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Wolfgang Kroll Marburg Einige Vorschl¨ age zur Weiterentwicklung der “Aufgabenkultur” im Analysisunterricht Arbeitspaper f¨ ur die BLK-Tagung vom 7. bis 8. Mai 2001

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Wolfgang Kroll

Marburg

Einige Vorschlage zur Weiterentwicklung der

“Aufgabenkultur”

im Analysisunterricht

Arbeitspaper fur die BLK-Tagung vom 7. bis 8. Mai 2001

Vorwort

Mit der hier vorgelegten Sammlung von Aufgaben fur den Analysisunterricht mochte ich

dazu anregen, in die Diskussion uber die Verbesserung des Mathematikunterrichts, die

seit TIMSS in Bezug auf die Sekundarstufe I gefuhrt wird, auch die gymnasiale Oberstufe

einzubeziehen. Das soll nicht anhand von theoretischen Erorterungen geschehen, uber

die man sich erfahrungsgemaß schnell verstandigen kann, sondern anhand von konkreten

Vorschlagen, damit die neuen methodischen und inhaltlichen Akzente moglichst deutlich

hervortreten. Auf diese Weise kann unmittelbar gepruft werden, ob und wie weit sich die

Ziele einer “neuen Unterrichtskultur” - die ich als bekannt voraussetze - mit ihrer Hilfe in

der Analysis verwirklichen lassen.

Die Beispiele sind thematisch geordnet und gliedern sich in Teilaufgaben, zu denen Bear-

beitungsmoglichkeiten und Losungen angegeben werden. Ihr Umfang ist jedoch sehr un-

terschiedlich, je nach dem inhaltlichen Gewicht, das dem behandelten Thema zukommt.

In den meisten Fallen konnte ich dabei auf meine eigenen Unterrichtserfahrungen zuruck-

greifen. Einige Aufgabenstellungen sind jedoch auch neu entwickelt worden und bedurfen

sicher noch der praktischen Erprobung. Ich hoffe aber, dass auch sie dazu beitragen, dem

Analysisunterricht neue Wege zu weisen: weg vom Exerzieren der ublichen Routineaufga-

ben, hin zu mehr Selbstandigkeit und sinnvoller Produktivitat.

Sarnau im Fruhjahr 2001 Wolfgang Kroll

1

I Exploration der Parabel

1 Voraussetzungen

Die Schuler kennen die Ableitung der Parabel und haben bereits einfache Tangentenauf-

gaben gelost. Darunter sollte auch die bekannte Konstruktion sein, dass man im Falle

von f(x) = ax2 die Tangente in einem beliebigen Kurvenpunkt (x0 | ax20) entweder so

konstruiert, dass man diesen mit dem Punkt (12x0 | 0) verbindet oder mit dem Punkt

(0 | − ax20) . Es erscheint nun aber sinnvoll, dass man nicht dabei stehen bleibt, sondern

dass die Schuler sehen, wie man mit Hilfe des neuen Begriffs “verborgene” Eigenschaften

von Parabeln entdecken kann. Insbesondere sollen sie auf diese Weise die wichtigste An-

wendung der Parabel kennen und verstehen lernen.

2 Der Durchmesser der Parabel

Die Schuler erhalten ein Arbeitsblatt mit der Uberschrift “Vorbild Kreis?” (vgl. Seite 3).

Da die Aufgabe sehr allgemein gestellt ist, werden sie zunachst Schwierigkeiten haben,

besonders dann, wenn sie in der Sekundarstufe I noch nicht auf Aufgaben vorbereitet

worden sind, die sie vor eigene Entscheidungen stellen. Hier kommt hinzu, dass ihnen

ein rechnerischer Zugang scheinbar verwehrt ist, da das Koordinatensystem nicht skaliert

bzw. keine Funktionsgleichung gegeben ist.

Entscheidend ist nun, dass die Schuler das Kreisbild analysieren und erkennen, worauf es

ankommt: eine Schar von Parallelen, die den Kreis schneiden und die Tangenten in den

Sehnenendpunkten, die sich (paarweise) auf einem (verlangerten) Durchmesser des Krei-

ses schneiden. Dass dieser zugleich Symmetrieachse der Figur ist, wird manche Schuler

sicher dazu verleiten, die Triviallosung vorzuschlagen: Wenn die Parallelenschar zur Para-

belachse senkrecht ist, dann schneiden sich die zugehorigen Tangenten selbstverstandlich

auf der Achse. Sie sollten aber doch wenigstens selbst bemerken, dass die Aufgabe so

“simpel” nicht gemeint sein kann und man mindestens bei anderen Parallelenscharen un-

tersuchen musste, was los ist. (Naturlich hatte man den Arbeitsauftrag gleich auf dieses

Ziel hin formulieren konnen. Erst die großere Offenheit der Aufgabenstellung gibt aber

den Schulern die Moglichkeit, selbst darauf zu kommen.)

Wir betrachten nun zuerst die zeichnerischen Ergebnisse. Da sich die Tangenten in den

Sehnenendpunkten mit Hilfe des zu Anfang formulierten Satzes recht genau konstruieren

lassen, erkennt man leicht, dass ihre Schnittpunkte auf einer Geraden liegen, die parallel

zur Parabelachse verlauft. Untersucht man nun noch, in welcher Beziehung diese Gerade

zur Schar der parallelen Sehnen steht, dann entdeckt man noch eine weitere Besonderheit:

Die Gerade halbiert sie (wie beim Kreis), aber “schrag”. Sie bildet, wenn man so will, die

2

Arbeitsblatt: Vorbild Kreis?

Untersuche, ob eine Parabel ahnliche geometrische Eigenschaften wie der Kreis.

3

Achse einer “Schragspiegelung”.

Wenn man “nur” rechnet, wird man diese Zusammenhange nicht so leicht entdecken.

Geht man von konkreten Werten aus, so mussen mindestens zwei parallele Sehnen mit der

gewahlten Parabel zum Schnitt gebracht und die Schnittpunkte der jeweils zugehorigen

Tangenten bestimmt werden. Dann erst kann man feststellen, dass beide Schnittpunkte

den gleichen x-Wert haben und vielleicht sogar entdecken, dass dieser mit dem Mittelwert12(x1 + x2) der x-Werte der Sehnenendpunkte ubereinstimmt.

Bei all diesen Rechnungen ware es sinnvoll, wenn man ein “Computer-Algebra-System”

(CAS) einsetzen konnte - z. B. den TI 92 -, da es hier ja nicht um Ubungen in Al-

gebra geht. Das gilt insbesondere fur “allgemeinere” Rechnungen mit Parametern, die

von einigen Schulern moglichenfalls schon begonnen, vielleicht sogar bis zu Ende durch-

gefuhrt worden sind. Bei der zusammenfassenden Reflexion der Untersuchungsergebnisse

der Schuler sollten jedenfalls die folgenden Aussagen - mindestens als Vermutungen - an

der Tafel stehen:

1. Der Schnittpunkt zweier Parabeltangenten liegt auf einer Parallelen zur Parabelach-

se, die die zu den Tangenten gehorige Beruhrungssehne halbiert.

2. Die Mittelpunkte paralleler Sehnen liegen ebenfalls auf einer Parallelen zur Parabe-

lachse. Auf dieser liegt auch der Beruhrpunkt der zu den Sehnen parallelen Tangente.

Auf Grund der Analogie zum Kreis bezeichnen wir ab jetzt die zur Parabelachse parallelen

Geraden als “Durchmesser” der Parabel. Tatsachlich sind sie auch die einzigen Geraden,

die “die ganze Parabel durchmessen”. Man kann sogar noch einen Mittelpunkt der Pa-

rabel einfuhren, allerdings nur virtuellen. Es ist (naturlich) der Punkt, in dem sich die

Durchmesser der Parabel schneiden.

Der endgultige algebraische Beweis der beiden Aussagen durfte durch die Arbeit der

Schuler schon hinreichend vorbereitet, vielleicht sogar schon vollstandig durchgefuhrt sein.

Ich skizziere die Entwicklung an der Tafel fur “alle Schuler”.

Parabel f(x) = ax2 (a 6= 0) ; Tangenten in den Punkten P1, P2 : t1,2(x) = 2ax1,2·x−ax21,2 .

Schnitt von t1(x), t2(x) : x =ax2

2−ax21

2a(x2−x1)= 1

2(x1 + x2) .

Der Mittelpunkt der Sehne P1P2 hat also den gleichen x-Wert wie der Schnittpunkt der

Tangenten (Aussage 1).

Sehne: s(x) = mx+ n (m 6= 0)

Schnittpunkte mit der Parabel: x1,2 = m2a±√

(m2a

)2 + na

.

x-Wert des Sehnenmittelpunktes: xm = 12(x1 + x2) = m

2a.

Da dieser nur von m abhangt, bleibt er konstant, und da außerdem f ′(xm) = 2a · m2a

= m

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ist, folgt hieraus Aussage 2.

Wenig bekannt ist eine geometrische Argumentation, die beide Aussagen unmittelbar ein-

sichtig macht. Dazu braucht man nur das Vorwissen, dass fur eine quadratische Funktion

f(x) und eine lineare Funktion g(x) die beiden Differenzfunktionen f(x) − g(x) und

g(x)− f(x) die gleiche (kongruente) Parabel darstellen wie f(x) selbst, da die Subtrak-

tion hochstens das Vorzeichen des quadratischen Gliedes andern kann. Dieser Sachverhalt

liegt der folgenden (produktiven) Hausaufgabe zugrunde, die sich besonders gut fur die

Bearbeitung mit einem graphischen Taschenrechner (GTR) eigenet:

Wahle eine nach oben geoffnete Parabel f(x) und auf dieser zwei Punk-

te mit verschiedenen y-Werten (alles konkret!). Bestimme die Gleichungen

t1(x), t2(x) der beiden Tangenten in diesen Punkten sowie die Gleichung s(x)

der Beruhrungssehne. Zeichne nun die Graphen der drei Funktionen

p1(x) = f(x)− t1(x) , p2(x) = f(x)− t2(x) , p3(x) = s(x)− f(x) .

Welche Besonderheiten stellst du fest? Wie lassen sie sich erklaren?

Die Zeichnung (vgl. S. 6) ist nur auf den ersten Blick verwirrend. Zunachst stellt man fest,

dass p1(x) ≥ 0 ist, da die Tangente ganz unter der Parabel f(x) verlauft. Da sie außerdem

die Parabel in P1 beruhrt, muss der Scheitel von p1(x) auf der x-Achse in A liegen. Aus

dem gleichen Grund liegt der Scheitel von p2(x) in B . Da beide Parabeln kongruent

sind, gehen sie durch Spiegelung an der Mittelsenkrechten von AB ineinander uber. Auf

dieser mussen sie sich infolgedessen schneiden, folglich auch die beiden Tangenten, denn

der von f(x) abzuziehende Wert ist an dieser Stelle gleich. Damit ist bereits klar, warum

Aussage 1 gilt.

Die Parabel p3(x) ist nach unten geoffnet und geht durch A und B , da die Sehne an

diesen Stellen die gegebene Parabel schneidet. Sie beruhrt an der Stelle x = 0 die Sehne,

da f(x) nur an dieser Stelle verschwindet und sonst positiv ist. Auf Grund der Achsen-

symmetrie von Parabeln liegt der Scheitel von p3(x) ebenfalls auf der Mittelsenkrechten

von AB und wegen der Kongruenz zu p1(x) bzw. p2(x) sogar im Schnittpunkt S dieser

beiden Parabeln. Mithin erhalten wir noch ein bisher nicht bemerktes Ergebnis, denn es

ist

|MC| = |SL| nach Def. von p3(x)

= |CT | nach Def. von p1(x) bzw. p2(x) ,

also C Mittelpunkt von MT !

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Verschiebt man nun die Sehne parallel, dann andert sich s(x) um eine Konstante, also

auch p3(x) um dieselbe Konstante, und die Punkte A und B gehen um das gleiche

Stuck auseinander bzw. zusammen. (Mit der gestrichelten Sehne wird die gestrichelte

Parabel in der Abbildung angehoben bzw. gesenkt!) Infolgedessen bleibt die Lage der

Mittelsenkrechten unverandert. Aus dem gleichen Grund fallen die beiden Schnittpunkte

auf der Mittelsenkrechten, also in C zusammen, wenn man die Sehne so lange parallel

verschiebt, bis sie Tangente wird. Damit ist auch Aussage 2 vollstandig bewiesen, wobei ich

hinzufugen mochte, dass sich das Ganze umstandlicher aufschreibt, als man es unmittelbar

“sieht”.

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3 Wo liegt der Brennpunkt der Parabel?

Alle Schuler kennen Parabolantennen und wissen wohl auch, dass achsenparallel einfallen-

de Strahlen sich nach der Reflexion im Brennpunkt treffen (“fokussiert werden”). Umge-

kehrt funktioniert ein Scheinwerfer. Um die hier vorliegenden Zusammenhange zu klaren,

wird man zunachst mit den Schulern besprechen, wie man einen (Licht-) Strahl an einer

Kurve reflektiert und dabei den Begriff der Normale einfuhren. Danach erhalten sie ein

Arbeitsblatt mit mehreren getrennt gezeichneten Parabeln und der Angabe der jeweiligen

Funktion f(x) = ax2 . Die Aufgabe dazu lautet:

• Bestimme die Lage des Brennpunkts F und untersuche, wie sie vom Koeffizienten a

abhangt. Bei welchem Strahlengang lasst sich der Brennpunkt wohl am leichtesten

konstruieren und die Brennweite |OF | = f berechnen?

• Analysiere bei beliebigem Einfallsstrahl die Figur aus Normale, Tangente, Ausfalls-

strahl und y-Achse in Bezug auf die Winkel. Was ergibt sich daraus fur die Lage

von F ?

Die zeichnerisch gewonnenen Ergebnisse zum ersten Aufgabenteil ergeben im allgemeinen

recht gut, dass f umgekehrt proportional zu a ist und af ≈ 14

ist. Beim Konstru-

ieren wird den Schulern schnell deutlich, dass ein exaktes “Nachrechnen” schwierig und

jedenfalls aufwandig ware. Einzige Ausnahme macht der Strahlengang, bei dem der Licht-

strahl durch Reflexion rechtwinklig abgeknickt wird. In diesem Fall muss die Steigung der

Tangente 1 sein, und aus 2ax0 = 1 folgt x0 = 12a, y0 = 1

4a= f .

Die Abbildung Seite 8 (noch ohne gestrichelte Linien) zeigt, welche Winkelgleichheiten

auftreten, wobei der Winkel β nur der Abkurzung dient:

] KPN = ] NPF (Reflexionsgesetz) ,

= ] FNP (Wechselwinkel) ;

] FPT = 90◦ − α (Normalenbedingung) ,

= ] NTP (Winkelsumme) ,

= ] TPL (Wechselwinkel) .

Somit sind die Dreiecke NPF und TPF gleichschenklig, und F ist Mittelpunkt der

Strecke NT .

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Dieses Ergebnis gilt allgemein und ist von der speziellen Kurve unabhangig. Bei der Pa-

rabel muss sich nun ergeben, dass der Mittelpunkt unabhangig von P ist. Dies folgt

sofort aus der Tangentengleichung t(x) = 2ax0 · x − ax20 und der Normalengleichung

n(x) = − 12ax0

(x − x0) + ax20 = − 1

2ax0x + 1

2a+ ax2

0 . Danach hat T den y-Wert − ax20

und N den y-Wert 12a

+ ax20 , also F nach der Mittelpunktsformel ym = 1

2(y1 + y2) den

y-Wert 14a

.

Die gestrichelten Linien zeigen nun, wie man F sofort mittels einer beliebigen Tangente

zeichnen kann. Dazu braucht man nur die Senkrechte in S auf t zu errichten, die wegen

|TS| = |SP | Mittelparallele im Dreieck NPT ist und daher TN halbiert. Zugleich

erkennt man, dass auch das Dreieck FPL gleichschenklig ist, wobei L den Schnittpunkt

von PQ mit FS bedeutet. Andererseits gehen die Dreiecke SOF und SQL durch

Punktspiegelung an S auseinander hervor, d.h. es ist nicht nur |OF | , sondern auch |QL|vo P unabhangig. Alle so erzeugten Punkte L liegen also auf einer Parallelen zur x-

Achse im gleichen Abstand wie F , aber auf der entgegengesetzten Seite. Man nennt sie

“Leitlinie” der Parabel. Zusammen mit der Gleichschenklichkeit des Dreiecks FPL folgt

hieraus die fundamentale

Brennpunktseigenschaft der Parabel: Alle Punkte P der Parabel f(x) = ax2 haben vom

Brennpunkt (0 | 14a

) und der Leitlinie y = − 14a

den gleichen Abstand.

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II Ubergangsbogen

1 Voraussetzungen und Ziele

Wir befinden uns noch in den Anfangen der Differenzialrechnung. Die Schuler kennen

aber bereits die Ableitung der ganzrationalen Funktionen und konnen sie auf die Berech-

nung von Tangentensteigungen anwenden. Ziel ist jetzt, die Grundbegriffe der Kurven-

diskussion zu erarbeiten und dabei auch die inhaltliche Bedeutung der zweiten Ableitung

kennen und verstehen zu lernen, die die Schuler bisher nur formal bilden konnen. Ferner

werden allgemeine Einsichten uber Polynomfunktionen einerseits und die Heuristik des

Problemloseprozesses andererseits angestrebt.

2 Das Problem

Ubergangsbogen als Unterrichtsgegenstand sind in der didaktischen Literatur der letzten

Zeit mehrfach thematisiert worden ([1], [3], [4], [5]). Dabei wird aber stets eine weiterent-

wickelte Analysis vorausgesetzt, und die Diskussion konzentriert sich im wesentlichen auf

Krummungsfragen. Hier wird demgegenuber ein “naiver” Standpunkt angenommen, der

dem normalen Alltagswissen der Schuler entspricht. Erst durch Kritik am mathematischen

Modell soll sich dann die differenziertere Betrachtungsweise entwickeln. So erhalten die

Schuler das Arbeitsblatt “Die Kurve kriegen” (vgl. S. 10) ohne langatmige Erlauterungen

und hochstens mit der zusatzlichen Bemerkung, dass von Freihandzeichnungen abgesehen

kein Kurventyp von vornherein ausgeschlossen sein soll. Dabei wird wie immer bei solchen

Arbeitsphasen erwartet, dass die Schuler - allein oder zusammen mit ihrem Nachbarn -

an einer Losung arbeiten und alle Aktivitaten des Probierens, Rechnens, Konstruierens

... nicht nur erlaubt, sondern sogar erwunscht sind.

3 Ergebnisse der ersten Stunde

Erfahrungsgemaß wahlen die meisten Schuler sofort das Koordinatensystem so, dass die

in A endende Strecke zur x-Achse und A selbst zum Koordinatenursprung gemacht wird.

Wenn (rein) geometrische Losungen gesucht werden, dann handelt es sich um Kreisbogen,

die man einzuzeichnen sucht. Dabei stellt die Konstruktion des Mittelpunktes ein be-

sonderes Problem dar, da das notige geometrische Wissen erst beschafft werden muss.

Tatsachlich gibt es bei den hier vorliegenden Maßen einen Kreis, der die beiden in A

bzw. B endenden Teilstrecken in diesen Punkten beruhrt (Abb. 1). Eine rechnerische

Uberprufung unterbleibt jedoch meistens.

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Die Kurve kriegen

Beim Bau einer Bahnlinie ist ein Ubergangsbogen von A nach B (siehe unten) zu entwer-

fen. Die Richtungen, mit denen die Gleise in A bzw. in B ankommen, liegen fest und sind

durch die dick ausgezogenen Linien dargestellt.

Die Maße betragen: a = 600 m, b = 400 m, c = 250 m, d = 1000 m.

10

Abbildung 1

Normalerweise aber gehen die Schuler davon aus, dass ein Parabelbogen moglich sein

musste. Sehr bald verbreitet sich auch die Erkenntnis, dass durch den Punkt B der Ko-

effizient im Ansatz f(x) = ax2 festgelegt wird, der sich schließlich zu a = 19

ergibt (eine

Einheit = 100 m). Fur die meisten Schuler ist das Problem damit gelost. Eine Zeichnung

erscheint ihnen uberflussig.

An dieser Stelle wird man die Arbeit abbrechen, um im Klassengesprach die Ergebnisse zu

diskutieren. Wenn dann die obige “Losung” vorgetragen wird, melden sich die Einwande

fast von selbst, meist ausgelost durch die Feststellung, dass die Richtung, mit der die

Bahnstrecke in B endet, anscheinend keine Rolle spielt. Das aber kann nicht sein, wie ein

“Wackeln” an dem Endstuck demonstriert (Abb. 2). In der Regel entsteht ein “Knick”,

so wie es bei den gegebenen Maßen tatsachlich der Fall ist.

Es ist sinnvoll, die Aufgabe jetzt noch einmal neu zu stellen - z.B. als Hausarbeit - und die

Frage des Kreises, sofern sie uberhaupt aufgetreten ist, einstweilen zu verschieben. Auf

diese Weise wird die grundlegend wichtige heuristische Regel vorbereitet, die Gegenstand

der folgenden Stunde ist.

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Abbildung 2

4 Die heuristische Regel

Es ist schwer vorauszusagen, ob und welche Ergebnisse die Schuler prasentieren werden.

Da die x-Achse im Nullpunkt Tangente ist, mussen jedenfalls die Koeffizienten b und c

in f(x) = ax2 + bx + c verschwinden. Mit einer Parabel geht es daher nicht. Ebenso

wenig fuhrt der Ansatz f(x) = ax3 (oder ax4 usw.) zum Ziel, denn a ist immer schon

durch die Koordinaten von B festgelegt. Um auch die Steigung in B berucksichtigen zu

konnen, musste im Funktionsterm noch ein weiterer Parameter vorhanden sein, und zwar

als Koeffizient von x2 (oder einer hoheren Potenz von x), da nach wie vor kein lineares und

absolutes Glied im Funktionsterm auftreten durfte. Dies fuhrt unmittelbar zur Einsicht

in die folgende

heuristische Regel: Die Anzahl der voneinander unabhangigen Bedingungen, die an ein

Objekt gestellt sind, muss mit der Anzahl der Parameter, die dieses Objekt (eindeutig)

festlegen, ubereinstimmen.

Im vorliegenden Fall sind es vier solche Bedingungen, die der Graph einer Funktion f(x)

zu erfullen hat: f(0) = 0, f ′(0) = 0, f(6) = 4, f ′(6) = 125

. Die beiden ersten fuhren

in jedem Fall zum Verschwinden des linearen und absoluten Gliedes. Der dritten und

vierten Bedingung kann f(x) demnach nur dann genugen, wenn es von der Form f(x) =

12

ax3 + bx2, f(x) = ax4 + bx3, f(x) = ax4 + bx2 usw. ist. Jeder Ansatz dieser Art fuhrt auf

ein lineares Gleichungssystem mit zwei Unbekannten, das sich relativ einfach losen lasst.

Da das Verfahren klar ist, konnte man auch einem CAS die Losung uberlassen. Wichtiger

ist, dass die Schuler sehen, dass das Problem offenbar viele Losungen haben kann. Damit

erscheint die folgende Aufgabe hinreichend motiviert: Die Funktionen f1(x) = 4135x3 −

115x2, f2(x) = 1

540x4+ 1

135x3, f3(x) = 1

405x4+ 1

45x2 erfullen alle die Anschlussbedingungen fur

den geplanten Ubergangsbogen. Welcher von ihnen soll man den Vorzug geben? Begrunde

deine Entscheidung.

Solche Aufgabenstellungen sind fur die Schuler ungewohnt und scheinen ihnen gar nicht

zur Mathematik zu passen. Gleichwohl mussten sie bei einigem Nachdenken zu dem Ergeb-

nis kommen, dass letzten Endes nicht der Funktionsterm, sondern der tatsachliche Verlauf

des Funktionsgraph entscheidend ist. Es kommt also darauf an, die Kurven miteinander

zu vergleichen.

In diesem Zusammenhang ware der Einsatz grafischer Taschenrechner von großem Nut-

zen. Aber auch ohne dieses Hilfsmittel ist der Verlauf der drei Funktionen mittels einer

Wertetabelle schnell skizziert. Uberraschenderweise stellt sich dabei heraus, dass die Ab-

weichungen nur gering sind, auf dem kleinen Bildschirm eines GTR erscheinen die Kurven

sogar fast identisch. Man erkennt aber doch, dass die kubische Parabel zuerst ins Negative

geht, gewissermaßen einen “Schlenker nach rechts macht”, bevor sie, und jetzt naturlich

kraftiger als die anderen Kurven, die Wendung nach links vollzieht.

Eigentlich hatte man das dem Funktionsterm bereits ansehen konnen. Wir wissen ja schon

- oder lernen es hierbei! - dass dasVerhalten einer Polynomfunktion in einer Umgebung

des Nullpunktes durch das Glied mit der niedrigstens Potenz im Funktionsterm bestimmt

wird, hier also durch − 115x2. Das heisst, der Graph von f1(x) verlauft annahernd wie die

Parabel g1(x) = − 115x2. Dieser Sachverhalt ist auch fur den Vergleich der beiden anderen

Funktionsgraphen nutzlich. Demnach “verhalt” sich f2(x) in der Nahe des Nullpunktes

wie g2(x) = 1135x3 und f3(x) wie g3(x) = 1

45x2. Da nun aber g3(x) auf Grund desselben

Kriteriums großere Werte als g2(x) annimmt, muss sich der Graph von f2(x) der x-Achse

in der Nahe des Nullpunktes starker anschmiegen als der Graph von f3(x). Das wird von

einer Zeichnung in geeignetem Maßstab deutlich bestatigt (Abb. 3).

Hieraus ergibt sich im Hinblick auf die gestellte Auswahlaufgabe eine wichtige Konse-

quenz. Die Richtungsanderung, die ein Zug von A kommend auf dem zu f2(x) gehori-

gen Ubergangsbogen erfahrt, ist zuerst gering und muss infolgedessen durch eine starke-

re Anderung bei der Weiterfahrt kompensiert werden. Demgegenuber findet die Rich-

tungsanderung auf dem zu f3(x) gehorigen Ubergangsbogen gleichmaßiger statt. Deshalb

13

sollte man diesem den Vorzug geben.

Abbildung 3

5 Ein Maß fur die Geschwindigkeit der Richtungsanderung bei Funktions-

graphen

Die zum Schluss durchgefuhrte Diskussion gibt Anlass daruber nachzudenken, wie man

die besagte Schnelligkeit oder Geschwindigkeit der Richtungsanderung messen konnte.

Naheliegend ist es, den Funktionsgraph von der x-Achse aus zu betrachten und bei ih-

rem Durchlaufen von links nach rechts zu registrieren, wie stark sich dabei die Steigung

des Graphen (= Richtung der Kurve) andert. So gesehen ist “die Schnelligkeit der Rich-

tungsanderung” nichts anderes als “die Geschwindigkeit, mit der sich die Werte von f ′(x)

in Abhangigkeit von x andern,” und das entspricht genau dem Begriff der Ableitung einer

Funktion mit dem einzigen Unterschied, dass hier f ′(x) anstelle von f(x) steht. Damit

ist f ′′(x) als “Ableitung der Ableitung” inhaltlich gedeutet: Die zweite Ableitung gibt an,

wie schnell sich die Richtung eines Funktionsgraphen in Abhangigkeit von x andert.

Im Zusammenhang mit unserer Aufgabe versteht es sich nun von selbst, dass “ruckarti-

ge” Anderungen dieser Geschwindigkeit vermieden werden mussen. Da sich die Richtung

auf den beiden Anschlussstrecken uberhaupt nicht andert, muss also auch f ′′(x) in den

Punkten A und B null sein. Tatsachlich erfullen beide Kandidaten f2(x) und f3(x) diese

Zusatzbedingungen nicht. Insbesondere ware die Geschwindigkeit der Richtungsanderung

im Falle von f3(x) an beiden Anschlussstellen unendlich groß. Was wir der graphischen

Darstellung nicht entnehmen konnten, hat also erst diese “Feinanalyse” enthullt. Ein ge-

eigneter Ubergangsbogen ist noch nicht gefunden.

An dieser Stelle ist es zweckmaßig, den sich jetzt schon uber mehrere Stunden hinzie-

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henden Losungsprozess zu unterbrechen und ein kurzes Kapitel “Kurvendiskussion” mit

den ublichen Begriffen zwischenzuschalten. Die alte Fragestellung braucht darum nicht

vergessen zu werden. Zum Beispiel ist die folgende Variante sehr sinnvoll.

Aufgabe: Gib einen Ubergangsbogen von A nach B an, wenn bei A die alten Anschlussbe-

dingungen gelten und fur B lediglich a) x = 2; b) x = 2, y = 4 gefordert wird.

Im Falle a) kann man von der zweiten Ableitung ausgehen, die die Nullstellen x = 0 und

x = 2 haben muss. Aus f ′′(x) = x(x−2) erhalt man dann f(x) = 112x4− 1

3x3 als mogliche

Losung, wobei noch ein konstanter Faktor hinzutreten konnte. Wendet man dagegen die

heuristische Regel mit dem Ansatz f(x) = ax3 an (nur eine Bedingung ist zu erfullen!),

so folgt aus f ′′(2) = 0, dass a = 0 ist. Die x-Achse lost in der Tat auch das Problem, da

der y-Wert von B ja null sein durfte. Mit dem Begriff “Ubergangsbogen” verbindet man

naturlich eine andere Vorstellung, namlich y 6= 0. Im ubrigen kann eine kubische Parabel

schon deshalb nicht in Frage kommen, da sie stets nur einen Wendepunkt hat.

Im Falle b) kann man auf die erste Losung von a) mit konstantem Faktor zuruckgreifen.

Dieser muss −3 sein, d.h. f(x) = −14x4 + x3 ist die eindeutig bestimmte Losung. Man

erhalt sie auch aus dem systematischen Ansatz f(x) = ax4 + bx3 mit f(2) = 4 und

f ′′(2) = 0.

Uberraschenderweise ist die ursprunglich gestellte Aufgabe viel schwieriger zu losen, weil

die Funktionen, die die 6 Anschlussbedingungen erfullen, im Intervall [0, 6] nicht unbedingt

monoton wachsend und konvex sind, wie es von der Sache her gefordert werden muss. Mit

einem Computer-Algebra-System konnte man jedoch leicht verschiedene Moglichkeiten

ausprobieren. Bei aufeinander folgenden Potenzen ist zum Beispiel

f(x) = − 1

699840x8 − 1

58320x7 +

7

29160x6

die Losung niedrigsten Grades. Man kann sie den Schulern mitteilen und auch den Gra-

phen ausdrucken. Dann sieht man, daß die Kurve sich ein langes Stuck an die x-Achse

anschmiegt, um dann auf entsprechend kurzerem Weg zum Punkt B hin anzusteigen. Als

Ubergangsbogen kommt sie infolgedessen ebenfalls nicht in Frage.

6 Ein Neuansatz

Nach dem Scheitern der bisherigen Bemuhungen erhebt sich die Frage, ob damit bereits

alle Moglichkeiten erschopft sind, einen “vernunftigen” Ubergangsbogen zu konstruieren.

Spatestens jetzt werden wohl die Schuler den Kreis ins Spiel bringen, wenn er nicht schon

ganz am Anfang als Losungsvorschlag aufgetreten ist. Auf Grund der hier vorliegenden

Symmetrie - die beiden Halbgeraden gehen durch Spiegelung an der Winkelhalbierenden

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w ineinander uber (siehe Abb. 1) - gibt es tatsachlich einen Kreis, der die beiden An-

schlussstrecken tangential verbindet. Man musste ihn sogar als ideale Losung ansprechen,

da nunmehr beide Anschlusse gewissermaßen “gleichberechtigt” sind. Aber wie steht es

mit der “Geschwindigkeit der Richtungsanderung” in beiden Punkten? Leider genugt es

nicht festzustellen, dass die erste Ableitung der Kreisfunktion offensichtlich eine streng

monoton wachsende Funktion ist, um dann daraus zu schließen, dass die zweite Ablei-

tung im Nullpunkt positiv ist; denn wir kennen das Gegenbeispiel f(x) = x3. Auch fur

das kalkulmaßige Bilden der zweiten Ableitung fehlen noch die Voraussetzungen. Statt

dessen konnte man aber eine Naherungsbetrachtung anstellen, die als typisch fur die Ana-

lysis sogar sehr sinnvoll ware. Ein Weg konnte z.B. darin bestehen, in der Kreisfunktion

f(x) = 5−√

25− x2 = 5−5√

1− (x5)2 die Wurzel gemaß

√1− h ≈ 1− 1

2h abzuschatzen.

Das fuhrt auf f(x) ≈ 110x2 fur “kleine” x. (Noch fur x = 3 betragt der Unterschied

nur 0, 1.) Ein anderer Weg zielt direkt auf dieses Ergebnis, indem man (Abb. 4) |RP |annahernd gleich |RQ| setzt - eine fur kleine Winkel α sehr gute Naherung - und dann

die folgende Beziehung aufstellt:

y12x≈ |PQ||RQ|

= sinα =x

r=x

5.

Abbildung 4

Auch hieraus folgt y ≈ 110x2 und damit f ′′(0) ≈ 1

5. Das ist sogar der exakte Wert.

Auf Grund der Symmetrie liegt es nahe, auch fur den Punkt B zu behaupten, dass die

zweite Ableitung dort gleich 15

ist. Das ware jedoch falsch, da sich die Ableitungen als

Funktionen von x auf ein bestimmtes Koordinatensystem beziehen und nicht allein auf die

16

Gestalt der Kurve. Damit wird aber zugleich deutlich, dass uns die Wahl des Koordina-

tensystems freisteht, unsere Uberlegungen, soweit sie die Anschlussbedingungen betreffen,

aber in jedem Koordinatensystem gultig sein mussen. Die Frage, ob das widerspruchsfrei

moglich ist, thematisieren wir nicht. Fur die Tangente konnten wir uns allerdings auf die

Anschauung berufen. Im Hinblick auf die “Anderungsgeschwindigkeit der Richtung” aber

mussten wir zunachst den (koordinatenfreien) Begriff der Kurvenkrummung einfuhren,

mit dessen Hilfe die endgultige Klarung moglich ist. Da das zu aufwendig ware, ver-

zichten wir darauf und teilen den Schulern lediglich mit, dass die “Geschwindigkeit der

Richtungsanderung” bei einem Kreis stets ungleich null ist.

Ein wichtiges Ergebnis der obigen Diskussion und keinesfalls nur ein Nebenergebnis ist,

dass die Wahl des Koordinatensystems stets gut uberlegt sein sollte. In unserem Fal-

le legt die Symmetrie der Situation nahe, die Gerade durch A und B zur x-Achse und

die Mittelsenkrechte von AB zur y-Achse zu machen. So erhalten wir die neue Aufga-

benstellung: Berechne einen Ubergangsbogen unter Verwendung des eben beschriebenen

Koordinatensystems. Bezeichne es zur Unterscheidung als x-y-System.

Die Aufgabe ist fur Schuler recht komplex. Wenn man aber betont, dass auch gemes-

sen werden darf, sollten wohl alle die Steigungen der Schienenstucke ermitteln und einen

sinnvollen Ansatz fur den Ubergangsbogen machen konnen. Hier soll nur der rechnerische

Losungsweg skizziert werden, der der Devise folgt: Wir berechnen im x-y-System, was

wir im x-y-System brauchen (Abb. 5). Dementsprechend erhalt man: |AB| = 2√

13, O =

(3|2), S = (53|0), |OS| = 2

3

√13. Mittels des Steigungsdreiecks OSB folgt m = 2

3, d.h. die

gesuchte Funktion mit der Gleichung y = f(x) muss in B die Bedingungen f(√

13) =

0, f ′(√

13) = 23

und f ′′(√

13) = 0 erfullen. Da sie außerdem achsensymmetrisch ist,

kommt man mit dem Ansatz f(x) = ax4 + bx2 + c rasch zum Ziel. Man erhalt f(x) =1

156√

13(−x4+78x2−845) (am schnellsten naturlich mit einem Computer-Algebra-System),

und die graphische Darstellung (in Abb. 5 bereits eingezeichnet) zeigt, dass diese Kurve

den Anforderungen an einen Ubergangsbogen wirklich genugt.

7 Schlussbetrachtung

Es ist selbstverstandlich, dass man bei dem hier vorliegenden sehr speziellen Fall der

Symmetrie nicht stehen bleiben, sondern wenigstens daruber sprechen sollte, was man im

unsymmetrischen Fall tun konnte, wenn also |AS| nicht gleich |SB| ist (Abb. 6). Ware

z. B. |AS| großer als |SB|, so durften Schuler wohl schnell die “pragmatische Losung”

vorschlagen: Man verlege A so weit nach rechts oder B so weit nach oben, bis der sym-

metrische Fall wieder hergestellt ist. Wenn dies in der Realitat jedoch nicht moglich

ist, braucht der Mathematiker die Zuruckfuhrungsidee nur ein wenig zu verfeinern: Man

17

Abbildung 5

Abbildung 6

18

erzeuge die symmetrische Situation durch eine Abbildung, bestimme den Ubergangsbogen

und wende auf diesen die inverse Abbildung an. Vorausgesetzt, dass dabei eine Tangente

wieder in eine Tangente ubergeht und sich die Eigenschaft einer Kurve, rechts- oder links-

gekrummt zu sein, ebenfalls nicht andert, ist dann das Problem gelost. Die senkrechte

Streckung bezuglich einer Achse hat offenbar diese Eigenschaften (man beachte, dass die

Krummung durch die Monotonie der Ableitung definiert ist!), und Abbildung 6 zeigt, wie

sie im Fall |AS| > |SQ| bezuglich der Achse AS angewendet werden kann (im anderen Fall

wurde man BS zur Achse machen): Da S Fixpunkt ist, findet man B′ auf der Senkrechten

BQ als Schnittpunkt des Kreises um S mit dem Radius |AS|. Der Ubergangsbogen von A

und B′ wird dann durch die inverse Achsenstreckung im Verhaltnis |BQ| : |B′Q| in seine

endgultige Position gebracht.

Tatsachlich geht die Praxis andere Wege, woruber man die Schuler auch informieren soll-

te (vgl. [4], [5]). Hier mochte ich nur noch darauf hinweisen, dass auch eine vereinfachte

Version des Themas moglich und sinnvoll ware. Sie besteht darin, lediglich nach “glatten”

Verbindungen zu fragen, so wie sie etwa zur “Abrundung” von Werkstucken erforderlich

sind oder als Verzierung in der Architektur oder im Mobelhandwerk auftreten. Dann fal-

len die Uberlegungen zur zweiten Ableitung fort, und man kann die Bedingungen starker

variieren, z. B. auch Ubergangsbogen zwischen Gerade und Kreis oder anderen Kurven

einbeziehen. Aufgaben, in denen der Wechsel des Koordinatensystems von Nutzen ist, soll-

ten jedoch nicht fehlen. So kann man z. B. fragen, wie sich eine Parabelschablone herstellen

ließe, mit deren Hilfe die Seitenmitten eines gegebenen Quadrats tangential miteinander

verbunden werden sollen. Anwendungen dieser Art mogen zwar nicht sehr realistisch sein,

aber sie sind produktiv in dem Sinne, dass sie Schuler zu großerer Selbsttatigkeit heraus-

fordern.

Literatur

[1] H. Hammer: Gleis- und Straßenbau in der 11. Klasse mit Hilfe des Computers. - MNU 51(1998), Nr. 8, 467-469

[2] W. Herget - Th. Jahnke - W. Kroll: Produktive Aufgaben fur den Mathematikunterrichtin der Sekundarstufe I. - Berlin: Cornelsen 2001

[3] H. Gloggengiesser: Zu “Gleis- und Straßenbau in der 11. Klasse mit Hilfe des Computers”.- MNU 52 (1999, Nr. 8, S. 498-499

[4] A. Kirsch: Ubergangsbogen bei Eisenbahngleisen als Thema fur den Mathematikunterricht.- MNU 50 (1997), Nr. 3, 144-150

[5] G. Steinberg: Sanft krummt sich, was ein Gleis werden will. - mathematik lehren (1995),H. 69, 61-64

19

III Die extreme MitteUberraschende Zusammenhange bei einer Klasse vonExtremwertaufgaben

1 Vorbemerkung

Extremwertaufgaben sind ein klassisches Thema der Analysis. Die Fragestellung: “Wie

finde ich das Optimum unter unendlich vielen Moglichkeiten?” ist fur viele Menschen

reizvoll, ganz unabhangig davon, ob das “Optimum” fur sie personlich relevant ist oder

sich auf ein theoretisches Problem bezieht. Fur viele solche Probleme liefert die Analysis

als einzige mathematische Disziplin einen Kalkul, der unter sehr weitreichenden Vorausset-

zungen die Identifizierung eines solchen Extremums gewissermaßen auf rein mechanischem

Wege ermoglicht. Es genugt, eine Funktion fur die zu optimierende Große aufzustellen,

der Rest kann dann - heute sogar von einem CAS - weitgehend schematisch erledigt wer-

den. Eine Erforschung der Zusammenhange findet nicht (mehr) statt. Da ist einfach das

Ergebnis, fertig! Einzig die Aufstellung einer geeigneten Funktion kann schwierig sein.

Denn hier gilt es, die gegebenen Umstande sinnvoll aufeinander zu beziehen, um einen

moglichst einfachen Funktionsterm zu finden, der die anschließende Rechnung erleichtert

- sofern man sie noch “von Hand” ohne die Hilfe eines Computers ausfuhren muss.

Es versteht sich, dass der ursprungliche Reiz der Fragestellung bei einer solchen Behand-

lung verloren geht. Auch der oft zur Motivation herangezogene “praktische Nutzen” er-

weist sich als wenig stichhaltig (zumindest was die “Schulprobleme” anlangt). Er wird im

Folgenden nur theoretisch verstanden, als sinnvolle Einbettung in einen großeren Zusam-

menhang, nicht als realistische Anwendung. Die Klasse der Probleme, um die es hier gehen

soll, macht dagegen beim Aufstellen der Funktion keine Schwierigkeiten. Das hat den Vor-

teil, dass man sich voll auf das Ziel konzentrieren kann: Was bedeuten die Ergebnisse?

Wie lassen sie sich verstehen? Dabei entwickelt sich so etwas wie eine “mathematische

Minitheorie”, in deren Rahmen Geometrie und Analysis sich wirkungsvoll erganzen. Vor-

aussetzung ist zunachst lediglich, dass die Schuler Polynome und Potenzfunktionen mit

rationaler Hochzahl differenzieren konnen und mit den Begriffen der Kurvendiskussion

vertraut sind. Sie sollten aber schon einige Extremalprobleme gelost haben, z.B.

• die bekannte “Konservenaufgabe” (sehr gut als Kleinprojekt geeignet mit von han-

delsublichen Dosen und Nachfrage bei einem Hersteller von Blechdosen);

• die “Trogaufgabe”: aus zwei Brettern gleicher Breite einen Futtertrog mit maxima-

lem Volumen herzustellen;

• den Punkt einer Parabel f(x) = ax2 , a > 0 zu bestimmen, der von einem gegebenen

20

Punkt B(0|b) , b > 0 , den kleinsten Abstand hat.

Die beiden letzten Aufgaben sind besonders fruchtbar, weil sie verschiedene Losungswege

zulassen:

− (Trogaufgabe) gleichschenkliges Dreieck ABC mit den Schenkeln d = |AC| =

|BC| , Basis |AB| = 2x und Hohe y, somit entweder Maximierung von xy unter der

Nebenbedingung x2 + y2 = d2 bzw. (und viel einfacher) Bestimmung der maximal

moglichen Hohe zur “Grundseite” AC oder BC ;

− (Parabel) Minimierung des Abstands |BP | =√x2 + (b− y)2 fur y = ax2 oder

Kreis um B, der die Parabel beruhrt oder schließlich Bestimmung der Normale,

die durch B geht. Letzteres fuhrt auf Grund der in I hergeleiteten geometrischen

Eigenschaften der Parabel unmittelbar auf y = b− 12a

.

Daruber hinaus geben sie Anlass, bestimmte Standardmethoden zu thematisieren, so die

geometrische Veranschaulichung der Nebenbedingung durch eine Kurve, die bei der Trog-

aufgabe ein Viertelkreis ist, und die anschließende Umdeutung der Fragestellung (Maxi-

mierung des eingeschriebenen Rechtecks). Ist dagegen wie im Falle der Parabel die Neben-

bedingung bereits als Funktion gegeben, so empfiehlt es sich, den x-Wert des laufenden

Punktes (als x0 oder t) auf der Kurve als Variable anzunehmen und die zu optimierende

Große mit seiner Hilfe auszudrucken, indem man diese sozusagen einfach “ausrechnet”.

Das liefert einen klar vorgezeichneten (allerdings nicht immer den einfachsten) Rechen-

weg, bei dem sich ein CAS besonders vorteilhaft einsetzen lasst.

2 Zwei Grundstucksprobleme

Die Schuler erhalten das folgende Arbeitsblatt:

21

Zwei Grundstucksprobleme

Aufgabe: a) Ein dreieckiges Wassergrundstuck grenzt an seiner Langseite an einen

See. Der Eigentumer mochte ein Wochenendhaus darauf errichten, das genau bis zum See

reicht und eine moglichst große Grundflache hat.

b) Ein Park wird an zwei Seiten von zwei sich rechtwinklig kreuzenden Straßen begrenzt.

An der Ecke soll zum Zweck der Abfalldeponierung ein Dreieck so abgeteilt werden, dass

vom Park moglichst wenig verloren geht, aber der im Punkt P befindliche Versorgungs-

anschluss sich noch innerhalb des Dreiecks befindet.

a) b)

Lose die beiden Aufgaben mit selbst gewahlten Daten fur a und b (> 0) oder allgemein.

Was sagst du zu den Ergebnissen? Wie lassen sie sich erklaren?

22

Die Hauptfrage ist bewusst offen formuliert und jeder Hinweis von der Art “wie hatte

man die Aufgabe auch ganz ohne Rechnung losen konnen” vermieden. Erfahrungsgemaß

schlagen die Schuler tatsachlich meist den Rechenweg ein, was auch auf ihre mangelnden

Geometriekenntnisse zuruckzufuhren ist. Er sei hier kurz fur den allgemeinen Fall skizziert.

a) Geradenfunktion g(x) = − bax + b . Der x-Wert des laufenden Punktes P auf der

Geraden sei t. Flachenfunktion R(t) = t · g(t) = − bat2 + bt . Das Maximum erhalt man

fur t = 12a mit g(t) = 1

2b und Rmax = 1

4ab .

b) Geradenfunktion g(x) = m(x− a) + b mit Parameter m. Abschnitt auf der x-Achse:

x0 = a− bm

, auf der y-Achse y0 = b− am . Flachenfunktion

D(m) =1

2x0 y0 = ab− 1

2a2m− b2

m.

Das Minimum erhalt man fur m = − ba

(da der positive Wert offensichtlich falsch ware),

und es folgt

x0 = 2a , y0 = 2b , Dmin = 2ab .

Wie immer die Schuler gerechnet haben, es muss ihnen - auch bei konkreten Daten -

auffallen, dass der Punkt P im Extremfall jedesmal der Mittelpunkt des Geradenstuckes

zwischen den Koordinatenachsen ist. Als “Erklarung” dafur werden sich vielleicht manche

damit begnugen, im Fall a) auf die Parabelfunktion zu verweisen, die ja von der Sache her

die Nullstellen 0 und a haben muss. Das Ergebnis ist aber so einfach, dass die Frage, ob

man es nicht “direkt aus der Figur” ablesen kann, außerordentlich nahe liegt. Man braucht

ja nur die Situationen zu vergleichen: Was andert sich im Hinblick auf die Flacheninhalte,

wenn P nicht Mittelpunkt von AB ist?

Zerlegt man in Abb. a) das Rechteck OQPR durch die Diagonale QR in zwei Teildreiecke,

so entstehen vier kongruente Teildreiecke. Z. B. geht RPB durch Verschiebung in OQR

uber und APQ durch Punktspiegelung in RQP . (Man konnte die beiden Dreiecke aber

auch an RP bzw. QP spiegeln.) Dieselben Kongruenzabbildungen fuhren R′P ′B in OQ′B′

und AP ′Q′ in A′Q′P ′ uber, und man erkennt, dass sie zusammen großer als das Rechteck

OQ′P ′R′ sind, da das Dreieck R′A′B′ “ubersteht”. Demnach ist das Rechteck stets kleiner

als das halbe Dreieck OAB, es sei denn, dass P im Mittelpunkt von AB liegt.

23

a) b)

Im Falle b) ist der unmittelbare Vergleich noch einfacher: Man spiegelt Dreieck A′AP an

P . Dann geht A in B uber und A′A in die Parallelstrecke BS, die ganz im Dreieck B′BP

liegen muss. Somit kommt bei Drehung der Geraden AB aus der Mittelpunktslage heraus

mehr hinzu (Dreieck B′BP ), als weggenommen wird (Dreieck A′AP ). Analog argumentiert

man, wenn die Vergleichsgerade flacher als AB verlauft. Das abgeschnittene Dreieck ist

also stets großer als das Dreieck OAB, es sei denn, dass P die Mittellage einnimmt.

Eine weitere Argumentation ergibt sich aus dem Zusammenhang beider Situationen, den

man in einem Satz so formulieren kann: Wenn P Mittelpunkt von AB ist, ist das Dreieck

OAB doppelt so groß wie das Rechteck OQPR, sonst großer. Je nachdem, was nun fest

vorgegeben ist, das Dreieck oder das Rechteck, erhalt man die entsprechenden Extremal-

aussagen. Auf diese Weise ist einer der beiden Falle auf den anderen zuruckfuhrbar.

Um die Bedeutung der geometrischen Beweisfuhrung hervorzuheben, ist es nutzlich, die

folgende Aufgabe (z.B. als Hausaufgabe) zu stellen: Man lose die Aufgabe b) fur den Fall,

dass die Gerade OB nicht senkrecht auf OA steht, sondern einen spitzen oder stumpfen

Winkel α mit ihr bildet. In diesem Fall ist die Rechnung ohne CAS fur Schuler kaum

zu bewaltigen und auch mit seiner Hilfe noch sehr unubersichtlich. Dagegen klart die

geometrische Argumentation, wie sie oben dargestellt wurde, auf einen Schlag, warum

“alles beim alten bleibt”.

24

3 Eine Verallgemeinerung

Ersetzt man die Gerade der Aufgabe a) in 2 durch eine monoton fallende und (zunachst)

rechtsgekrummte Kurve, so bleibt das dort gestellte Problem sinnvoll. Das gilt auch fur

die dortige Aufgabe b), wenn man statt der Geraden durch P die Tangente nimmt und

die Flache des Tangentialdreiecks minimieren mochte. Dementsprechend formulieren wir

die folgende, am besten im Unterricht zu bearbeitende

Aufgabe: Gegeben eine Parabel f(x) = b − ax2 , a, b > 0 . Bestimme auf ihr einen

Punkt P so, dass das durch P festgelegte a) Koordinatenrechteck; b) Tangentialdreieck

maximalen bzw. minimalen Inhalt hat. Welche Zusammenhange ergeben sich? Wie lassen

sie sich erklaren?

Auch hier spielt es keine Rolle, ob die Schuler mit konkreten Zahlen fur a und b arbeiten

oder gleich allgemein vorgehen. Die Rechnung ist aber auch im Fall des Tangentialdreiecks

nicht zu aufwandig. Sie sei hier kurz dargestellt.

Wie oben wahlen wir t als x-Wert des laufenden Punktes P auf der Parabel. Dann lautet

die Tangentengleichung g(x) = −2atx + b + at2 . Ihre Nullstelle ist x0 = 12t + b

2at, und

zusammen mit dem y-Achsenabschnitt y0 = b+at2 folgt hieraus fur die zu minimierende

Funktion

D(t) =1

2

(1

2t+

b

2at

)(b+ at2) =

1

2

(bt+

1

2at3 +

b2

2at

).

Die Bedingung D′(t) = 0 fuhrt auf eine biquadratische Gleichung mit der einzigen po-

sitiven Losung t =√

b3a

, bei der offenbar das Minimum vorliegt. Der zugehorige y-Wert

ist f(t) = 23b .

Das Uberraschende dieses Ergebnisses ist nun, dass das einbeschriebene Rechteck genau

fur denselben Punkt P maximalen Inhalt annimmt, und wenn man eine Zeichnung der

Situation anfertigt, wird die Uberraschung womoglich noch großer: P scheint erneut Mit-

telpunkt zu sein; der Beruhrpunkt halbiert anscheinend den zwischen den Koordinaten-

achsenden liegenden Tangentenabschnitt! Die Rechnung bestatigt die Vermutung; denn

der Abschnitt der Tangente auf der y-Achse betragt y0 = b + at2 = 43b und ist damit

doppelt so groß wie der y-Wert von P , den wir oben errechnet haben.

All das kann von Schulern selbst gefunden werden, wenn sie die gestellte Aufgabe ernst

nehmen und daran gewohnt sind, Ergebnisse nicht einfach hinzunehmen, sondern sie im

Kontext des gestellten Problems zu interpretieren. Ja, es gelingt ihnen auf Grund der

Vorbereitung auch, das hier entdeckte Phanomen aufzuklaren und unmittelbar verstehbar

zu machen. Warum liegt im Fall des minimalen Tangentendreiecks der Beruhrpunkt in

der Mitte? Ein Vergleich zeigt es:

25

Da der Schnittpunkt S der Tangenten t und t′ “zwischen” P und P ′ liegt, ist |BS| < |AS|und das Dreieck B′SB fallt bei Punktspiegelung an S ganz in das Dreieck A′SA. Daher

ist das Dreieck OA′B′ großer als das Dreieck OAB, jedenfalls wenn P ′ hoher liegt als P .

Liegt es aber tiefer, dann fuhrt dieselbe Argumentation zum Ziel, wobei in diesem Fall das

Dreieck A′SA in das Dreieck B′SB fallt. Welche (wichtige) Rolle hierbei die Konvexitat

der Kurve spielt, thematisieren wir nicht, da der Augenschein vollig uberzeugend ist.

Stattdessen soll noch eine zweite Begrundung skizziert werden, in der das Phanomen auf

das Ergebnis aus 2 (vgl. S. 24) zuruckgefuhrt wird. Man verschiebt dazu die Tangente t′

parallel durch P und verkleinert dadurch notwendigerweise das Tangentialdreieck OA′B′

zum Dreieck OA′′B′′. Dieses ist aber gemaß 2 großer als das Dreieck OAB.

In analoger Weise gehen wir beim einbeschriebenen Rechteck vor:

26

Das Rechteck OQ′P ′R′ ist offenbar kleiner als das Rechteck OQ′P ′′R′′ und dieses, wieder-

um nach 2, kleiner als das Rechteck OQPR. Damit ist bereits alles bewiesen.

4 Immer Mittelpunkte?

Die Uberzeugungskraft der Bilder ist so groß, dass die Frage: “Stimmt das denn immer?

Bei allen Kurven?” keinerlei Nachdenken zu erfordern scheint. Schließlich haben wir ja

bei unserer Argumentation nicht von irgendwelchen speziellen Eigenschaften der Para-

bel Gebrauch gemacht. Es versteht sich aber, dass die Schuler dabei an Kurven denken,

die einen “ahnlichen” Verlauf wie die Parabel haben, also monoton fallend und in Form

einer Rechtskurve ein “Kurvendreieck” vom ersten Quadranten abschneiden. An einer

mit freier Hand an die Tafel gezeichneten Kurve dieser Art uberzeugen wir uns, dass die

bisherige Argumentation gultig bleibt. Wir sprechen auch daruber, welchen Nutzen die

Aussage hat. Offenbar kann man den Punkt, außer in Spezialfallen wie dem Kreis und

der Parabel, dadurch nicht leichter finden. Es ist aber rechnerisch erheblich einfacher,

die Rechteckaufgabe statt der Tangentenaufgabe zu losen! Als Anwendung bietet es sich

deshalb an, bei einigen komplizierteren Funktionen (die sich die Schuler selbst aussuchen)

diesen Zusammenhang uberprufen zu lassen. Daruber hinaus halte ich es fur sehr sinnvoll,

den “abstrakten Kern” der Aussage herauszuarbeiten, indem man anhand einer Zeichnung

die Mittelpunktsbedingung als Gleichung ausdruckt:

f ′(x) = − f(x)

x⇐⇒ f(x) + xf ′(x) = 0 .

Denn wenn |AP | = |BP | ist, sind die Dreiecke OQP und AQP kongruent und die Stei-

gungswinkel erganzen sich zu 180. Naturlich druckt die zweite Gleichung nichts anderes

aus als das Verschwinden der Ableitung der “Rechteckfunktion” R(x) = x·f(x) . So liefert

sie fur die spatere Einfuhrung der Produktregel einen hervorragenden Anknupfungspunkt.

Nachdem das Problem fur rechtsgekrummte Kurven auf diese Weise vollstandig gelost

worden ist, liegt es nahe, auch linksgekrummte Kurven zu betrachten. Dabei zeigt sich

27

namlich, dass die bisherige geometrische Argumentation versagt. Es genugt, sich das fur

den Fall des einbeschriebenen Rechtecks klar zu machen:

Da die Kurve jetzt uber der Tangente liegt, fuhrt dieselbe Konstruktion wie bisher zuerst

zu einem kleineren Rechteck OQ′P ′′R′′, das dann beim Ubergang zum Rechteck OQPR

wieder vergroßert wird. Es ist jedoch nicht ohne weiteres abzuschatzen, welcher der beiden

Effekte den Ausschlag gibt.

Vielleicht kommen nun einige Schuler auf die Idee, einen anderen Weg vorzuschlagen. Die

Frage, was das Rechteck eigentlich mit der Tangente zu tun habe, drangt sich ja formlich

auf, und wenn man an die Tangente als optimal Approximierende denkt, bietet sich die

folgende Argumentation an: In einer Umgebung des Beruhrpunktes P darf man die Kurve

mit vernachlassigbarem Fehler durch die Tangente ersetzen. Ist dann P außerdem Mit-

telpunkt des Tangentenabschnittes, so wissen wir nach 2, dass die Rechtecke, die zu den

Punkten auf der Tangente 6= P gehoren, einen kleineren Inhalt haben als das Rechteck mit

der Ecke P . Also folgt: In einer Umgebung von P sind die zu den dortigen Kurvenpunkten

gehorigen Rechtecke ebenfalls kleiner, da sie sich von den Tangentenrechtecken kaum un-

terscheiden.

Dass diese Uberlegung falsch bzw. nicht stichhaltig ist, sollte nicht daran hindern, sie po-

sitiv zu wurdigen. Schließlich macht sie von einer wichtigen Grundvorstellung der Analysis

sinnvollen Gebrauch. Aber man kann an diesem Beispiel auch lernen, dass infinitesimale

Effekte vorsichtig beurteilt werden mussen. Um Schuler davon zu uberzeugen, helfen nur

Gegenbeispiele. Diesem Zweck dient die folgende

Aufgabe: Untersuche das “Rechteckproblem” fur die Funktion f(x) = (x−1)2

x+ 20

x2 . Wie-

so darf man die obigen Uberlegungen auf diese Funktion anwenden, obwohl sie nicht alle

28

der bisher gemachten Voraussetzungen erfullt? Was beweist dieses Beispiel?

Die Funktion hat die y-Achse zur Asymptote und fallt bis ca. x = 3, 5 . Somit schneidet

sie weder x- noch y-Achse, ist aber im (offenen) Intervall von 0 bis 3,5 eine Linkskur-

ve und erfullt hier die bisherigen Voraussetzungen. In diesem Intervall ist das Problem

sinnvoll, aber man konnte auch kunstlich die Tangenten an die Kurve (oder irgendeine

monoton fallende Rechtskurve) hinzunehmen, die diese in den Punkten mit x-Werten von

(z.B.) 1 und 3 beruhren und die Kurve bis zur y-Achse bzw. x-Achse durch diese Tangen-

ten ersetzen. Letztlich geht es aber um eine lokale Eigenschaft der Funktion, so dass es

grundsatzlich genugt, wenn die Voraussetzungen in einer Umgebung des fraglichen Punk-

tes zutreffen. Die Berechnung der Nullstellen von R′(x) fuhrt allerdings auf eine Gleichung

dritten Grades, aber mit Hilfe eines CAS oder GTR findet man ohne große Muhe x ≈ 2, 5

als einzige positive Losung. Wie die weitere Rechnung schnell bestatigt, ist der zugehorige

Punkt auch Mittelpunkt des Tangentenabschnittes. Damit sind alle Voraussetzungen wie

bei der obigen Argumentation erfullt, aber an der Stelle x = 2, 5 liegt im Intervall ]0; 3, 5[

ein absolutes Minimum von R(x) ! Das Einzige, was man wirklich hatte schließen durfen,

ware daher gewesen, dass die Werte von R(x) in einer Umgebung der Stelle annahernd

konstant (“stationar”) sind.

Den Zusammenhang aber versteht man wohl am besten, wenn man die folgende Uberle-

29

gung anstellt. Es sei m lokales Maximum von R(x) = x · f(x) , das an der Stelle x0 > 0

angenommen wird. Dann gilt in einer Umgebung von x0

x · f(x) ≤ m ⇐⇒ f(x) ≤ m

x.

Wegen f(x0) = mx0

muss also der Graph der Funktion h(x) = mx

den Graph von f(x) an

der Stelle x0 von oben beruhren. Das Besondere der Hilfsfunktion h(x) ist nun, dass fur

alle ihre Punkte die Mittelpunktsbedingung bezuglich der Tangenten erfullt ist, somit auch

fur den Punkt P .

Umgekehrt kann man zu jeder monoton fallenden Linkskurve f(x) eine “Vergleichsfunk-

tion” h(x) = cx

aufsuchen, die den Bedingungen

f(x0) =c

x0

und f ′(x0) = − c

x20

fur ein (oder mehrere) x0 genugt. Liegt dann die Vergleichskurve uber dem Graph von

f(x) (in einer Umgebung von x0), so hat das zugehorige Rechteck OQPR maximalen

Inhalt; liegt sie unterhalb, hat es minimalen Inhalt; und wechselt sie bei P die Seite des

Graphen, so ist keins von beidem der Fall.

5 Ein Ausblick in hohere Dimensionen

Es ist interessant, dass sich die zum Schluss dargestellte Methode auf hohere Dimensionen

verallgemeinern lasst. Denn so kann unmittelbar anschaulich verstanden werden, was sich

30

dem unmittelbaren Vergleich, wie er bei Flacheninhalten moglich ist, entzieht. Ich skizziere

im Folgenden kurz, worum es sich handelt, wobei ich mich auf den Fall einer Rechtskurve

(Halbkreis, nach unten geoffnete Parabel usw.) beschranke.

In der Schule werden haufig Extremwertprobleme gestellt wie: In (Um) eine Halbkugel

oder Rotationsparaboloid ist ein Zylinder (Kegel) mit maximalem (minimalem) Volumen

ein- (um-) zubeschreiben. Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine Verallgemeinerung

unserer ursprunglich gestellten Aufgabe in die dritte Dimension, die beim Zylinder darauf

hinauslauft, die Funktion Z(x) = x2f(x) zu maximieren. Das Ergebnis lautet: Der den

Zylinder maximalen Volumens bestimmende Punkt P (x | f(x)) teilt den zu diesem Punkt

gehorigen Tangentenabschnitt im Verhaltnis 2:1 von der y-Achse aus gerechnet, und der

Kegel minimalen Volumens wird durch denselben Punkt bestimmt.

Um das einzusehen, betrachten wir die Funktionen h(x) = cx2 (c > 0) . Man beweist leicht

die folgenden fur einen beliebigen Punkt dieser Kurve gultigen Aussagen:

a) Das Volumen des zugehorigen Zylinders und des zugehorigen Tangentialkegels ist

konstant.

b) Der Beruhrpunkt teilt den Tangentenabschnitt zwischen den Koordinatenachsen

von der y-Achse aus gerechnet im Verhaltnis 2:1.

Nun bestimmt man zur gegebenen Funktion f(x) die Hilfsfunktion, die den beiden Beruhr-

bedingungen

f(x0) =c

x20

, f ′(x0) = − 2c

x30

genugt. Dies lauft auf nichts anderes als die Losung der Gleichung

2f(x0) + x0f′(x0) = 0

hinaus, (die fur x0 6= 0 der Bedingung Z ′(x0) = 0 aquivalent ist). Unter den gegebenen

Voraussetzungen existiert stets genau eine Losung. Und nun argumentieren wir ahnlich

wie im zweidimensionalen Fall geometrisch:

Zylinder OQ1P1R1 ist offensichtlich kleiner als Zylinder OQ1P′1R′1 und dessen Inhalt nach

a) gleich dem Zylinder OQPR. - Der zur Tangente t1 in P1 gehorige Tangentialkegel ist

dagegen großer als der durch die parallele Tangente t′1 erzeugte Tangentialkegel. Dieser

aber hat das gleiche Volumen wie der von der Tangente t in P erzeugte Kegel, da P ′1 auf

der Hilfskurve liegt.

31

32

IV Kinematische Einfuhrung in die Integralrechnung

1 Vorbemerkung

Traditionell erfolgt der Einstieg in die Integralrechnung anhand des Flachenproblems.

Das hat zur Folge, dass der Begriff des (bestimmten) Integrals von vielen Schulern mit

dem Flacheninhalt von Ordinatenflachen identifiziert wird statt mit dem Aufsummieren

von letztlich “infinitesimalen” Zuwachsen. So kann man es in der Schule nicht selten

erleben, dass Schuler der Auffassung sind, dass der Berechnung eines bestimmten In-

tegrals stets eine Nullstellenermittlung des Integranden vorausgehen musse! Damit eng

verbunden ist die Vorstellung, dass das Integral etwas “Statisches” sei. Integrale mit va-

riabler oberer Grenze, die bei der Begrundung des Hauptsatzes auftreten, erscheinen als

“Monstrositaten”, denen die Schuler wenig Vertrauen entgegenbringen, und man muss zu

kunstlichen Konstruktionen greifen (Flachen, die sich in einer Richtung bei vorgegebener

oberer Begrenzung ausdehnen), um den Sinn dieses Vorgehens einigermaßen verstandlich

zu machen.

Eine nicht zu unterschatzende methodische Schwierigkeit kommt hinzu. Schuler, denen das

Problem des Flacheninhaltes von Ordinatenflachen prasentiert wird, halten es fur ganz

selbstverstandlich, dass man dann die Randkurve moglichst gut approximieren musse,

etwa durch Sehnen und Tangenten, so wie sie es schon von der Kreisberechnung her

kennen. Eine Annaherung in Form von “Treppen” erscheint ihnen geradezu widersinnig

und auch durch Rechenvorteile kaum zu rechtfertigen. Der wahre Grund liegt in der Tat

woanders, namlich in der Einfachheit und Allgemeinheit der Begriffsbildung, die fur den

Aufbau der Theorie unerlasslich ist.

Die hier genannten Nachteile lassen sich weitgehend vermeiden, wenn man ein kinemati-

sches Problem als Zugang wahlt. Das normale Alltagswissen genugt, um die grundlegenden

Ansatze selbstandig finden zu konnen und die Zusammenhange zu verstehen.

2 Verortung eines Motorrades

Man sollte die folgende Aufgabe nicht als reales Problem prasentieren. Die Einkleidung

ist jedoch nutzlich, weil sie eine anschauliche Vorstellung vom Bewegungsvorgang gibt

und man auch besser daruber reden kann. Schuler sind durchaus bereit, sich auf sol-

che “science fiction”-Probleme einzulassen und die ihnen zugrunde gelegten Hypothesen

zu akzeptieren, wenn sie nicht zu gewollt und kunstlich erscheinen. Die automatische

Registrierung von Geschwindigkeiten gehort jedenfalls nicht dazu und die Frage, welche

Schlussfolgerungen sich aus solchen Daten mit Sicherheit ziehen lassen, zeigt, dass hier

ernsthaft nachgedacht und nicht “wild spekuliert” werden soll.

33

.

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Der Weg ist das Ziel: Wo befindet sich das Motorrad?

Beim Start eines Motorrads wird durch einen Geschwindigkeitsschreiber alle drei Sekun-

den die dann gerade erreichte Geschwindigkeit registriert:

t/sec 0 3 6 9 12 15 18 21 24 27 30

v/ msec

0 9,5 18 25,5 32 37,5 42 45,5 48 49,5 50

• Welche Aussagen kannst du uber den Ort des Motorrades zu verschiedenen Zeiten

auf Grund dieser Daten mit Sicherheit machen?

• Welche Informationen uber v musste man noch haben, um zu genaueren Aussagen

zu kommen? Ist eine 100%-tige Genauigkeit moglich?

Es versteht sich, dass die Aufgabenstellung die Annahme von Durchschnittswerten ver-

bietet, etwa dass man sagt: In den ersten 3 Sekunden betrug die Geschwindigkeit durch-

schnittlich 8, 5 msec

: 2 = 4, 75 msec

. Denn uber die Art des Anwachsens der Geschwindigkeit

wissen wir nichts. Sie konnte zwar gleichmaßig erfolgen, aber plausibler ware, dass sie

anfangs stark wachst, um dann immer langsamer zuzunehmen. Die in der Tabelle ange-

gebenen Werte zeigen in der Tat, dass das Wachstum der Geschwindigkeiten uber den

ganzen Zeitraum hin gesehen abnimmt. Aber selbst wenn man unterstellt, dass dies auch

“in jedem Augenblick” der Fall ist, lasst sich damit nichts anfangen, jedenfalls solange

man das Gesetz, nach dem sich die Geschwindigkeiten andern - das heißt die Funktion

v(t) - nicht kennt.

Was wir mit Sicherheit sagen konnen, ist, dass die Geschwindigkeiten standig zunehmen;

der Begriff “Start” impliziert ja, dass der Motorradfahrer nicht zwischendurch bremst,

um danach wieder starker zu beschleunigen. Innerhalb der ersten drei Sekunden ist daher

9, 5 msec

die großte Geschwindigkeit. Mithin ist die zuruckgelegte Strecke kleiner als 9, 5·3 =

28, 5 Meter und sicher großer als null. Entsprechend gilt in den nachsten 3 Sekunden, dass

9, 5 msec

die kleinste, 18 msec

die großte Geschwindigkeit ist. Daher muss die zuruckgelegte

Strecke in diesem Zeitraum großer als 28,5 Meter, aber kleiner als 18 · 3 = 54 Meter sein.

Der Weg in den ersten 6 Sekunden muss daher kleiner als 28,5 m + 54 m = 82,5 m sein,

aber großer als 28,5 m.

Fahrt man mit dieser Schlussweise fort, so erhalt man eine Tabelle mit Minimal- und

Maximalwerten fur die zuruckgelegten Strecken im jeweiligen 3-Sekundenintervall bzw.

insgesamt.

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s/m im Intervall s/m insgesamt

t/sec v/ msec

minimal maximal minimal maximal

0 0

0 28,5 0 28,5

3 9,5

28,5 54 28,5 82,5

6 18

54 76,5 82,5 159

9 25,5

76,5 96 159 255

12 32

96 112,5 255 367,5

15 37,5

112,5 126 367,5 493,5

18 42

126 136,5 493,5 630

21 45,5

136,5 144 630 774

24 48

144 148,5 77,4 922,5

27 49,5

148,5 150 922,5 1072,5

30 50

Man erkennt daran sehr schon, dass der Abstand der beiden Schranken, zwischen denen

der wahre Gesamtweg liegen muss, gleich der maximal innerhalb des letzten Teilintervalls

zuruckgelegten Strecke ist. Aber es ist auch unmittelbar einleuchtend, dass man genauere

Abschatzungen nur dadurch erhalten kann, dass man die Geschwindigkeiten nach kurzeren

Zeitabstanden misst, etwa alle Sekunde oder gar alle Millisekunde. Eine 100%-tige Ge-

nauigkeit erhalt man auch dann nicht. Erst wenn man die Geschwindigkeiten “in jedem

Augenblick” registrieren konnte, ware das moglich, doch dann wusste man nicht, wie die

zugehorige Rechnung aussehen sollte. Sie ware ja bei “unendlich kleinen” Zeitintervallen

gar nicht durchfuhrbar.

Vielleicht haben sich schon einige Schuler bei der Bearbeitung der Aufgabe daran erin-

nert, dass zwischen Geschwindigkeit v und Weg s ein besonderer Zusammenhang besteht.

Danach ist v die Ableitung der Wegfunktion s nach der Zeit. Ware nun v als Funktion

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der Zeit bekannt, so braucht man eigentlich nur eine Funktion zu finden, deren Ableitung

mit der Geschwindigkeitsfunktion ubereinstimmt. Hieraus ergibt sich die

Anschlussaufgabe: Finde eine Funktion f(t), die zu den in der Tabelle angegebe-

nen Werten fur v passt. Bestimme mit ihrer Hilfe den genauen Weg des Motorrades in

Abhangigkeit von der Zeit t und speziell die nach 30 Sekunden zuruckgelegte Wegstrecke.

Eine graphische Darstellung gemaß der Wertetabelle legt die Vermutung nahe, dass f(t)

eine quadratische Funktion der Form f(t) = at + bt2 ist. Da hier aber nur zwei Para-

meter zu bestimmen sind, mussen die Schuler sich dazu “durchringen”, zwei Wertepaare

willkurlich herauszugreifen, um dann nachtraglich zu uberprufen, ob auch die anderen

Punkte auf der so errechneten Parabel liegen. Dass das der Fall ist, liegt naturlich dar-

an, dass die Wertetabelle keine “echten” empirischen Daten enthalt, sondern eben mit

Hilfe einer solchen Funktion erzeugt wurde. Man erhalt v = f(t) = 103t − 1

18t2 und als

“Stammfunktion” s = F (t) = 53t2− 1

54t3 . Die Vermutung aber, dass der wahre Weg nach

30 Sekunden genau in der Mitte zwischen den beiden Schranken 922,5 m und 1072,5 m

liegt, bestatigt sich nicht, denn er betragt s = F (30) = 1000 m .

3 Ausblick

Bei dieser Hinfuhrung zur Integralrechnung erscheint der Hauptsatz der Differenzial- und

Integralrechnung schon am Anfang. Ich halte das nicht fur einen Nachteil. Vielmehr kann

man nun anhand der geometrischen Interpretation des bisherigen Vorgehens gezielt her-

ausarbeiten, worauf dieser Zusammenhang eigentlich beruht. Das sei hier kurz skizziert.

Zunachst erkennt man an der Graphik, dass die Rekonstruktion des Weges aus der Ge-

schwindigkeitsfunktion gleichbedeutend mit der Berechnung des Flacheninhaltes unter

dem Geschwindigkeitsgraphen ist. Diesen Flacheninhalt kann man so kennzeichnen: Er

ist die einzige Zahl, die zwischen allen moglichen Unter- und Obersummen liegt. (Defini-

tion des Integralbegriffs).

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Ist nun F (t) eine Stammfunktion von f(t), dann besagt die von uns vorgenommene

Abschatzung, bezogen auf ein Teilintervall, zunachst

m ≤ f(t) = F ′(t) ≤ M fur alle t mit t1 ≤ t ≤ t2 ,

also (nach dem Mittelwertsatz)

m ≤ F (t2)− F (t1)

t2 − t1≤ M

und damit schließlich (Teilwegabschatzung)

m ·∆t ≤ F (t2)− F (t1) ≤ M ·∆t .

Summiert man nun alle diese Ungleichungen, so erhalt man links die zur vorgenommenen

Zerlegung gehorige Untersumme, rechts die Obersumme, wahrend die Summe dazwischen

als “Teleskopsumme” sich auf F (b) − F (a) , die Differenz der Stammfunktionswerte an

den Intervallendpunkten, zusammenschiebt. Diese Formalisierung unseres Vorgehens fuhrt

also ganz direkt und ohne zusatzliche Konstruktionen zu einem Beweis der Hauptsatzfor-

mulierung, die man in der Schule wirklich verwendet. Ein Mehr scheint nicht erforderlich.

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