, die für den Utilitarismus wichtig sind, geklärt werden.

Deontologische und konsequentialistische Ethiken

Ein grundlegende Frage aller Ethiken ist, ob die Konsequenzen einer Handlung in die moralisch Bewertung einer Handlung eingehen oder nicht.

Deontologische Ethiken gehen davon aus, dass eine Handlung richtig/falsch ist, unab-hängig von den Folgen, die die Handlung hat. Der vermutlich bekannteste Vertreter die-ser Auffassung ist Immanuel Kant. Es ist nach Kant z.B. immer falsch, zu lügen, egal welche Auswirkungen das Sagen der Wahrheit hat.

Konsequentialistische Ethiken vertreten die Ansicht, dass die moralische Bewertung einer Handlung nicht in der Handlung selbst liegt, sondern in den Konsequenzen, die ei-ne Handlung hat. Wenn großes Unheil vermieden werden kann, ist es richtig, zu lügen. Die wichtigste Denkschule dieser Richtung ist der Utilitarismus. Hier gibt es nicht den „einen“ Philosophen, sondern mehrere. U.a. Jeremy Bentham und John Stuart Mill im 19. Jhr. Peter Singer ist ein zeitgenössischer utilitaristischer Philosoph, der sich mit Fragen der Tierethik befasst.

Hedonismus

Hedonismus bezeichnet die Vorstellung, dass man Handlungen danach bewerten kann, ob sie dem Handelnden Lust oder Freude bzw. Schmerz und Leid verursachen. „Richtig“ sind Handlungen, die zu mehr Lust oder Freude führen, „falsch“ sind Handlungen, die zu Schmerz und Leid führen. Damit ist Hedonismus ein konsequentialistischer Ansatz, aber konkreter als ein bloßes „achte auf die Konsequenzen“.

Umgangssprachlich hat Hedonismus einen Beigeschmack von Egoismus, Ausschweifung und Oberflächlichkeit. Das ist nicht notwendig so. Der Begriff ist etwas alt und meint „Lebensqualität“ oder „gutes Leben“. Wenn eine Person einen Vorteil davon hätte, zu lü-gen, aber anschließend ein schlechtes Gewissen hätte, könnte es richtig sein, die Wahr-heit zu sagen. Wenn es einer Person bessergeht, wenn sie 1.000€ für wohltätige Zwecke spendet, sollte sie das tun.

Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist ein hedonistisches. Es unterstellt, dass sich die Menschen wie Hedonisten verhalten.

Grundidee des Utilitarismus

Ein Hedonist wägt bei seinen individuellen Entscheidungen die Vor- und Nachteile der Alternativen ab, und wählt die Alternative, bei der der die Differenz zwischen Vor- und Nachteilen am größten ist.

Bei der nebenstehenden Wahl, bei der der Entscheider die Vor- und Nachteile quantifizieren kann, würde sich ein Hedonist für die Al-

Nutzen Schaden Nettonutzen

Alternative A 100 98 2

Alternative B 3 0 3

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ternative B entscheiden, weil der Nettovorteil, bzw. seine Steigerung an Lebensqualität größer ist als bei A.

Die Grundidee des Utilitarismus ist, dass dieses Kalkül des Abwägens nicht nur auf der Ebene individueller Entscheidungen erfolgt, sondern auch das Grundprinzip einer Ge-sellschaft sein sollte. Bei Handlungen, die einigen Personen Nutzen stiften und einigen Schaden zufügen, sollen Nutzen und Schaden gegeneinander aufgewogen werden. Gibt es einen Nettonutzen, sollte man die Handlung durchführen.

Diese Forderung wird auch als „das größte Glück der größten Zahl“ bezeichnet.

Utilitarismus und Ökonomie

Ökonomie und Utilitarismus sind einander sehr ähnlich, denn beiden Ansätzen liegt das Wirtschaftlichkeitsprinzip zugrunde: Es ist sinnvoll, die gegebenen Ressourcen so einzu-setzen, dass das Ziel des Entscheiders möglichst weit erreicht wird. Ein Unternehmen wird sein Investitionsbudget so einsetzen, dass der Gewinn maximal ist.

Eine Gesellschaft ist dann eine Art „Superunternehmen“, das das gleiche auf gesellschaft-licher Ebene tun soll.

Ein Unternehmen finanziert In-vestitionen aus früheren Gewin-nen, macht also Geld zu mehr Geld. Die Aufgabe eines Staates ist es, aus Geld Lebensqualität zu machen. Die Werkzeuge, die ihm dafür zur Verfügung stehen sind öffentliche Güter und Umvertei-lung. Weil der Staat kein Unter-nehmen ist, das Gewinne erzielt, aus denen er das finanzieren kann, erhebt er Steuern von den Haushalten und Unternehmen.

Da niemand gern Steuern zahlt, fügen Steuern denjenigen, die sie zahlen, einen Schaden zu. Mit diesem Geld produziert der Staat Lebensqualität. Diese Lebensqualität muss er monetarisieren, damit er weiß, ob der Nutzen größer als der Schaden ist.

Insofern könnte man Volkswirtschaftslehre auch als angewandten Utilitarismus be-zeichnen.

Kritik

Wenn man Nutzen und Schaden auf gesellschaftlicher Ebene, d.h. über mehrere Perso-nen hinweg saldieren will, muss man den Nutzen und Schaden messen können, damit man ihn vergleichen kann. Die Vorstellung der frühen Utilitaristen war, dass man ein „Hedometer“ entwickeln könnte, dass Lebensqualität messen kann. Ein solches Hedome-ter gibt es nicht. Wenn man aber nicht messen kann und nicht vergleiche, weiß man nicht, ob die Lebensqualität durch eine Aktion in Summe steigt oder sinkt. Dieses Mess-problem wird noch diskutiert werden.

Ein zweiter Kritikpunkt ist, dass Utilitarismus mit der Idee von Menschenrechten nicht vereinbar ist. Man kann Situationen konstruieren, in der die Lebensqualität einer Gesell-

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 27

schaft gesteigert wird, wenn einer einzelnen Person extremer Schaden zugefügt wird. Auch dieses Problem wird noch diskutiert.

Begründen, Erklären, Gestalten

Den Utilitarismus kann man folgendermaßen einordnen:

Es werden keine konkreten Normen, denen Menschen folgen sol-len, begründet. Zentral Idee, das Menschen nach ihrem eigenen Glück streben und dieses Streben auch auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden soll.

Begründen

Erklären

Gestalten

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 28

konsumierte Menge

Nutzen

3 Glücksforschung

Ausgangsproblem

Die utilitaristische Ethik hängt von der Annahme ab, dass man Glück und Leid irgendwie messen und zwischen verschiedenen Personen vergleichen kann. Sonst ist ein „größtes Glück der größten Zahl“ kein sinnvolles Konzept. Unter Glücksforschung versteht man Ansätze, die sich mit der Frage nach der Messung, den Bedingungen und Einflussfakto-ren von Glück befassen.

Paretooptimalität

Vilfredo Pareto ist vor allem durch die 80:20-Paretoregel bekannt. Eine andere Überle-gung stammt aus der ordinalen Wohlfahrtstheorie. Der Begriff „Wohlfahrt“ bezeichnet so etwas wie „gesamtgesellschaftliche Lebensqualität“. Pareto sah die Schwierigkeiten in der personenübergreifenden Vergleichbarkeit von Nutzen und Schaden. Seine Lösung war, diesen Vergleich aufzugeben und nur noch mit der Annahme zu arbeiten, dass jedes Individuum für sich selbst Zustände miteinander vergleichen und in eine bes-ser/schlechter-Reihenfolge bringen kann, also ordinal messen kann.

Eine Handlung, die von allen Betroffenen als Verbesserung empfunden wird, ist nach Pa-reto auch eine gesamtgesellschaftliche Verbesserung. Solche Handlungen sollte man durchführen. Sie werden auch win-win Situationen oder Paretoverbesserung ge-nannt. Von einer Paretoverbesserung kann man auch sprechen, wenn alle Beteiligen bis auf einen indifferent sind und einer die Handlung als Verbesserung empfindet.

Eine Handlung, die auch Verlierer produziert, d.h. eine win-loose Situation ist nach Pa-reto nicht bewertbar, weil die Instrumente fehlen. Solche Handlungen soll man unterlas-sen.

Diese Theorie ist methodisch sehr elegant, weil sie viele Probleme löst. Sie ist aber weit-gehend inhaltsleer, da staatliches Handeln fast immer Verlierer produziert. Ein Staat wäre daher zu weitgehender Untätigkeit verurteilt.

Easterlin Paradox

Herrmann Heinrich Gossen entwickelte die The-orie des abnehmenden Grenznutzens. Jede zusätz-lich konsumierte Einheit eines Gutes erhöhte den Nutzen (die Lebensqualität), aber der zusätzliche Nutzen nimmt mit jeder zusätzlichen Einheit ab.

Um den universellen Anspruch dieser Überlegung zu unterstreichen wird dieser Zusammenhang auch erstes gossensches Gesetz genannt. Diese Überle-gung ist eng mit dem Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses verwandt, das sich aber auf Produktionsprozesse bezieht.

Richard Easterlin untersuchte den sehr ähnlichen Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen

und Lebenszufriedenheit. Er verglich die Werte verschiedener Einkommensschichten in

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Einkommen

Nutzen des Reichen Nutzen des Armen

Tnkommen

Einkommen

Tnkommen

verschiedenen Ländern und kam zu dem Ergebnis, dass die Lebenszufriedenheit der Be-völkerung in sehr armen Ländern steigt, wenn das Pro-Kopf-Einkommen steigt, dieser Effekt sich aber bereits bei einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen abschwächt oder gar nicht mehr vorhanden ist. Mehr Geld macht dann nicht glücklicher.

Statuswettbewerb

Ein Ansatz, die Abschwächung des Zusammenhangs zwischen Einkommen und Zufrie-denheit zu erklären ist, dass (sobald die physischen Grundbedürfnisse erfüllt sind) Ein-kommen im Wesentlichen dazu dient, über einen Statuswettbewerb soziale Anerken-nung zu erwerben. Wenn die Summe sozialer Anerkennung in einer Gesellschaft aber konstant ist, dann führt ein höheres Sozialprodukt nicht zu mehr sozialer Anerkennung in der Gesellschaft, sondern nur zu einer Umverteilung zwischen den Individuen. In die-sem Zusammenhang spricht man auch von einer hedonistischen Tretmühle. Alle Indi-viduen strampeln sich ab, durch ein höheres Einkommen höhere soziale Anerkennung zu erreichen. Sie kommen aber (wie bei einer Tretmühle) nicht voran, weil alle anderen das Gleiche tun.

Happiness Set Point

Die Theorie des Happiness Set Point untersucht eine ähnliche Fragestellung. Sie geht da-von aus, dass es ein relativ stabiles individuelles Glücksniveau gibt, das durch positi-ve oder negative Ereignisse nur kurzfristig beeinflusst wird. Mittelfristig pendelt sich die Lebenszufriedenheit wieder auf dem Ausgangsniveau ein. Langzeitstudien bestätigen diese Theorie. Das bedeutet, dass Einkommenszuwächse glücklicher machen. Aber nicht sehr lange. Anders herum bedeutet dass, dass Individuen unter Schicksalsschlägen lei-den, sich aber relativ schnell mit der neuen Situation arrangieren.

Verteilungs- und wachstumspolitische Konsequenzen

Die entwickelten Industriegesellschaften befinden sich auf einem Niveau, bei dem eine Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens keine nennenswerte und dauerhafte Steigerung der Lebenszufriedenheit der Bevölkerung mehr bringt.

Vor diesem Hintergrund scheint es bedenkenswert zu sein, eine Steigerung der Arbeits-produktivität nicht für eine höhere Produktion (mehr Einkommen) sondern eine Reduk-tion des Inputs (mehr Freizeit) zu verwenden.

Für die Idee der Umverteilung be-deutet das gossen-sche Gesetz, dass die Besteuerung einer Person mit hohem Einkom-men in Höhe von T dieser Person ei-nen Schaden zu-fügt, der aber rela-tiv gering ist (links). Verteilt

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man den Betrag an eine Person mit niedrigem Einkommen um (rechts), ist der Nutzen, den diese Person aus dem Transfer T zieht, höher als der Verlust des Reichen.

Das bedeutet, dass (bei gleich hohem Gesamteinkommen aller Individuen) eine gleich-mäßigere Einkommensverteilung zu einer höheren gesellschaftlichen Lebensqualität führt. Dies kann man durch eine progressive Einkommensteuer erreichen, denn je höher das Einkommen, umso geringer der Schaden durch Besteuerung. Als erwünschter Ne-beneffekt würde die hedonistische Tretmühle verlangsamt, denn eine progressive Be-steuerung dämmt den Statuswettbewerb über Einkommen ein, da ein immer höherer Anteil des Einkommens auf Steuern entfällt.

Ein Modell der Work-Life Balance

Die Überlegungen zum Easterlin-Paradox und einer (aus utilitaristischer Sicht) optima-len Verteilung kann man auf die individuelle Entscheidung bezüglich der Work-Life-Balance herunterbrechen, d.h. der Frage, welchen Raum Erwerbsarbeit im persönlichen Leben einnehmen soll und welchen Raum die Zeit für eigene Dinge, Freunde, Familie, …

Hierzu soll ein Vier-Quadranten-Modell betrachtet werden. Im Quadranten rechts unten findet sich eine Zeitbudgetgerade, die alle möglichen Aufteilungen zwischen Arbeit A und Freizeit FZ (die, wie auch immer verwendet wird) aufzeigt.

Die Arbeitszeit erhöht die Lebensqualität LQ, weil Arbeit Einkommen generiert. Dieser Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Lebensqualität durch Arbeitseinkommen (Quadrant rechts oben) entspricht dem gossenschen Gesetz.

Auch Freizeit erhöht die Lebensqualität, aber ebenfalls mit abnehmendem Nutzenzu-wachs (Quadrant links unten).

Jede Kombination von Arbeit und Freizeit führt zu freizeitgenerierter und einkommens-generierter Lebensqualität. Die Kombination dieser beiden Quellen von Lebensqualität ist im Quadranten links oben dargestellt.

Nimmt man an, dass sich die Lebensqualität eines Individuums aus der Summe dieser beiden Teil-Lebensqualitäten bildet, ist die Aufteilung optimal, bei der der am weitesten rechts außenliegende Punkt der Kurve im Quadranten links oben erreicht wird.

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Die Krümmung der Kurve wird durch die Krümmung der Kurven in den Quadranten rechts oben und links unten bestimmt, muss aber grundsätzlich so wie dargestellt (kon-vex zum Ursprung) verlaufen. Wenn die Kurve im Quadranten links oben aber so ver-läuft, kann eine Randlösung nie die beste sein, also weder eine extreme Berufsorientie-rung aber auch keine extreme Freizeitorientierung. Während die erste Charakterisie-rung common sense ist, ist die zweite Charakterisierung weniger offensichtlich, folgt aber zwangsläufig aus den nicht sehr strengen Annahmen des Modells.

A

A

LQ(FZ)

LQ(FZ)

FZ FZ

45°

45° LQ(A) LQ(A)

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4 Unternehmensethik

Vorüberlegungen

Gesetze und Unternehmensethik

Gesetze sind Normen, die durch den Staat verbindlich festgelegt werden. Eine Reihe von Gesetzen beziehen sich auf Unternehmen. Natürlich erwartet man, dass Unternehmen sich an die Gesetze halten, den sie unterliegen. Wenn man über Unternehmensethik spricht, muss man mehr als Gesetzestreue meinen, sondern Verhalten, das nicht durch Gesetze vorgeschrieben wird, von den Unternehmen aber trotzdem ausgeübt wird.

Unternehmensethik und Kosten

Wenn es bei ethischen Fragen letztlich immer um Verteilungsfragen geht, dann ist ethisch positiv bewertetes Verhalten von Unternehmen immer mit Kosten für das Un-ternehmen verbunden. Wenn man Erwartungen an Unternehmen hat, die über die ge-setzlichen Regelungen hinausgehen, bedeutet das, dass ein Unternehmen nicht zu ge-ringstmöglichen Kosten produziert, weil das ethisch nicht erwünschte Nebenwirkungen hat.

Moralische Akteure

Als moralischer Akteur wird jemand bezeichnet, der in der Lage ist, moralisch, bzw. un-moralisch zu handeln.

Ganz offensichtlich kann ein Gegenstand nicht moralisch oder unmoralisch handeln. Wenn uns ein Dachziegel erschlägt, würden wir (bzw. unsere Hinterbliebenen) das dem Ziegel nicht anlasten. „Der Ziegel hat unmoralisch gehandelt“ ist kein sinnvoller Satz, weil ein Ziegel nicht handeln kann. Ein Gegenstand kann kein moralischer Akteur sein.

Eine Katze ist auf dem Dach herumgelaufen. Dadurch hat sich der Ziegel gelöst und hat uns erschlagen. Im Gegensatz zum Ziegel ist die Katze ein Akteur, aber wir haben nicht den Anspruch an eine Katze, dass die Katze sich moralisch verhalten soll, weil sie ein Tier ist. Sie ist also auch kein moralischer Akteur.

Ein Dachdecker ist auf dem Dach herumgelaufen und hat nicht Sorge getragen, dass entweder keine Ziegel herunterfallen oder, falls doch, niemand zu Schaden kommt. Wir würden sagen, dass er „Schuld“ ist. Er hat unmoralisch gehandelt, indem er keine Vor-sichtsmaßnahmen getroffen hat. Er ist ein moralischer Akteur.

Es ist unstrittig, dass Menschen, die sich im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte befinden, moralische Akteure sind. Sie sind in der Lage, moralisch zu handeln und wir erwarten solches Handeln von ihnen.

Unklar ist, ob Unternehmen moralische Akteure sind. Unternehmen sind keine Men-schen, haben aber an einigen Stellen Rechte und Pflichten, die denen von Menschen äh-neln. Also stellt sich die Frage, ob Unternehmen moralische Akteure sind. Für die Frage, wie Unternehmensethik aussehen kann, bzw. ob es überhaupt eine Unternehmensethik geben kann, ist diese Frage zentral.

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These: Unternehmensethik besteht in Gewinnmaximierung

Die These

Der Nobelpreisträger Milton Friedman vertritt in einem Text aus dem Jahr 19703 die heute nur noch selten so deutlich formulierte These, dass Unternehmen keinerlei mora-lische Verantwortung haben, die über das Einhalten gesetzlicher Vorschriften hinausge-hen. Ihre einzige Aufgabe ist es, den Unternehmensgewinn zu maximieren.

Principal Agent Theorie

Arbeitsteilung und Spezialisierung führen zu einer enormen Produktivitätssteigerung, aber auch dazu, dass wir bei der Verfolgung unserer Interessen auf Andere angewiesen sind. Bei einfachen Entscheidungen oder Entscheidungen, bei denen wir große Kompe-tenz haben, können wir Güter direkt über Märkte kaufen. In vielen Fällen sind Entschei-dungen aber zu komplex oder uns fehlt Entscheidungskompetenz oder es geht um Hand-lungen, zu denen uns die Zeit fehlt. In solchen Fällen beauftragen wir andere Menschen, unsere Interessen zu vertreten.

Die Principal-Agent-Theorie befasst sich mit solchen Konstellationen. Der Principal ist der Auftraggeber und der Agent der Interessenvertreter. Die Angestellten eines Unter-nehmens sind Agents der Eigentümer des Unternehmens. Auch der Vorstandsvorsitzen-de von VW. Das Unternehmen gehört ihm nicht. Er ist Angestellter der Eigentümer, d.h. der Aktionäre.

Interesse der Aktionäre

Wenn der Aktienbesitz breit gestreut ist, kann man nicht davon ausgehen, dass die Akti-onäre eine gemeinsame Wertebasis haben, die über die rechtlichen Bestimmungen hin-ausgeht. Ihr Interesse an ihrem Eigentum an dem Unternehmen besteht darin, möglichst viel Gewinn aus diesem Eigentum zu ziehen. Der Auftrag, den die Principals (die Eigen-tümer) der Unternehmensleitung (den Agents) gibt, ist also der der Gewinnmaximie-rung. Auftrag der Unternehmensleitung ist es, diesen Auftrag im operativen Geschäft an die unteren Hierarchieebenen weiterzugeben.

Bedeutet das, dass die Aktionäre keine Moral haben? Nein. Es bedeutet nur, dass sie das Unternehmen, an dem sie Aktien halten, nicht als Instrument ansehen, ihre moralischen Vorstellungen umzusetzen.

Das Geld anderer Leute ausgeben

Wenn die Unternehmensleitung ihre eigenen ethischen Vorstellungen in die Führung des Unternehmens einbringt und von der kostenminimierenden Produktion abweicht, dann verstößt sie gegen den von den Aktionären erhaltenen Auftrag. Sie gibt das Geld anderer Leute aus und missbraucht ihren Spielraum. Sobald die Aktionäre von diesem Verhalten erfahren, sollten sie die Manager entlassen.

3 Friedman, Milton, "The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits", The New York Times Magazine 1970.

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 34

Bedeutet das, dass die Manager keine Moral haben? Nein. Es bedeutet nur, dass sie in ih-rer Rolle als Manager nicht berechtigt sind, diese Moral zu Lasten ihrer Principals (der Eigentümer) auszuleben. Als Privatpersonen haben sie jedes Recht, für wohltätige Zwe-cke ihr eigenes Geld zu spenden.

Soziale Verantwortung als Deckmantel

Gerade in kleinen Gemeinden kann es für ein Unternehmen betriebswirtschaftlich sinn-voll sein, Investitionen in das Gemeinwesen zu tätigen, z.B. über die Unterstützung eines Kindergartens. Der Grund für diese Handlungen ist dann aber keine moralische Ver-pflichtung, sondern ein betriebswirtschaftliches Kalkül und „soziale Verantwortung“ nur ein Deckmantel, um (im Fall des Kindergartens) Arbeitskräfte zu rekrutieren oder bin-den.

Gegenthese: Unternehmen müssen Verantwortung überneh-

men

Autoren wie Peter Ulrich4 oder Christian Neuhäuser5 vertreten die Auffassung, dass Un-ternehmen moralische Akteure sind, man also moralisches Verhalten von ihnen erwar-ten kann. Diese Auffassung findet heute breite Zustimmung.

Die Rolle der Mitarbeiter

Eigentlich kann nur eine handelnde Person ein moralischer Akteur sein. In einem Unter-nehmen wären das die Mitarbeiter. Die Mitarbeiter unterliegen aber unternehmensin-ternen Zwängen. Ein Mitarbeiter, der aus moralischen Gründen gegen seine Vorgaben handelt, muss damit rechnen, entlassen zu werden. Diese Einschätzung entspricht genau der der These von Friedman. Aus der Sicht des Mitarbeiters sind die Kosten moralischen Verhaltens damit prohibitiv hoch, so dass man von den Mitarbeitern kein eigenständiges moralisches Verhalten erwarten kann, obwohl sie eigentlich moralische Akteure sind.

Verantwortungslücke

Wenn die Mitarbeiter keine moralischen Akteure sind und das Unternehmen selbst auch kein moralischer Akteur wäre, gäbe es niemanden, der für die Handlungen eines Unter-nehmens moralische Verantwortung übernehmen würde. Dadurch entsteht eine Ver-antwortungslücke, die es aber nicht geben soll. Aus diesem Grund müssen Unternehmen moralische Akteure sein.

4 Ulrich, Peter. Integrative Wirtschaftsethik - Grundlagen einer lebensdienlichen Öko-nomie, Bern: Haupt, 2008.

5 Neuhäuser, Christian. Unternehmen als moralische Akteure, Berlin: Suhrkamp, 2011.

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Kritik der Positionen

Einbeziehung der Kunden

Der größte Schwachpunkt beider Ansätze ist, dass die Kunden nicht in die Überlegungen mit einbezogen werden. Ihre moralischen Vorstellungen spielen keine Rolle. Die Kons-tellation ist eine ganz andere, wenn man das tut. Das wird Inhalt des nächsten Kapitels sein.

Familienunternehmen

Friedman wendet seine Analyse auf Aktiengesellschaften im Streubesitz an und kommt zu dem Ergebnis, dass die Eigentümer mangels moralischen Konsenses nur an Gewinn-maximierung interessiert sind. Bei Unternehmen mit anderer Eigentümerstruktur ist das nicht notwendigerweise so. Viele unternehmensethische Vorzeigeunternehmen sind Familienunternehmen, in dem die Familie selbst das Unternehmen führt oder zumindest großen Einfluss nimmt. An dieser Stelle ist es durchaus denkbar, dass die Unternehmer neben Gewinnmaximierung noch andere (moralische) Ziele verfolgen und sich das im Verhalten des Unternehmens niederschlägt, weil die Handlungsanweisungen an das Ma-nagement entsprechend ausgestaltet werden. Der Grund ist nicht, dass Familien „mora-lischer“ sind als Aktionäre, sondern dass die Wertvorstellungen der Eigentümer homo-gener sind.

Spielraum der Unternehmen

Das Konzept der Verantwortungslücke nimmt die Mitarbeiter aus der moralischen Ver-antwortung, weil moralisches Verhalten prohibitive Kosten verursacht und man solches Verhalten dann nicht erwarten kann.

Dieses Argument kann man mit gleichem Recht auf die Unternehmen anwenden. Wenn Unternehmen im Wettbewerb stehen und moralisches Verhalten vermeidbare Zusatz-kosten verursacht, dann verlieren diese Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit ge-genüber anderen Unternehmen, die diese Zusatzkosten nicht haben. Im Inland oder auch im Ausland. Wenn ein drohender Verlust des Arbeitsplatzes ein Grund ist, jemanden nicht als moralischen Akteur zu sehen, dann ist die drohende Gefahr des Marktaustritts für das Unternehmen auch ein Grund.

Führt man die Argumentation der Verantwortungslücke auf volkswirtschaftlicher Ebene weiter, wären nur Unternehmen mit sehr hoher Rendite moralische Akteure, bei denen man Abstriche beim Gewinn erwartet.

Asymmetrische moralische Rechte und Pflichten

Moralische Rechte und Pflichten eines Akteurs sind nicht notwendigerweise symmet-risch. Eine Katze hat das Recht, von Menschen nicht gequält zu werden. Gleichzeitig quält die Katze ihre Jagdbeute und wir würden das nicht moralisch bewerten, weil die Katze ein Akteur, aber kein moralischer Akteur ist.

Wenn ein Unternehmen ein moralischer Akteur wäre, dann würden wir einem Akteur Pflichten ohne Rechte zuweisen. Wir würden von Unternehmen erwarten, dass sie sich

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wie moralische Akteure verhalten, würden ihnen aber keine moralischen Rechte, wie z.B. Menschenrechte zubilligen.

Ein verantwortungsethischer Gottesbeweis

Die Forderung nach moralischem Verhalten von Unternehmen zur Verhinderung einer Verantwortungslücke ist ein schwaches Argument.

Die meisten Menschen sind der Auffassung, dass niemand für Naturkatastrophen ver-antwortlich ist. Führt man das Argument der Verantwortungslücke weiter, würde man sagen, dass das nicht sein darf. Also muss es Gott geben, weil sonst niemand verantwort-lich wäre. Das ist natürlich absurd, zeigt aber, dass das Vorhandensein einer Verantwor-tungslücke kein Argument für die Konstruktion eines moralischen Akteurs ist, der die Lücke füllt.

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5 Konsumentenethik

Kundenorientierung

Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die Kunden in den beiden vorgestellten Ansät-zen gar keine Rolle spielen. Vielleicht stammen die Ansätze noch aus einer Zeit, in der man Märkte in erster Linie als anbieterdominiert gesehen hat. Die Kunden mussten froh sein, das Produkt zu bekommen. Das erste Auto, das in billiger Massenproduktion her-gestellt wurde, war das Modell T von Ford. Dieses Auto gab es nur mit schwarzer Lackie-rung. Die Nachfrage war im Vergleich zum Angebot so groß, dass Ford Wünsche nach anderen Lackfarben einfach ignorieren konnte. An dieser Stelle war Kundenorientierung für ihn nicht relevant.

In den modernen Industriegesellschaften sind die meisten Märkte nachfragedominiert, d.h. die Anbieter müssen froh sein, wenn ein Kunde ihr Produkt kauft. Das ist bei Über-kapazitäten der Fall. Die Unternehmen konkurrieren um die Nachfrage. Der Erfolg eines Unternehmens wird dadurch bestimmt, wie gut das Unternehmen die Kundenwünsche berücksichtigt. Der Kunde hat ein Bündel von Erwartungen an das Produkt. Eine davon ist der Preis. Aber vielleicht ist das nicht die einzige Produkteigenschaft die für den Kunden zählt.

Zahlungsbereitschaft

Im Wettbewerb um die Kunden kann sich ein Unternehmen Vorteile verschaffen, indem es auf bisher unbefriedigte Kundenwünsche eingeht. Das Unternehmen muss abwägen, welche Zahlungsbereitschaft die Kunden für die zusätzliche Produkteigenschaft haben und welche Zusatzkosten diese Produkteigenschaft erzeugt.

Wenn eine Farbauswahl von 10 Farben bei einem Automobil Mehrkosten von 400€ pro Auto erzeugt, die Kunden aber bereit sind, 500€ dafür zu bezahlen, macht es für den Hersteller Sinn, eine Farbauswahl anzubieten. Wenn die Zahlungsbereitschaft unter 400€ oder sogar bei Null liegt, bedeutet dass, das die Kunden zwar gern farbige Autos hätten, aber die Kosten dafür nicht tragen wollen. Für ein Unternehmen ist das Angebot einer Farbpalette dann keine tragfähige Strategie.

Übertragung auf Ethik

Was haben Autolackierung und Unternehmensethik gemeinsam? In beiden Fällen geht es um Kundenpräferenzen. Diese Präferenzen streuen. Der eine kann gut mit schwarzer Farbe leben, der andere will ein rotes Auto. Der eine legt Wert auf fair bezahlte Kaffee-pflücker, der andere nicht.

Sind dem „nichtfairen“ Kaffeetrinker die Kaffeepflücker vollständig gleichgültig? Nicht notwendigerweise, aber er ist nicht bereit, mehr Geld für den Kaffee zu zahlen. Faire Produktionsbedingungen wären ein „nice to have“, hinter dem keine Zahlungsbereit-schaft steht.

Hier ist die mikroökonomische Haushaltstheorie nützlich, die die Zahlungsbereitschaft als Kennzahl dafür verwendet, wie wichtig ein Gut oder eine Produkteigenschaft dem Konsumenten ist. Wenn er nichts zahlen will, ist ihm die Eigenschaft offensichtlich nicht wichtig.

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Moralische Marktlücken

Sobald es genügend Käufer gibt, die die Zusatzkosten einer Farbauswahl zu tragen bereit sind, gibt es einen Anreiz für die Anbieter, ihr Produkt in dieser Hinsicht zu differenzie-ren, d.h. farbige Autos anzubieten. Hierbei spielen die Präferenzen der Eigentümer oder der Mitarbeiter gar keine Rolle, sondern nur die der Kunden.

Gleiches gilt für moralische Produkteigenschaften, wie fairer Lohn für Kaffeepflücker oder Haltungsbedingungen von Legehennen. Ob dem Geflügelzüchter das Wohl der Tie-re wichtig ist oder nicht, spielt keine Rolle. Sobald es genügend Kunden mit entspre-chender Zahlungsbereitschaft wichtig ist, hat er einen Anreiz, die Haltungsbedingungen zu verbessern. Der Markt ist also in der Lage, sehr differenziert moralische Präferenzen zu befriedigen.

Das bedeutet, dass moralische Produkteigenschaften nicht einer moralischen Verpflich-tung des Unternehmens entspringen, sondern rein betriebswirtschaftlichem Kalkül, das sich an der Konsumentenmoral orientiert.

Konstruktion einer eigenständigen Unternehmensethik

Fasst man die gemachten Überlegungen zusammen, zeigt sich, dass es keinen Raum für eine eigenständige Unternehmensethik gibt. Wenn die Zahlungsbereitschaft der Eigen-tümer und/oder der Kunden die moralisch bedingten Zusatzkosten abdeckt, reicht der gewöhnliche Marktmechanismus aus, um entsprechende Produkte anzubieten.

In welchen Fällen würde eine darüber hinausgehende Unternehmensethik moralisches Verhalten einfordern?

Die Eigentümer haben keine ausreichende Zahlungsbereitschaft, die moralisch bedingten Zusatzkosten zu tragen.

Die Kunden haben keine ausreichende Zahlungsbereitschaft, die Zusatzkosten zu tragen.

Die Summe aus Kunden- und Eigentümer-Zahlungsbereitschaft reicht auch nicht aus.

Das bedeutet, dass eine eigenständige Unternehmensethik, die über gesetzliche Rege-lungen hinausgeht, nur in Fällen relevant ist, in denen niemand eine hinreichende Zah-lungsbereitschaft hat. Das ist eine sehr seltsame Konstellation: Man erwartet von einem Unternehmen Engagement für Dinge, die den Beteiligten nicht wichtig genug sind, die Kosten zu tragen. Das ist keine Basis für eine Unternehmensethik.

Betrug, Überforderung und Zertifikate

Moralische Produkteigenschaften sind für den Kunden anhand des Produkts nicht er-kennbar. Der Kunde kann bei einem Auto erkennen, ob ein Auto schwarz oder rot ist, aber den Kaffeebohnen kann er nicht ansehen, wie hoch das Einkommen der Kaffeepflü-cker gewesen ist. Das macht Betrug für die Unternehmen zu einer attraktiven Strategie. Betrug bedeutet hier, die Produkteigenschaft vorzutäuschen. Es gibt eine Information-sasymmetrie zwischen Hersteller und Kunde.

Der Kunde ist damit überfordert, das tatsächliche Vorhandensein der Produkteigen-schaft zu kontrollieren, bzw. kann dies nur zu prohibitiven Kosten. An dieser Stelle set-zen Zertifikate ein. Das Instrument der Zertifikate lässt sich mit der bereits dargestell-

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ten Principal-Agent-Theorie gut fassen: Der Zertifizierer ist ein Beauftragter des Her-stellers, der durch den Erwerb des Zertifikats dem Kunden gegenüber nachweisen will, dass seine Produkte die behaupteten Eigenschaften auch tatsächlich aufweisen. Aufgabe des Zertifizierers ist also, die Produktionsbedingungen und Lieferantenbeziehungen des Herstellers zu kontrollieren. Die Zertifizierung besteht somit in einem Abbau der Infor-mationsasymmetrie und finanziert sich aus der zusätzlichen Zahlungsbereitschaft von Hersteller und Kunde.

Zertifizierung ist selbst ein Markt. Die Bedingungen, zu denen ein Zertifikat erteilt wird, müssen entwickelt werden. Das verursacht dem Entwickler des Zertifikats Fixkosten. Er refinanziert sich im Regelfall über Schulungen, in denen Personen Zertifizierungskom-petenz erwerben können, also ein Zertifikat zweiter Ordnung (Ein Zertifikat, das zur Zertifizierung qualifiziert), denn der Entwickler des Zertifikats führt im Regelfall die ein-zelnen Zertifizierungen ja nicht selbst durch. Diese Kostenstruktur entspricht der eines natürlichen Monopols, so dass auf vielen Zertifikatsmärkten ein oder wenige Zertifikate dominieren.

Das Problem an „Ethik-Zertifikaten“ ist, der bereits in den Vorüberlegungen auf S. 4 an-gesprochene Wertepluralismus. Je differenzierter das Wertespektrum ist, das zertifi-ziert werden soll, umso unübersichtlicher die Zertifikatelandschaft. Ein Zertifikat, dass prüft, ob ein Produkt vegetarisch ist, wird dem Kunden, der Wert auf vegane Produktion legt, nicht reichen. Eine Orientierung am strengsten Maßstab macht keinen Sinn, denn ein veganes Produkt hat Produkteigenschaften, die dem Vegetarier gleichgültig sind und die er nicht (in Form höherer Preise oder eingeschränktem Geschmacks) bezahlen will.

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6 Gewinnmaximierung und Ethik

Ausgangspunkt

Im letzten Teil soll mit dem ökonomischen Standardinstrumentarium untersucht wer-den, unter welchen Bedingungen Unternehmen die moralischen Präferenzen ihrer Kun-den aufgreifen.

Dazu verwenden wir das bereits angeschnittene Beispiel der TShirts, die zu Standard-konditionen für 1€ je TShirt hergestellt werden können oder zu einem definierten Sozi-alstandard für die Beschäftigten in den Entwicklungsländern für 1,50€.

Der Ausgangspunkt ist die Annahme, dass für jedes Unternehmen die folgende Glei-chung gilt:

Diese Gleichung gilt auch für Non-Profit-Unternehmen, nur dass hier G=0 bzw. U=K gel-ten soll. Dazu später mehr.

Kosten

Moralisches Verhalten des Unternehmens erzeugt Zusatzkosten Km, die über die Stan-dardkosten KS hinausgehen. Im Beispiel ist Km=0,5€. Ks umfasst nicht nur die Produkti-onskosten, sondern auch die Ladenmiete, die Einkommen der Verkäufer usw. Setzen wir Ks=4€.

Umsatz

Der Umsatz ist Preis p * Menge x. Wenn p und x von Km unabhängig sind, muss G sinken, wenn Km positiv ist. In diesem Fall hat das Unternehmen keinen Anreiz, Km aufzuwenden (d.h. die Beschäftigten besser zu behandeln). Unter diesen Bedingungen ist das auch le-gitim, wie sich gleich zeigen wird.

Ethische Präferenzen der Kunden

Die Zusatzkosten dienen dazu, das Produkt mit einer zusätzlichen moralischen Pro-dukteigenschaft zu versehen. Wenn diese Eigenschaft von den Kunden wertgeschätzt wird, muss das den Umsatz erhöhen. Bei gleichem Preis müsste die abgesetzte Menge um xm steigen, weil die Kunden lieber dieses Produkt (mit der Zusatzeigenschaft) kaufen als ein gleich teueres Produkt ohne diese Eigenschaft. Bei gleicher Menge müsste das Unternehmen in der Lage sein, einen Preisaufschlag pm für die Zusatzeigenschaft einzu-fordern.

G = U - K

G = U

p * x

- K

Ks + Km

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Wirtschafts- und Unternehmensethik 41

Ethische Präferenzen der Mitarbeiter

In allen bisher diskutierten Ansätzen spielen die Mitarbeiter keine Rolle. Sie sind an die Weisungen der Principals gebunden bzw. keine moralischen Akteure, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten.

Der hier verwendete Ansatz erlaubt es, ihre Interessen „einzubauen“, weil das Unter-nehmen ja freiwillig Km aufwendet, um ein moralisches Ziel zu verfolgen. Adressat sind nicht nur die Kunden, sondern auch die Mitarbeiter. Wenn die Kunden eine Präferenz für die mit Km verfolgten Ziele haben, müssen sie auch eine Zahlungsbereitschaft haben. Haben die Mitarbeiter ebenfalls eine Präferenz, dann haben auch sie eine Zahlungsbe-reitschaft. Die besteht nicht im Kauf des Produkts, sondern in Einkommensverzicht oder unbezahlter Mehrarbeit, weil die Mitarbeiter ihre Arbeit sinnvoller finden, da die Pro-dukte die wertgeschätzte Zusatzeigenschaft haben. Dieser Teil der Arbeit (E) ähnelt dem Ehrenamt.

Saldo

Aus Sicht des Unternehmens ist es sinnvoll, Km aufzuwenden, wenn dadurch der Gewinn steigt. Wenn

𝐺𝑚 = (𝑝𝑠 + 𝑝𝑚) ∗ (𝑥𝑠 + 𝑥𝑚) − (𝐾𝑠 − 𝐸) − 𝐾𝑚

𝐺𝑠 = 𝑝𝑠 ∗ 𝑥𝑠 − 𝐾𝑠

dann ist Gm-Gs der Mehrgewinn

G+ = pxxs + pmxs + psxm + pmxm – psxs –Km + E

G+ = pm (xs+xm) + ps*xm - (Km-E)

Das bedeutet, dass der Gewinn steigt, wenn der Mehrumsatz und die Einsparungen durch quasi ehrenamtliches Engagement der Mitarbeiter größer als die Zusatzkosten sind.

Non-Profit-Unternehmen

Die gleiche Überlegung gilt auch für Non-Profit-Unternehmen, mit dem Unterschied, dass G=0 sein soll. Im Vergleich zu einem gewinnorientierten Unternehmen kann Km hö-her ausfallen. Alternativ kann pm negativ sein, d.h. durch den Verzicht auf Gewinn kann der Preis des Gutes gesenkt werden, was zu einer höheren Nachfrage nach dem Gut füh-

G = U

p

pS + pm

* x

xs + xm

- K

Ks + Km

G = U

p

pS + pm

* x

xs + xm

- K

Ks

KL + E

+ Km

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ren müsste, selbst wenn die Kunden keine Präferenzen für die mit Km verfolgten Ziele haben.

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7 Markt und Moral

Der Markt als moralisches Vehikel

Das Ergebnis der Überlegungen in den vorangegangenen Kapiteln ist, dass es keine ei-genständige Unternehmensethik gibt, sondern die ethischen Präferenzen der Kunden (ethischer Konsum) das Handeln der Unternehmen bestimmen. Sobald ein ethischer As-pekt für die Konsumenten mehr als „nice to have“ ist, d.h. Kunden eine ausreichende Zahlungsbereitschaft haben, stellt der Markt ein Vehikel dar, diese ethischen Aspekte zu realisieren. Werden ethische Aspekte nicht realisiert, ist der Grund in der mangelnden Zahlungsbereitschaft, d.h. Wichtigkeit aus Sicht der Konsumenten zu sehen. Ist den Kon-sumenten (als Gesamtgruppe) ein Aspekt nicht wichtig, ist nicht einzusehen, warum er freiwillig und zu Lasten der Gewinne von Unternehmen aufgegriffen werden sollte. Ge-schweige denn, als Gesetz zur Pflicht würde.

Kritik am Marktmechanismus

Eine Kritik die von Moralphilosophen (häufig Kommunitaristen) an Marktwirtschaften geübt wird ist, dass der Markt die Moral untergräbt, weil soziale Beziehungen durch Markttransaktionen ersetzt werden. Wenn Moral (so die Tugendethik) im sozialen Han-deln und der praktischen Einübung in Wertegemeinschaften entsteht, dann verkümmert sie in Marktwirtschaften.

Arbeitsteilung

Das hat bereits Adam Smith 1776, also in der Frühphase der industriellen Revolution, so gesehen. Auch er war Moralphilosoph, sah diese Entwicklung aber positiv. Durch die Arbeitsteilung ist der Mensch auf Kooperation mit sehr vielen anderen Menschen ange-wiesen. Er kann nicht mit allen eine soziale Beziehung aufbauen. Daher ist Wohlwollen (belevolence) keine tragfähige Basis für Kooperation. Der Marktmechanismus funktio-niert unter diesen Bedingungen besser, weil jedem Beteiligten klar ist, dass Transaktio-nen nur bei win-win Situationen zustande kommen. Jeder muss also die Eigeninteressen der anderen in sein eigenes Kalkül miteinbeziehen.

Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Klage, dass Märkte Moral untergraben, selbst wenn sie berechtigt wäre, nirgendwohin führt. Eine Rückkehr zu einer Moral, die auf sozialen Beziehungen basiert, würde eine Rückkehr zu sehr gering arbeitsteiligen Gesellschaften erfordern, also zu einer Sippen- oder Dorfethik, in der jeder jeden kennt.

Die (sozio)ökonomischen Konsequenzen einer solchen Rückbesinnung auf traditionelle Strukturen wären grauenerregend. Bereits Adam Smith hat die zentrale Bedeutung der Arbeitsteilung als Produktivitätsmotor herausgearbeitet. Eine Rückkehr zu vorindustri-ellen Sozialstrukturen würde auch eine Rückkehr zu vorindustrieller Produktivität be-deuten. Das würde nicht nur bedeuten, dass es im Winter keine Erdbeeren mehr gibt, sondern dass sich Weltbevölkerung ziemlich schnell wieder dem vorindustriellen Ni-veau nähern würde, d.h. etwa 90% aller Menschen müssten verhungern.