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206 Neurowissenschaft Die Entwicklung des Gehirns: ein Dialog mit der Umwelt Nach landlaufiger Auffassung gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen der Entwicklung des Gehirns und dem Lernen. Danach folgt die Entwicklung einem angebo- renen, genetisch bestimmten Programm. Lernen dagegen ist eine Konsequenz aus Erfahrungen mit der Umwelt. Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen aber immer deutlicher, dai3 die Entwicklung des zentralen Nerven- systems stark, mitunter sogar entscheidend von den Erfah- rungen des Organismus mit der Umwelt beeinflufit wird. Andererseits kann die Lernfahigkeit aber auch vom Reife- zustand des zentralen Nervensystems abhangen. Fur beide Vorgange benutzt das Gehirn in vielen Fallen dieselben molekularen Mechanismen. Das Gehirn ist ein sehr kom- plexes Organ. Es entwickelt sich in einer Abfolge von Prozessen zu eineni System mit einer ganz speziellen Organisation, in dem die Umwelt abgebildet ist. Damit kann das Gehirn dann auf die Umwelt reagieren und das Ver- halten angemessen steuern. Bei den Prozessen, die an der Gehirnentwicklung beteiligt sind, handelt es sich um Neurogenese, Entscheidungen uber das Zell- schicksal, Zelldifferenzierung, Wachstum und Zielfindung der Axone, Zielerkennung und schliefllich Synapsenbildung. Durch diese Ereignisse entsteht ein grobes neuronales Netzwerk, das durch Reifung und Stabilisie- rung der Synapsen sowie durch Umgestaltung und Verfeinerung der synaptischen Verknupfungen ,,reift". Wahrend die fruhen Pro- zesse ausschliefllich genetisch gesteuert werden, sind die spate- ren - wie wir heute wissen - haufig auf Erfahrungen mit der Umwelt angewiesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich heute in der Neurowissen- schaft die zentrale Frage: Laufen bei der Entwicklung und beim Lernen in den Nervenzellen und bei ihrer Vernetzung ahnliche oder vielleicht sogar dieselben zellularen und molekularen Mechanismen ab? Zu einer ein- ". Der Dahlcm Workshop uber ,,Me- chanistic Relationships between Devc- lopmcnt and Learning: Beyond Meta- phor" fand voin 19. bis 25. Januar 1997 start. Die Ergebnisse werden in Buch- form bei John Wiley &Sons Ltd., ChichestedEngland, erscheincn. wochigen Diskussion uber dieses Problem kamen Ende Januar in Berlin rund 40 Neurowissen- schaftler und -wissenschaftlerin- nen aus aller Welt zum 80. Dah- lem Workshop ' zusammen. Die- se Diskussion wurde auf vier Ebenen gefuhrt: auf der Ebene des Verhaltens, auf der Ebene der neuronalen Netzwerke, auf der Ebene der einzelnen Neurone und schliefllich auf der molekula- ren Ebene der Reaktionsablaufe in den Neuronen und bei ihrer Verkniipfung. Lernen in kritischen Perioden Auf der Verhaltensebene wird vor allem in den kritischen oder sensi- tiven Perioden die enge Wechsel- wirkung zwischen genetisch programmierter Entwicklung und Erfahrung mit der Umwelt bei der Ausgestaltung des Ge- hirns deutlich. Kritische Perioden sind ,,Zeitfenster", die sich im Leben eines Tieres ein- oder mehrmals offnen und sein Gehirn fur den Einflufl bestimmter Er- fahrungen besonders empfanglich machen. In diesen kritischen Perioden mussen wichtige, oft lebenswichtige Verhaltensweisen erlernt werden. Manchmal sind die Zeitfenster sehr starr, wie beim Mutterschaf, das nach der Geburt des Lammes nur etwa vier Stunden Zeit hat, dessen Geruch zu erlernen und damit das Junge anzunehmen. Ahnlich ist es bei manchen Sing- vogeln. So mufl der australische Zebrafink, bei dem nur das Mannchen singt, innerhalb von 60 Tagen nach dem Ausbriiten den Gesang envachsener Mann- chen horen und im Gedachtnis speichern. Nur dann kann er ihn in einer spateren Phase, wenn der Bewegungsapparat zur Produk- tion des Gesangs fertig ausgebildet ist, nach dem Einuben selbst her- vorbringen. Aber anders als beim Schaf, bei dem es nach jeder Ge- burt wieder eine kritische Phase zur Erlernung des Lammgeruchs gibt, offnet sich das ,,Fenster" zum Erlernen dcs arteigencn Gesangs beim Zebrafinken nur einmal im Leben. Kritische Peri- oden wurden zuerst in jungen Tieren identifiziert und fur ein Charakteristikum des sich ent- wickelnden Nervensystems ge- halten. Inzwischen hat man sol- che ,,Zeitfenster" bei sehr vielen Organismen identifiziert. Sie offnen sich nicht nur in der Ju- gend, sondern sie konnen wah- rend der gesamten Lebensspanne zu bestimmten Zeiten - auch wiederholt - aktiv werden. In alteren Tieren sind solche Peri- oden offensichtlich immer von Hormonwirkungen abhangig. Kindliches Sprechenlernen Auch in der Entwicklung des menschlichen Gehirns gibt es kritische Phasen, zum Beispiel beim kindlichen Sprechenlernen. Kinder erlernen das Sprechen im allgenieinen benierkenswert schnell. Am Ende des zweiten Lebensjahres formen sie bereits ganze Satze, deren Intonation genau wie die der Mutter klingt, deren Stimme sie wie durch eine Wand bereits im Mutterleib wahr- nehmen. Neuere Ergebnisse der Sprachforschung zeigen deutlich, dafl sich sowohl das Sprachwahr- nehmungssystem als auch die Sprachmotorik in enger Abhan- gigkeit von der Muttersprache, die das Kind hort, entwickeln und gleichzeitig zunehmend an Flexibilitat verlieren. So konnen japanische Babies im Alter von sechs Monaten den Unterschied zwischen den Konsonanten ,,r" und ,,l" noch horen, im Alter von zwolf Monaten aber nicht mehr. Erwachsene mit Japanisch als Muttersprache konnen die beiden Konsonanten bekanntlich nicht unterscheiden. Sie nehmen beide als ,,r" wahr; ein ,,I" gibt es im Japanischen nicht. Ganz allge- mein ist es fur Erwachsene schwer, Laute zu unterscheiden, die in ihrer Muttersprache nicht zu Unterscheidung von Worten benutzt werden. Das ist auch der Grund dafur, dafl eine Fremd- sprache nach der Pubertat, mit der diesc kritischc Phase endet, kaum iioch akzentfrci gelernt werden kann. Hcute stellt man sich vor, dafl bei der Entwicklung des Spracii- wahrnehmungssystcms und der Sprachmotorik Abbildungcn, welche die Regelmafligkeiten der Muttersprache erfassen, im Ge- dachtnis gespcichert wcrden, und dann ihrerscits Sprachwahrneh- mung und Sprachproduktion des Kindes verandern. Dieser Lern- vorgang lauft unbcwuflt ab, fiihrt zu einem sehr stabilen Gcdacht- nis und ist unabhangig von be- lohnenden Signalen. Ubcrraschend ist, dai3 das ganze geschieht, bevor das Kind Wiirter lernt. Das bedeutet, dafl bereits vor dem formalen Sprachverstand- nis und -gebrauch erst die Sprach- wahrnehmung und dann die Sprachmotorik auf die charakte- ristischen Eigcnschaften der Mut- tersprachc hin entwickclt werden. Die vielen Formen des Lernens und die Funktion des Hippocampus Der Unterschied zwischen dem kindlichen Sprechcnlernen und dem Erlcrnen eincr Fremdspra- che im Erwachsenenaltcr weist schon darauf hin, dafl es offen- sichtlich mchrere Formen des Lernens gibt. Wie viele es sind und wie sich ihre Mechanismen voneinander unterscheiden, ist noch keineswegs geklart. Ganz grob kann man sagen, dafl friihe Lernformen einfacher sind, weni- ger flexibel - man spricht auch von cingekapseltcm Lernen - und vor allem nicht-deklarativ. Beim Menschen bedeutet nicht-dekla- rativ unbcwuflt, beim Tier, dem ein Bewufltsein fchlt, heiflt es: nicht in den Kontext eingebettet. Spatere Lernformen dagegen sind von vielen Bedingungen abhan- gig, das heiflt konfigural, und deklarativ, also bcim Menschen bewuflt und beim Tier flexibel. Im nicht-deklarativen Gedacht- nis wird zum Beispiel alles, was auf Gewohnheiten oder Kondi- tionierung beruht, gespeichert, so auch Bewegungs- und Wahrneh- mungsfahigkeiten. Dagegen um- fassen deklarative Gedachtnisfor- men die Erinnerung an Personen, Orte und Objekte. Nur die In- halte des deklarativen Gedacht- Biologie in unserey Zeit / 27. Jahrg. 1997 / Nr. 3

Wissenschaft

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Neurowissenschaft

Die Entwicklung des Gehirns: ein Dialog mit der Umwelt Nach landlaufiger Auffassung gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen der Entwicklung des Gehirns und dem Lernen. Danach folgt die Entwicklung einem angebo- renen, genetisch bestimmten Programm. Lernen dagegen ist eine Konsequenz aus Erfahrungen mit der Umwelt. Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen aber immer deutlicher, dai3 die Entwicklung des zentralen Nerven- systems stark, mitunter sogar entscheidend von den Erfah- rungen des Organismus mit der Umwelt beeinflufit wird. Andererseits kann die Lernfahigkeit aber auch vom Reife- zustand des zentralen Nervensystems abhangen. Fur beide Vorgange benutzt das Gehirn in vielen Fallen dieselben molekularen Mechanismen.

Das Gehirn ist ein sehr kom- plexes Organ. Es entwickelt sich in einer Abfolge von Prozessen zu eineni System mit einer ganz speziellen Organisation, in dem die Umwelt abgebildet ist. Damit kann das Gehirn dann auf die Umwelt reagieren und das Ver- halten angemessen steuern. Bei den Prozessen, die an der Gehirnentwicklung beteiligt sind, handelt es sich um Neurogenese, Entscheidungen uber das Zell- schicksal, Zelldifferenzierung, Wachstum und Zielfindung der Axone, Zielerkennung und schliefllich Synapsenbildung. Durch diese Ereignisse entsteht ein grobes neuronales Netzwerk, das durch Reifung und Stabilisie- rung der Synapsen sowie durch Umgestaltung und Verfeinerung der synaptischen Verknupfungen ,,reift". Wahrend die fruhen Pro- zesse ausschliefllich genetisch gesteuert werden, sind die spate- ren - wie wir heute wissen - haufig auf Erfahrungen mit der Umwelt angewiesen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich heute in der Neurowissen- schaft die zentrale Frage: Laufen bei der Entwicklung und beim Lernen in den Nervenzellen und bei ihrer Vernetzung ahnliche oder vielleicht sogar dieselben zellularen und molekularen Mechanismen ab? Zu einer ein-

". Der Dahlcm Workshop uber ,,Me- chanistic Relationships between Devc- lopmcnt and Learning: Beyond Meta- phor" fand voin 19. bis 25. Januar 1997 start. Die Ergebnisse werden in Buch- form bei John Wiley &Sons Ltd., ChichestedEngland, erscheincn.

wochigen Diskussion uber dieses Problem kamen Ende Januar in Berlin rund 40 Neurowissen- schaftler und -wissenschaftlerin- nen aus aller Welt zum 80. Dah- lem Workshop ' zusammen. Die- se Diskussion wurde auf vier Ebenen gefuhrt: auf der Ebene des Verhaltens, auf der Ebene der neuronalen Netzwerke, auf der Ebene der einzelnen Neurone und schliefllich auf der molekula- ren Ebene der Reaktionsablaufe in den Neuronen und bei ihrer Verkniipfung.

Lernen in kritischen Perioden

Auf der Verhaltensebene wird vor allem in den kritischen oder sensi- tiven Perioden die enge Wechsel- wirkung zwischen genetisch programmierter Entwicklung und Erfahrung mit der Umwelt bei der Ausgestaltung des Ge- hirns deutlich. Kritische Perioden sind ,,Zeitfenster", die sich im Leben eines Tieres ein- oder mehrmals offnen und sein Gehirn fur den Einflufl bestimmter Er- fahrungen besonders empfanglich machen. In diesen kritischen Perioden mussen wichtige, oft lebenswichtige Verhaltensweisen erlernt werden.

Manchmal sind die Zeitfenster sehr starr, wie beim Mutterschaf, das nach der Geburt des Lammes nur etwa vier Stunden Zeit hat, dessen Geruch zu erlernen und damit das Junge anzunehmen. Ahnlich ist es bei manchen Sing- vogeln. So mufl der australische Zebrafink, bei dem nur das Mannchen singt, innerhalb von 60 Tagen nach dem Ausbriiten den Gesang envachsener Mann-

chen horen und im Gedachtnis speichern. Nur dann kann er ihn in einer spateren Phase, wenn der Bewegungsapparat zur Produk- tion des Gesangs fertig ausgebildet ist, nach dem Einuben selbst her- vorbringen. Aber anders als beim Schaf, bei dem es nach jeder Ge- burt wieder eine kritische Phase zur Erlernung des Lammgeruchs gibt, offnet sich das ,,Fenster" zum Erlernen dcs arteigencn Gesangs beim Zebrafinken nur einmal im Leben. Kritische Peri- oden wurden zuerst in jungen Tieren identifiziert und fur ein Charakteristikum des sich ent- wickelnden Nervensystems ge- halten. Inzwischen hat man sol- che ,,Zeitfenster" bei sehr vielen Organismen identifiziert. Sie offnen sich nicht nur in der Ju- gend, sondern sie konnen wah- rend der gesamten Lebensspanne zu bestimmten Zeiten - auch wiederholt - aktiv werden. In alteren Tieren sind solche Peri- oden offensichtlich immer von Hormonwirkungen abhangig.

Kindliches Sprechenlernen

Auch in der Entwicklung des menschlichen Gehirns gibt es kritische Phasen, zum Beispiel beim kindlichen Sprechenlernen. Kinder erlernen das Sprechen im allgenieinen benierkenswert schnell. Am Ende des zweiten Lebensjahres formen sie bereits ganze Satze, deren Intonation genau wie die der Mutter klingt, deren Stimme sie wie durch eine Wand bereits im Mutterleib wahr- nehmen. Neuere Ergebnisse der Sprachforschung zeigen deutlich, dafl sich sowohl das Sprachwahr- nehmungssystem als auch die Sprachmotorik in enger Abhan- gigkeit von der Muttersprache, die das Kind hort, entwickeln und gleichzeitig zunehmend an Flexibilitat verlieren. So konnen japanische Babies im Alter von sechs Monaten den Unterschied zwischen den Konsonanten ,,r" und ,,l" noch horen, im Alter von zwolf Monaten aber nicht mehr. Erwachsene mit Japanisch als Muttersprache konnen die beiden Konsonanten bekanntlich nicht unterscheiden. Sie nehmen beide als ,,r" wahr; ein ,,I" gibt es im Japanischen nicht. Ganz allge- mein ist es fur Erwachsene schwer, Laute zu unterscheiden, die in ihrer Muttersprache nicht zu Unterscheidung von Worten benutzt werden. Das ist auch der

Grund dafur, dafl eine Fremd- sprache nach der Pubertat, mit der diesc kritischc Phase endet, kaum iioch akzentfrci gelernt werden kann.

Hcute stellt man sich vor, dafl bei der Entwicklung des Spracii- wahrnehmungssystcms und der Sprachmotorik Abbildungcn, welche die Regelmafligkeiten der Muttersprache erfassen, im Ge- dachtnis gespcichert wcrden, und dann ihrerscits Sprachwahrneh- mung und Sprachproduktion des Kindes verandern. Dieser Lern- vorgang lauft unbcwuflt ab, fiihrt zu einem sehr stabilen Gcdacht- nis und ist unabhangig von be- lohnenden Signalen.

Ubcrraschend ist, dai3 das ganze geschieht, bevor das Kind Wiirter lernt. Das bedeutet, dafl bereits vor dem formalen Sprachverstand- nis und -gebrauch erst die Sprach- wahrnehmung und dann die Sprachmotorik auf die charakte- ristischen Eigcnschaften der Mut- tersprachc hin entwickclt werden.

Die vielen Formen des Lernens und die Funktion des Hippocampus

Der Unterschied zwischen dem kindlichen Sprechcnlernen und dem Erlcrnen eincr Fremdspra- che im Erwachsenenaltcr weist schon darauf hin, dafl es offen- sichtlich mchrere Formen des Lernens gibt. Wie viele es sind und wie sich ihre Mechanismen voneinander unterscheiden, ist noch keineswegs geklart. Ganz grob kann man sagen, dafl friihe Lernformen einfacher sind, weni- ger flexibel - man spricht auch von cingekapseltcm Lernen - und vor allem nicht-deklarativ. Beim Menschen bedeutet nicht-dekla- rativ unbcwuflt, beim Tier, dem ein Bewufltsein fchlt, heiflt es: nicht in den Kontext eingebettet. Spatere Lernformen dagegen sind von vielen Bedingungen abhan- gig, das heiflt konfigural, und deklarativ, also bcim Menschen bewuflt und beim Tier flexibel. Im nicht-deklarativen Gedacht- nis wird zum Beispiel alles, was auf Gewohnheiten oder Kondi- tionierung beruht, gespeichert, so auch Bewegungs- und Wahrneh- mungsfahigkeiten. Dagegen um- fassen deklarative Gedachtnisfor- men die Erinnerung an Personen, Orte und Objekte. Nur die In- halte des deklarativen Gedacht-

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nisses sind der bcwuflten Erinne- rung zuganglich.""

Aus Tierexperimenten, aber auch durch bestimmte Gchirnerkran- kungen des Menschen weifl man, dafl dcklarativcs Lernen und Gedachtnis vom Hippocampus abhangen, der zum limbisclien System gercchnet wird und sei- nen Ort an den frcien, nach innen gerollten Randern der Hirnrinde hat. So fuhren Lasionen des Hip- pocampus im Tierexperiment dam, daB neu Erlerntes nicht mehr im Langzeitgedachtnis gespcichert wird, wahrcnd Kurz- zcitgedachtnis und vor dem Eingriff erworbcne Gedachtnis- inhalte erhaltcn bleiben. Die genaue Aufgabe des Hippo- campus ist allerdings noch kei- neswegs geklart. Der eigentliche Endspeicher fur Gedachtnisin- halte liegt in der GroBhirnrinde, wahrend der Hippocampus als einc Art Gedachtnisorganisator gilt, der ncue Lerninhalte kon- textabhangig in cinem raum- zeitlichen Muster einordnet und an ihrer Uberfuhrung ins Lang- zeitgcdachtnis mitwirkt. Auf diesc Weise konnte sich dann auch die ,,fruhkindliche Gedacht- nisluckc" erklarcn, also die Tat- sachc, dafl wir keine Erinnerung an unscre erstcn Lebensjahre ha- ben. Offensichtlich ist der Hip- pocarnpus in dieser Lebensphase noch nicht voll funlrtionsfahig.

Zur Aufklarung der Funktion des Hippocampus und anderer Gchirnarealc bei der Gcdachtnis- bildung werden grofle Hoffnun- gen auf die modernen Methoden dcr Genctik gesctzt. Mit ihnen ist es heutc moglich, Tiere - kondi- tionale Knockouts - herzustellen, bci dencn ganz bcstimmte Gene in bestimmten Gruppen von Gchirnzellen zu bestimmten Zeitcn ausgeschaltet sind. Solchc Experimcnte sind inzwischen mit

:'.:'. Die landlaufigc Untcrscheidung zwischen Langzeit- und Kurzzeitge- dachtnis mug hcute in zweierlei Hin- sicht modifizicrt werden: Das Lang- zcitgcdachtnis besteht aus mehrcrcn, viellcicht viclen vcrschiedcncn Arten von Gcdachtnis. Das Kurzzeitgedachr- nis, so wic dcr Bcgriff von den Psycho- logen benutzt wird, bezieht sich auf dic fruhcii Stadicn ciner Art von Langzeit- gcdachtnis, namlich des deklarativen Gedachtnisses. Daiieben gibt es viele vcrschiedenc Forinen von Kurzzcit- gcdachtnis init nicht-deklarativen Inhaltcn.

Mausen und Fruchtfliegen (Dro- sophila) gelungen. Neuerdings kann man sogar bestimmte Gene in bestimmten Zellen des Hippo- campus nach Belieben auch wic- der ,,anschalten".

Aus Untcrsuchungen mit solchen Tieren hat man schon viel iiber die Mechanismen bestimmter Lernformen erfahren. Von ihnen erhofft man sich auch in der Zukunft die Identifizierung neuer Molekiile und molekularer Syste- me, die am Lernen und an der Gcdachtnisbildung beteiligt sind.

Die Funktion der Synapsen

Es wird immer deutlicher, daB die Synapsen, also die Orte der Erreguiigsiibertragung zwischen den Nervenzellen, entscheidend an Informationsverarbeitung und -speicherung und damit auch an Lernen und Gedachtnisbildung beteiligt sind. Die Vorgange an den Synapsen sind offensichtlich viel komplexer, als friiher ange- nommcn wurde, und sie lionnen im Lauf des Lebens vielfaltig beeinflufit und verandert werden. Vor allcm die Errcgungsiibertra- gung der chemischen Synapsen, die einen groflen Anteil der Sy- napsen im zentralen Nervensy- stem ausmachen, laBt sich durch bestiinmte Erregungsmuster bleibend modifizieren, d. h. ver- starken oder abschwachen. Dabei bleibt das prazise raumliche Muster der Erregungsiibertra- gung zwischen den Nervenzel- len erhalten: Es wird sozusagen ins Gedachtnis ,,eingebrannt". Diesc synaptische Plastizitat wird heute auf dcr zellularen Ebene als wichtigster Mechanismus fur Lernvorgange bctrachtet. Solche aktivitatsabhangigen Langzeitanpassungen konnen im Tierversuch unter anderem als Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD) ge- messen und durch pharmakologi- schc Wirkstoffe sowie genetische Manipulationen beeinflufit wer- den. Auf diese Weise erhofft man sich, die zcllularen Reaktionswe- ge zu identifizieren, die an diesen komplexen Vorgangen prasynap- tisch und postsynaptisch beteiligt sind.

Rettet die Verhaltensforschung

Die neuronalen Mechanismen, auf denen Lernen und Gedacht- nis basieren, enthiillen sich letzt-

endlich im Verhalten der Orga- nismen. Aber es ist gar nicht so einfach, eindeutig nachzuweisen, dafl eine Verhaltensanderung wirltlich durch Manipulation an einem Lernmechanismus des Nervensystems ausgelost wird. Verhalten ist namlich immer das Produkt eines Vielkomponenten- systems. So rnufl der Experimen- tator sicher sein, dai3 zum Bei- spiel Wahrehmung, Aufmerk- samkeit, Motivation und Bewe- gungssystem seiner Versuchstiere wahrcnd des Lernexperiments und des anschlieflenden Verhal- tenstests normal funktionieren. Nur so kann er davon ausgehen, dai3 seine Manipulation nicht in neuronale Mechanismen anderer Verhaltenskomponenten eingreift Viele Molekularbiologen und Genetiker wissen, dafl ihre Me-

thoden zur Erforschung von Lernen und Gedachtnis auf die enge Zusammenarbeit mit der Verhaltensforschung angewiesen sind. So war denn auch die For- dcrung nach einer Neubelebung (oder auch Rettung) der Verhal- tensforschung in den intensiven Diskussionen in Berlin immer wieder zu horen.

Der altc Streit aber, oh Erbanla- gen oder Umwelteinflusse wichti- ger fur die Gchirnentwicklung sind, hat sich dank der Erkennt- nisse der modernen Neurowis- senschaft erledigt: Zur Entwick- lung wichtiger Bereiche ist das Gehirn auf den Dialog zwischen beiden Informationsquellen angewiesen.

Barbara Schroder, Heidelberg

Migrane Erstmals wurde einer der erblichen Faktoren der Migrane identifiziert [I]. Das Gen CACNLlA4 ist die zentrale Komponente eines Calciumkanals, der ausschliefilich im Gehirn exprimiert wird. Bei zwei seltenen Formen vererb- ter Migrane sind Mutationen in CACNLlA4 die alleinige Ursache fur das Leiden, doch stellt er wohl auch bei den haufigen Formen der Migrane einen der erblichen Fakto- ren dar. Der Ionenkanal konnte zum Ansatzpunkt neuer Therapien werden.

Ein Viertel aller Frauen und iiber ein Zehntel aller Manner leiden unter Migrane. Unter diese Be- zeichnung fallt ein ganzes Spek- trum an Symptomen, das von wiederkehrenden Kopfschmerz- attacken iiber Ubelkeit his zu Uberempfiiidlichkeit gegen Licht und Gerausche reicht. Genauso vielfaltig wie die Symptome sind auch die Ausloser fur Migrane: Nicht nur psychische Anspan- nung, sondern auch bestimmte Nahrungsmittel konnen die An- falle hervorrufen. Auch geneti- sche Veranlagung spielt eine Rolle [2]. Da die gewohnlichen Formen der Migrane jedoch im Zusam- menspiel so vieler verschiedener Faktoren entstehen, konnte bis- her keines der beteiligten Gcne identifiziert werden. Zwei seltene Formen der vererb- ten Migrane, FHM (familial he- miplegic migraine) und EA-2 (episodic ataxia type 2), sind autosomal dominant vererbt, das heiflt, daB sie nur auf dcr Storung eines Gens beruhen. Durch Stu- dien betroffener Familien konnte der Lokus auf die pl3-Region

dcs Chromosorns 19 eingegrenzt und dort das Gen fur einen Cal- ciumkanal identifiziert werdcn. Das CACNLlA4 genannte Gen war schon aus Rattc und Kanin- chen bekannt und stellt die al- phal -Untereinhcit eines multi- meren PiQ-Typ-Calciumkanals dar, der ausschliefilich ini Gehirn exprimiert wird [3]. Die zentrale alphal-Untereinheit bildet dabei die Pore des Ionenkanals und sorgt dafur, daB sich der Kana1 spannungsabhangig offnct, wahrend die alpha2-, beta- und delta-Untereinheiten die Akti- vitat zusatzlich reguliercn. Die Wissenschaftler untersuch- ten nun die Basenabfolge von CACNLlA4 in Patienten mit FHM und EA-2. Dabei fanden sie heraus, daB bei FHM-Patien- ten an funktionell wichtigen Punkten bestimmte Punktmuta- tionen auftreten, dic zu Verande- rungen einzelncr Aminosauren des Proteins fuhren. Die Sequenz bei EA-2-Patienten zeigte Muta- tionen, welche die Expression eines verkurzten Proteins bewir- ken.

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Die Wissenschaftlcr nehnien an, dai3 der Calciumkanal auch bei der Entstehung der weit verbrei- teten Formen der Migrane betei- ligt ist. Fehlregulation von Sero- tonin gilt allgemein als Ursache fur die Kopfschmerzen, so dai3 Therapicansatze bisher vor allem auf Rezcptorcn diescs Botenstof- fcs abzielten. Nun sind P-Typ- Calciurnkanale an der Regulation von Serotonin beteiligt [4] und stcllen daher cinen ncuen Ansatz- punkt zur Therapie der Kopf- schmerzattaclcen dar. Zum Bci- spiel konnte die bisher umstritte- ne Gabe von Magnesium als Prophylaxe besser erklart wer- den, da es erwiesencrmal3cn die Funktion von Calciumkanalen becinfluat. Bestimintc Varianten von CACN L1 A4 koniiten zudem cine dcr Komponenten genetischer Veranlagung fur Migrane darstellcn, wcnn auch wohl nicht die einzige.

[ 11 R. A. Ophoff, G. M. Terwindt, et d. (1996) Familial Jhniplcgic Migrai- ne and Episodic Ataxia Type-2 caused by mutations in the Ca2i-channcl gciie CACNLIA4. Cell 87,543 - 552. [2] M. B. Russel, J. Olesen (1995) Incrcased familial risk and evidciice of gcnetic factor iii migraine. Br. Med. J. 311,541 -544. 131 Y. Mori, et al. (1991) Primary structure and functional expression froin coniplciiicntary D N A of a brain calcium channcl. Nature 350, 398 - 402. [4] A. Codigiiola, ct al. (1993) Calcium channel subtypes controlling serotonin rclcasc from human small ccll lung carcinoma cell Iincs. J. B i d Chem. 268, 26240 - 26247.

G. Bucher, Miinchen

Was wissen Biologen schon vom Leben? Die biologische Wissen- schaft nach der molekulargene- tischen Revolution. Tagung der evangelischen Akademie Loccum. 23. - 25.05.1997, Loccum.

Information: Dr. A. Dally, Evange- lische Altademie Loccum, Pf. 2158, 31545 Rehburg-Loccuni, (Tel.: 0 57 66/81-1 08, Fax: 0 57 66/ 81-1 28).

OsnabriicWOldenburger Sommer- akademie fur Systematische Zoologie, Kurs XXXI, Taxonomie und Okolo- gie von Siifiwassermollusken. 04. - 08.08.1997, Oldenburg.

Kurs XXXI, Taxonomie der Ziaden.

04. - 08.08.1997, Osnabriick.

Information: Prof. Dr. W. Wcstheide, Fachbercich BiologidChemie, Uni Osnabriick, Pf. 4469,49069 Os- nabruck, Tel.: 05 41/9 69-28 61.

Fagnu der Antarktis

Wanderungen des Auf der Suche nach Lebensrau- men, die in keiner Weise vom Menschen genutzt werden, mui3 man entlegene Gebiete aufsuchen. Das antarktische Ross-Meer ist so ein ursprungliches Biotop. Wie die gesamte Antarktis wird es durch das im Oktober 1991 von den Vertragsstaaten verab- schiedete Umwcltschutzproto- koll einem strengen Schutz untcrstellt (Treaty and Conven- tion on Antarctic Marine Living Resources). Der Antarktisvertrag schlieat die Gebiete his zum 60. Grad sudlicher Breite ein. Kooyman et al. zeigten jetzt am Beispiel des Kaiserpinguins, dafi diese willkurliche Grenze den Schutzanfordcrungen nicht gerecht wird.

Der Kaiserpinguin ist das popu- lare Charaktertier der Antarktis. Im April lafit sich das Paarungs- verhalten dieser grogen Pinguine auf dem neugebildeten Eis beob- achten. Von Beginn der Eiablage (Mitte Mai) his zum Schlupfen

Ka iserping u i ns der Jungen (Mitte Juli, Anfang August) bebrutet das Mannchen die Eier. Nach dieser winter- lichen Fastenzeit von 115 Tagen wird es vom Weibchen abgeliist - oder besser: erlost. Wahrend der nachsten funf Monate futtern die Eltern ihre Jungen gemeinsam. Die Brutpflegedauer betragt damit insgesamt neun Monatc. Die Jungen werden etwa zur Zeit der Sonnenwende, bei einem Gewicht von 12 kg, flugge. Kurz zuvor stellen die Eltern die Futterung ein, und dic Jungcn mussen sich selbst versorgen. Die Jungpinguinc verlassen die Koloiiie und kehren erst nach mehreren Jahren zuruck. In dcn Jahren 1995 und 1996 verfolgten Kooyman et al. das Schicksal von funf jugendlichen Kaiserpinguinen mittels Satelli- tenuberwachung. Im Marz 1996 wurde das letzte Signal regi- striert, und zwar 2845 km vom Ursprungsort Cape Washington entfernt. Das entspricht einem Breitengrad von 56,9" S. Alle funf

Jungpinguinc wahlten eine ver- gleichbare Routc, zunachst nach Nordcn und dann nach Osten, wobei sie der vorherrschcnden Stromung und dem Wind folgten. Dabei bewegten sic sich in eisfrei- em Wasser, konnten also keine Ruhepausen einiegen. Durch die groi3e raumlichc Distanz treten sie nicht in Nahrungskonkurrenz mit den Elterntiercn. Allerdings verlassen die Jungpinguine die antarktische Schutzzonc, mussen sich also mit der kommerziellen Fischerei in diesen Meercsteilen auseinandersetzen. Dic Kaiser- pinguinpopulation des Ross- Mceres lcbt daher in eincrn bedeutenden Lebensabschnitt durchaus nicht unter von Men- schen unbeeinfluflten Lebens- bedingungen.

Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dai3 wirksamer Artenschut7. nur bei umfassender Kenntnis der Biologie einer Art moglich ist.

[ G. L. Kooyman, T. G. Kooy- man, M. Horning, C. A. Kooym- an (1996) Nature 383: 3971.

Inge Kronberg, Kiel

Lebensrettende Pheromone Verletzte Elritzen sondern einen chemischen Alarmstoff ab, der sie selbst vor dem Gefressenwerden schiitzt. Kana- dische Biologen untersuchten Elritzen und Hechte in ei- nem Aquarium und klarten ein scheinbares Paradoxon: Obwohl der Alarmstoff sogar noch einen zweiten Rauber anlockt, steigen die Uberlebenschancen des Opfers; denn der erste Hecht ist fur kurze Zeit ob des Frefikonkurrenten irritiert, und dies kann die Elritze zur Flucht nutzen [I].

Viele Saugetiere und Vogel stoi3en im Todeskainpf init dem Rauber Schreie aus; anders ver- haltcn sich manche Fische und Amphibien: Wcnn sic verletzt sind, sondern ihre Zellen Alarm- stoffe ah, die Artgenossen war- nen sollen. Aus friiheren Unter- suchungen ergab sich jedoch noch eine zweite Funktion sol- cher Stoffe. Sie locken noch weitere Rauber an [ 2 ] . Welchen Nutzen sollte die Abgabe eines solchen Pheromons also fur den bedrohten Fisch selbst haben? Eine kanadische Forschergruppe um den Biologen D. P. Chivers luftete das Geheimnis, indem sie das Verhalten von Elritzen (Pime- phales promelas) und Hechten (Esox lucius) in einem Aquarium

studierten. Der Hecht schnappt seine Beute von der Seite und dreht sie im Maul his der Kopf im Maul steckt; fur dieses Drehen benotigt der Hecht je nach Gro13e der Beute anderthalb his zwei Minuten, und diese Zeit sollte nach Meinung des Autors reichen, um einen zweiten Hecht anzulocken. Ein Quadratzenti- meter Hautoberflache sondert dabei eine Menge Alarmstoff ab, die in rund 60.000 Litern fur einen Hecht noch warhnehmbar ist [3]. Zwar konnen Aquariums- experimente die Verhaltnisse im freien Gewasser nur unvollkom- men wiederspiegeln. Chivers ist dennoch iiberzeugt, daf3 die abgesonderte Pheromonmenge ausreicht, auch in freien Gewas-

scrn Hechte bis in Sichtweite des Opfers anzulocken. Um zu zeigen, dafl sich fur die Elritze die Fluchtmoglichkciten im Beisein cines zweiten Raubers verbesscrn, wertete Chivers ins- gesamt dreizehii Versuche aus. In einem Kontrollexperiment, durchgefuhrt ohne zweiten Hccht, hatte die Elritze keine Chance zu entkommen. Tauchte jedoch ein zweiter Hecht auf, konnte die Elritze in funf von dreizehn Fallen dem Maul des Raubers entkommen. Allerdings wurde sie infolge fehlender Fluchtmoglichkeiten im Aqua- rium dann Opfer des zweiten Hechtes. Chivers ist sich jedoch sicher, dafl in der Natur infolge besserer Versteck- und Flucht- moglichkeiten nicht jede Attacke eines Raubers fur die Elritze das Ende bedeutct.

[l] D. I? Chivers et al. (1996), Am. Nat. 649,649-659. [2] A. Mathis et al. (1995), Am. Nat. 145,994-1005. [3] B. J. Lawrence, R. J. F. Smith (1989), J. Chem. Ecol. 15, 209-2 19.

Georg Haiber, Eppelheim

Biologie in unserer Zeit / 27. Jahug. 1997 / Nr. 3

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Vor dem Verzehr wird gewarnt! Marienkafer, Wespen und andere ubelschmeckende oder wehrhafte Insekten sind oft auffallig rot oder gelb gefarbt. Solche Insekten werden von Vogeln gemieden. Meistens begleiten unangenehme Geruche diese optische Warntracht. Ein typischer Geruchsstoff ist das Pyrazin (2-Isobutyl-3-Methoxypyrazin), welches beim Reflex- bluten des Marienkafers und beirn Braunen Baren frei wird. Warn- trachten stellen also ein multikomponentes Signal aus Farbe und Geruch dar. Bisher wurde die Reaktion auf Warnfarben und -geruche stets isoliert betrachtet, Rowe und Guilford untersuchten nun die kombinierte Wirkung dieser Signale.

Als Versuchstiere wahlten sie frisch geschliipfte Haushuhn- kiikcn (Gallus gallus domesticus) aus einem kommerziellen Zucht- betrieb. Gruppen von jeweils sechs Vogeln wurden drei Tage lang an die Fiitterung in einem kreisformigen Auslauf mit einge- lasscnen Freflnapfen gewohnt. Als Futter dienten handelsiibli- che, braunc Futterbrocken. Fur die anschliefienden Vcrsuchsrei- hen wurde dieses Futter mit Lcbensmittelfarben farblich verandert oderhnd mit Chinin und Scnf ungenieflbar gemacht. Am vierten Tag nach dem Schliipfen tauschten Rowe und Guilford das normale Futter gegen das Versuchsfutter aus. Jede Versuchsreihe bestand aus zwolf Sitzungen im Abstand von 30 Minuten, bei denen jeweils acht Futterbrocken angeboten wurden. Fur jede Versuchsreihe wurden neue Kiiken verwendet. Als Geruchssignale dienten py- razinhaltige Wattebausche, die der Versuchsgruppe, aber nicht cinem bestimmten Futtertyp zugeordnet waren. Der Geruch war also kein direktes Signal fur die Genieflbarkeit des Futters. Eine Kukengruppe wurde unter dem EinfluB von Pyrazin, eine Parallelgruppe ohne Pyrazin getestet. Als richtige Wahlent- scheidung der Kiiken wurde die Aufnahme eines geniefibaren Brvckcns und die Ablehnung eines ungeniefibaren Brockens gewertet.

1. Versuchsreihe - vier geniefiba- re, griine und vier ungeniefibare, gelbe Futterbrocken: - w Ergebnis: Beide Kiikengruppen meiden die nicht geniefibare, gelbe Nahrung, die Pyrazingrup- pe verschmaht ungenieflbares, gelbes Futter, aber schon in der ersten Sitzung deutlicher als die Parallelgruppe ohne Pyrazin.

Da der Pyrazingeruch von den Kiiken nicht als Genieflbarkeits-

signal gewertet werden kann, gibt es drei verschiedene Erklarungs- moglichlreiten fur das Freflver- halten:

Pyrazin wirkt mit Chinin und Senf zusammen und steigert den Warneffekt. Pyrazin wirkt als Lernbe- schleuniger. Pyrazin induziert eine ver- steckte Aversion gegen Gelb, nicht aber gegen Griin.

Verschiedene Kopplungen von Geniegbarkeit, Farbe und Geruch sollen naheren Aufschlufi geben.

2. Versuchsreihe - vier ungeniefi- bare, griine und vier geniefibare, gelbe Futterbrocken: + Ergebnis: Ordnet man die ge- nieflbare Nahrung umgekehrt der Warnfarbe Gelb zu, wird das geniefibare, gelbe Futter in der Pyrazingruppe starker abgelehnt als in der Parallelgruppe. Pyrazin scheint eine Aversion gegen gel- bes Futter zu erzeugen, unabhan- gig davon, ob es geniefibar ist oder nicht. Die pyrazinfreie Gruppe von Versuchsreihe 1 und 2 zeigt keine Aversion gegen Gelb; Senf und Chinin alleine fuhren nicht zur verstarkten Ablehnung einer Futterfarbe. Pyrazin tritt also nicht in Wech- selwirkung mit Senf und Chinin und ist auch kein Lernbeschleu- niger.

3. Versuchsreihe - acht geniefi- bare, braune Futterbrocken: Ergebnis: Die Pyrazingruppe und die Parallelgruppe verhielten sich beim Fressen nicht signifi- kant verschieden, Pyrazin wirkt nicht ohne zusatzliche Farbdiffe- renzierung.

4. Versuchsreihe - vier geniefi- bare, griine und vier geniefibare, gelbe Futterbrocken: + Ergebnis: In der Pyrazingruppe wird das gelbe Futter haufiger ver- schmaht, obwohl es genieflbar ist.

j. Versuchsreihe -vier geniefi- bare, griine und vier geniefibare, rote Futterpartikel: 4 Ergebnis: In der Pyrazingruppe wird geniefibares, rotes Futter hau- figer verschmaht als in der Paral- lelgruppe. Der Effekt roter Farbe ahnelt dem gelber Farbe, ist aber etwas schwacher ausgepragt. Die Vermeidung der Warnfarbe laflt mit der Anzahl der Sitzungen nach, wenn das Futter genieflbar ist. In der Natur sind wahrschein- lich gelegentliche Negativcrfah- rungen notwendig, um dauerhaft auf Warnfarben zu reagieren.

Mit diesen Versuehen zeigen Rowe und Guilford, dafl der Pyrazingeruch kombiniert mit den Farben Rot oder Gelb eine

Ablehnung diescr Farben be- wirkt. Dicsc Aversion wird ohne den Geruch nicht gczeigt. Gegen Griin oder Braun bewirkt Pyra- zin dagegen kein ablehnendes Vcrhalten.

Die Warnsignale toxischer Insek- ten sind nur ein Beispicl fur mul- tikomponentc Signale. Die Be- deutung vieler multikomponenter Signale konnte in solchcn ver- steckten Verhaltensantworten liegen, die erst durch die Zusam- menwirltung der Komponenten ausgclost werden.

[C. Rowe, T. Guilford (1 996) Nature 383: 520-5221,

Inge Kronberg, Kiel

Schnee van gestern liefert neue Erkenntnisse Ozonloch, Saurer Regen, Treib- hauseffekt.. . : veranderte Gas- konzentrationen in der Atmo- sphare geben seit Jahren Anlafl zur Besorgnis. Um kurzfristige Schwankungen von langfristigen Trends zu unterscheiden, sind umfassende Meflreihen erforder- lich. Erst seit einigen Jahren lassen sich die atmospharischen Gaskonzentrationen direkt messen, altere Werte werden aus Luftblaschen im ewigen Eis ermittelt. Solche Eisproben sind zwar aufschluflreich, liefern aber nur sehr geringe Luftvolumina und begrenzen so die Analy- semoglichkeit. Chemische Reak- tionen zwischen Luft und Eis sowie Einfliisse durch das Ex- traktionsverfahren belasten die Ergebnisse mit einer gewissen Unsicherheit.

Battle et al. stellen ein erganzen- des Verfahren vor, bei dem Luft aus kornig gewordenem Alt- schnee (Firn) analysiert wird. Firn ist sehr vie1 lufthaltiger als Eis, grofiere Luftvolumina kon- nen daher mit geringeren Extrak- tionsartefakten gewonnen wer- den. Allerdings ist der Altschnee so poros und permeabel, dafi zwischen der eingeschlossenen Luft benachbarter Schichten ein molekularer Gasaustausch statt- findet. Ergebnis ist ein Gemisch atmospharischer Gase unter- sehiedlichen Alters, was eine Datierung der Firnschichten er- schwert. Im Mittel nimmt das

Alter der Firnluft nach unten bin jedoch monoton zu. Beriick- sichtigt man die verschicdenen Diffusionsvorgange, laflt sich das Alter genauer berechnen. Folgen- de Faktoren beeinflusscn die Zu- sammensetzung und Mischung der Firnluft: 0 Dic oberen zehn Mctcr wer-

den vom Wind durchmischt; 0 schwerere Gase wcrden in der

Tiefe starker angereichert, da der Druck steigt und die Tem- peratur sinkt;

0 die Diffusioiisgeschwindigkeit sinkt mit der Tiefe, denn hicr ist dcr Firn weniger poros;

0 ein spczifischer Gasanteil cntweicht nach obcn, und zwar mehr 0, als N,.

Die meisten dieser Effekte lassen sich mathematisch erfassen. Batt- le et al. benutzten ein einfaches Gasdiffusionsmodell, um ihre Mefidaten von CO,, CH,, N,O, N,, OJN, zu interpretieren und mit den direkten Messungen und den Eisluftanalysen vergleichcn zu konnen. Die Firnproben von Battle et al. stammten aus zwei Bohrlochern am Siidpol bei 90" siidlicher Breite, einer sehr kalten Region mit einer mittleren Jahres- tempcratur von -49,4 "C. Jahr- lich fallen hier Schneemengen von etwa acht Zentimetern Eisaquivalent, die eine 123 Meter hohe Firn-Eis-Schicht aufgebaut haben. Die Lufteinschliisse sind zum Teil etwa hundert Jahre alt. Diese Zeitspanne wurde durch

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direkte Messungen und Eisanaly- sen bisher nur unzureichend abgedeckt, hier sind die Firnluft- Analysen aufschlufireich. Die jungsten Messungen der N,O-Konzentration stammen aus Eisproben von 1966, direkte Mcssungen werden erst seit Mitte der siebziger Jahre durchgefuhrt. Die Firnluft-Messungen von Battle et al. schlieacn diese Lucke: In der ersten Halfte dieses Jahrhunderts stieg die N,O- Konzentration langsam an (0,06 - 0,01 % im Jahr), danach sehr vie1 schneller (0,22 - 0,02 % im Jahr). Als Quelle fur N,O kommen Ozeane, Biiden und Dungemittel in Frage, es wird auch eine at- mospharische zn sttu-Produktion diskutiert.

Die CO -Konzentration dieses Jahrhunierts ahnelt in ihrem Verlauf der N,O-Konzentration. Firnluftuntersuchungen ergeben eine C02-Steigerung von 0,4 - 1, l Gt Kohlenstoff pro Jahr, damit stimmen sie gut mit den Eismessungen uberein. Dieser CO,-Anstieg liegt deutlich unter dem Wert, der aufgrund ver- brauchter fossiler Brennstoffe, gerodeter Walder und verander- ter Bodennutzung zu erwarten ware. Die erhohte CO,-Bildung mui3 also teilweise durch einen gesteigerten C02-Verbrauch ausgeglichen werden. Als Koh- lenstoffsenke lcommt neben phy- sikalischen Effekten eine erhohte terrcstrische oder ozeanische Primarproduktion in Frage. Messungen der O,/N,-Relation lasscn Ruckschlusse auf die pho- tosynthetische CO,-Bindung zu. In ausreichender Genauigkeit liegen solche Messungen seit 1988 vor, die Altschneeuntersuchungen lassen nun zehn Jahre weiter zu- ruckblicken. Sie zeigen, dai3 die terrestrische Biosphare von 1977 bis 1985 weder C0,-Quelle noch CO,-Scnke gewesen ist. Die Extraktion und Analyse von Luft aus sudpolaren Altschnee- schichten ermoglicht es, die Ge- schichte biogener Treibhausgase aufzuschliisseln und erganzt so die Ergebnisse aus Luftproben im ewigen Eis.

[M. Battlc, M. Bender, T. Sowers, P. P. Tans, J. H. Butler, J. W. Elkins, J. T. Ellis, T. Conway, N. Zhan, P. Lang, A. D. Clarkc (1996) Naturc 383,231-235. U. Riebesell, D. Wolf-Gladrow (1993) B i d 2,97-1011.

Inge Kronberg, Kiel

Pfunzengenetik

PI ast iden genome Die Chloroplasten der Landpflanzen (Angiospermen, Gymnospermen, Farne, Moose) und der griinen Algen enthalten DNA, in der die genetische Information fur wichtige molekulare Bausteine der Chloroplasten gespei- chert ist. Diese DNA wird in den Organellen repliziert; sie wird auch in RNA umgeschrieben, und die mRNA wird an den Chloroplastenribosomen translatiert. Neue Unter- suchungen der DNA in den nicht-griinen Plastiden der Rot- und Kieselalgen sowie in den rudimentaren Plastiden mancher Schmarotzerpflanzen und farbloser Algen haben unsere Vorstellungen uber Aufbau, Informationsgehalt, Verbreitung und Evolution dieser Organellen-DNA be- trachtlich erweitert. Schliei3lich: Wer hatte bis vor kurzem gedacht, dai3 Malaria-Parasiten Plastiden-DNA besitzen?

Eindeutig nachgewiesen wurde D N A in Chloroplasten schon zu Anfang der 60er Jahre. Inzwi- schen weia man recht genau, wieviel und welche genetische Information diese D N A enthalt. Die ersten kompletten Sequenzen von Chloroplastengeiiomen (die des Lebermooses Marchantia polymorpha und des Tabaks Nicotiana tabacum) wurden 1986 veroffentlicht. Zu jener Zeit waren das die groi3ten Genome iiberhaupt, die vollstandig se- quenziert waren. Bald folgten die Sequenzen der Chloroplasten- D N A von Reis, Schwarzkiefer und Mais sowie des Flagellaten Euglena gracilis. Eine verglei- chende Bestandsaufnahme zeigt, dai3 die Ahnlichkeiten der Chlo- roplasten-DNA von Gefai3- und Nicht-Gefhapflanzen, yon Gym- nospermen und Angiospermen, von Ein- und Zweikeimblattrigen weit groaer sind als die Unter- schiede.

Chloroplasten-DNA-Molekule sind durchwegs zirkular und doppelstrangig. Jeder Chloro- plast enthalt mehrere, gleichartige DNA-Molekule, ist also poly- ploid. Typisch ist, dai3 ein DNA- Abschnitt verdoppelt ist, so dai3 alle darauf befindlichen Gene zweimal auf einem DNA-Mo- lekul vorliegen (zu diesen gehoren stets die Gene fur die Nukleinsauren der Ribosomen). In einigen Taxa sind die Duplika- tionen allerdings sekundar verlo- rengegangen. Zahl und Art der Gene differieren nur wenig; circa 120 Gene tragen die Information fur chloroplastenspezifische Proteine, vor allem solche, die fur die Photosynthese wichtig sind,

und fur Ribonukleinsauren, die fur die Synthese dieser Proteine in den Chloroplasten gebraucht werden (ribosomale RNAs, Transfer-RNAs). Die Basenfolge in den einzelnen Genen (und damit die Aminosauresequenz der codierten Proteine) ist in den verschiedenen Taxa sehr ahnlich. Fur die Organisation der Chlo- roplastengene sind polycistroni- sche Transkriptionseinheiten typisch; sie kommen fast uberall in nahezu identischer Zusam- menstellung vor.

Die gro4ten Abweichungen findet man noch bei den Eugle- noiden: Die Gene fur die riboso- malen Nukleinsauren sind hier nicht in invers angeordneten Duplikationen gelegen, sondern in mehrfach wiederholten Ab- schnitten, und in den Proteinge- nen sind ungewohnlich viele Introns enthalten.

Da ein Chloroplast wenigstens 500 bis 1000 verschiedene Pro- teine enthalt, mu43 notwendiger- weise ein groi3er Teil der fur die Chloroplasten benotigten gene- tischen Information in der chro- mosomalen D N A des Zellkerns enthalten sein. Beispielsweise finden sich Gene fur einen Teil der vielen Proteine der Photosyn- thesemembran in der Chloropla- sten-DNA, die restlichen dieser Proteine sind chromosomal co- diert. Die Plastidenproteine, deren Gene sich im Zellkern befinden, werden an cytoplasma- tischen Ribosomen synthetisiert und in die Chloroplasten impor- tiert (vergk. J. Knotzel, L. H. Grimme, BIUZ 26,1996, S. 104-109).

Kurzlich veroffentlichte Untersu- chungsergebnisse belegen nun, dai3 die D N A in den roten Plasti- den (Rhodoplasten) von Rotalgen [I] und in den braunen Plastiden mariner Kieselalgen [Z] deutlich mehr Gene enthalt als die Chloro- p1asten:DNA und auch sonst einige Uberraschungen zu bieten hat. Das Plastidengenom dcr marinen Rotalge Porphyra para- doxa umfai3t 250 Gene; unter den Genen, die in Chloroplasten- genomen nicht vorkommen, sind solche, die fur Enzyme der Fettsaure- und Aminosauresyn- these und anderer in den Plasti- den ablaufender Stoffwechselwe- ge codieren. Im Genom der blau- grunen, auch als Cynellen be- zeichneten Plastiden des Einzel- lers Cyanophora paradoxa (Glaucocystophyta) wiederum ist die Information fur den Protein- import enthalten, die ansonsten im Kerngenom niedergelegt ist [3]. Weitgehende Einigkeit besteht heute daruber, dai3 dic - lange umstrittene - Endosymbionten- theoric der Organellenentstehung richtig ist. Endosynibiontische Cyanobakterien (Blaualgen) werden demnach als stammesge- schichtliche Vorlaufer aller Plasti- den und Chloroplasten angese- hen (vergl. P. Sitte, BIUZ 21, 1991, S. 85 - 92.). Unter dem Blickwinkel der Evolutionsfor- schung stehen den Cyanobakte- riengenomen die Genome der Kotalgenplastiden und der Cya- nellen in vieler Hinsicht naher als die Chloroplastengenome. Strit- tig ist aber nach wie vor, ob alle Photosyntheseorganellen auf ein gemeinsames Vorlauferorganell zuruckgehen, das heifit mono- phyletischen Ursprungs sind, oder ob sie polyphyletisch ent- standen sind.

Eine Reduktion der Zahl der Plastidengene ist in verschiedenen pflanzlichen Organismen nachge- wiesen worden. Sie ist vermutlich als Anpassung an eine vcrandertc Lebensweise erfolgt. Einige Voll- schmarotzer unter den Bluten- pflanzen betrciben iiberhaupt keine Photosynthese, so die nordamerikanische Oroban- chaceenart Epifdgus virginiana. Diese Art besitzt in den oberirdi- schen Organen lediglich rudi- mentare Plastiden und ein stark reduziertes Plastidengenom mit nur etwa 40 Genen. Fast alle dieser Gene codieren fur Kompo- nenten des plastidaren Translati-

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onsapparats. Eine ahnliche Ruck- bildung des Plastidengenoms wie bei Epifagus hat der Autor mit seinem Team [4] bei dem einzelli- gen Flagellaten Astasia longa entdeckt. A. longa ist sehr nahe mit der grunen Gattung Euglena verwandt. Gleichwohl sind die Zellen farblos und heterotroph (am besten wachsen sie in einer Nahrlosung mit 1 % Ethanol). Warum in beiden Fallen die Gene fur ribosomale RNAs, ribosoma- le Proteine und tRNAs erhalten blieben, obwohl alle Gene fur Komponenten der Photosynthe- semembran eliminiert sind, ist noch ein Ratsel. Fest steht je- doch, dai3 die Gene der rudi- mentaren Plastidengenome aktiv transkribiert werden.

Noch ratselhafter ist die vor kurzem in einem Erreger der Malaria (Plasmodium falciparum) und der Toxoplasmose (Toxoplas- ma gondii) entdeckte Plastiden- DNA. Obwohl diese D N A schon sehr klein und nur sparsam mit Genen ausgestattet ist, scheint sie doch auch ein funktionsfahi- ges Genom zu reprasentieren. Unabhangig von ihrer vollig ungeklarten biologischen Bedeu- tung liefert die Anwesenheit einiger Plastidengene und ihrer Genprodukte eine Erklarung dafiir, dafi diese Parasiten von bestimmten Herbiziden und anderen Chemikalien, die spezi- fisch den plastidaren Stoffwechsel hemmen, geschadigt werden [5]. Die Plastiden und Plastidengeno- me der Parasiten diirften jeden- falls neue und hochwillkommene, parasitenspezifische Angriffsorte fur therapeutisch relevante Stoffe sein.

[l] M. Reith, J. Munholland (1995) Plant Mol. Biol. Rep. 13, 333 - 335.

[2] K. V. Kowallik et al. (1995) Plant Mol. Biol. Rep. 13,336 - 342.

131 V. L. Stirewalt et a]. (1995) Plant Mol. Biol. Rep. 13,327 - 332.

[4] G. Gockel et al. (1995) Cum Genet. 26,256 - 262.

[5] J. H. P. Hackstein et al. (1995) Parasitol. Res. 81,207 - 216.

Wolfgang Hachtel, Bonn

Gentechnik und Gesundheit

(...) Wenn man heute vom Hu- mangenomprojekt (...) spricht, dann meint man damit das 1985 in den USA initiierte, spater durch die Human Genome Or- ganization (HUGO) internatio- nal koordinierte Programm zur systematischen, grundlegenden Erforschung des menschlichen Genoms. Es hat die folgenden Zielsetzungen:

0 Genetische Karte: Ermittlung der Lokalisation von Genen und anderen genetischen Markern mittels Familienuntersuchungen (die Haufigkeit der gemeinsamen Weitergabe zweier Gene von einem Elternteil an sein Kind ist ein MaG fur die Nahe dieser Gene zueinander auf einem Chromosom).

0 Physikalische Karte: Erstellung einer Sammlung klonierter, mit- einander uberlappender DNA- Abschnitte des gesamten Genoms.

0 DNA-Sequenz: Ermittlung der Reihenfolge aller drei Milliar- den DNA-Bausteine des mensch- lichen Genoms.

0 Modellorganismen: Kartie- rung und Sequenzierung der Genome anderer Lebewesen (z. B. Hefe und Fruchtfliege).

0 Bioinformatik: Entwicklung von Computerprogrammen fur die Aufbewahrung und Verarbei- tung von Kartierungs- und Se- quenzierungsdaten.

0 Ethische, rechtliche und so- ziale Fragen: Erforschung der Auswirkungen des Informations- zuwachses auf das menschliche Zusammenleben.

0 Ausbildung: Bereitstellung von Ausbildungsprogrammen fur junge Wissenschaftler.

0 Technologieentwicklung und - transfer: Entwicklung von auto- matisierbaren Kartierungs- und Sequenzierungstechnologien; Forderung der Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung, Industrie und Medizin. (...)

Gekiirzte Expertise fur die Jzenarien fur morgen" voni 9. Dezember 1996 am Wissenschafts zentrum Nordrhein-Westfalen.

Nach wie vor haben die USA die Fuhrungsrolle in diesem Projekt inne. Aber auch aus anderen Landern kommen national koor- dinierte und in das internationale Projekt eingebundene Beitrage. Hier sind in erster Linie Frank- reich, Groi3britannien und Japan zu nennen, und viele andere Staaten schliefien auf, darunter seit 1995 auch Deutschland. Fast uberall werden dabei offentliche wie auch private Mittel einge- setzt. (...)

Das primare Ziel des Genompro- jektes ist die Ermittlung der gesamten, aus drei Milliarden Bausteinen (Nukleotiden) beste- hendeii DNA-Sequenz. Dieses Ziel kann nur errekht werden, wenn die menschlichen Gene in ihrer chromosomalen Anord- nung vorab kartiert werden. Bis zum Ende des Jahres 1994 waren etwa funf Prozent aller menschli- chen Gene (deren Gesamtzahl auf 50 000 bis 100 000 geschatzt wird) chromosomal kartiert. Die Karten der einzelnen Chromoso- men zeigen bereits teilweise eine Detailauflosung, die die direkte Sequenzierung grofier Bereiche ermoglicht.

Der Anteil des Genoms mit bc- kannter DNA-Sequenz betrug bis Ende 1995 erst etwa ein Pro- zent. Eine ausschnittsweise Se- quenzinformation lag jedoch schon fur uber die Halfte aller menschlichen Gene vor. Man geht heute davon aus, dai3 die gesamte Sequenz des menschli- chen Genoms spatestens bis zum Jalir 2005 ermittelt sein wird. Sollte ein Durchbruch in der Ver- besserung von Sequenzierungs- techniken gelingen, durfte dieses Ziel viel fruher erreicht sein.

Die beeindruckende Geschwin- digkeit, mit der die Anatomie des menschlichen Genoms durch- schaubar wird, darf nicht daruber hinwegtauschen, dai3 wir damit noch nicht viel uber die Funkti- on, Interaktion und Regulation der Gene wissen. Diese Frage- stellungen gehoren zu den lang- fristigen Zielen des Genompro- jekts, welche auch die systema- tische Untersuchung mensch- licher Variabilitat und die Ent- wicklung und Anwendung effek- tiverer Methoden der Genthera-

pie einschliefien. Die groi3te Gefahr, die in einer Akkumula- tion von viel Detailwissen uber eine komplexe Struktur liegt, ist, dai3 dieser Zustand glauben macht, die Koinplexitat selbst sei dadurch verstehbar.

Der bedeutsamste und unmittel- barste Gewinn, den das Genom- projekt erzielen wird, liegt auf medizinischem Gebiet. Die Kar- tierung und Isolierung von Ge- nen, die am Zustandekommen von Erbkrankheiten beteiligt sind, haben von Anfang an Fort- schritte zumindest im ansatzwei- sen Verstehen dieser Krankheiten, ihrer Diagnose und ihrer Be- handlung erbracht. (...)

Genetische Aspekte der Erbe- Umwelt-Interaktion

Der Mensch ist in seiner korper- lichen und personalen Entwick- lung ein Produkt seiner Erbanla- gen und seiner Umwelt. Auch wenn wir bislang nur wenig uber diese uberaus komplexe Interak- tion wissen, so beginnen wir doch, wenigstens Teilaspekte zu verstehen. Es wird uns bewui3t, dai3 hochkomplexe Systeme nicht als Summe einzelner deterministi- scher Vorgange aufgefai3t werden konnen. Selbst die biologischen Grundvorgange, zum Beispiel die durch die lineare Abfolge D N A 4 RNA + Protein festgelegten Primarschritte vom Genotyp zum Phanotyp erhalten wegen der Mutabilitat der Erbsubstanz und der reversen Umschreibbar- keit von R N A in D N A ,,chao- tische" Zuge. Die Mutabilitat der Erbsubstanz folgt gleichwohl Gesetzmafiigkeiten, die teilweise in der lokalen Primarstruktur der DNA, teilweise in der dem Phanotyp zuzuordnenden Re- plikationsmaschinerie begrundet sind. Umweltfaktoren, namlich ionisierende Strahlen und chemi- sche Mutagene, uberlagern diese ,,inneren" Prozesse und beein- flussen sie.

Verhaltensmerkmale des Men- schen werden zumeist eher als das Ergebnis der Umweltpragung (Padagogik, soziales Lernen) gesehen als direkt biologisch bedingt. U m so mehr erregen Befunde Aufmerksamkeit, die Argumente fur die umgekehrte Sicht zu liefern scheinen. Be- stimmte Chromosomenkonstella- tionen wurden falschlicherweise

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in dirckter Kausalitat mit Nei- gung zur Kriniinalitat in Bezie- hung gesetzt, vorlaufige Daten sprechen fur cine X-chromoso- male Lokalisation von Genen, die zu Homosexualitat disponieren, und in manchen Familien sind Mutationen in Genen, deren Produkte in den Gehirnstoff- wechsel eingreifen, offenbar mit Intelligenzminderung und erhoh- ter Aggressionsbereitschaft asso- ziiert. Diese Liste liefie sich fort- setzen und schliei3t die Neigung zu Psychosen ebenso ein wie die zum Bettnassen. Oh die Daten im einzelnen Bestand haben oder nicht, keinesfalls ergibt sich auch nur annahernd ein Ansatz fur eine biologische Interpretation menschlicher Komplexitat. Die Genetik ist bezeichnenderweise noch nicht einmal in der Lage, ihre eigenen Erkenntnisgrenzen zu definieren.

Kausalverstandnis bei ,,genetisch" (mit-)bedingten Erkrankungen

Erbliche Krankheiten: Alle Krankheiteii sind in dein Sinne ,,multifaktoriell", dai3 immer Erbe und Umwelt zu ihrer Aus- pragung beitragen. Gene sind als ,,disponierende" Faktoren unter- schiedlicher Durchschlagskraft (...) anzusehen. Zwischen mono- genen, polygenen und ,,nicht- erblichen" Storungen gibt es daher fliefiende Ubergange. (...)

Einige monogene Krankheiten weisen eine charakteristische geographische oder ethnische Haufigkeitsverteilung auf (...). Gerade diese Krankheiten sind inehrfach Gegenstand cines gene- tischen Screening in den jeweili- gen Populationen gewesen. In mittcleuropaischen Bevolkerun- gen ist insbesondere immer wie- der ein Anlagetrager-Screening auf Mukoviszidose (Cystische Fibrose, CF) diskutiert worden. Der Vcrfasser halt solche Pro- gramme grundsatzlich fur sozial- ethisch unvertretbar, genetische Tests mit pradiktiver Potenz sind immer nur in einem medizini- schen Setting anzusiedeln, das ein wirklich individuelles Abwagen dcs Fur und Wider erlaubt. (...)

Die Identifizierung der Einzel- komponenten von durch mehrere Gene (mit)verursachten Krank- heiten steht erst ganz am Anfang, und die Art und Weise ihrer

Intcraktion ist im Grunde noch ganz unerforscht. (...)

Die Bedeutung der Gentechnik fur die klinische Zytogenetik hat in den letzten Jahren spiirbar zugenommen: Fluoreszenz-ln- situ-Hybridisierungsverfahren (...) sind ein unverzichtbarer Be- standteil bei der Analyse struktu- reller Chromosomenaberrationen (beispielsweise Translokationen, Markerchromosomen) gewor- den. Es stehen heute Test-Kits konimerzieller Anbieter zur Ver- fugung, die es gestatten, kleinste Bruchstucke dem Ausgangschro- mosom zuzuordnen und die Strukturelemente (Zentromere, Telomere) einzelner Chromoso- men spezifisch zu charakterisie- ren. Der medizinische Nutzen dieser neuen Technologien liegt vor allem in einer verbesserten Prognosestellung. (...)

Gesundheitsfordernde genetische Varianten: Gesundheitliche ,,Normalitat" ist - genetisch betrachtet - eine Funktion von Allelhaufigkeiten. Jeder Mensch ist Trager von mehreren domi- nant oder rezessiv wirkenden, krankhcitsdisponierenden Ge- nen. Dai3 man irgendwann in seinem Leben, mitbeeinflufit durch genctische Faktoren, er- krankt, ist also ,,normal". Man- che Menschen tragen allerdings genetische Varianten, die einen relativen Schutz vor bestimmten Erkrankungen gewahren. Das bedeutet nicht, dafi man hier von ,,angeborener Gesundheit" spre- chen sollte. Wir beginnen ledig- lich zu verstehen, warum be- stimmte Personen an bestimmten Storungen erkranken und an bestimmten anderen Storungen nicht. (...)

Beispielsweise entsteht AIDS aufgrund einer Infektion mit HIV-1. Es handelt sich ganz offensichtlich um eine ,,erworbe- ne" Storung. HIV-1 bedient sich zu seiner Anhaftung an die Zel- len, die es infiziert, der Rezeptor- molekule, das sind Proteinbe- standteile der Zellmembran. Ein notwendiger Rezeptor ist das vom CCR-5-Gen kodierte Pro- tein. In den europaischen Bevol- kerungen existiert eine Defekt- mutante dieses Gens. In Deutsch- land sind zwaiizig Prozent aller Menschen heterozygot fur dicse Mutante, und 1,2 Prozent homo- zygot. Heterozygote scheinen

eine um ein Drittel gegenuber dem Durchschnitt verminderte Empfanglichkeit fur HIV-1- Infektionen zu haben (andere Studien zeigen Hinweise auf einen durchschnittlich langsa- meren Verlauf eines manifesten AIDS), und Homozygote ge- niefien offenbar vollkommcnen Schutz vor AIDS.

Genetisch bedingte, nicht-erbli- che Erkrankungen: Viele Men- schen glauben, das Genompro- jekt beschaftige sich, soweit iiber- haupt medizinisch relevant, nur mit den ,,Erbltrankheiten" im engeren Sinn. Selbst wenn man der Vorstellung nicht folgen mag, dai3 sich das klassische Konzept der Erbkrankheit auflost, weil alle Krankheiten genetisch mitbe- einflui3t sind, ist diese Vorstellung falsch. Auch die nicht im stren- gen Sinn erblichen Formen von Krebs (also die weit uberwiegen- de Zahl von Erkrankungsfallen) sind insofern genetisch, als sic durch Veranderungen der Erb- substanz von zu Krebszellen entartenden Korperzellen her- vorgerufen werden (somatische Mutationen in Onkogenen). Fur die Diagnose, Prognose und Therapie von Krebserkrankun- gen ist dies eine uberaus wichtige Erkenntnis. Manche Onkogene konnen in ihrem Expressionsmu- ster direkt Auskunft uber das Fortschreiten (zum Beispiel Me- tastasierung) einer Tumorerkran- kung geben; das therapeutische Vorgehen kann hiervon in ent- scheidender Weise beeinflufit werden. Auch im Verlauf von Viruserkrankungen kann es zu genetischen Veranderungen bei den Patienten kommen. Retrovi- ren wie das AIDS-Virus entfalten ihre Wirkung durch den Einbau von Onkogenen in das Genom der Wirtszellen. Im Rahmen des Genomprojekts werden wir noch vie1 uber das Spektrum und die Wirkungsweise von Onkogenen erfahren, ebenso wie uber Art und Weise der virusvermittelten genomischen Integration. Ge- nomforschung, Onkologie und Virologie gehen hier also Hand in Hand.

Folgen genetischer Erkennt- nisse fur die Medizin

Zur Abschatzung der Bedeutung der Genetik in dcr Medizin ist der quantitative Aspekt von Wichtigkeit: Wieviele Menschen

leiden eigentlich unter erblichen Krankheiten? (...)

Es ergibt sich etwa folgendes Bild:

0 Chromosomenveranderun- gen: bei etwa einem Prozent der Neugeborenen,

0 haufige monogene Storungen: bei etwa funf Prozent der Bev61- kerung,

0 multifaktorielle Erkrankun- gcn: annahernd die gesamte Be- volkerung.

Nach Angaben der W H O leiden etwa zehn Prozent der Weltbe- volkerung unter einer kiirperli- chen oder geistigen Behinderung; etwa ein Drittel bis die Halfte der Falle durfte auf genetische (Mit) Ursachen zuruckgehen. (...)

Eine haufig gestellte Frage lautet: Wie grofi ist der Anteil erblicher Krankheiten, der einer moleku- largenetischen Diagnostik zu- ganglich ist? Bis vor kurzem konntc diesc Frage noch ciniger- mafien sinnvoll beantwortet werden. Heute lafit sich aus meh- reren Grunden keine brauchbare Antwort auf diese Frage mehr gebcn:

0 Die Abgrenzung einer Krank- heit von einer anderen bereitet zunehmend Schwierigkeiten. Storungen, die ehcmals als di- stinkte klinische Entitaten be- trachtet wurden, werden im Zuge der Identifizierung des kausati- ven Gens nur noch als Varianten einer Grunderkrankung klassifi- ziert (...). Anderc Krankheiten, die als klinische Einheiten aufge- fafit wurden, miissen subklassifi- ziert werdcn, wenn sich heraus- stellt, dafi atiologisch und patho- genetisch ganz unterschiedliche Prozesse am Werk sind (...). Je nachdem, ob man klassifikato- risch eher zur Subsummicrung (lumping) oder zur Aufgliede- rung (splitting) neigt, kommt man zu vollig divergenten Auf- fassungen uber die Zahl bekann- ter Erbkrankheiten.

0 Eine Abgrenzung von Krank- heitskategorien wird zunehmcnd problematischer. 1st cine Erkran- kung, bei dcr sich ein Hauptgen mit 80prozentiger Wahrschein- lichkeit bei seinem Trager reali- siert, als polygen/multifaktoriell

Biologie in unserer Zeit / 27. Jahrg. 1997 / Nr. 3

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oder als monogen zu bezeichnen? 1st eine Storung, bei der ein vier Gene iiberspannendes Chromo- somensegment fehlt, als struktu- relle Chromosomenaberration zu bezeichnen? Wo ist die Grenze zwischen continuous gene syn- dromes und Struktur- aberrationen?

Diagnostischer Fortschritt: Aus dem klinischen Bild heraus ge- stellte Diagnosen sind oft unsi- cher. Sie bediirfen zu ihrer Absi- cherung erganzender Abklarun- gen, beispielsweise durch bildge- bende Verfahren (Ultraschall, Rontgen) oder durch laborche- mische Untersuchungen. Gen- tests bedienen sich letztlich bio- chemischer Methoden und glie- dern sich, so gesehen, in das Spektrum der klinischen Chemie ein. Anders als deren klassisches Repertoire erfassen Gentests jedoch mehr als nur krankheits- assoziierte Phanomene. Vielmehr identifizicren sie das in der bio- logischen Kausalkette am An- fang stehende Phanomen: die krankheitsauslosende Mutation. Gentests haben also eine beson- dere Einsichts- und Eingriffs- tiefe. (...)

Prognostische Mijglichkeiten: Genetisch bedingte Storungen konncn sich in allen Stadien der menschlichen Entwicklung mani- festieren (...). Gentests sind je- doch zu allen Zeitpunkten mog- lich, teilweise bereits bevor die Entwicklung des Individuums iiberhaupt begonnen hat (...).

Eines der Hauptforschungsthe- men der molekularen medizini- schen Genetik widmet sich den Genotyp-Phanotyp-Beziehun- gen. Als namlich erkannt wurde, dai3 ein und dieselbe Krankheit durch verschiedene Mutationen im gleichen Gen oder durch Mutationen in verschiedenen Genen bedingt sein kann, lag es nahe, zu fragen, ob es eine Bezie- hung zwischen der Art des Ver- laufs einer Krankheit (Zeitpunkt des Beginns, Schweregrad) und der zugrundeliegenden Erbgut- veranderung geben konnte. Para- digmatisch hierfur sind die Krank- heiten, die durch Mutationen im CFTR-Gen bedingt sind. Es sind etwa 600 verschiedene pathogene Mutationen in diesem Gen be- kannt. Eine Gruppe von Muta- tionen fiihrt im homzygoten oder compound heterozygoten Zu-

stand zum Vollbild der Mukovis- zidose (Cystische Fibrose, CF) unter EinschluB einer friihzeiti- gen Insuffizienz der Bauchspei- cheldriise, so dai3 sowohl die Luftwege als auch Verdauungs- trakt in Mitleidenschaft gezogen sind. Eine andere Gruppe von Mutationen fiihrt zu einem CF- Phanotyp, der Iange Zeit mit normaler Verdauungsfunktion cinhergeht. Eine dritte Gruppe von Mutationen beschrankt sich in ihren Auswirkungen initial ausschliefllich auf den Urogeni- taltrakt des Mannes; (...). Erst im spateren Erwachsenenalter ma- chen sich diese Mutationen in einem Teil der Falle auch durch eine Neigung zu Bronchitiden bemerkbar.

Pradiktive Medizin ist nicht erst seit der Ara der Gentechnik moglich. Schon lange weii3 man, dai3 beispielsweise die verschiede- nen Blutgruppen - denen ein genetischer Polymorphismus uiiterliegt - zur Entwicklung bestimmter Krankheiten dispo- nieren (Darmgeschwiire, Krebs). Auch die Bestimmung eines erhohten Cholesterinspiegels bei einem jungen Erwachsenen hat insofern pradiktiven Charakter, als sie nicht eine manifeste Er- krankung abklart, sondern eine zukiinftige prognostiziert. Gen- tests haben das Spektrum pradik- tiver Tests jedoch enorm erwei- tert. Wie so oft erscheint ein quantitativer Sprung als ein qua- litatives Novum. (...)

Praventive und therapeutische MaJhahrnen bei genetisch be- dingten Erkrankungen: Zu Recht wird haufig beklagt, dai3 die Schere zwischen diagnostischem Fortschritt und therapeutischer Umsetzbarkeit gerade in der Humangenetik immer weiter klafft. Die psychologischen und sozialen Probleme, die dadurch entstehen, dai3 man Krankheiten voraussagen kann, denen gegenii- ber man dann jedoch medizinisch machtlos ist, sind offensichtlich. Dai3 die Diagnose jedoch der Therapie vorausgeht, ist nicht nur beim individuellen Krank- heitsfall die Regel, diese Reihen- folge hat auch medizinhistorische Prazedenzen. Zwischen der Ent- deckung der Ursache von Infek- tionskrankheiten durch Robert Koch in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts und den1 Beginn der Entwicklung von

Antibiotika vergingen gut fiinfzig Jahre. Wenn wir meinen, heute miisse alles vie1 schneller gehen, geben wir damit auch unserem iibersteigerten Glauben an die Technik Ausdruck.

Es wird oft vergessen, dai3 bereits eine Vielzahl von Moglichkeiten existiert, mit denen man auch bei oft als ganz schicksalhaft angesehenen genetisch bedingten Erkrankungen wirksam helfen kann. (...)

Urnsetzung in therapierelevante Technologien: Das Grundkon- zept der Gentechnik besteht in der Ubertragung von Genen von einem Organismus auf den ande- ren; es ist die Basis sowohl der Bereitstellung analytischer Werk- zeuge als auch therapeutischer Hilfsmittel, die im folgenden diskutiert werden sollen.

0 Unter Transgenesie versteht man die zielgerichtete Manipu- lation des tierischen Genoms zum Zwecke einer veranderten Genfunktion. Ein wichtiges Anwendungsfeld dieser Technik ist dort gegeben, wo man durch strukturelle Veranderung (bis hin zum Ausschalten - ,,Knock-out") von Genen nicht ausreichend bekannter Funktion, am Studium eines dadurch erzeugten veran- derten Phanotyps die normale Aufgabe dieser Gene zu ergriin- den versucht. Hinsichtlich einer medizinisch-therapeutischen Nutzung sind insbesondere die Schaffung transgener Tiermodelle menschlicher Erbkrankheiten von groi3er Bedeutung. Nur fur wenige dieser Krankheiten gibt es natiirliche Modelle (...). Heute ist es zumeist eine Sache von weni- gen Monaten, ein transgenes Tiermodell fur menschliche Erb- krankheiten zu erzeugen. Beispie- le sind die Cystische Fibrose und die Duchennesche Muskeldystro- phie (erblicher Muskelschwund). An zahlreichen weiteren Model- len wird gearbeitet. Der Nutzen dieser transgenen Modelle fur die Therapieentwicklung besteht vor allem in der Verbesserung des Verstandnisses von Krankheits- entstehung und -verlauf, der Bereitstellung einer experinientel- len Basis fur die somatische Gentherapie und der Moglichkeit der Erprobung neuartiger Medi- kamente. Einschrankungen erge- ben sich dadurch, dai3 auch trans- gene Modelle niemals vollstandig

der menschlichen Pathologie entsprechen konnen.

0 Gentherapie ist ein weiter Begriff, der viele Methoden um- fai3t, die auf Eingriffen in die genetische Information in menschlichen Zellen beruhen. Man unterscheidet grundsatzlich zwei Arten: die Keimbahn- Gentherapic und die somatische Gentherapie. Bei der Keimbahn- Gentherapie konnen die gesetz- ten Veranderungen an die folgen- den Generationen weitergegeben werden, bei der somatischen Gentherapie beschranken sich die Veranderungen auf die Korper- zellen des behandelten Individu- ums. Im Tierversuch ist die Be- einflussung der genetischen Ver- anderung in der Keimbahn weit fortgeschritten. Es herrscht weit- gehende Ubereinkunft dariiber, dai3 zumindest beim gegenwarti- gen Stand der Technik eine Keim- bahntherapie am Menschen nicht zu vertreten ist, und es gibt gute Griinde dafur, eine Keimbahnthe- rapie grundsatzlich abzulehnen, selbst dann, wenn sie technisch ,,sicher" ist. (...)

Die somatische Gentherapie hat langst das Stadium der klinischen Anwendung erreicht und ist gleichwohl noch immer als ,,Heilversuch" zu bezeichnen (...). Ihr Ziel ist cine stabile Einfu- gung von neuem genetischen Material in Korperzellen zum Zweck der Produktion eines therapeutischen Genprodukts oder der Inaktivierung einer vom Korper gebildeten schadlichen Substanz.

Beim gegenwartigen Kenntnis- stand s o k e eine Gentherapie nur zur Behandlung schwerer ange- borener oder erworbener Krank- heiten angewendet werden, fur die keine oder keine ausreichenden konventionellen Therapieformen zur Verfugung stehen. Vorbedin- gung fur den Einsatz der Genthe- rapie erblich bedingter Storungen ist, dai3 der biochemische und genetische Mechanismus dcr Erkrankung geklart und gut charakterisiert ist und dai3 das veranderte Gen im Gesunden bekannt und verfugbar ist. Das Risiko der Gentherapie sollte fur den Patienten und die Umwelt so gering wie moglich und ab- schatzbar sein. Der Nutzen fur den Patienten sollte eindeutig ersichtlich sein, und ihm darf

Biologie in unserer Zeit / 27. Jahrg. 1997 / Nr. 3

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kein zusatzlicher Schaden zuge- fugt werden.

Problematisch ist haufig noch die Effizienz der angewandten Me- thoden, und unbeabsichtigte Nebenwirkungen konnen grund- satzlich - wie bei jeder anderen neuartigen Methode auch - zur Zeit nicht vollkommen ausge- schlossen werden. Hierzu zahlt bei manchen (nicht bei allen) gentherapeutischen Verfahren die Moglichkeit, dai3 das therapeuti- sche Gen mutagene Wirkungen entfaltet oder sich in Zellen der Keimbahn ansiedelt. Es 1ai3t sich jedoch aus Tierversuchen schlie- Gen, dai3 es sich bei der Genthe- rapie, verglichen etwa mit Or- gantransplantation und manchen Formen der Chemotherapie, um eine sanfte Technologie mit un- gleich geringerem Risikopotential handelt. (...)

0 Stoffe, die eine therapeutische Wirkung dadurch ausiiben, dai3 sie die Expression kolpereigener oder im Zuge einer retroviralen Infektion akquirierter Gene beeinflussen, kann man nicht eigentlich zu den Gentherapeu- tika zahlen. Allerdings werden sie oft gentechnisch hergestellt und miissen deswegen hier genannt werden. Ein intensiv bearbeitetes Gebiet ist hier die sogenannte Anti-Sense-Therapie, die darauf beruht, Gentranskripte durch Komplexierung mit komple- mentaren Nukleinsaurefragmen- ten an ihrer Umsetzung in Protei- ne zu hindern. Dieses Verfahren soll, bislang ohne nennenswerte praktische Erfolge, insbesondere zur Bekampfung von AIDS ein- gesetzt werden.

0 20 Prozent der jahrlich auf den Markt kommenden und funf der zwanzig umsatzstarksten Medikamente werden heute gentechnisch hergestellt. (...) Insgesamt sind derzeit rund 30 Arzneimittel auf dem Markt, die gentechnisch hergestellt werden. (-1 Gentechnik kann auch mittelbar eingesetzt werden, um Medika- mente konventionellen Typs zu entwickeln. (...)

Nicht zuletzt aus dem Bedurfnis heraus, Tierexperimente zu ver- meiden, ist mit dem Rezeptor- Screening ein neuartiger Weg der pharmakologischen Forschung

erschlossen worden. Rezeptoren sind Eiweiflmolekule, die im Korper als Empfanger und Ver- mittler hormoneller und neuraler Signale fungieren. Viele Medika- mente interagieren im Korper direkt mit solchen Rezeptoren, als Synergisten oder Antagonisten physiologischer Botenstoffe.

Rezeptormolekule konnen gen- technisch leicht synthetisiert werden, und Bindung und Wir- kung von Tausenden von neuarti- gen Wirkstoffanaloga (die ihrer- seits zumeist mit konventioneller Chemie erstellt werden) kann innerhalb kurzester Zeit vollauto- matisch gepruft werden.

Soziale Folgen

Wer nicht einsieht, dai3 jeder Versuch, ein menschliches Pro- blem technisch zu losen, neue Probleme mit sich bringen mui3, ist zumindest naiv. (...) Einige der sozialen Folgen der Gentechnik in der Medizin sollen im folgen- den angerissen werden:

Genetisches Screening: Eine zen- trale qualitative Anderung in der Art der Nutzung der genetischen Diagnostik kann in einem Uber- gang von der Diagnose an Indi- viduen zur Diagnose von Popula- tionen zustandekommen. Wahrend es zur Zeit noch weit uberwiegend die individuellen genetischen Risiken sind, die potentielle Testpersonen motivie- ren, den Humangenetiker aufzu- suchen, wachst mit dem techni- schen Fortschritt auch die Durchfuhrbarkeit genetischer Screening-Programme: von ,,oben" her implementierte Such- tests auf verborgene Krankheits- anlagen in der Durchschnittsbe- volkerung (...). Insbesondere wegen ihrer impliziten, durch notwendige Kosten-Nutzen- Abwagungen zustandekommen- den eugenischen Tendenzen lehnen die deutschen Humange- netiker solche Programme heute mehrheitlich ab. Es darf jedoch nicht ubersehen werden, dai3 im Rahmen der Schwangerschafts- vorsorge faktisch langst ein be- volkerungsweites Screening auf genetisch bedingte fetale Storun- gen implementiert ist; dieses Programm kann auch als Praze- denzfall dafur gesehen werden, dai3 mit arztlicher (hier frau- enarztlicher) Autoritat vorgetra- gene Angebote ein hohes MaB an

Akzeptanz in der Bevolkerung geniei3en. Ubersehen werden darf allerdings dabei nicht, daR die medizinsoziologische Forschung - weltweit - ein Grundmuster erkannt hat: Je besser potentielle Testteilnehmer aufgeklart wer- den, um so geringer die Testteil- nahme.

Kommerzialisierung: Der arztli- che Beruf ist nach Natur und Zweck kein Gewerbe. Dennoch spielen okonomische Faktoren auch in der Medizin eine ent- scheidende Rolle: Gesundheit und Krankheit unterliegen den Regeln des Marktes wie andere menschliche Bereiche auch; ge- setzliche Regularien konnen (und sollen) in unserem Wirtschaftssy- stem immer nur teilweise greifen. Ein Trend zur Kommerzialisie- rung lai3t sich an zwei Entwick- lungsstrangen beobachten: (1) zunehmende Angebote von industriell gefertigten Test-Kits; ( 2 ) Entstehen privater Diagnose- firmen (insbesondere in den USA). Angebotene Ware, verbun- den mit Werbung, reizt zum Kauf. Eine Delegation arztlicher Leistungen an private Diagnose- firmen (mit ihren Moglichkeiten flexibler Preisgestaltung) sind fur ein Gesundheitswesen, das unter wachsendem Kostendruck zu- sammenzubrechen droht, ein zumindest voriibergehend attrak- tives Model1 zur Kosteneinspa- rung.

Krankheitsbegrff Die Erkennt- nis, dai3 identifizierbare geneti- sche Faktoren am Zustandekom- men nahezu jeder Krankheit beteiligt sind, bleibt nicht ohne psychosoziale Folgen. Je mehr eine Krankheit auf genetische Ursachen zuruckgefuhrt wird, um so mehr wird die Krankheit im Kern der Personlichkeit ange- siedelt. Ein ,,Fehler" im Genom wird zu einem Fehler in der Person selbst. Dies gilt nicht nur fur die Selbstwahrehmung, sondern auch fur die Fremd- wahrehmung. Folge kann sein, dai3 es beabsichtigt oder unbeab- sichtigt zu einer Stigmatisierung der Person kommt. Ein groi3er Teil der Probleme, die viele Be- hinderte mit der Akzentuierung der erblichen Aspekte ihrer Storung haben, diirfte in diesem Problemfeld anzusiedeln sein.

Individualisierung und Normie- rung: Die rasch zunehmenden

Moglichkeiten, individuelle Krankheitsrisiken zu ermitteln, schaffen viele neue Handlungs- optionen, einschliei3lich praventi- ver Mafinahmen und Anpassung des reproduktiven Verhaltens. Hieraus konnen sich Forderun- gen nach einem Mehr an indivi- dueller Gesundheitsverantwor- tung auch bezuglich genetisch bedingter Krankheiten ergeben. Eine Tendenz zur Individualisie- rung von Risiken und zur Ent- solidarisierung der Gesellschaft ist absehbar. Dieser Tendenz wird man dadurch zu entgehen versuchen, dai3 man sich ver- meintlichen oder realen Zwangen zum genkonformen Verhalten beugt. (...)

J. Schmidtke, Hannover

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