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Riga, Tallinn, Vilnius – die Rückkehr der baltischen Hauptstädte

nach Europa

Eine Annäherung an die Baltische Region aus dem Blickwinkel des „HisTourismus“

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Riga, Tallinn, Vilnius – Die Rückkehr der Baltischen Hauptstädte nach Europa

Eine Annäherung an die Baltische Region aus dem Blickwinkel des „HisTourismus“

Bernd Mütter, Andreas FülberthGeorg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung

Braunschweig, [email protected]; [email protected]

Zusammenfassung

Unser Essay resümiert Grundzüge der Geschichte des Baltikums, so wie der Reisende sie in den Gebäuden der Hauptstädte Riga, Tallinn und Vilnius widergespiegelt findet. Dass viele historisch-kulturell interessierte Reisende – HisTouristen, wie sie in der Fachliteratur gern genannt werden – nur diese drei Städte besuchen, wenn sie sich in die baltischen Staaten begeben, gibt Letzteren im Gegenzug Veranlassung, dort – in ihren Hauptstädten – besonders deutlich ihre geschichtlichen Bezüge zum übrigen Europa herauszustellen. Diese Europa-Bezüge sind in Litauen keineswegs dieselben wie in Estland oder Lettland: Wie stark sie sich von Staat zu Staat unterscheiden, erweist im Folgenden ein jeweiliger Vergleich der Kathedralen, Burgen, Rathäuser, Universitätsbauten usw. der drei Hauptstädte untereinander.Welche tatsächlichen Gemeinsamkeiten dem gegenüberstehen, wie diese Gemeinsamkeiten sich herausgebildet haben und ob sie auch heute noch fortwirken, ist Gegenstand der abschließenden Kapitel unseres Essays – begleitet von der Frage, wie der Reisende alles dies erlebt bzw. wie es ihm vermittelt werden kann.

Kapitel 1 – Die Mitte Europas?

Als Reisender ist man verblüfft, wenn man in Selbstdarstellung und Touristikwerbung der drei heute wieder selbständigen baltischen Länder die Behauptung findet, sie lägen „in der Mitte Europas“. Dahinter verbirgt sich mehr als nur eine auffällige geografische Zuordnung.Zunächst: Wenn Europa erst am Ural endet – die Debatte hierüber wäre ein Thema für sich –, dann liegen die baltischen Länder tatsächlich „in der Mitte Europas“ [1]. In Deutschland aber ist man der Überzeugung, selbst in der Mitte Europas zu liegen, und hat für die östlichen Nachbarn Polen und Tschechien den Begriff „östliches Mitteleuropa“ erfunden. Dieser Mitteleuropa-Begriff geht eher von historischen und politischen als von geografischen Prämissen aus. Auf welchen Motiven beruht die offensichtlich stark abweichende Begriffsverwendung in den drei baltischen Staaten?

Paragraph 1 – Gewinnung und Verlust der Unabhängigkeit

Diese kleinen Länder erlangten nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft – in einer Schwächephase der beiden großen Nachbarn Deutschland und Russland, nämlich nach deren Niederlage im Ersten Weltkrieg – überraschend ihre Unabhängigkeit; und sie vermochten sie schon in der Gründungsphase nur mit Hilfe der siegreichen Westmächte zu behaupten. Das Wiedererstarken Deutschlands und Russlands unter den totalitären Regimen Hitlers und Stalins wiederum veränderte die machtpolitische Situation in Ostmitteleuropa grundlegend, was darin gipfelte, dass die beiden Diktatoren sich im August 1939 – gleichsam am Vorabend des Zweiten Weltkrieges – über ihre „Interessensphären“ in jenem Teil des Kontinents verständigten. Die baltischen Länder wurden im Sommer des folgenden Jahres in die Sowjetunion eingegliedert; und dabei blieb es auch nach der deutschen Niederlage 1945 – mit Billigung der Westmächte. Im Baltikum, vor allem in Litauen, kämpften noch bis Mitte der fünfziger Jahre manche als Partisanen gegen die Rote Armee, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Westmächte ihre Länder angesichts des sich verschärfenden Kalten

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Krieges (und aufgerüttelt durch die zahlreichen Emigranten) nicht fallen lassen würden. Der Westen aber wagte unter dem Damoklesschwert der atomaren Kriegsgefahr nicht einmal in den formal selbständig gebliebenen Satellitenstaaten zu intervenieren, als es in diesen – beginnend 1953 in der DDR – zu spektakulären Volksaufständen kam. Vor diesem Hintergrund gelang es den kleinen Völkern des Baltikums kaum noch, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen; sie waren, so schien es, endgültig abgeschrieben [2].

Paragraph 2 – Neue Chancen seit 1991

Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion bescherte ihnen wie durch ein Wunder eine neue Chance. Inzwischen sind sie sogar NATO- und EU-Mitglieder – eine Sicherheitsgarantie, die ihnen in der Zwischenkriegszeit nie in vergleichbarer Weise zuteil geworden war. Die kleinen baltischen Staaten wissen angesichts ihrer traumatischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert, dass sie dauerhaft nur überleben können, wenn sie als vollwertige Mitglieder Europas wahrgenommen werden – daher die Wendung „mitten in Europa“ und die Einladung an Touristen aus dem Westen, sich selbst vor Ort davon zu überzeugen, wie berechtigt diese Formulierung erscheint.Wie präsentieren die drei Länder und ihre Hauptstädte sich heute dem historisch interessierten Touristen? Und was erfährt dieser, während er sie bereist bzw. besichtigt, von ihrer „Rückkehr nach Europa“?Die Altstädte der baltischen Metropolen blieben in den beiden Weltkriegen (trotz nennenswerter Verluste vor allem im Jahre 1944) von allzu großflächiger Zerstörung verschont. Bedrohungen für die historischen Stadtensembles ergaben sich allerdings ebenso in den ersten Jahrzehnten der Sowjetzeit – sowohl durch Vernachlässigung der vorhandenen Bausubstanz als auch durch das Planen übergroßer öffentlicher Gebäude und neuer Straßenführungen ohne Rücksicht auf die gegebenen Verhältnisse. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 werden die historischen Bauten der Altstädte zunehmend restauriert, die historischen Museen reorganisiert. In der breiten westlichen Öffentlichkeit längst vergessene europäische Bezüge werden dabei sichtbar – gerade auch für den Besucher aus Deutschland.

Anmerkungen

[1] Die geografische Mitte Europas liegt – sofern man Europa bis zum Ural reichen lässt – in der Nähe von Vilnius. Hier wurde ein Europapark mit einer Säule und zahlreichen originellen Skulpturen angelegt.[2] Bezeichnend ist die weitgehende Nichterwähnung des Baltikums in etlichen verbreiteten Standardwerken – so beispielsweise Hugh Seton-Watson, Die osteuropäische Revolution (München: Isar-Verlag, 1956).

Kapitel 2 – Von der Christianisierung bis zur Zarenzeit. Riga, Tallinn und Vilnius im Spiegel ihrer Burgen, Kirchen, Bürgerbauten und Universitäten

Im hohen Mittelalter, seit dem 12. Jahrhundert, wurden für die Europa-Zugehörigkeit der heutigen baltischen Staaten die Grundlagen bereitet – ein komplexer Vorgang, der Jahrhunderte in Anspruch nahm. Er begann mit der vielfach gewalttätigen Christianisierung der Landesbewohner, die vom Schwertbrüder- sowie – nach dessen Niederlage gegen die Litauer – vom Deutschen Orden durchgesetzt wurde, und resultierte in der Einbindung der östlichen Ostseeküste in den mitteleuropäischen Wirtschaftsraum der Hanse, in dem ebenfalls die Deutschen dominierten. Deutsche gründeten 1201 Riga, Dänen und Deutsche ab 1219 Reval, das heutige Tallinn. Vilnius (dt. Wilna, poln. Wilno) dagegen war zu unbekannter Zeit und ohne die Mitwirkung von Deutschen gegründet worden; damit es zu einer veritablen Stadt heranwachsen konnte, rief jedoch auch Litauens Großfürst Gediminas in den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts Zuwanderer aus anderen europäischen Ländern herbei. Mit Nationsbildungsprozessen im Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts hatten alle diese Vorgänge nichts zu tun – es ging vielmehr um Christianisierung, Handel und Landesausbau.Litauen kann auf eine ruhmreiche Vergangenheit als Großmacht im späten Mittelalter zurückschauen, anders als Lettland und Estland, die 1918 erstmals als selbständige Staaten in die europäische Geschichte eintraten. Es behauptete sich gegen die Angriffe des Deutschen Ordens; und als seine Großfürsten schließlich das Christentum annahmen (endgültig und dauerhaft taten sie dies erst 1387 – später als alle anderen Herrschergeschlechter Europas), entzogen sie weiteren „Kreuzzügen“ des Ordens damit die

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Legitimation. In der damals geschlossenen Union mit Polen verlor Litauen indes zusehends sein politisches Eigengewicht und seine noch ungefestigte kulturelle Identität. Polen, schon rund vierhundert Jahre länger christianisiert und fest in Europa eingebunden, durchdrang Litauen geistig und gesellschaftlich – der litauische Adel sprach bald nur noch Polnisch. Wie die Deutschen in Lettland und Estland, so wurden in Litauen die Polen zur dominierenden politischen und kulturellen Macht. Die Entwicklungen des 18. Jahrhunderts – zunächst der Nordische Krieg, dann die Polnischen Teilungen – brachten das Gebiet der heutigen baltischen Länder sowie große Teile Polens unter die Herrschaft Russlands. Erst seit dieser Zeit ergab sich allmählich ein gemeinsames historisches Schicksal, das den heutigen Wortgebrauch von den „drei baltischen Ländern“ trotz aller Verschiedenheiten in Geschichte und Sprache halbwegs rechtfertigt.Wie spiegeln diese Entwicklungen sich heute im Stadtbild der baltischen Metropolen? Wir behandeln die großen Objektgruppen vergleichend und in der chronologischen Reihenfolge ihres historischen Erscheinens.

Paragraph 1 – Keine Hauptstadt und doch ein Zentrum von Macht: Riga in Mittelalter und Früher Neuzeit

Burgen als Kristallisationskerne von Machteroberung und -behauptung stehen am Anfang aller drei Stadtgründungen. In Riga lag die Burg des Schwertbrüderordens zunächst inmitten der Stadt (an der Stelle des inzwischen seit langem „Konventhof“ genannten Altstadtviertels). Nachdem der Schwertbrüderorden im Deutschen Orden aufgegangen war und nachdem es zwischen diesem und der aufstrebenden Bürgerschaft 1297 zu einer erbitterten Fehde gekommen war, erfolgte die Verlegung an die Düna – dorthin, wo sich noch heute das Schloss befindet. Die damaligen Streitigkeiten standen nicht unter nationalen Vorzeichen, sondern entluden sich zwischen Ordensrittern und Kaufleuten deutscher Abstammung. Konflikte dieser Art, bei denen Stadtherren auf der einen und Stadtbürger auf der anderen Seite standen, kennzeichnen die europäische Stadtgeschichte im späten Mittelalter generell. In Riga verkomplizierten sie sich überdies dadurch, dass die Herrschaft über die Stadt lange Zeit zwischen dem Bischof (bzw. später Erzbischof) und dem Orden aufgeteilt war. Als die ökonomische Potenz der Stadtbürger abnahm – symptomatisch ist der Niedergang der Hanse, der Riga und Reval/Tallinn seit dem 13. Jahrhundert angehört hatten –, zugleich aber auch der Ordensstaat seinen durch verlustreiche Schlachten gegen Polen-Litauen (darunter diejenige von 1410 bei Tannenberg) eingeläuteten Niedergang erlebte, sorgte die Reformation, welche sich in Hansestädten wie Riga und Reval schnell verbreitete, für eine zusätzliche Schwächung der bestehenden Strukturen. Der von den Moskowitern entfachte Livländische Krieg (1558-1582/83) ließ diese zusammenbrechen, so dass es einer neuen Schutzmacht bedurfte. Damalige Versuche Rigas, als freie, reichsunmittelbare Stadt zu überleben, schlugen fehl. Die stärksten Machtzentren im Ostseeraum des 16. und 17. Jahrhunderts waren Polen, Schweden und später Russland. Riga unterwarf sich 1582 zunächst den Herrschern Polen-Litauens; deren Ansinnen, die Stadt zum alten Glauben zurückzuführen, löste allerdings große Unzufriedenheit aus. In einem polnisch-schwedischen Krieg wurde Riga 1621 von Schwedens König Gustav II. Adolf erobert, dessen Reich seinerzeit zur protestantischen Vormacht im Ostseeraum aufstieg. Rigas schwedische Zeit gilt heute – trotz hoher Abgabenlast aufgrund neuerlicher Kriege gegen Polen und Russland – als glückliche Epoche in der Stadtgeschichte. Gerne wird in diesem Zusammenhang betont, dass Riga damals alle anderen Städte Schwedens (einschließlich der Hauptstadt Stockholm) an Größe übertraf. Eine Inschrift in der Petrikirche erinnert daran, dass zum achthundertjährigen Stadtjubiläum 2001 deshalb auch das schwedische Königspaar Riga besuchte. 1721 beendete der Friede zu Nystad Schwedens Großmachtstellung. An das seitdem zur neuen Großmacht aufgestiegene Russland, das zu jener Zeit von Peter I. regiert wurde, fielen – faktisch bereits 1710, formell hingegen erst durch besagten Friedensschluss – auch Riga und Reval. In das ehemalige Ordensschloss an der Düna zog nun ein russischer Gouverneur ein.

Paragraph 2 – Das Schloss in Riga

Das Ordensschloss, dessen Grundstein 1330 gelegt wurde, war ursprünglich ein dreigeschossiges Festungsgebäude mit Innenhof und vier Türmen. Im 15. Jahrhundert wurde es während weiterer Kämpfe zwischen den Rigensern und dem Orden schwer beschädigt. Von der Art seines 1515 zum Abschluss gebrachten Wiederaufbaus unter dem livländischen Ordensmeister Wolter von Plettenberg ist seine Gestalt bis heute geprägt. Die Schweden errichteten 1642 zur Düna hin ein Vorschloss mit einem polygonalen Erker an der Nordwestecke, dessen Dach und Reliefstreifen der Tradition des europäischen Barock und Manierismus folgen. In der Zarenzeit wurden im Vorschloss Repräsentationsräume für den

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Generalgouverneur der Ostseeprovinzen eingerichtet – heute, wie schon in der Zwischenkriegszeit, dienen sie als Repräsentationsräume der lettischen Regierung. Vor allem jedoch der Sitz des Staatspräsidenten sowie mehrere Museen befinden sich heutzutage im Schloss. An dem Bauwerk lässt sich die Komplexität der lettischen Geschichte und Identität demonstrieren – es bleibt der Gesamteindruck eines Funktionsbaus aus kriegerischer Vergangenheit, der den Bedürfnissen der heutigen unabhängigen Republik Lettland angepasst wurde.

Paragraph 3 – Das Schloss auf dem Tallinner Domberg

Die Ordensburg in Tallinn teilt in mancher Weise das Schicksal ihres Pendants in Riga: Mauerreste, die bis in die Gründungszeit zurückgehen, jedoch nicht unverändert blieben; zuletzt unter russischer Herrschaft eine heute das Gesamtbild prägende Überformung. Aber in mindestens zweierlei Hinsicht unterscheidet sich der Burgkomplex in Tallinn augenfällig von dem in Riga, und zwar durch seine Höhenlage und durch eine innerhalb des äußeren Burgrings platzierte russisch-orthodoxe Kathedrale. Das Ordensschloss in Riga liegt direkt neben dem historischen Hafen an der Düna, einem bis tief ins Hinterland reichenden großen Strom, der nur wenig nordwestlich in die Ostsee mündet – eine verkehrs- und militärstrategisch hervorragende Position. Die Burg befindet sich auf dem leicht erhöhten Ostufer des Flusses, entspricht von ihrem Ursprung her aber dem Typus einer Wasserburg.Ganz anders die Burg von Tallinn, die sich auf einem fast 50 Meter hohen Hügel, einem der höchsten Nordestlands, erhebt – in nur geringer Entfernung zu Hafen und Küste, jedoch ohne Erschließung des Hinterlandes durch einen schiffbaren Strom. Schon bevor 1219 die Dänen das spätere Tallinn eroberten – worauf ebendieser estnische Name der Stadt zurückverweist („taani linn“, nach und nach kontrahiert zu „Tallinn“ = „dänische Stadt“; Dänen und Deutsche sprachen unterdessen von „Reval“) –, hatten die estnischen Ureinwohner auf dem heute Domberg genannten Hügel Wehranlagen errichtet; diese wurden von den Eroberern niedergebrannt. Überreste der von den Dänen geschaffenen Befestigungen sind immer noch sichtbar. Der heutige Baukörper mit seinen markanten Ecktürmen (besonders gut erhalten und zugleich am höchsten ist der „Lange Hermann“) geht auf den Deutschen Orden zurück, der das heutige Nordestland 1346 von den Dänen erwarb. Die unter zaristischer Herrschaft stark umgestalteten Schauseiten im Osten und Süden sowie die Innenhöfe lassen dies freilich nicht mehr auf den ersten Blick erkennen.Die russisch-orthodoxe Aleksandr-Nevskij-Kathedrale – gebaut in den Jahren 1894-1900, um der Russifizierung der Ostseeprovinzen des Zarenreichs baulich Ausdruck zu verleihen – beherrscht den Bereich der einstigen Vorburg beinahe stärker als der heute lutherische Dom, der etwas abseits liegt. Gleichermaßen symbolträchtige russisch-orthodoxe Kirchen aus jener Zeit gibt es auch in Riga, wo jedoch nicht ganz so auffällige Standorte für sie gewählt wurden.

Paragraph 4 – Die beiden Burgen von Vilnius

Der Burgkomplex in Vilnius unterscheidet sich von denen in Riga und Tallinn erheblich. Er befindet sich tief im Binnenland auf einem für baltische Verhältnisse durchaus ansehnlichen Hügel nahe der Mündung der Vilnia in den Neris. In Vilnius gibt es eine Obere und eine Untere Burg, Repräsentantinnen zweier verschiedener Abschnitte der Geschichte des Großfürstentums Litauen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die Untere Burg bezog auch die heutige Kathedrale samt dem umliegenden Platz mit ein; der Glockenturm war einer der Türme in der Befestigungsmauer ebenjener Burg. Der Gesamtkomplex ist umfangreicher als diejenigen in Riga und Tallinn. Die Untere Burg wurde im 16. Jahrhundert als prächtige Renaissanceanlage nach italienischem Vorbild ausgebaut, also während einer Zeit, zu der Riga und Reval/Tallinn ihre besten Tage als Hansestädte bereits hinter sich hatten. Die von der Geschichte des nördlichen Baltikums stark abweichende Vergangenheit Litauens als ostmitteleuropäische Großmacht lässt sich am Burgberg von Vilnius eindrucksvoll ablesen, auch wenn dessen Bedeutung nach dem Zustandekommen der Realunion mit Polen 1569 nicht mehr ganz dieselbe wie vorher war. Die Vorstellungskraft des Besuchers wird durch die noch vorhandenen Überreste, durch die hier präsentierten Ausstellungsstücke des Litauischen Nationalmuseums sowie seit Neuestem durch die Rekonstruktion der (Ende des 18. Jahrhunderts unter russischer Verwaltung abgetragenen) Baulichkeiten der Unteren Burg vielfältig angeregt.

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Paragraph 5 – Die Domkirchen in Riga und Tallinn

Auch ein Vergleich der Bischofskirchen, die im Zuge der Christianisierung und weltlichen Herrschaftssicherung errichtet wurden, führt zu aufschlussreichen Ergebnissen. Dem heutigen Besucher sticht der Kontrast zwischen den Domkirchen der drei baltischen Hauptstädte sogleich ins Auge. Der Dom von Riga ist ein backsteingotischer Bau aus der Ritterordens- und Hansezeit, an dem noch Spuren der Romanik zu finden sind und an dem später Barock (Turmhelm und Ostgiebel) sowie selbst Jugendstil (Vestibül) ihre Spuren hinterlassen haben – man vergleiche demgegenüber Wilhelm Neumanns Zeichnung vom mutmaßlichen Aussehen des Doms bis 1547. Das Äußere einerseits und die barocke Innenausstattung andererseits stehen, nachdem die Bilderstürme der Reformationszeit, Brände und sonstige Zerstörungen die ursprüngliche Ausstattung vernichtet haben, in einem gewissen Gegensatz; ähnlich verhält es sich auch bei den meisten übrigen Kirchen der Stadt. Rigas Dom hat tiefgreifende Kontinuitätsbrüche erfahren – nicht nur durch den Übergang der Stadt zur Reformation 1522, sondern ebenso durch die von der deutschen Domgemeinde als Enteignung empfundenen Vorgänge der Zeit um 1930, als auf Drängen der Staatsregierung auch zwei lettische Gemeinden an seiner Nutzung teilhaben sollten. In der Sowjetzeit zum Konzertsaal erklärt, wirkt er heute wie ein Museum (bzw. hat sich im Bereich des Kreuzgangs auch faktisch zu einem solchen gewandelt) – erlebbar als trutzburgartiges Relikt einer verklärten, aber längst vergangenen Zeit, das zur Flucht aus dem Hier und Jetzt einlädt. Die Epitaphien deutscher Adliger und Bürger erscheinen in der Gegenwart Rigas und Lettlands wie Spuren einer anderen Welt in einer fremden Sprache.Gleichartiges gilt für die Domkirche auf dem Burgberg – bzw. Domberg – in Tallinn mit ihren mehr als 100 Wappenepitaphien und Familienstammbäumen aus Eichenholz, nur dass hier die Steine der Außenmauern unter einer weißen Verputzschicht verschwunden sind. Seit ihrer Einweihung 1240 gilt sie als Hauptkirche der Stadt. Die ursprüngliche Hallenkirche wurde später zur Basilika umgebaut; und im Zuge ihrer weitgehenden Neuerrichtung nach 1684 – in jenem Jahr hatte eine Feuersbrunst den Domberg verwüstet – veränderte sie sich abermals. Der barocke Turmhelm kam sogar erst 1779 hinzu. Die ehemals katholische, später lutherische Hauptkirche der deutschbaltischen Ritterschaft in Estland untersteht heute einem lutherischen estnischen Bischof; und ähnlich wie es inzwischen auch im Dom zu Riga wieder der Fall ist, finden regelmäßig Gottesdienste in ihr statt.

Paragraph 6 – Die Kathedrale von Vilnius

Eine ganz andere Wirkung geht von der Kathedrale von Vilnius aus: Der strahlend weiße klassizistische Bau mutet von außen wie ein antiker Tempel an. Der Glockenturm steht in einiger Entfernung und sieht wie ein Burgturm aus – denn sein unterer Teil ist in der Tat ein Überbleibsel der Befestigung der Unteren Burg. Insgesamt lässt die Anlage nicht mehr ohne weiteres erkennen, dass die Anfänge der Kathedrale bis ins 12. und 13. Jahrhundert zurückreichen, also in jene Epoche, in der auch die Domkirchen in Riga und Reval bzw. Tallinn entstanden. Ein Sturm beschädigte das Kirchengebäude 1769 so schwer, dass sich für Bischof Ignacy Massalski die Möglichkeit einer völligen Umgestaltung nach dem Vorbild des französischen Klassizismus ergab: Auf den Grundmauern der von Gotik, Renaissance und Barock geprägten Vorgängerbauten entstand ein Neubau, der ganz den Stilidealen des ausgehenden 18. Jahrhunderts folgte. Derart grundlegende Veränderungen blieben den Dombauten in Riga und Tallinn erspart; sie lassen ihre Herkunft aus der Zeit des Ordensstaates und der Hanse bis heute klar erkennen.Andererseits wirken, wenn man Vilnius mit Riga und Tallinn vergleicht, Großzügigkeit und Pracht vieler seiner Sakralbauten höchst beeindruckend – die Stadt war bis 1795 nun einmal die zweite Residenzstadt Polen-Litauens und eben nicht nur, so wie Riga und Reval/Tallinn, Provinzzentrum innerhalb größerer Herrschaftskomplexe. Krönungsfeiern für die Großfürsten von Litauen fanden hier statt; und im 17. Jahrhundert wurde die bis heute erhaltene barocke Grabkapelle des heiligen Kasimir, des litauischen Nationalheiligen, an die Kathedrale angefügt – eine Stätte, die durchaus an Gruftkapellen wie die des heiligen Veit in Prag oder die des letzten Burgunderherzogs Karl des Kühnen und seiner Tochter Maria in der Liebfrauenkirche zu Brügge erinnert. Kasimirkapelle und Kathedrale in Vilnius sind heute Symbole wiedergewonnener litauischer Unabhängigkeit und Identität; sie erinnern an eine große kirchliche und nationale Vergangenheit, wobei die Erinnerung stets auch den Deportierten der Sowjetzeit gilt, und sind zugleich Orte lebendiger religiöser Praxis.

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Paragraph 7 – Die Rathäuser in Riga und Tallinn

In den Rathäusern der mittelalterlichen Städte manifestiert sich augenfällig die Eigenständigkeit der Stadtbürger – nur einer Minderheit innerhalb der Gesamteinwohnerschaft – gegenüber dem geistlichen und/oder weltlichen Stadtherrn. Das Rathaus in Tallinn, vollendet 1404 unweit südlich der Wege zwischen Hafen und Burg, hat seine ursprüngliche gotische Gestalt behalten. Der kompakte Rathausplatz wirkt mittelalterlich, obwohl die ihn umgebenden Häuser großteils aus viel späterer Zeit stammen (annähernd so alt wie das Rathaus ist nur die Ratsapotheke). Er vermittelt einen ungleich „authentischeren“ Eindruck als der um das Jahr 2000 wiedererstandene Rathausplatz in Riga und erst recht als derjenige in Vilnius.Demgegenüber haben die Rathäuser in Riga und Vilnius ihre ursprüngliche Baugestalt gänzlich verloren. In beiden Fällen wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Stadtbränden klassizistische Bauten, die zum Gesamtbild der Städte zunächst wenig passten, auf den Fundamenten älterer Vorgängerbauten errichtet. Allerdings evoziert der Marktplatz in Riga, zu dem außer der (nicht mehr im Original erhaltenen, sondern zeitnahe zum Stadtjubiläum von 2001 rekonstruierten) Rathaus-Fassade auch die Rekonstruktion des weitaus prächtigeren und in seinen Grundzügen gotischen Schwarzhäupterhauses sowie die Nachbildung einer mittelalterlichen Rolandsfigur gehören, noch immer einen Hauch von Mittelalter. Dieser fehlt beim Rathaus in Vilnius ganz und gar; und das hat durchaus seinen Grund:

Das Stadtbürgertum in Riga und Reval unterschied sich merklich von demjenigen in Wilna/Vilnius. Es war einheitlich geprägt durch deutsche Kaufleute, die schon im frühen 13. Jahrhundert das gotländische Stadtrecht erhielten (in Riga später hamburgisches, ehe sich daraus ein eigenes rigisches Recht entwickelte; in Reval dagegen galt zur selben Zeit lübisches Recht). Ab Mitte des Jahrhunderts entstanden Kaufmannsgilden und Handwerkerzünfte; es folgte (für Riga nachweislich 1282) die Mitgliedschaft in der Hanse. Das Stadtbürgertum Rigas und Revals schuf sich also ganz ähnliche rechtliche Rahmenbedingungen, wie dies in den norddeutschen Hansestädten geschah, mit denen man in engem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch stand. Rathäuser und Kirchen, Bürger-, Gilde- und Zunfthäuser zeugen von einem selbstbewussten, wohlhabenden Bürgertum, das den Einfluss des Stadtherrn meist auf ein erträgliches Maß zu reduzieren wusste.

Paragraph 8 – Das Rathaus von Vilnius

In Vilnius lagen die Dinge vollends anders. In der Residenzstadt des zunächst noch heidnischen Großfürstentums Litauen blieb die Macht des Stadtherrn ungebrochen. Die Großfürsten selbst siedelten Kaufleute und Handwerker unterschiedlicher Herkunft – auch Deutsche – vor ihrer Burg an, um von deren Handel und Gewerbe zu profitieren; die Macht jedoch teilten sie allenfalls mit einem im Umfeld ihrer Residenz sehr präsenten Adel. Die Einwohnerschaft setzte sich vor allem aus Litauern und Polen zusammen, daneben aus Russen, Tataren sowie zunehmend aus Juden; sie war somit heterogener als in Riga und Reval/Tallinn. Erst 1387 verlieh Großfürst Jagiello – gleichzeitig mit der endgültigen Einführung des Christentums und der Personalunion mit Polen – das Magdeburger Stadtrecht, was ganz sicher ein Modernisierungsmoment bedeutete, aber noch immer nicht zu einer so konsequent bürgerlichen Stadtverfassung wie in Riga, Reval oder den deutschen Hanse- und Reichsstädten führte. Die Stadtverwaltung mit einem Vogt und einem Magistrat aus zwölf Bürgermeistern und 24 Ratsherren gemäß Magdeburger Stadtrecht war bezeichnenderweise nicht für die gesamte Stadt zuständig, sondern Teile des Stadtgebietes unterstanden weiterhin dem Burgvorsteher und dem Bischof; später schufen die Klöster weitere Jurisdiktionsbezirke mit Hilfe der Großfürsten. So vermochte sich ein starkes Bürgertum – und mit ihm Gebäude, die etwaige Stärke widerspiegeln – nicht herauszubilden. Nicht bürgerliche Bauwerke prägen deshalb das Stadtbild von Vilnius, sondern solche der Fürsten, der verschiedenen Orden und des Adels.Wilna/Vilnius erhielt erst um 1600 einen gotischen Rathausbau – Jahrhunderte nach Riga und Reval/Tallinn. Nach einem Brand Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Rathaus zunächst erneuert, dann jedoch, nachdem auch sein achteckiger Turm eingestürzt war, nach Plänen von Laurynas Stuoka-Gucevičius in streng klassizistischem Stil umgebaut – ähnlich wie die Kathedrale. Im 19. Jahrhundert wurde das Gebäude in ein Theater umgewandelt – ein geradezu symbolischer Nachklang der stetigen Schwäche des Wilnaer Stadtbürgertums sowie unmittelbarer Ausdruck des allgemeinen damaligen Niedergangs der Ratsgewalt unter russischer Herrschaft.

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Paragraph 9 – Die Petrikirche in Riga

Die bedeutendste und zugleich eindrucksvollste bürgerliche Pfarrkirche in Riga ist die 1209 erstmals erwähnte Petrikirche. In St. Petri fühlt man sich aufgrund der hohen gotischen Gewölbe sofort an die norddeutschen Backsteinkathedralen erinnert. Tatsächlich wurde diese Kirche nach dem Muster der Rostocker Marienkirche von den Rostockern Johann und Kersten Rumeschottel über einem älteren Vorgängerbau errichtet – Ausdruck des Selbstbewusstseins der wohlhabenden deutschen Bürgerschaft jener Zeit, das auch in einer Anzahl prächtiger Epitaphien für Bürgermeister und andere Honoratioren zutage tritt. Eine Seitenkapelle ist als Gedenkstätte für die Opfer der sowjetischen Okkupation hergerichtet. Die 1941 schwer beschädigte Kirche wurde wurde in den Nachkriegsjahrzehnten wiederhergestellt und seitdem für Konzerte, Ausstellungen usw. kulturell genutzt. Seit 1991 finden auch wieder Gottesdienste statt.

Paragraph 10 – Die protestantischen Bürgerkirchen Tallinns

Die eindrucksvollsten Pfarrkirchen in Tallinn sind St. Nikolai und St. Olai. Die Nikolaikirche, heute Museum, ist ein anschauliches Beispiel für den im Ostseeraum verbreiteten Typus der „Kaufmannskirche“ mit einem als Warenlager genutzten Dachstuhl und ausgeprägter Wehrfunktion – davon zeugen die kleinen, hohen Fenster, zugemauerte Schießscharten und der massive Turm. Bis zur Fertigstellung von Stadtmauern waren Wehrkirchen von zentraler Bedeutung für das Zurückschlagen möglicher Angreifer. Die Nikolaikirche wurde im 13. Jahrhundert durch deutsche Kaufleute aus Gotland als Hallenkirche errichtet und im 15. Jahrhundert – Raumbedarf und Wohlstand der Bürgerschaft waren inzwischen gestiegen – zu einer Basilika erweitert. Der heilige Nikolaus galt als der Schutzpatron der Seefahrer und Kaufleute.Die ursprüngliche Innenausstattung der Nikolaikirche fiel der Reformation, die spätere großteils dem sowjetischen Bombenangriff des Jahres 1944 zum Opfer. Zwei herausragende Kunstwerke haben sich jedoch erhalten: der 1479-1481 von Hermen Rode aus Lübeck im Auftrag der Großen Gilde und der Schwarzhäupterbruderschaft angefertigte Hauptaltar mit Szenen aus dem Leben des heiligen Nikolaus und des Märtyrerheiligen Viktor von Marseille; daneben der erste Teil eines Totentanzgemäldes von Bernt Notke, der ebenfalls in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Lübeck wirkte. Beide Kunstwerke sind repräsentativ für die religiöse Kultur der norddeutschen Hansestädte und Revals enge Verbindung zu ihnen.Die Olaikirche, benannt nach dem norwegischen König Olaf II. Haraldsson, der um 1000 das Christentum in Skandinavien förderte, wurde erstmals 1267 erwähnt – bzw. als Kapelle auch schon vor dem 13. Jahrhundert. Ihre Nähe zum Meer dürfte einer der Gründe für die enorme Höhe ihres Turmes sein, der so auch Schiffen als Wegweiser dienen konnte. Mit seinen damals 159 Metern war er bis 1620 für etliche Jahrzehnte das höchste Bauwerk der Welt. Die hohe Turmspitze zog allerdings auch Blitze an – mehrfach brannte die Kirche ab. Die Innenausstattung der im 15. Jahrhundert zur dreischiffigen Basilika ausgebauten Kirche wurde während des Bildersturms 1524 vernichtet. Zar Nikolaus I. ließ das 1820 letztmals abgebrannte Gotteshaus im neogotischen Stil erneuern; heute wird es von der Baptistengemeinde genutzt. Erhalten blieb über alle Widrigkeiten der Geschichte hinweg die 1513-1523 von dem Großkaufmann und damaligen Kirchenvorsteher Hans Pawels errichtete Marienkapelle mit dessen Grabmal, einer bedeutenden Steinskulptur: In diesem Teil der Olaikirche vermittelt sich dem Besucher bis heute der Eindruck, an einem „authentischen“ historischen Ort zu sein.

Paragraph 11 – Die Heiliggeistkirche in Tallinn

Neben den beiden großen Pfarrkirchen Tallinns gab es kleinere Kirchen, die bei wohltätigen Einrichtungen erbaut wurden. Die bedeutendste von ihnen ist die Heiliggeistkirche, die sich in Marktnähe und unmittelbar neben dem Heiliggeist-Armenspital befand. Die 1319 erstmals urkundlich erwähnte Kirche bekam noch im 14. Jahrhundert ihre endgültige zweischiffige Gestalt. Damit ist sie die älteste in ihrer Ursprungsform erhaltene Kirche der Stadt. Bald nach der Reformation wurde sie einer estnischen Gemeinde übergeben, deren Pastor Johann Koell einen niederdeutschen Katechismus ins Estnische übersetzte. Bei diesem handelt es sich um das älteste erhaltene Buch in estnischer Sprache, gedruckt in Wittenberg 1535. Die äußerlich bescheidene Kirche mit gotischem Treppengiebel und Turmaufsatz im Spätrenaissancestil (möglicherweise nach Vorbildern aus Visby auf Gotland, wenn nicht sogar aus dem Rheinland) enthält einen wertvollen Flügelaltar von 1483, den der Magistrat bei dem Lübecker Meister Bernt Notke in Auftrag gegeben hatte: Der Magistrat nutzte die Heiliggeistkirche für feierliche Gottesdienste und öffentliche Versammlungen. Der Altar stellt in seinem Mittelteil die Ausgießung des Heiligen Geistes auf Maria und die

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Apostel dar, dem Patronat der Kirche entsprechend, und thematisiert ansonsten vor allem Szenen aus dem Leben der heiligen Elisabeth als Muster barmherziger Nächstenliebe. Auch Hinweise auf Zeitgeschichtliches gibt es: Man sieht die Fahne der britischen Marine und Gedenktafeln für die im estnischen Unabhängigkeitskrieg 1918/19 gefallenen britischen Offiziere, Seeleute und Flieger. Die heutige evangelische Gemeinde umfasst etwa 600 Mitglieder.In den meisten genannten Kirchen Rigas und Tallinns herrscht inzwischen ebenso wie in den Domkirchen der Eindruck von Musealität vor. Konzerte (keineswegs nur mit Kirchenmusik), Ausstellungen und andere kulturelle Nutzungen bewirken eine weniger sakrale denn kulturelle Atmosphäre, soweit Gottesdienste überhaupt noch stattfinden.

Paragraph 12 – Die Jakobikirche in Riga

Eine Ausnahme macht die Jakobikirche in Riga, die 1225 erstmals erwähnt wurde. Damals noch außerhalb der Stadtmauer gelegen, war sie anfangs den fremden, nicht in Riga sesshaften Kaufleuten zugedacht. Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert wurde sie zu einer dreischiffigen Basilika ausgebaut. Für Rigas Bürger konnte sie Ausgangspunkt einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela sein. Der achtzig Meter hohe Turm hat von allen Kirchtürmen der Rigaer Altstadt am besten seinen gotischen Charakter bewahrt, wenngleich selbst bei ihm die heutige Form des Helms erst von 1756 datiert. Die Jakobikirche war (nach der Petrikirche) die zweite Kirche in Riga, in der reformatorisch gepredigt wurde, und die erste, in der dies auf Lettisch geschah. Unter polnischer Herrschaft (1582-1621) unterstand sie den Jesuiten; unter den Schweden wurde sie dann wieder lutherisch und als Pfarrkirche vor allem der schwedischen Beamten und der Garnison genutzt. Die 1918 proklamierte unabhängige Republik Lettland, die auf die katholische Bevölkerung im Osten ihres Staatsgebietes, dem Landesteil Lettgallen, Rücksicht zu nehmen hatte, übergab die Jakobikirche wiederum den Katholiken und ließ sie 1923 zur Kathedralkirche des wiedererrichteten Erzbistums Riga werden. Bei dieser Funktion ist es bis auf den heutigen Tag geblieben; und entsprechend empfindet man in ihrem Inneren eine sakralere Atmosphäre als in den anderen Altstadtkirchen.

Paragraph 13 – Einstige Klosterkirchen in Riga und Tallinn

In Riga gab es im Mittelalter mehrere Ordens- bzw. Klosterkirchen, ebenso im damaligen Reval. Zu besichtigen ist in Riga die Johanniskirche – nach Zerstörungen und Wiederaufbau heute ein Bauwerk im spätgotischen Stil der Zeit um 1500. Die Kirche war aus einer 1234 den Dominikanern überlassenen ursprünglich bischöflichen Kapelle hervorgegangen und wurde 1582 an eine protestantische lettische Gemeinde übertragen. In Tallinn findet man noch die heute für kulturelle Zwecke genutzte Katharinenkirche, ehemals Kirche der seit 1229 auch in Tallinn bzw. dem damaligen Reval ansässig gewesenen Dominikaner, die während der Reformation vertrieben wurden. Mehrere Kilometer von der Altstadt entfernt ist außerdem die Ruine des Birgittenklosters erhalten, zu dessen weitgehender Zerstörung es 1577 bei der Belagerung der Stadt durch Iwan den Schrecklichen kam.Der Komplex des ehemaligen Dominikanerklosters wurde in Reval/Tallinn während des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt für die Bildung einer kleinen katholischen Gemeinde, die unter Förderung der zaristischen Obrigkeit neben der säkularisierten Katharinenkirche einen neuen schlichten Kirchenbau errichten konnte, die Peter-und-Paulskirche (1844). Die russische Regierung förderte in Reval/Tallinn wie in Riga die Wiederbelebung katholischer Gemeinden, um den religiösen Bedürfnissen zuziehender Katholiken zu entsprechen, aber auch, um das Übergewicht der protestantisch geprägten deutschen Oberschicht zu relativieren.

Paragraph 14 – Ordensgemeinschaften in Vilnius

Den bescheidenen heute noch sichtbaren Überresten katholischen Klosterlebens in Tallinn und Riga steht in Vilnius eine regelrechte Vielzahl nicht nur erhaltener, sondern mitunter sogar eindrucksvoll restaurierter Klosterkirchen gegenüber, deren Zweckentfremdung während der sowjetischen Okkupationszeit inzwischen großteils rückgängig gemacht worden ist. Viele dieser Kirchen dienen heute wieder dem Gottesdienst; Geistliche und Nonnen gehören zum Straßenbild, völlig anders als in Riga und Tallinn. Die – teilweise schon von Gediminas, dem noch heidnischen Stammvater des Großfürstengeschlechts der Gediminiden, bis Mitte des 14. Jahrhunderts in Vilnius angesiedelten – Ordensgemeinschaften umfassen das ganze Spektrum von den Benediktinern und Augustinern über die Franziskaner und Dominikaner bis hin zu den beschuhten und

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unbeschuhten Karmeliten und Karmelitinnen. Offenbar erwiesen die Ordensgemeinschaften sich als willkommene Stützen der fürstlichen Herrschaft über Stadt und Land; ihre Kirchen stehen geradezu im Kontrast zu den backsteingotischen Bürgerkirchen weiter im Norden des Baltikums. So hatte auch die von städtischem Unabhängigkeitsstreben getragene protestantische Bewegung in Vilnius, ganz anders als in Riga und Reval/Tallinn, keine dauerhafte Chance. Nach ersten Anfängen in einer Phase konfessioneller Toleranz während des 16. Jahrhunderts wurde sie durch die Gegenreformation unterdrückt – ähnlich wie in Polen. Die Großfürsten, die zugleich Könige von Polen waren, holten die Jesuiten nach Vilnius und vertrauten ihnen die Gründung der späteren Universität an (1579). So bedeutete die Reformationszeit in Vilnius keine Schwächung der Orden wie in Riga und Reval/Tallinn, sondern eine Stärkung – mit augenfälligen Folgen für das heutige Stadtbild. Die Mehrzahl der Ordenskirchen wurde im 17. und 18. Jahrhundert nach Bränden und Sturmkatastrophen im Renaissance-, Barock- oder klassizistischen Stil erneuert, daher das südliche Flair von Vilnius im Gegensatz zu Riga und Tallinn. Zur katholischen Nationalidentität der Litauer tragen sie bis heute symbolträchtig bei.

Paragraph 15 – Katholische Klosterkirchen in Vilnius

Eine Aufzählung der so zahlreichen Ordenskirchen ließe sich mit der Mariä-Himmelfahrtskirche der Franziskaner und der Heiliggeistkirche der Dominikaner beginnen – beide Orden kamen schon unter Großfürst Gediminas (gest. 1341) nach Vilnius. Die Franziskanerkirche hat ihren gotischen Charakter trotz einiger barocker Zusätze bis heute bewahrt, während die Dominikanerkirche in hochbarocker Zeit gänzlich umgestaltet wurde und heute der polnischen Minderheit in Vilnius als Gemeindekirche dient. Des Weiteren hervorzuheben sind die Bernhardinerkirche der Franziskaner-Observanten (gotisch mit Renaissance- und Barockergänzungen), die Bernhardinerinnenkirche St. Michael – ein Renaissance-Bauwerk mit zahlreichen Sarkophagen der litauischen Hochadelsfamilie Sapieha –, die frühbarocken Ordenskirchen der Jesuiten (St. Kasimir) und der beschuhten und unbeschuhten Karmeliten (Allerheiligen bzw. St. Theresa). Sehenswert sind auch die inzwischen restaurierten Kirchen der Lateranischen Kanoniker (St. Peter und Paul im Vorort Antakalnis , das herausragendste barocke Baudenkmal in Vilnius, gestiftet von der Adelsfamilie Pac nach der Befreiung der Stadt von mehrjähriger russischer Belagerung und Besatzung 1655-1661), der Pauliner-Missionare (Christi-Himmelfahrtskirche) und der Trinitarier (Christkönig).Wie erklärt sich diese Prachtentfaltung barocken Kirchenbaus in Vilnius gerade in den Jahrhunderten des schrittweisen politischen Abstiegs der alten litauischen Residenzstadt zugunsten der polnischen Konkurrenzstädte Krakau, Warschau, Lemberg? Entscheidend hierfür ist das Mäzenatentum des wieder katholisch gewordenen Hochadels der Radziwill, Pac, Sapieha, Chodkiewicz und anderer, die Litauen als polnisches Nebenland regierten und verwalteten. Dieses Mäzenatentum hat der Stadt ihr heutiges Gesicht gegeben; denn während des 17. und 18. Jahrhunderts wurde Vilnius in weitaus stärkerem Maße als Riga und Tallinn durch Kriege, Stürme und Brände in Mitleidenschaft gezogen, so dass vieles von Neuem errichtet werden musste. Die russische Herrschaft ab 1795 beendete die Blütezeit des katholischen Kirchenbaus. Die Barockkirchen wurden in ihrer stadtbildbestimmenden Wirkung nicht mehr durch neuere Sakral- oder sonstige Architektur verdrängt, sondern überstanden – manche zu russisch-orthodoxen Kirchen umgewidmet – die russische und selbst die sowjetische Zeit. Enteignungen von Kirchen und Klöstern, die in der Sowjetzeit zugunsten weltlicher Nutzungen vollzogen wurden, sind inzwischen weitgehend rückgängig gemacht; lange überfällige Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten haben zu erfreulichen Resultaten geführt. So bietet sich in Vilnius bis heute das Bild einer von ihren unzähligen katholischen Kirchen geprägten Barockstadt, ein Bild, das in einer dem Touristen sofort ins Auge stechenden Weise mit Riga und Tallinn kontrastiert und eben nur historisch erklärt werden kann.

Paragraph 16 – Weitere Klosterkirchen in Vilnius

Der Barock in Vilnius ist ein komplexes, chronologisch wie thematisch reich differenziertes Phänomen, handelt es sich bei den barock gestalteten Kirchenbauten der Stadt doch keineswegs ausschließlich um katholische. Beispiele hierfür sind Dreifaltigkeitskirche und Kloster der unierten Basilianermönche oder auch die russisch-orthodoxe Klosterkirche zum Heiligen Geist in der südlichen Altstadt. Das Nebeneinander der beiden Barockkomplexe verweist auf die bis heute nachwirkende Multikonfessionalität des alten Großfürstentums Litauen: Das Großfürstentum umfasste im heutigen Weißrussland und der Ukraine weite Gebiete mit orthodoxer Konfession, die zum römischen Katholizismus des litauischen Kerngebietes in einem gewissen Gegensatz standen, wobei die Großfürsten mehrfach auch Prinzessinnen orthodoxen

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Bekenntnisses heirateten. Im Zuge der Gegenreformation kam es aus politischen Gründen zu dem Versuch, im gesamten Herrschaftsbereich der litauischen Großfürsten die Kirchenspaltung von 1054 rückgängig zu machen. Den Orthodoxen wurden einige Konzessionen gemacht; dafür erkannten sie den Primat des Papstes an (1596 Union von Brest). Aber nur ein Teil der Orthodoxen ging darauf ein (die so genannten Unierten); andere erhoben sich dagegen.Das Basilianerkloster wurde nach schwerer Beschädigung durch die Stadtbrände von 1748 und 1760 von dem deutschen lutherischen Architekten Johann Christoph Glaubitz im Stile des Barock erneuert, ebenso wie das benachbarte russisch-orthodoxe Kloster zum Heiligen Geist, dessen Kirche als Litauens einzige russisch-orthodoxe Barockkirche gelten kann. Die übrigen russisch-orthodoxen Kirchen folgten den für orthodoxe Kirchenbauten zumeist angewandten byzantinischen Bauprinzipien. Um 1600 gab es in Vilnius zwölf orthodoxe Pfarreien. Ihre Zahl wuchs weiter an, seit 1795 mit der Annexion durch Russland die unangefochtene Stellung des Katholizismus gebrochen worden war. – Interessant ist in diesem Zusammenhang die Art der Aufzählung der Sakralbauten in einem Lexikonartikel über Wilna/Vilnius aus dem späten 19. Jahrhundert.

Paragraph 17 – Sonstige prägnante Kirchen in Vilnius

Glaubitz barockisierte auch die lutherische Kirche in Vilnius. Bei deren Nutzern handelte es sich vor allem um zugezogene deutsche Kaufleute aus den Hansestädten an der Ostsee, die sich wie ihre dortigen Standesgenossen dem Protestantismus zugewandt hatten. Protestantische Kirchen waren tatsächliche Bürgerkirchen – deren Anteil am Stadtbild von Vilnius neben den zahlreichen prächtigen Ordenskirchen ungleich bescheidener ausfällt als im Vergleich dazu in Riga und Tallinn. Auch in Vilnius gibt es nichtsdestotrotz zwei eindrucksvolle Bürgerkirchen im backsteingotischen Stil: St. Nikolaus aus dem 14. und St. Anna aus dem späten 15. Jahrhundert, die eine ein schlichtes Bauwerk, die andere ein Meisterwerk des spätgotischen Flamboyantstils mit Fassadenschmuck in 33 Ziegelformen. Beide Kirchen überstanden die Jahrhunderte nahezu unzerstört und erinnern daran, dass Vilnius eine durch und durch gotische Stadt gewesen war, bevor sich im Gefolge der Katastrophen vor allem des 17. Jahrhunderts der Barock als dominante Stilrichtung durchsetzen konnte. Die Annenkirche wurde 1501 erstmals erwähnt und nach Bränden schließlich 1581 so hergerichtet, wie es ihrem heutigen Erscheinungsbild entspricht (deutlich jüngeren Datums ist nur der Glockenturm). Die geringen Ausmaße des Gotteshauses erlaubten einerseits den Verzicht auf massive Wände und andererseits eine einzigartige Giebel- und Fassadenkonstruktion – von seiner Gesamtkomposition her ähnelt es ein wenig einem Heiligenschrein.

Paragraph 18 – Weltliche Bürgerbauten in Riga und Tallinn

Zu ähnlichen Erkenntnissen und Ergebnissen führt das Betrachten weltlicher Bauten – auch hier zeigt sich der Gegensatz der „Bürgerstädte“ Riga und Tallinn zur Residenz-, Kirchen- und Adelsstadt Vilnius. Die Liste der Gilde- und Bürgerhäuser in Riga und Tallinn ist lang; sie prägen dort – teils aufwändig restauriert – immer noch ganze Straßenzüge und verleihen diesen ein durchaus hansestädtisches Aussehen – am stärksten in Tallinn, wo der Wirtschaftsaufschwung des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht ganz so viele Veränderungen nach sich zog wie im Vergleich dazu in Riga, mit dessen Bausubstanz seinerzeit weniger schonend umgegangen wurde. Kontraste gegenüber den Altstadtstraßen in Vilnius jedenfalls sind unverkennbar, Unterschiede bezüglich der stadtinternen Machtverteilung dementsprechend erahnbar – man könnte geneigt sein, von Stein gewordener Sozialstruktur zu sprechen.

Paragraph 19 – Rigas Schwarzhäupterhaus

In Riga gehören für den historisch interessierten Touristen das rekonstruierte Schwarzhäupterhaus am Rathausplatz, die einander benachbarten Gebäude von Großer und Kleiner Gilde sowie einige Häuser in der südlichen Hälfte der Altstadt zum Pflichtprogramm. Die „Compagnie der Schwarzen Häupter“ ging aus der Ende des 13. Jahrhunderts gegründeten Bruderschaft des Hl. Georg hervor. Sie vereinigte junge und unverheiratete Kaufleute von auswärts, die ohne Bürgerrecht für eine gewisse Zeit in Riga lebten. Ihr Schutzpatron war der römisch-afrikanische Soldatenmärtyrer Mauritius, dessen Symbol, der Mohrenkopf, in das (an der Fassade heute noch sichtbare) Wappen der Schwarzhäupter eingegangen ist. Das 1334 erstmals erwähnte Schwarzhäupterhaus, ursprünglich ein Versammlungshaus der Bürger, das der Stadtrat den Schwarzhäuptern vermietete, wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und 1948 auf Anordnung

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der Sowjetadministration gesprengt, ab 1996 jedoch vollständig rekonstruiert – unübersehbar ein Versuch des Ausdrucks einer Rückkehr Rigas nach Europa.

Paragraph 20 – Rigas Große und Kleine Gilde

Gilden als Bürger-Genossenschaften mit wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen wurden in Riga seit dem 13. Jahrhundert gegründet. Die Kaufmannschaft organisierte sich 1354 in einer eigenen „Großen Gilde“, der angesichts der Einträglichkeit des Handels erhebliches politisches Gewicht zufiel. Ort der Repräsentation des damit verbundenen Selbstbewusstseins war ihr Versammlungshaus. Dessen mittelalterlicher Festsaal, die so genannte Münsterstube, ist im Inneren des heutigen, inzwischen als Philharmonie genutzten Gebäudes (welches ihn mit seiner neogotischen Fassade aus den Jahren 1854-1859 gleichsam ummantelt) noch immer erhalten. Die benachbarte Kleine Gilde war der Versammlungsort der Handwerker; in seiner heutigen Form entstand das Gebäude (ebenfalls im Stil der Neogotik – und hierbei vor allem englischen Vorbildern folgend) 1864 an der Stelle des ursprünglichen Baus. Wappen und andere Ausstattungselemente erinnern in ihm an die historischen Beziehungen zu den deutschen Hansestädten.

Paragraph 21 – Sonstige Bürgerbauten in Riga und Tallinn

Der Gebäudekomplex der „Drei Brüder“ in der Nähe der Jakobikirche veranschaulicht die Entwicklung des Rigaer Bürgerhauses vom 15. bis zum 17. Jahrhundert bzw. von der Gotik bis zum Barock. Die vergleichsweise schmalen Gebäude drängen sich mit der Giebelfront zur Straße dicht aneinander. Ähnlich sahen einmal die meisten Straßen der Altstadt aus – weshalb es sehr durchdacht und sinnvoll erscheint, dass heute das Architekturmuseum hier untergebracht ist (auch wenn dieses sich schwerpunktmäßig jüngeren Zeitabschnitten zuwendet).In Tallinn ist die Anzahl erhaltener Bürgerbauten aus hansestädtischer Zeit und Früher Neuzeit deutlich größer als in Riga; sie dominieren dort ganze Altstadtviertel, vor allem an den beiden Hauptstraßen der Unterstadt, Pikk und Lai. Besonders hervorzuheben sind das Schwarzhäupterhaus, die Häuser der Großen, der St.-Knuts- (estn. Kanuti-) und der St.-Olai-Gilde sowie die nahe der Nordspitze der Altstadt gelegene Häusergruppe der „Drei Schwestern“. Die Palais der Ritterschaft sowie der bedeutendsten der in ihr vertreten gewesenen Adelsgeschlechter konzentrieren sich auf dem Domberg. Ihr zumeist klassizistisches Äußeres wirkt repräsentativ – und doch etwas schlichter als das der Adelspalais in Vilnius.

Paragraph 22 – Bürgerhäuser und Adelspalais in Vilnius

Die Bürgerhäuser in Vilnius verschaffen sich im Stadtbild neben den Kirchen, Klöstern und Adelspalästen nur wenig Geltung. Den erwähnten Kriegs- und anderweitigen Zerstörungen fielen die allermeisten älteren dieser Häuser vollständig zum Opfer; die jüngeren orientieren sich am herrschaftlichen Stil der Adelspalais, demonstrieren also – vergleicht man wiederum mit Riga und Tallinn – wenig Eigenständigkeit. An den Adelspalästen selbst zeigen sich Formen des Barock und Klassizismus nach französischem ebenso wie nach süddeutsch-österreichischem oder nach polnischem Vorbild. Alle großen Adelsfamilien Litauens haben so bis in die Gegenwart ihre architektonischen Spuren in Vilnius hinterlassen – stattliche Gebäude, die heute politischen, administrativen, wissenschaftlichen und kulturellen Zwecken dienen.

Paragraph 23 – Stadtbefestigungen

Als eine Sonderform der Bürgerbauten könnte man Stadtbefestigungen einstufen – Mauern, Türme und sonstige Wehranlagen. Auf den wehrhaften Charakter, der daneben auch manch anderem Gebäude Rigas und Tallinns anhaftet, wurde bereits hingewiesen. Die Fähigkeit, sich gegen Angriffe von außen verteidigen zu können, war für die Erhaltung städtischer Freiheit von elementarer Bedeutung.Die mittelalterliche Stadtmauer ist am besten in Tallinn erhalten; drei Viertel des ursprünglichen Mauerrings sowie die meisten der einstigen Wehrtürme stehen noch – eine Folge nicht nur der gebremsten wirtschaftlichen Dynamik der Stadt, sondern auch klugen Taktierens in Zeiten der Belagerung. In Riga führte der etwas frühere und kraftvollere Wirtschaftsaufschwung zu Beginn des Industrialisierungszeitalters zur fast vollständigen Beseitigung nicht nur der mittelalterlichen Stadtmauer, sondern auch der von den Polen, Schweden und Russen angelegten Festungsanlagen davor, die um 1860, bald nach dem Krimkrieg also, durch einen damals wie heute allseits beliebten Promenadenring abgelöst wurden – eine von den

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Zeitgenossen mit Euphorie gefeierte Veränderung, wie etwa die Erinnerungen des Bürgermeisters Bernhard Hollander zeigen. Vilnius erhielt erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts (aus Sorge vor Angriffen von Tataren) einen Mauerring; 1522 vollendet, hatte er eine Gesamtlänge von drei Kilometern. Heute sind nur noch das Medininkai-Tor, auch „Tor der Morgenröte“ genannt, und einzelne Abschnitte der Mauer erhalten; denn bis auf diese geringfügigen Reste wurde sie um 1800 auf Befehl der russischen Regierung abgerissen.

Paragraph 24 – Die Universität Vilnius

Die Universität in Vilnius, gegründet 1579 als Jesuitenkolleg und insoweit gewissermaßen die erste Universität im Baltikum, wurde schnell zum intellektuellen Zentrum Litauens und hat diesen Status bis heute bewahrt. Von Bedeutung war sie für das gesamte damals so vielsprachige Großfürstentum und – als östlichste Wissenschaftsbastion – für das katholische Europa überhaupt. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens vergingen nur wenige Jahrzehnte, bis im Zuge der Bildungsreformen Zar Alexanders I. eine Neugründung als staatliche Universität des Russischen Reiches möglich wurde. In dieser Eigenschaft existierte sie allerdings nicht lange; denn nach dem polnischen Aufstand des Jahres 1830 standen die, die an ihr lehrten und studierten, politisch unter Generalverdacht; logische Konsequenz war die Schließung der Universität. 1919 wurde der Universitätsbetrieb wieder aufgenommen; doch weil Vilnius von 1919/20 bis 1939 in polnischer Hand war, konnte seine Universität erst nach 1945 zu einer rein litauischen werden. Als Folge der politischen Umstände während der Zwischenkriegszeit besitzt Litauen nunmehr sowohl in seiner damaligen Ersatzhauptstadt Kaunas als auch in Vilnius jeweils eine Universität von respektabler Größe.

Paragraph 25 – Die Rigaer und die Tallinner Universität im Vergleich zu der von Vilnius

Mit dem Glanz der Universität in Vilnius können die Universitäten in Riga und Tallinn sich nicht messen. Die bei weitem wichtigere der beiden Universitäten im heutigen Estland ist Tartu (Dorpat) – gegründet 1632 von den Schweden. Kaufleute wie diejenigen in Riga und dem damaligen Reval scheuten die Kostenrisiken, die sich mit einer Universitätsgründung verbanden; Desinteresse hieran bestand ganz ähnlich ja auch in den allermeisten Hansestädten in Deutschland. Universitätsgründungen waren in Spätmittelalter und Frühneuzeit primär eine Sache der Fürsten, die in ihren sich stabilisierenden Territorien akademisch ausgebildete Juristen, Theologen und Mediziner brauchten, wohingegen das Interesse des Wirtschaftsbürgertums am Hochschulwesen erst mit der Aufwertung technischer Wissenschaften im Zuge der Industrialisierung stieg. Das in genau diesem Geiste 1862 errichtete Rigaer Polytechnikum wurde nach dem Ersten Weltkrieg, als das inzwischen unabhängige Lettland eine eigene Universität benötigte, zum Kern ebendieser Staatlichen Universität Lettlands in Riga. Die heutige Universität Tallinn wiederum entstand erst in nachsowjetischer Zeit durch entsprechende Umwandlung einer vormaligen Pädagogischen Hochschule.Nur in Vilnius befindet die Universität sich inmitten altstädtischer Umgebung: Gerade auch unter diesem Blickwinkel sind die heutigen Universitäten in Riga und Tallinn mit derjenigen in Vilnius in keinster Weise vergleichbar – ein weiterer Aspekt des Gegensatzes von Bürger- und Residenzstadt. Die Universitätsbauten in Vilnius liegen geschlossen um zwölf malerische Innenhöfe gruppiert. Am größten dieser Höfe setzt die imposante Johanniskirche einen unübersehbaren Akzent; ihr Turm gehört unverkennbar zur Silhouette der Stadt. Die ursprünglich gotische Kirche wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von Johann Christoph Glaubitz in spätbarockem Stil umgebaut.

Kapitel 3 – Die russische Epoche (1710/95-1918)

Estland und Livland gerieten unter ganz anderen Voraussetzungen in den Herrschaftsbereich Russlands als zu späterer Zeit Litauen sowie Kurland – und Kurland dabei auch wiederum unter anderen Vorzeichen als Litauen. Estland und Livland mit Reval und Riga fielen 1710/21 an das Zarenreich, nachdem sie vorher eineinhalb Jahrhunderte (soweit es das mit der Nordhälfte des heutigen Staates Estland identische damalige Estland betrifft) bzw. ein Dreivierteljahrhundert unter der Oberhoheit Schwedens gestanden hatten – ein Herrschaftswechsel als Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen zwei landfremden Großmächten also. Vilnius geriet erst 1795 unter russische Herrschaft, im Zuge der dritten Teilung Polen-Litauens, eines zuvor selbständigen Staatswesens mit eigener Großmachtvergangenheit. Die erheblichen Unterschiede zwischen dem nördlichen und dem südlichen Baltikum, die sich aus der Geschichte ergaben, schwächten sich nach

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der Eingliederung in das Zarenreich allmählich ab – wenn auch zunächst nur langsam. Ohne Zweifel aber kamen die Abläufe von damals einer Weichenstellung gleich: Die baltischen Völker wurden im russischen Herrschaftsbereich in eine historische Schicksalsgemeinschaft gezwungen, die bis heute nachwirkt.

Paragraph 1 – Privilegien und deren Abbau im nördlichen Baltikum, Repression in Litauen

Die nunmehrigen „Ostseeprovinzen“ Liv-, Est- und (ab 1795) Kurland nahmen innerhalb des Zarenreiches eine eigentümliche Sonderstellung ein. Einerseits hatten sie flächen- und bevölkerungsmäßig nur minimales Gewicht und lagen an der westlichen Peripherie; andererseits aber befanden sie sich durch ihre Lage an der Ostsee in einer zentralen Position für den Handel zwischen Europa und Russland. Vor allem hatten sie wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell ein Niveau erreicht, das den russischen Durchschnitt bei weitem übertraf. Die Zarinnen und Zaren suchten davon zunächst friedliebend im Interesse des Gesamtreiches zu profitieren und griffen möglichst wenig in die tradierten Verhältnisse der neuerworbenen Provinzen ein. So konnten die Deutschbalten gerade auch in Riga und Reval ihre Vorrechte zunächst behaupten oder gewannen diese, wenn es einmal – wie unter Katharina der Großen – zu Schmälerungen dieser Rechte gekommen war, rasch wieder zurück. Je mehr jedoch während des 19. Jahrhunderts Russland gegenüber West- und Mitteleuropa, die sich politisch seit der Französischen und wirtschaftlich seit der Industriellen Revolution immer schneller entwickelten, in Modernisierungsrückstand geriet und je mehr gleichzeitig die Völker des Baltikums ein nationales Erwachen (verbunden beispielsweise mit der bewussten Entdeckung ihrer Sprachen) durchlebten, desto mehr sah die russische Regierung sich veranlasst, eine rigide Russifizierungspolitik in Gang zu setzen. Regelrechte Repressionsmaßnahmen trafen unterdessen Litauen und Wilna: Dass man sich dort an den großen polnischen Aufstandsbewegungen des 19. Jahrhunderts beteiligt hatte, resultierte nach 1830 in der Schließung der Universität und nach 1863 darin, dass für vier Jahrzehnte jedwedes Drucken litauischer Texte in lateinischen Lettern verboten war. Das Gefängnis für die damals verhafteten Intellektuellen kann man noch heute im Basilianerkloster besichtigen. Vor diesem Hintergrund mag die Beteiligung der Polen und Letten (sowie etwas abgeschwächt auch der Litauer und Esten) an der Revolution von 1905 ebenso wenig überraschen wie das Bemühen der Völker des Baltikums um Selbständigkeit, als deutsche Truppen während des Ersten Weltkriegs die Russen zum Rückzug zwangen. Die Deutschen eröffneten Verhandlungen mit dem Ziel, den Polen wie auch den Litauern Staatsgründungen zu ermöglichen, wobei im Falle Litauens zunächst an eine enge Anbindung an Deutschland und an einen deutschstämmigen Monarchen gedacht war. Die Epoche russischer Herrschaft im Baltikum hatte damit nach fast zwei Jahrhunderten ihr Ende gefunden.

Paragraph 2 – Kirchenbauten aus der Zarenzeit

Die Bauzeugnisse dieser Epoche sind in den Stadtbildern der drei Metropolen bis heute präsent – am deutlichsten in Gestalt der seinerzeit errichteten russisch-orthodoxen Kirchen. In Riga gehört dazu vor allem die am repräsentativen Freiheitsboulevard gelegene fünfkupplige Christi-Geburt-Kathedrale im byzantinischen Stil mit ihrem kuppelgekrönten Glockenturm über dem Hauptportal (1876-1884 nach einem Entwurf von Robert Pflug errichtet), in Tallinn die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale, die seit 1900 weithin sichtbar im Bereich der mittelalterlichen Burg auf dem Domberg steht. In Vilnius wurden orthodoxe Kirchen von ansehnlicher Größe bereits lange vor der russischen Herrschaft errichtet, nämlich im Zusammenhang damit, dass die Ehefrauen litauischer Großfürsten nicht selten aus orthodoxen Fürstentümern stammten. Als Beispiel wären Kirche und Kloster zum Heiligen Geist zu nennen; die Kirche wurde ihrer Barockisierung durch Johann Christoph Glaubitz wegen bereits erwähnt (vgl. Kapitel 2, Paragraph 16). Unter der russischen Herrschaft ab 1795 erfuhr der orthodoxe Kirchenbau in Vilnius eine erhebliche Ausweitung. Die orthodoxen Sakralbauten standen keineswegs nur im Dienste der Religionsausübung der orthodoxen Gläubigen, deren Zahl sich unter der neuen Herrschaft mehrte, sondern stellten darüber hinaus ebenso sehr Symbole der Macht des Zaren dar. Die große Mehrheit der Bevölkerung bestand in Reval und Riga nun einmal aus Protestanten (Deutsche, Esten, Letten) und in Wilna/Vilnius aus Katholiken (Polen, Litauer) respektive Unierten (vornehmlich Weißrussen und Ukrainer); der Zar aber war offizielles Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Deren Sakralbauten verkörperten im Baltikum insofern nie nur ein architektonisches, sondern versinnbildlichten stets auch ein politisches Gegengewicht.In der Sowjetzeit unterschied die Vernachlässigung der russisch-orthodoxen Kirchenbauten sich vom Ausmaß her kaum von der der übrigen; nach der Wende von 1991 gehörten sie jedoch zu den ersten, an denen umfassende Restaurierungen vorgenommen wurden.

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Paragraph 3 – Weltliche Bauwerke aus der Zarenzeit

Die russische Epoche hinterließ neben den Kirchen freilich auch weltliche Bauwerke. Zu den markantesten zählen die Bauten im Burgkomplex von Tallinn aus der Zeit Katharinas der Großen sowie Schloss Katharinental (estn. Kadriorg) vor den Toren der Stadt, in Riga das russische sowie das (später zur Nationaloper Lettlands umfunktionierte) deutsche Theater, in Vilnius der Justizpalast.Ein in der Welt einmaliges Architekturerbe, das ebenfalls der Zarenzeit zuzurechnen ist, hat sich in Riga in Gestalt der Jugendstilbauten des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erhalten. Die betreffenden Häuser sind über die ganze Stadt verstreut, ballen sich jedoch vor allem in einem Viertel nordöstlich der Altstadt (unter anderem an Schützen-, Albert- und Elisabethstraße) zu ganzen Straßenzügen. Klassizismus, Historismus und Jugendstil gehen an manchen dieser Bauten originelle Symbiosen ein. Alle zeugen sie vom Reichtum deutscher und russischer sowie zunehmend auch lettischer Großhändler, Bankiers und Industrieller; denn die Wirtschaft boomte während der ersten russischen Industrialisierungsphase kaum irgendwo derart wie in Riga. In repräsentativer Bautätigkeit feierte hier ein wohlhabendes Bürgertum sich selbst. Michail Eisenstein, Nachkomme eines nach St. Petersburg ausgewanderten deutschen Juden (und Vater des berühmten sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein), war ein maßgeblicher Architekt des Jugendstils in Riga. Viele der Bauten sind restauriert, mindestens ebenso viele noch nicht. Ihr Entstehungszeitraum kurz vor der Kriegs- und Revolutionsepoche 1904-1920 löst beim historisch Interessierten Nachdenklichkeit aus – künden sie doch vielleicht nur vom Glanz eines bourgeoisen Tanzes auf dem Vulkan. Andererseits gehören historistische Architektur und Jugendstil europaweit zu den Charakterzügen der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg, mit der sich heute auch in Westeuropa eine modisch gewordene nostalgische Erinnerung an die vermeintlich „gute, alte Zeit“ verbindet. Nach der Wiederkehr des Kapitalismus ist die Restaurierung speziell auch dieses Architekturerbes leichter geworden – und erscheint (angesichts gezielter Vernachlässigung während der Sowjetzeit) zugleich als eine Selbstverständlichkeit. Ganz allgemein lässt sie sich aber auch als weitere Facette des Bemühens verstehen, kulturelle Gemeinsamkeiten mit West- und Mitteleuropa herauszustreichen.

Kapitel 4 – Die Zwischenkriegsepoche 1918-1940: Zwei Jahrzehnte Unabhängigkeit

Die 1918-1920 errungene Unabhängigkeit der baltischen Länder – für Estland und Lettland etwas nie zuvor in ihrer Geschichte Erreichtes – war ein Ergebnis, das über die Zielsetzungen, die die baltischen Nationalbewegungen sich jahrzehntelang gesteckt hatten, letztlich hinausging, und wäre ohne den Zusammenbruch gleich zweier Großmächte – Russlands wie auch Deutschlands – nicht denkbar gewesen. Sie basierte auf dem von den Politikern der siegreichen Westmächte, allen voran dem amerikanischen Präsidenten Wilson, verkündeten Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Prinzipien des seinerzeit gegründeten Völkerbunds. Aber auch das ökonomische und außenpolitische Interesse der Westmächte (wie die Absicht der Schaffung eines „Cordon sanitaire“ zwischen Deutschland und Sowjetrussland) stützte die neuen Staaten, die sich anfangs manch ernster Gefahr einer Bolschewisierung zu erwehren hatten. Aus Sicht der Völker des Baltikums stand der bis 1920 für sie noch überaus bedrohliche Wille Lenins, das kommunistische Revolutionsgeschehen westwärts auszudehnen, in klarer Kontinuität zu der expansiven Politik, die sie aus den Zeiten des Zarenreichs kannten; und entsprechend nahm ihre mentale Distanz gegenüber dem großen Nachbarn im Osten weiter zu.Die neue Republik Litauen hatte mit dem alten multinationalen Großfürstentum, wie es in den Jahrhunderten der Union mit Polen existiert hatte, nicht mehr viel zu tun. Ihre Bewohner waren mehrheitlich Litauer; in der alten Hauptstadt Vilnius jedoch machten die Litauer nur eine kleine Minderheit aus. Das wieder unabhängig gewordene Polen besetzte die hauptsächlich von Polen bewohnte Stadt daher; und es erwuchs ein Konflikt der beiden ehemaligen Unionsstaaten um Vilnius, der sich als unlösbar erwies. Litauischerseits hieß es unter anderem, viele der Stadtbewohner seien nicht wirklich Polen, sondern polonisierte Litauer: Der polnischen Sprache bediente sich ja nun einmal auch der alte litauische Adel – ein Adel, für den die neue bäuerlich-kleinbürgerliche Republik, wenn man so will, keine Verwendung mehr hatte. In Lettland und Estland entzog man der bisherigen deutschen Oberschicht noch konsequenter die wirtschaftliche Basis: Durch Bodenreformen wurde der ehemalige Gutsbesitz hier vollständig aufgelöst.

Paragraph 1 – Bemühungen um einen hauptstadtgerechten Ausbau Rigas und Tallinns

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Die jungen Republiken entwickelten in der krisenreichen Zwischenkriegszeit trotz erheblicher politischer und wirtschaftlicher Probleme eine beachtliche Lebenskraft. In den Hauptstädten ist davon heute höchstens in Riga und Tallinn dieses und jenes sichtbar [1], da die litauische Regierung ihren Sitz von Vilnius nach Kaunas verlegen musste. Ehrgeizige Bauprojekte verfolgte man am ehesten in Riga. Rigas größte Baustelle um 1930 war das Gelände des neuen Zentralmarktes dessen vier Hallen zu den hervorstechendsten Gebäuden der Stadt gehören. Etwas später – 1938 – entstand beispielsweise der so genannte Drei-Sterne-Turm am Schloss; zu gleicher Zeit war ein neues Finanzministeriumsgebäude inmitten der Altstadt im Bau; und schon 1931-1935 wurde ein Freiheitsdenkmal am gleichnamigen Boulevard errichtet: ein Obelisk, den eine Frauengestalt krönt [2]. Für die ab 1988 immer häufigeren Großdemonstrationen der damaligen Freiheitsbewegung konnte es keinen passenderen Versammlungsort als dieses – die Sowjetzeit hindurch unangetastet gebliebene – Denkmal geben. Zur Unterstreichung seiner besonderen Bedeutung wird es heute von einer militärischen Ehrenwache flankiert.

Paragraph 2 – Museumskonzepte

Mögen in den Stadtbildern die Leistungen der beiden Jahrzehnte der ersten Unabhängigkeit teils nur auf den zweiten Blick wahrnehmbar sein, so werden sie in den historischen Stadtmuseen umso deutlicher hervorgehoben. Das Rigaer Geschichts- und Schifffahrtsmuseum, 1733 von einem Privatsammler gegründet und demnach das älteste Museum des Baltikums, ist im umgebauten alten Domkloster untergebracht – einer Wirkungsstätte Herders, der sich ab 1764 für fünf Jahre in Riga aufhielt. 500 Exponate (aus einem Fundus von etwa 400.000 Sammlungsstücken) illustrieren in diesem Museum die Stadtgeschichte bis 1940 – aufgeteilt in vier Sektionen, nämlich: die Anfänge der Stadt; Riga vom 13. bis 16. Jahrhundert; Riga im 17., 18. und 19. Jahrhundert (polnische, schwedische, russische Epoche); Riga in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (bis 1940, wo die Zuständigkeit des Okkupationsmuseums einsetzt). Die Präsentation erscheint vergleichsweise konventionell, aber sehr klar und systematisch; umfänglich wird auch die Alltagskultur behandelt. Das kleinformatigere Stadtmuseum in Tallinn ist in einem ehemaligen Bürgerhaus untergebracht. Die Art der Präsentation ist aufgrund thematischer Schwerpunktsetzungen und Inszenierungen moderner als in Riga. In Vilnius wird die Stadtgeschichte im Historischen Nationalmuseum mitberücksichtigt.

Anmerkungen

[1] Daneben wurden viele Ideen propagiert, die unverwirklicht blieben. Als ein signifikantes Beispiel hierfür sei die Idee des Architekten Karl Burman für einen möglichen Umbau der Tallinner Aleksandr-Nevskij-Kathedrale zu einem Pantheon der Freiheit Estlands erwähnt. Viele andere hätten freilich einen Abriss der Kirche bevorzugt – siehe dazu einen kritischen Bericht von 1928 aus dem „Revaler Boten“.[2] Es existiert ein kurzes Filmdokument von der Einweihung des Denkmals 1935.

Kapitel 5 – Vom Verlust der Unabhängigkeit bis zu ihrer Wiedergewinnung (1940-1991): David und Goliath

Nach nur zwei Jahrzehnten verloren die baltischen Länder ihre am Ende des Ersten Weltkriegs gewonnene Unabhängigkeit. Schuld waren die Grundkonstellationen des Zweiten Weltkriegs – ganz gewiss jedenfalls nicht sie selbst. Die Ungunst ihrer geografischen Lage zwischen den in den dreißiger Jahren neuerlich erstarkten Kriegsverlierern Deutschland und Russland und weitab von den ihnen zugeneigten Westmächten machte sie zu wehrlosen Opfern der expansionistisch agierenden totalitären Großmächte in ihrer Nachbarschaft.Unter sowjetischer und deutscher Herrschaft kam es binnen weniger Jahre zu gewaltsamen Eingriffen in das Schicksal des Baltikums, deren Ausmaß mit den grundlegenden Veränderungen während des 13. und 14. Jahrhunderts, als hier die durch Schriftquellen greifbare Geschichte überhaupt erst begann, durchaus vergleichbar ist. Dies bezieht sich nicht nur auf Kriegszerstörungen, sondern vor allem auf Umwälzungen in der demografischen Struktur. Diese betrafen zunächst in erster Linie die Deutschbalten und die Juden, die als Minderheiten fast vollständig verschwanden; doch auch den dramatischen Verschiebungen der

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Zahlenverhältnisse zwischen den Angehörigen der Staatsnationen und den Russen wurde frühzeitig der Weg bereitet.

Paragraph 1 – Die Rolle der Deutschbalten als Eckpfeiler baltischer Geschichte

Die Deutschbalten, Nachkommen des Ritteradels, der Hansekaufleute und des Stadtbürgertums aus der Zeit der Ordensherrschaft, stellten vor ihrer Umsiedlung aus Lettland und Estland nur etwa 3,7 bzw. 1,7 % der Gesamtbevölkerung – also jeweils nur fünfstellige Personenzahlen –, doch hatten ihre Vorfahren und teils auch noch sie selbst sich bis 1918 in Stadt und Land als die herrschende Elite gerieren können. Anders als bei der ostdeutschen Kolonisation zwischen Elbe und Memel war es im Baltikum nicht zu einer flächendeckenden Ansiedlung deutschstämmiger Bauernbevölkerung gekommen. An der privilegierten Position der deutschbaltischen Oberschicht hatte sich auch unter russischer Herrschaft insgesamt wenig geändert; vielmehr hatte Peter der Große bei der Angliederung der baltischen Region an sein Reich der deutschen Ritterschaft und den deutschen Stadtoberen die Erhaltung des deutschen Rechts, der deutschen Sprache und des evangelischen Glaubens zugesichert – alles in dem Bewusstsein, welch wertvolle Dienste sie ihm bei der Modernisierung Russlands zu leisten imstande wären.

Paragraph 2 – Rückblick auf die zwei letzten Jahrzehnte deutschbaltischer Geschichte im Baltikum

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die zentralistische Unifizierungspolitik die Rechte der deutschen Oberschicht in den Ostseeprovinzen zusehends eingeschränkt. Doch eine grundlegend neue Situation ergab sich erst mit der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands. Die Bevölkerungsmehrheit der Esten und Letten wurde jetzt zu Staatsnationen auf der Grundlage demokratischer Verfassungen. Hunderte von Rittergütern wurden entschädigungslos enteignet und der Boden an Kleinbauern verteilt. In den Städten zerbrach die Vorherrschaft des deutschen Bürgertums durch das nun grundlegend anders beschaffene Wahlrecht. Die Deutschen wandelten sich von einer privilegierten Oberschicht zu einer geschützten Minderheit mit Kulturautonomie und Selbstverwaltung in Schul- und Wohlfahrtsfragen – die Minderheitengesetze der jungen baltischen Republiken galten international als vorbildlich und waren eine wichtige Voraussetzung für ihre Stabilisierung. In den dreißiger Jahren zählte Riga etwa 44.000 deutsche Einwohner (etwa 13 % von 380.000), Tallinn 8.500 (von 128.000 etwa 8 %). In Vilnius, das während der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte und auch mehrheitlich von Polen bewohnt wurde, lebten nur sehr wenige Deutsche.Hatte die Errichtung unabhängiger Staaten die Position der Deutschbalten erschüttert, so vernichtete der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 sie gänzlich – in ihm wurde als Teil einer Reihe großer Bevölkerungsverschiebungen (einer Folge der Abgrenzung von „Interessensphären“) die Aussiedlung der Deutschbalten „heim ins Reich“ vereinbart. Dies war das Ende einer über siebenhundertjährigen Geschichte, deren Bauzeugnisse noch überall in Estland und Lettland zu besichtigen sind.

Paragraph 3 – Die Auslöschung der Juden

Die kurze deutsche Besatzungszeit führte mit der Vernichtung der Juden 1941-1944 zu einem in besonders tragischer Weise unumkehrbaren Bevölkerungs- und Kulturverlust. In Estland machten die Juden nur etwa 0,5 % der Gesamtbevölkerung aus, etwa 7.000 Menschen, in Lettland aber 5 %, etwa 100.000 Menschen, in Litauen (damals ohne Vilnius) 7,6 %, was 155.000 Menschen entspricht. Die Juden konzentrierten sich – weit über dem Landesdurchschnitt – in den Städten. In Riga stellten sie etwa 11 % der Gesamtbevölkerung und waren mit über 40.000 Personen folglich so zahlreich wie die Deutschen und zahlreicher als die Russen. In Vilnius machten die Juden neben der polnischen Bevölkerungsmehrheit sogar ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus, etwa 55.500 Menschen. Die große Mehrzahl der Juden wurde in den Ghettos zusammengetrieben und an besonderen Mordstätten im Umfeld der großen Städte umgebracht – Gedenkstätten in Riga und Vilnius erinnern daran. Das jüdische Kulturerbe ist heute aus dem Stadtbild von Vilnius und mehr noch dem von Riga großteils verschwunden, auch wenn selbst in die einzige unzerstörte Synagoge Rigas (die einzige von ursprünglich sechs [1]) inzwischen wieder Gemeindeleben einkehrt.

Paragraph 4 – Forcierte Zuwanderung von Russen

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Nach 1945 kam es zu einem drastischen Anstieg des russischen Bevölkerungsanteils in den baltischen Unionsrepubliken und vor allem in deren Metropolen. Dieser Anstieg war von der Sowjetführung politisch gewollt, um Esten, Letten und Litauer in ihren jeweiligen Republiken zu Minderheiten zu machen, und konnte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Industrie- und Militäransiedlung rücksichtslos durchgesetzt werden – zumal nach der Deportation unzähliger baltischer Intellektueller 1941 und 1949. Estland hatte in der Zwischenkriegszeit einen russischen Bevölkerungsanteil von etwa 8,2 %, in Lettland waren es 10,6 % und in Litauen 2,5 % – neben 88 % Esten bzw. 73,4 % Letten und 84 % Litauern. Heute stellen die Esten im eigenen Land noch 68,6 % der Gesamtbevölkerung neben 25 % Russen und etwa 3,2 % Weißrussen und Ukrainern, die Letten nur noch 59,2 % neben 28 % Russen sowie gut 6 % Weißrussen und Ukrainern, die Litauer fast 85 % neben 5 % Russen und 2 % Weißrussen und Ukrainern (sowie 6 % Polen). In Litauen blieb der Russifizierungsdruck somit am geringsten – doch bezeichnenderweise wurde ausgerechnet von hier der Zusammenbruch der Sowjetunion eingeläutet.In den Metropolen wuchsen die russischen Bevölkerungsanteile noch sprunghafter an: In Tallinn mit seinen ungefähr 404.000 Einwohnern machen die Esten nur etwa die Hälfte der Einwohner aus, die übrigen sind größtenteils Russen, Weißrussen, Ukrainer; in Riga sind von etwa 720.000 Einwohnern nur noch etwa 42 % Letten, dagegen 41 % Russen und knapp 8 % Weißrussen und Ukrainer [2]. In Vilnius (1931 etwa 200.000, heute etwa 554.000 Einwohner) kam es infolge des Krieges zu einem fast vollständigen Austausch der Bevölkerung. Die polnische Mehrheit – über 100.000 Menschen – wurde 1945/46 auf sowjetische Anweisung nach Polen umgesiedelt; die meisten Betroffenen verschlug es nach Danzig. „Dafür zogen zahlreiche Litauer aus Kaunas und anderen litauischen Städten und Dörfern zu, ebenso Weißrussen aus den nächst gelegenen [sic] Gebieten Weißrußlands sowie russische Beamte, Militärs, Sicherheitskräfte und Industriearbeiter, von denen die meisten aus Moskau oder anderswo beordert wurden. Die Litauer stellten anfangs nur einen kleinen Teil, machten aber nach einiger Zeit bereits die Mehrheit der Stadtbevölkerung aus.“ [3] Die Polen erreichen heute nur noch knapp 20 % der Stadtbevölkerung, die Russen ebenso viel.

Paragraph 5 – Sowjetische Baltikumpolitik. Ihr Scheitern und ihre Folgen

Ziel der Sowjetführung waren seit 1940 die politische und intellektuelle Enthauptung der zuvor selbständigen Baltenrepubliken und die Zerstörung ihrer nationalen Identität durch massenhafte slawische Zuwanderung – das alles mitten im 20. Jahrhundert und legitimiert ausschließlich durch ideologisch fundierte Modernisierungs- und Großmachtansprüche. Der Schock über diesen Anschlag auf ihre nationale Existenz hat sich tief ins Bewusstsein der kleinen Baltikum-Völker gegraben, denn dergleichen hatten sie zuvor – trotz aller Gewalttätigkeiten auch der vorangegangenen Fremdherrschaften – nie erlebt. Vielmehr ließ die Geschichte der Baltikum-Völker bis zur Unabhängigkeit in der Zwischenkriegszeit durchaus zu, als Erfolgsgeschichte interpretiert zu werden: Nach kulturell einfachen vorstaatlichen Verhältnissen hatten die fremden Eroberer seit dem hohen Mittelalter zwar Gewalt und Unterdrückung, aber auch staatliche Strukturen, Einbindung in den nordeuropäisch-hansischen Wirtschaftsraum und Anschluss an die christlich-europäische Zivilisation gebracht. In diesem Rahmen waren die baltischen Völker seit dem 18. Jahrhundert zu nationalem Selbstbewusstsein erwacht, gefördert durch Bemühungen deutscher protestantischer Pastoren und Sprachforscher um die schriftliche Fixierung der estnischen und lettischen Sprache sowie vieler baltischer Lieder: Man denke an die Pionierarbeit Herders auf diesem Gebiet. Aus alledem war in einer günstigen weltpolitischen Situation die Unabhängigkeit der baltischen Staaten hervorgegangen. Ab 1940 sah es demgegenüber so aus, als sei beabsichtigt, vieles von dem, was im Verlauf dieser jahrhundertelangen Geschichte nationaler Emanzipation erreicht worden war, rückgängig zu machen. Die damit verbundenen traumatischen Erfahrungen wirken bis heute massiv nach. Es zeigte sich aber auch, dass die Marginalisierung der kleinen baltischen Nationen – über ein halbes Jahrhundert hinweg betrieben mit allen Mitteln einer totalitären Weltmacht – letztlich nicht gelang: Und in der Spätphase der Geschichte der Sowjetunion war es der Unabhängigkeitswille im Baltikum, der den Kollaps des Imperiums beschleunigte.

Paragraph 6 – Architektonische Spuren: Was bleibt von den Deutschen?

Was bekommt der Besucher der baltischen Hauptstädte von diesen Entwicklungen heute noch zu sehen? Die Spuren der über siebenhundertjährigen deutschen Geschichte im nördlichen Baltikum sind in den Altstädten von Riga und Tallinn, die den Krieg leidlich überstanden haben, überall noch sichtbar; etliche entsprechende Gebäude wurden nach der Wende von 1990/91 restauriert. Dies gilt für die Burgkomplexe, Dome und Stadtkirchen ebenso wie für Rathäuser und Stadtmauern oder die Gilde- und Bürgerhäuser.

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Touristen stoßen in der Tallinner Altstadt zudem auf allerlei niederdeutsche Namen wie „Olde Hansa“, „Pepersack“ oder „Kiek in de Kök“.

Paragraph 7 – Architektonische Relikte: Was bleibt von den Juden?

Das deutsche „Erbe“ im Baltikum beschränkt sich aber eben nicht auf das von Ordensrittern und Hansekaufleuten Hinterlassene, sondern umfasst auch die Zeit der Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung führte. Deren Spuren findet heute nur noch der Experte. In Riga und Vilnius richtete die Besatzungsmacht jeweils Ghettos ein, die sie beim Rückzug 1944 zerstören ließ, um das Verbrechen zu kaschieren. Nur dort, wo, hätte man Feuer gelegt, Flächenbrände gedroht hätten, sind ganz vereinzelt noch Synagogengebäude erhalten. Ansonsten sind die jüdische Geschichte und ihr gewaltsames Ende heute nur noch in den Okkupationsmuseen sowie den Jüdischen Museen in Vilnius und Riga allgegenwärtig, daneben freilich an den Gedenkstätten, durch die Orte des Verbrechens wie Paneriai bei Vilnius oder Salaspils bei Riga (überwiegend bereits während der Sowjetzeit) gekennzeichnet wurden. Mehr aber blieb von dem für das europäische Judentum so bedeutenden „Jerusalem des Ostens“, wie Vilnius einst genannt wurde, nicht übrig.

Paragraph 8 – Architektonische Spuren: Was bleibt von der Zaren- und der Sowjetzeit?

Die Spuren der russischen und der sowjetischen Herrschaft – die es dringend voneinander zu unterscheiden gilt – machen sich umso deutlicher allenthalben bemerkbar. Von den russisch-orthodoxen Kirchenbauten aus der Zarenzeit, deren bedeutendste restauriert und – teils nach Jahrzehnten der Zweckentfremdung unter Sowjetherrschaft – zu religiösen Mittelpunkten der nach wie vor zahlreichen russischen Bevölkerung geworden sind, war bereits die Rede. Das sowjetzeitliche Bauerbe verträgt sich mit den historischen Altstädten, um die es sich legt, noch weniger. Neben der Monotonie der Trabantenstädte fallen in diesem Zusammenhang auch einige zu dicht an die Altstädte herangerückte Hotelhochhäuser auf, die in jüngster Zeit allerdings – insbesondere in Tallinn – ihrerseits in den Schatten von noch protzigeren Gebäuden diverser Banken geraten sind.

Anmerkungen

[1] Die größte davon war die Synagoge an der heutigen Gogola iela. [2] 1990 zählte Riga 916.000 Einwohner; seitdem geht die Zahl durch Abwanderung ins Umland, „Repatriierung“ von Russen und Geburtenrückgang kontinuierlich zurück.[3] Tomas Venclova, Vilnius. Stadtführer (Vilnius: R. Paknio leidykla, 2002), 65.

Kapitel 6 – Die neue Souveränität seit 1991: Zwischen traumatischer Vergangenheitserfahrung und europäischer Zukunftsperspektive

Die inneren Wandlungen in der Sowjetunion unter Gorbatschow – mit denen dieser auf eine eklatante ökonomische Krise und die wachsende Unzufriedenheit der zahlreichen Nationalitäten reagierte – verschafften auch den baltischen Unabhängigkeitsbewegungen einen Spielraum, den sie fast ein halbes Jahrhundert lang nicht gehabt hatten. Litauen ging voran; aufgrund ihres hohen Organisationsgrads erwies sich hier – ähnlich wie in Polen – die katholische Kirche als eine ernsthafte Gegnerin des Regimes; die Kontinuität nationalen Geschichtsbewusstseins war hier am stärksten und die Russifizierung weniger weit vorangeschritten als in Estland und Lettland, was sich als Folge einer durchaus eigenwilligen Politik der litauischen Kommunisten erklären lässt. 1988/89 kam die „Singende Revolution“ zum Ausbruch und erregte mit ihren vielen gewaltfreien Aktionen weltweit Sympathie; unvergessen bleibt die 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn über Riga bis Vilnius. Im Januar 1991, zu einer Zeit, als es längst in allen Randgebieten der Sowjetunion gärte und der Ostblock auseinander zu brechen begann, waren in Vilnius und Riga schließlich doch noch Tote zu beklagen; die dafür verantwortliche staatliche Brutalität kann aber angeblich nicht Gorbatschow angelastet werden. Mit dem Augustputsch von 1991 – einer Art Signal für den baldigen endgültigen Zerfall der Sowjetunion – war auch der Weg für die erneute Unabhängigkeit der baltischen Staaten endgültig frei. 1994 verließen die letzten russischen Truppen deren Territorien, eine

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bewegende Umkehr der Ereignisse von 1940 und 1944/45. Schwierig gestaltete sich der Umgang mit den in der Sowjetzeit zugezogenen Russen, die an der Ostsee vorteilhaftere Lebensverhältnisse genossen, als sie sie in Russland erwarten konnten, und deren Rückwanderung nicht in Russlands Interesse lag. Die Behandlung dieser russischen „Minderheiten“, die sich umgewöhnen und auf ein gleichberechtigteres Zusammenleben mit den kleinen Nationen des Baltikums einrichten mussten, wurde für deren Regierungen zur Nagelprobe; denn hieran ließ sich die Glaubwürdigkeit ihres Wunsches messen, das europäische Wertesystem vollauf zu akzeptieren und im Gegenzug der uneingeschränkten Solidarität Europas gewiss zu sein. Im normalen Alltag der Städte bemerkt der Tourist von etwaigen Spannungen zwischen Russen und Angehörigen der einheimischen Nationen derweil wenig.Wie wirken diese Zusammenhänge und Entwicklungen sich heute in den Stadtbildern aus und wie weit lassen sie sich vor Ort visualisieren? Wir heben zwei Punkte besonders hervor: die Restaurierung historischer Bausubstanz nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit und – in scharfem Kontrast dazu – die Gestaltung der so genannten Okkupationsmuseen.

Paragraph 1 – Restaurierungen und das Geschichtsbild, für das sie stehen

Die Restaurierung der historischen Bausubstanz betrifft die Altstädte von Riga, Tallinn und Vilnius gleichermaßen – sie hatten sämtlich im Krieg und durch Verfall gelitten, gehören aber inzwischen alle drei zum UNESCO-Weltkulturerbe. Die Motive dafür liegen auf der Hand: Zum einen will man zahlungskräftige Touristen in die Hauptstädte locken, die jahrzehntelang nur bedingt zugänglich, aber auch in keinem attraktiven Erhaltungszustand waren und nun durch den Reiz des Neuen faszinieren. Man will durch die glanzvolle Restaurierung der historischen Baudenkmäler aus dänischer, deutscher, schwedischer, polnischer und zaristischer Zeit aber auch die weit zurückreichende Zugehörigkeit der baltischen Länder zu Europa betonen und sich von der Tristesse der Sowjetzeit mit ihren einfallslosen Kolossalbauten und neuen Vorstädten absetzen. Die Darstellung der Stadtgeschichte in den historischen Stadt- und Landesmuseen der drei Hauptstädte liegt ebenfalls auf dieser Linie. Durch die Art der Präsentation werden die vorsowjetischen Zeiten beinahe zwangsläufig vergoldet. Natürlich wissen Kenner der baltischen Geschichte um das Ausmaß von Gewalt und Unterdrückung gerade auch unter den früheren Fremdherrschaften – jedoch konnotiert man diese zugleich damit, dass durch sie Kultur und Zivilisation Einzug hielten und sie dem nationalen Erwachen der drei heutigen Staatsnationen nicht im Wege standen, sondern es eher begünstigten. Demgegenüber erscheinen die Auswirkungen der Sowjetherrschaft als politisch-wirtschaftliche Fehlentwicklung sondergleichen und als Angriff auf die nationale wie auch die europäische Kultur der Völker des Baltikums, der sogar deren ethnische Substanz gefährdete.Dass kaum eines der Altstadt-Gebäude, um deren Bewahrung Esten, Letten und Litauer sich so rege bemühen, deren eigene Vorfahren haben errichten lassen, sondern es sich bei den Bauherren in aller Regel um Vertreter der einstigen Oberschichten handelte, bereitet offenbar niemandem ein Problem; viel ausschlaggebender ist die europäische Perspektive. In diese lassen sich – im Gegensatz zum Erbe des Sowjetimperialismus – auch noch die Bauzeugnisse der Zarenzeit wie klassizistische Schloss- und orthodoxe Kirchenbauten einbeziehen. Vor allem in Tallinn mit seinen relativ zahlreichen Baudenkmälern aus der Zeit der Ordensritter und der Hanse (Dom und Stadtkirchen, Rathaus und Stadtbefestigung) fühlt der Tourist sich jedoch vorrangig an die deutsche Vergangenheit der Stadt erinnert.

Paragraph 2 – Die Okkupationsmuseen und das Geschichtsbild, das sie vermitteln

Zutiefst konträr zu dieser positiv aufgeladenen Präsentation städtischer und staatlicher Vergangenheit erfolgt die Vergegenwärtigung der sowjetischen Epoche 1940-1991. In Riga ist sie unmittelbar greifbar in dem krassen Neben- und Gegeneinander des strahlend rekonstruierten Schwarzhäupterhauses und jenes sowjetzeitlichen Bauklotzes, in welchem – die im Inneren dokumentierte Thematik bereits äußerlich widerspiegelnd – das Okkupationsmuseum untergebracht ist. Museen der Erinnerung an die Besatzungszeit sind auch in Tallinn und Vilnius errichtet worden – alle drei verfolgen die gleiche Richtung der Geschichtsdarstellung. Die dreijährige (bzw. für Teile Kurlands fast vierjährige) deutsche Besatzungszeit wird auf totalitarismustheoretischer Basis grundsätzlich mitbehandelt und negativ interpretiert, tritt jedoch hinter den Gräueln der Sowjetherrschaft klar zurück.Annex – Die Museen zur Erinnerung an die Okkupationszeit (1940-1991) in Riga, Tallinn und Vilnius. Ein Vergleich ihrer Konzeptionen

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Stadtrestaurierung einerseits und Geschichtsvermittlung in den Okkupationsmuseen andererseits führen den interessierten und aufmerksamen Besucher der baltischen Hauptstädte am Anfang des 21. Jahrhunderts – zumal wenn er sich ein HisTourismus-typisches Reiseprogramm vornimmt – zu einer Reihe tiefer gehender Einsichten. Diese eignen sich zugleich als Abschluss unseres Streifzuges durch drei Städte und ihre Geschichte und seien nachfolgend in vier resümierenden Paragraphen zusammengefasst.

Paragraph 3 – Wiederbelebung einer Vermittlerrolle

In den baltischen Hauptstädten liegen Glanz und Grauen der Geschichte nahe beieinander, wobei die Baltikum-Völker weder das eine noch das andere ihrerseits herbeigeführt haben.Seit ihrer Christianisierung und Europäisierung im hohen und späten Mittelalter nehmen die baltischen Länder eine Vermittlerrolle zwischen Westeuropa und den Weiten des eurasiatischen Kontinents ein. Diese Rolle wurde durch die sowjetische Annexion pervertiert: Als Frontgebiet gegen den Westen lagen die baltischen Republiken nun an der Peripherie des Imperiums, abgeschnitten von ihren Wurzeln in Europa. Im Westen wurden sie derweil ganz einfach als Sowjetrepubliken statt als ehemalige Nationalstaaten mit eigener Identität wahrgenommen; dort dominierte das Interesse für den zweiten deutschen Staat, die DDR, und den Gürtel der Satellitenstaaten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn – nicht zuletzt angesichts der dortigen Aufstände, die zwischen 1953 und 1980 für Aufsehen gesorgt hatten.Heute ist den baltischen Staaten umso mehr daran gelegen, ihre historische Vermittlerrolle zwischen West-/Mittel- und Osteuropa ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Ihre Kleinräumigkeit und geringe Bevölkerungszahl machen sie aufgrund ihrer geopolitischen Situation verletzlich – daher ihr Bemühen um Beachtung von außen, bei dem der Tourismus eine wesentliche Rolle spielt. Preisgünstiger Flugverkehr macht es inzwischen auch Normalverdienern möglich, in etwa zwei Stunden von Westeuropa einen der baltischen Hauptstadtflughäfen zu erreichen; und es scheint, als erfreuten diese Flüge sich einer durchaus regen Nachfrage.

Paragraph 4 – Die Last der Vergangenheit

Eine im europäischen Sinne konsensfähige Bearbeitung der traumatischen fünfzigjährigen Okkupationserfahrung ist für die Bewältigung der anstehenden Zukunftsaufgaben im Baltikum von essentieller Bedeutung. Das Erbe dieser Epoche spaltet in allen drei Ländern die jeweilige Staatsnation von der russischsprachigen Minderheit. Hoffnung ruht auf der jungen Generation beider Bevölkerungsgruppen, die erst seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit heranwächst und für die, da ihre Perspektiven auf Europa gerichtet sind, die historischen Belastungen weniger schwer wiegen.In religiös-weltanschaulicher Hinsicht sind Estland und Lettland von Litauen sehr verschieden. In Litauen hat der Katholizismus seit der Christianisierung über alle Herrschaftswechsel hinweg seine Position behauptet, ähnlich wie in Polen. In den meisten Teilen Lettlands sowie in Estland war traditionell der lutherische Protestantismus skandinavisch-norddeutscher Prägung vorherrschend; heute jedoch gehören ganz erhebliche Teile der Bevölkerung überhaupt keiner christlichen Kirche mehr an – eine Folgeerscheinung des Sowjetzeitalters, die hier verglichen mit Litauen ganz andere Dimensionen angenommen hat.

Paragraph 5 – Bestandsaufnahme: „Schnittmengen“ in der Geschichte Estlands, Lettlands und Litauens

Das heutige Staatsgebiet Estlands und die meisten Teile Lettlands waren jahrhundertelang dem Einfluss von Deutschen ausgesetzt, während die Entwicklung Litauens sich in enger Symbiose mit Polen vollzog. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurde allen drei Völkern als Untertanen des russischen Imperiums ein ähnliches Schicksal aufgezwungen (wenn auch den Litauern unter anderen verwaltungstechnischen Voraussetzungen als den Letten und Esten) – ein Schicksal, dem sie ungeachtet aller politischen, wirtschaftlichen, sprachlichen und konfessionellen Unterschiede nur gemeinsam begegnen konnten. Litauens Konflikt mit Polen um Vilnius nach dem Ersten Weltkrieg löste endgültig die alte Symbiose zwischen jenen beiden Ländern und verwies die neue Republik darauf, sich vorwiegend ihren Nachbarn im Norden anzunähern. Noch stärker glich das Schicksal

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der drei baltischen Länder sich schließlich unter dem Druck der sowjetischen Okkupation an, also seit 1940 bzw. 1944/45. Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Rahmen eines neuen Europas hat die Möglichkeit eröffnet, jeweilige eigene Traditionen wieder hervorzukehren, ohne ein gewisses Maß an fortdauernder innerbaltischer Partnerschaft dabei aufzugeben. Entsprechend präsentieren die restaurierten Stadtzentren sich in ihrer ganzen historischen Verschiedenheit als Ordens-, Bischofs-, Fürsten-, Bürger- und Hansestädte. Das stärkt nicht nur die spezifische Identität der kleinen Länder gegen die Folgeschäden des sowjetischen Egalisierungseifers, sondern ebenso ihre ökonomisch erwünschte Anziehungskraft auf Touristen.

Paragraph 6 – Ausblick: Europäische Werte und Perspektiven

Nur ein friedliches und auf Kooperation setzendes Europa, wie man es in der Zwischenkriegszeit gar nicht kannte, garantiert die erneute Unabhängigkeit der baltischen Staaten auf Dauer. Eine Voraussetzung hierfür ist die Verankerung europäischer Wertevorstellungen in den baltischen Ländern selbst – auch und gerade in Bezug auf den Umgang mit den slawischen Minderheiten. Multikulturalität zum Leitbild zu erheben – dies fällt hinsichtlich des deutschen, skandinavischen, polnischen und jüdischen Erbes leichter als mit Blick auf das russische oder gar sowjetische, dessen Träger in großer Zahl nach wie vor im Lande sind.

Vom Umgang mit der russischen Minderheit hängt jedoch auch die Stabilität der Staaten ab. Die erzwungenen Massenmigrationen des 20. Jahrhunderts widersprechen allesamt klar dem Wertekanon der Europäischen Union. Gleiches gilt für das Vorenthalten demokratischer Minderheitenrechte. Und so sind heute etwa in Riga Demonstrationen von Russen möglich, die die Wiederherstellung der Sowjetunion inklusive Lettlands fordern. Für die Letten mit ihrer gegenläufigen historischen Erfahrung bedeutet das eine schwer erträgliche Provokation.Den Russen in den baltischen Ländern kommt ein Lebensstandard zugute, der für viele von ihnen in Russland selbst utopisch wäre [1]. Die Rückkehrneigung, die ein mit den Verhältnissen in den baltischen Staaten nur flüchtig vertrauter Westeuropäer gelegentlich vermutet, erübrigt sich daher – trotz des Verlustes all der Vorrechte, die das Leben eines Russen zur Sowjetzeit bequemer als das vieler Esten, Letten und Litauer gemacht hatten, und obwohl es deren einst verachtete Sprachen heute als Staats- und Amtssprachen zu akzeptieren gilt (möglichst einhergehend mit aktivem Erlernen...). Hier liegt ein erhebliches Spannungspotential, das in vollem Umfang wohl nur durch einen Generationswechsel überwunden werden kann. Ein denkbarer Folgeeffekt könnte sein, dass nach Westen orientierte junge Russen – „Eurorussen“, wie man sie schon jetzt manchmal nennt – eines Tages zum Modell für die weitere Demokratisierung in Russland selbst werden. Wieder einmal hätten die baltischen Länder dann eine nützliche Vermittlerrolle gespielt.

Anmerkungen

[1] In den Anfang 1991 abgehaltenen Volksabstimmungen hatte auch ein Großteil der russischen Einwohner Estlands und Lettlands für die Unabhängigkeit votiert. – Die Völkerrechtswidrigkeit der Annexion von 1940 wird unterdessen auch vom heutigen Russland (in seiner Eigenschaft als Rechtsnachfolger der Sowjetunion) noch immer bestritten.

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