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FOTOS MALTE JÄGER Detroit war der amerikanische Albtraum: verlassen, verwahrlost, brandgefährlich. Doch jetzt fasst die ehemalige Autostadt Amerikas wieder Tritt. Zwischen Brachen und Industrieruinen erfindet eine junge Avantgarde neue Geschäftsmodelle – und teilt sie miteinander TEXT ADRIAN PICKSHAUS 20 world Eine stolze Stadt 21

world 21 Eine stolze...world Frauen eine Perspektive gegeben“, sagt Scott mit un-verhohlenem Stolz. Die Not ist groß in Detroit: Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb

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Page 1: world 21 Eine stolze...world Frauen eine Perspektive gegeben“, sagt Scott mit un-verhohlenem Stolz. Die Not ist groß in Detroit: Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb

F O T O S M A L T E J Ä G E R

Detroit war der amerikanische Albtraum: verlassen, verwahrlost, brandgefährlich. Doch jetzt fasst die ehemalige Autostadt Amerikas wieder Tritt. Zwischen Brachen und Industrieruinen erfindet eine junge Avantgarde neue Geschäftsmodelle – und teilt sie miteinander

T E X T A D R I A N P I C K S H A U S

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Eine stolze Stadt

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Reichlich Ruinen: In der Packard Automotive Plant arbeiteten in

den vierziger Jahren rund 36 000 Menschen (oben links); das ehemalige

Michigan Theatre wurde 1977 in ein Parkhaus umgewandelt (unten

links); Downtown Detroit wirkt an vielen Ecken wie eine urbane Wüste,

durch die der „People Mover“ einsam Runden dreht (oben)

Es gibt Viertel in Detroit, in denen mehr Fasane als Menschen leben. Straßen wirken wie Trampelpfade in der Prärie, da links und rechts das Gras wie eine grüne Mauer steht.

Schlote von Industrieruinen ragen empor, ihre Größe erinnert daran, dass hier einst das industrielle Herz der Welt schlug. Detroit, die „Motor City“. Heimat der US-Autoindustrie. Glorreiche Zeiten voller Chrom und Lack waren das. Lange vorbei.

Die Krise kam Ende der siebziger Jahre, als die US-Autoindustrie durch Billigkonkurrenz aus Asien unter Druck geriet. Die „Big Three“ – General Motors, Ford und Chrysler – mussten die Produktion dras-tisch herunterfahren. Mit den Arbeitsplätzen ver-schwanden die Menschen: 700 000 Einwohner leben heute noch in Detroit, 1950 waren es knapp zwei Millionen. Ein Exodus von fast biblischem Ausmaß.

Doch viel Raum bietet viel Freiheit. Dazu gibt es billige Mieten, niedrige Lebenshaltungskosten. Künst-ler, Musiker und App-Entwickler strömen deshalb in die verwundete Stadt, sehen in ihr eine Chance aus Beton. Viele ziehen Vergleiche zu Berlin nach dem Mauerfall. Die Neuankömmlinge treffen auf eine Bevöl- kerung, die längst mit dem Underdog-Image ihrer Heimat kokettiert. „Detroit Pride“ tragen viele als Print auf dem Shirt. Der Stolz ist zurück. Auch bei Veronika Scott, 24, geboren und aufgewachsen in der Motor City. Die junge Designerin schlendert durch eine ent-kernte Lagerhalle im Stadtteil Midtown, um sie herum lassen 30 Schneiderinnen die Nähmaschinen rattern. Signalrotes Futter und schweres Leinen finden zu-sammen, zu Jacken mit einem Extra: Im Rücken der Parkas ist ein wasserdichter Schlafsack verborgen. „Das ist mehr als nur eine Jacke“, sagt Scott, „es ist ein tragbares Bett für Menschen, die auf der Straße leben.“

Erst verteilte Scott die Schlafjacken in ihrer Nach- barschaft, dann in ganz Detroit. Inzwischen arbeitet sie landesweit mit Hilfsorganisationen zusammen: In New York, Chicago und San Francisco schlüpfen Ob- dachlose in die Designerstücke. Vor ein paar Wochen rief das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen an – bald könnten Scotts Mäntel syrische Flüchtlinge wärmen. „Natürlich ist das fantastisch, doch ich vergesse nie: Meine Basis ist hier. Die Quelle meiner Inspiration ist Detroit. Hier habe ich 30 arbeitslosen

Für die Kreativen ist Detroit wie Berlin nach dem Mauerfall

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Frauen eine Perspektive gegeben“, sagt Scott mit un-verhohlenem Stolz.

Die Not ist groß in Detroit: Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Unter den 50 größten Städten des Landes hat Detroit die höchste Arbeitslosigkeit, fast jeder Vierte ist ohne Job. Seit Dezember 2013 ist die Stadt offiziell pleite, jedes private Engagement ist da hilfreich.

Die teuren Stoffe für Scotts „Empowerment Plan“ spendet Carhartt. Der Bekleidungsriese sitzt in Dear-borne, südlich von Detroit. In den USA verkauft man Holzfällerhemden und Cargohosen als Arbeitsklei-dung, in Berlin-Mitte läuft das unter Streetwear mit Detroit-Bonus. „Sharing is caring“ lautet das Motto der Stunde, auf Deutsch in etwa: Teilen heißt, sich zu kümmern. Nicht nur bei Veronika Scott. Die Devise donnert auch aus dem Mund heimatverbundener Groß- investoren und prangt als Graffito auf den unver-putzten Bürowänden der zugezogenen Avantgarde.

Bisher kamen Besucher vor allem nach Detroit, um Ruinen zu sehen. Davon gibt es in der Stadt an Kana-das Südgrenze reichlich: 80 000 Privathäuser stehen leer. Art-déco-Schlösser aus dem frühen 20. Jahr- hundert verrotten neben hölzernen Einfamilienträumen der Baby-Boomer. Und über alles legt sich Grün. Wer die Stadt mit dem Mietwagen erkundet, erliegt der Schönheit des Verfalls.

Die Stadt hat den Vibe einer alten Soulplatte. Eine Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, wie ein Song von Diana Ross. Die Sängerin wuchs in einem Sozialbau im harten Osten Detroits auf. Das Gebäu-de ist heute ebenso verfallen wie jenes Haus an der 8 Mile Road, in dem Rapper Eminem mit seiner Mut-ter lebte. Madonna verbrachte ein paar Jugendjahre im Vorort Rochester Hills, ihr Vater war Ingenieur bei General Motors. Iggy Pop spielte seinen ersten Gig in Detroit, 1968, im legendären Grande Ballroom. Und Mitte der Achtziger schufen DJs auf Raves in Werk-hallen den Techno. Viel große Kunst, am laufenden Band produziert. Wie das T-Modell von Ford.

„Detroit hat schon immer Künstler inspiriert“, sagt Francis Grunow, 40, „das wollen wir am Leben halten. Und dafür sorgen, dass intakte Viertel nicht kippen.“ Grunow steht in einem 80 Jahre alten Holzhaus im Viertel Hamtrack. Das morsche Eigenheim stand leer, wurde besetzt, schließlich von Grunows Initiative „Write A House“ gekauft. Bald soll hier ein junger Au-tor einziehen. „Vielleicht der nächste Dan Brown“, sagt Grunow und lacht.

Drei Häuser werden gerade parallel renoviert, weitere sollen folgen. Interessenten können sich bei „Write A House“ mit Arbeitsproben bewerben. Wenn Grunow und seinen Mitstreitern der Stil gefällt, bekommt der Autor das Haus geschenkt. „Rund 300 Männer und Frauen aus der ganzen Welt haben schon etwas geschickt“, sagt Grunow. Krimischreiber,

Rot ist die Hoffnung:

eine Schneiderin des

Projekts „Empowerment

Plan“; Straßenkunst

in der Heidelberg Street;

Start-upper Chris Blau-

velt, 24, mit Freundin im

Szenetreff Green Garage

(im Uhrzeigersinn)

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Familien ziehen fort, doch die Avantgarde kommt in die verwundete Stadt

Perspektivwechsel:

Die Künstlerin Corrie

Baldauf, 33, will mit

ihren „Optimismus-

Filtern“ den Blick

auf Detroit verändern

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Spitzenköche reißen sich um das Gemüse aus Detroits Stadtgärten

Aktivisten der Initiative

„Write A House“ (links);

Detroits Clubszene lebt

wieder auf (links oben);

die Skyline der „Motor

City“ (rechts oben);

„Triple Threat Pork“-

Burger im Slows Bar

BQ (rechts)

2 8

Journalisten, Poeten, es ist alles dabei. Während Familien weiter fortziehen, drängt die Avantgarde der Zukunft nach Detroit.

„Write A House“ kauft nur in solchen Nachbar-schaften Häuser, in denen die große Mehrheit der Gebäude noch bewohnt wird. Die Initiative ist wie ein Zahnarzt, der Karies an einem sonst gesunden Ge-biss behandelt. Doch es gibt zu viele Patienten – De-troit ist schlicht zu groß. 370 Quadratkilometer um-fasst das Stadtgebiet, das Straßennetz ist rund 5200 Kilometer lang. Detroit wurde für Riesenautos geschaffen, die längst nicht mehr fahren.

Mike Duggan, seit Januar Bürgermeister von De-troit, hat dem Problem der verlassenen Häuser den Kampf angesagt. Mit der Abrissbirne soll die Stadt-verwaltung 800 Gebäuden pro Monat auf die Wände rücken. Doch das kostet. Experten schätzen, dass für den vollständigen Abbruch nur der Hälfte aller ver-lassenen Privathäuser schon 850 Millionen Dollar fällig würden. Für die Industrieruinen kämen dann noch eine Milliarde Dollar hinzu. Zur Erinnerung: Detroit ist völlig blank.

Kann es sich lohnen, in Brachen Geld zu investie- ren? Für Menschen wie Ashley Atkinson, 35, schon. Die kräftige Frau stapft in Gummistiefeln durch einen Gemüsegarten, groß wie ein Footballfeld. Eingeklemmt zwischen Freeway und dem Parkhaus des Casino-Hotels MGM Grand, ist der Garten eine grüne Oase in Downtown Detroit. 70 Sorten Obst, Gemüse und Gewürze wachsen hier.

„Gerade ist Spargelzeit“, frohlockt Atkinson. Sie ist Mitbegründerin der Initiative „Keep Growing De-troit“, die seit 2006 rund 80 Farmen im Stadtgebiet bewirtschaftet. Dazu versorgt sie rund 1500 Gärtner in Detroit mit Expertise und Saatgut. „Dank unserer Hilfe können inzwischen viele vom Gemüseanbau le-ben“, so Atkinson. Teilen heißt kümmern, auch hier.„Wir produzieren 200 Tonnen Gemüse pro Jahr“, sagt Atkinson, „das sind drei bis fünf Prozent von allem Grünzeug, das pro Jahr in Detroit gegessen wird.“ Langfristig will die Initiative 50 Prozent schaffen. Sich hohe Ziele zu setzen – auch das so eine amerikani-sche Spezialität.

Junge Spitzenköche reißen sich um die frische Ware aus Detroits Gärten. Der Geldadel aus den Vor-städten pilgert jeden Samstag im dicken SUV zum Eastern Market, um regional und bio einzukaufen. Und die coole Start-up-Szene kommt auf einen „Boston Cooler“ (Ginger Ale mit Vanilleeis) aus dem benach-barten Downtown vorbeigeschlappt.

Noch vor fünf Jahren war Downtown eine No-go- Area. Arbeitsnomaden fuhren morgens ins Parkhaus des Renaissance Center, die Türen ihrer Vans zent-ralverriegelt. Nach Feierabend verließen sie den riesi-gen Bürokomplex in Richtung Suburbia. Wer zwischen den Wolkenkratzern mit den blinden Scheiben aus

1 ,9

Millionen Einwohner

hatte Detroit 1950.

Heute leben nur noch

700 000 Menschen

in der Stadt im US-

Bundesstaat Michigan.

1 ,7-

Milliarden Dollar inves-

tierte der Unternehmer

Dan Gilbert zuletzt

in das Zentrum seiner

Heimatstadt. Unter

anderem kaufte er 54

Gebäude, darunter

zahlreiche Wolkenkratzer.

5200 Kilometer lang ist das

Straßennetz der ehema-

ligen „Motor City“.

18Milliarden Euro

Schulden hat Detroit.

Doch Hunderte junger

Start-ups spülen

nun frisches Steuergeld

in die leeren Kassen

der Metropole.

D E T R O I T I N

Z A H L E N

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Street-Art in einer

Brandruine (rechts);

XXL-Gemüsegarten im

Zentrum (unten); das

alte Fox-Theater strahlt

wieder (links)

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Detroit, Michigan, grenzt

im Norden an Kanada

und liegt Luftlinie knapp

800 Kilometer westlich

von New York

dem Auto stieg, galt als Gefahrensucher. Raubüber-fälle waren an der Tagesordnung.

Und heute? Am Campus Martius Park ist Sand aufgeschüttet, schöne junge Menschen lümmeln in Liegestühlen, essen vegane Burritos. Motown-Songs plätschern aus unsichtbaren Boxen auf den Gehweg. Bürohengste auf Segways rollen vorbei, die Google Glass auf der Nase weist den Weg. Pause in der schö-nen neuen Arbeitswelt.

���������������������� ������������������������Dan Gilbert. Der 52-Jährige ist rund 3,7 Milliarden Dollar schwer, sein Geld hat er just mit dem gemacht, �������������������������������������������������� Immobilienkredite.

������������������!���"��#������$�����������$����������������#�������%�!��&��'���������*�-gestellten seiner Firma Quicken Loans einen Zwangs-#��#+���"���'���'��%��������/��������������������#���'��%���������"���+��#+��;�������<�#�������+�-samt 54 Gebäude in der Innenstadt. Und mit dem Ka-=������������ �<#���'�������'���>���#���@���������'+�er die ersten Start-ups an. Rund 1,7 Milliarden Dollar �����������X���������'���'�����&�������%��

�����"�����������$#������X#�+���[�"�\]������in den alten Art-déco-Kästen entlang der Woodward Avenue. Der Internet-Gigant Google machte vergan-+�����^�������� ��'&���'�������#���#�����/�<�'-blog-Dienst Twitter hat einen Ableger nebenan. Auch der Hype der Stunde, der Online-Taxidienst Uber, ist da. Kommt das nächste Facebook aus Detroit? Und �����X����������������#�����'"�+���"<������#���_�Chris Blauvelt, 24, könnte darauf eine Antwort parat �����%�����*==\!����"<�������������������#�<����$'��\ ���"��������;�����;���+��������������&�����#��

���`����\#=\`����%�!���q"����%�{����'�������&������"�����"�������q"�����`���"'��>�����|���+��}��#&����{��������<~��������`���"'��>����������'�������>������'�-tung werden.“

Blauvelt ist ein Multitalent. Seinen Job als Mathe-lehrer hing er an den Nagel, um digitaler Unterneh-�����#������%�*������*==��������������+���"������+�sein Liebling ist die Online-Plattform launchgood.com, auf der Muslime weltweit Geld für pfiffige Pro-X�<�������������<~����%�$�+���+�����������{!���� ]������\�>������X#�+��]��#�������}#�<�|����q�������/�����������`"��������������'��%������'�<\'#�� für Gläubige erregte Aufsehen und verkaufte sich gut. !�+�������}��#&�����#����#� �&���'���+��=�q"����eingeladen – ins Silicon Valley.

In der Green Garage ist Blauvelt einer von 50 �����#�����������%�!�����*������=�����������*��+���������������������������'�����=�'�/'���%�!����+��}���-+#�+��/����#�������^�������+�������%��#�"�������Verlässlichkeit und den Faktor Zeit soll Gemeinschaft ���������%�{������"������>��'�����������\����#�+����#"���+�����"�������"���#���q"������[��"�%��������� ������+����#�|���+��}��#&������+�������%�{*���������-����������#������%�����'������������"�����������'�-deren Spirit.“

��"������������;������"�����������%� ��/��*�����/#��#����������+��~����"����#������+������Elektroveteranen von Underground Resistance auf. }���������=�����~�=����#"<������`��'�'�<'=��"��%�Bässe wummern hinaus in die städtische Prärie, so laut, dass es den Fasanen im Gefieder flattert.

^������'�������+�'���@�'�����%��'"������'�������auch Pioniere und Erfinder. Menschen, die sich um einander kümmern. Motor City brummt wieder.

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