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Der Wille zur Kunst

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Der Wille zur Kunst

BEAT WYSS

Der Wille zur Kunst

Zur ästhetischen Mentalität der Moderne

Umsch lagabb i ldung : A r n o l d Böck l in , Triton und Nereide (Ausschnit t ) , v o r 1874 Frontispiz: Ado l f v o n Hi ldebrand , Dionysos, u m 1890 H i n t e r e Umsch lagk lappe /Auto ren fo to : Char les R e e v e , Ithaca, N . Y .

2. Auflage 1997 © 1996 D u M o n t Buchver lag , K ö l n Alle R e c h t e vorbeha l ten Umschlagges ta l tung: G r o o t h u i s & Malsy, B r e m e n Satz: Gluske & H a r t e n G m b H , K ö l n D r u c k u n d buchb inde r i sche Verarbe i tung: Clausen & Bosse, Leck

P r in t ed in G e r m a n y I S B N 3 - 7 7 0 1 - 3 7 6 9 - 8

Inhalt

P R O L O G I M H I M M E L

Klage u m Marsyas 7 Das apollinische Strafgericht

14 Das dionysische Opfer als Kunst der Selbstaufgabe 20 Das Mitleid: Göttl iche Gnade u n d künstlerische Katharsis im

Zweiklang

E R S T E N S : D E R S T R E I T

Nietzsches Geburt der Tragödie aus d e m Geist von Raffaels Transfiguration

26 De r Pessimismus der Stärke 29 Rausch u n d T r a u m

M o n d r i a n u n d Heidegger: ein mode rne r Paragone 35 D e r platonische Holzweg 46 Erde u n d Welt 49 Poiäsis 55 Das Zeug mit den Bauernschuhen 61 >Das geschichtliche Volk<: Deutschgr iechentum 66 Broadway oder Todtnauberg? 72 Die >Kehre< zur Nachkriegskunst

Z W E I T E N S : D I E B E J A H U N G

Einspruch: Methodische Zweifel der Kunstgeschichte 79 Nietzsches Schnauz 85 Unscharfe Gedanken 89 Geschichte als T r a u m d e u t u n g 93 M o d e r n e Topoi

Das Kunstwollen der Kunsthistorik 99 Panische Sujets

103 Wölfflin, m o d e r n 115 Kunstgeschichte u n d R e p r o d u k t i o n 119 Panofsky, transzendental 122 Riegl , vitalistisch

Der doppelte Boden der M o d e r n e 132 De r Blaue Reiter , musikalisch 142 Das Goe theanum: Metamorphosen eines Gedichts 157 Ästhetik der Esoterik. Kandinsky 166 A t o m + Psyche = Klang

Spiritueller Faschismus 172 Tierschicksale oder der Künstlerwille zur Macht 180 Krieg als Fortsetzung der Kunst 192 Le Corbusiers Dikta t 198 Mussolinis Spitzhacke 206 Terragnis D a n t e u m

D R I T T E N S : D I E V E R N E I N U N G

Die Welt als Nichts 218 D e r m o d e r n e Parrhasios 222 Suprematismus + Elektrifizierung = Nul l 235 Utop ie im Scheitern

V I E R T E N S : D A S V E R G E S S E N

D e r Wille zur Kunst 243 Anästhetisierter Führungsanspruch 245 Aktionistische M o d e r n e 250 Nominalist ische M o d e r n e

254 D a n k 255 Verzeichnis der Abbi ldungen 263 Register

PROLOG IM HIMMEL

Klage um Marsyas 1

Das apollinische Strafgericht

Geschrei stört die Mittagsstille auf! Man hat ihn gefesselt, die Bocksbeine an die Platane geschnürt. Jetzt liegt er auf dem R ü k -ken: Marsyas, der Faun; kopfüber schaut er zu uns herüber, als könnten wir, die Zuschauer, den Schiedsspruch noch ändern. Sein Mund steht weit offen, wie eine Wunde, das Gesicht erstarrt in der Vergeblichkeit, sich den Schmerz aus dem Leib zu schreien. Was hat der Schalk denn verbrochen? Bei lebendigem Leib soll ihm die Haut abgezogen werden; er hat sich erfrecht, Apollo zu einem Wettstreit herauszufordern - mit einer Flöte! Mit einem hohlen Binsenrohr wollte er den Gott der Musik schlagen. Diese Hybris gehört bestraft. - Aber ist das klägliche Spiel soviel göttlichen Zorns wert? Verlangt der Ubermut eines angetrunkenen Fauns soviel himmlische Gerechtigkeit? — Schweig, Zuschauer, Apollo würde diese Frage nicht dulden. Duckt euch, die ihr dem Schauprozeß beiwohnt; dem dummen Vorwitz sprießen Eselsohren!

Der makellose Schönling kniet jetzt über Marsyas. Mit fach­männischen Griffen, als schlachte ein Gott Kaninchen alle Tage, beginnt er den wehrlosen Flurgott dort zu schlitzen, wo die Tier­gestalt deutlich bewahrt ist: am Fell der Bocksbeine. Die Voll­kommenheit , angesichts derer der Spaß aufhört, statuiert am Zwitterwesen ein Exempel. Von göttlichen Entschlüssen wird nicht abgewichen; die himmlische Autorität würde unterhöhlt, käme jede Spitzbüberei in den Genuß der Gnade. Apollo, der unanfechtbare Sieger, gehört einem Geschlecht an, das keinen Schmerz, keine Entbehrung und keine Leidenschaft zu kennen scheint - außer dieser einen: die Lust an der zürnenden Vergel­tung. Sichtlich genießt der Olympier das Vorrecht der Stärke, das er am zitternden Körper ausübt. Apollo, der Virtuose, kann sogar der umgedrehten Kithara noch vollendete Töne entlocken; dieses Kunststück trug ihm im Wettkampf den Sieg ein. Daß er, wie auf der Leier, auch auf dem Faun zu spielen versteht, zeigt der Gott beim Strafgericht: Kopfuber muß sich der Verlierer zu Tode

1 Die grundlegenden Anregun­gen verdanke ich dem Buch von Karl Kerenyi: Dionysos, Urbild des unzer­störbaren Lebens, Stuttgart (1976) 1994; sowie Walter F. O t to : Dionysos, Frankfurt a. M . (1933) 1960. Z u r Kunstgeschichte des Mot ivs siehe Werner Hofmann: Marsyas und Apoll, in: M e r k u r , Apri l /Mai 1973 , S. 403-417 ; Friedrich Wilhelm Hamdorf: Dionysos/Bacchus, Kult und W a n d ­lungen des Weingo t tes , M ü n c h e n 1986; Edith H . Wyss: T h e Myth of Apollo and Marsyas in Italian Art, ca. 1460-1575 , University of Maryland College, 1991. Z u einem vorläufigen Ende eines unabschließbaren Themas brachte ich diesen Prolog während meines Aufenthalts in R o m im Win te r 1994/95. Scharfsinnige Gespräche mit Matthias Winne r an der Hertziana hal­fen mir, meinen Marsyas zu schinden. Siehe: Matthias Winner : Miche lan-gelo's Sogno as an Example of Artist's Visual Reflexion, in: Michelangelo Drawings, hg. v. Craig H u g h Smyth in Zusammenarbeit mit Ann Gilkerson, Washington, D . C . , National Gallery of Art, 1992, S. 227-242 .

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Jusepe de R ibe ra , Apollo und Marsyas, 1637

schreien. Mit verhaltener Erregung greift der Himmlische in das aufgeschlitzte Fell, das wie eine Vulva lachsrot schimmert; er improvisiert, mit prüfendem Blick, auf dem Leib als einem Instrument und sucht, ob es einen Griff gäbe, der aus Marsyas einen noch ungehörten Schrei herauskitzeln könnte. Dieser Schrei würde das Letzte sein, das wir von Marsyas hören. Danach würde es stumm werden, in den Fluren und am Bach gäbe es kein Singen mehr.

Zweimal hat Jusepe de Ribera die Schindung des Marsyas gemalt, überzeugender in der Neapler Fassung als in der von Brüssel. UnerträHich das Lachsrot des offenen Fleisches: gellend brennt es sich dem Auge ein. Dieses Lachsrot steht zum schar-lachfarbenen Mantel Apollos wie ein schriller Sekundschritt: eine optische Dissonanz, die den Schrei des Fauns ins künstlerisch Sichtbare transponiert und verewigt hat. Lachsrot und Scharlach tönen zwei verschiedene Hüllen: die Haut, so satt am Leib wie die Not des Lebens, und der Mantel, der die Gestalt mit artisti­scher Nachlässigkeit umflattert. Die feine Art, sich anziehend zu enthüllen, steht gegen die unmittelbare biologische Blöße. Während an der Haut des Marsyas ein wehes Leben hängt, hat Apollo sich schon längst gehäutet; er streifte seine erste Natur ab und gerbte sie zum knittrig fuhllosen Gewand: ein Schutz gegen den möglichen Schmerz, dem nur die Kreatur ohne Entrinnen ausgesetzt ist.

Wie alle Maler des Barock schien Ribera sich auf die Seite Apollos zu schlagen mit vollem Wissen um die Gewalt, mit der sich das Gesetz der Harmonie ins Recht setzt. Dich, den Verlie-

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rer, Marsyas, hat er mit den Argumenten des Siegers geschildert. Die fliehende, gehörnte Stirn, das Satyrgesicht, die Bocksbeine sollen Dich als Untermenschen zeichnen. Ribera zitiert die Vor­urteile, die schon die Griechen über Dich ausstreuten. Einge­drungen als Kolonisten in Kleinasien, hatten sie gehört von der Verehrung, die die Hirten Anatoliens Dir entgegenbrachten: Dir, Genosse von Kybele, der Großen Mutter, Dir, weisem Schutz­geist und Erfinder der Flöte; auch den Bau der vielstimmigen Syrinx hast Du die Menschen gelehrt. Doch die Griechen ver­fuhren mit Deinem R u h m wie mit den phrygischen Bauern, die hier seit aller Erinnerung gelebt hatten: Sie kamen und unterwar­fen Dich der Ordnung ihrer Götter. Du, Quellgott von Kelainai, der wie niemand sonst die Flöte zu spielen verstand, daß man zugleich lachen und weinen mochte, wurdest in das Bocksge­wand der hellenischen Halbgötterwelt gesteckt. Der olympische Hofhiel t Dich jetzt als mißgestaltenen Narren zum Gespött und Gegensatz seiner Vollendung. Mit gedrechselt-sophistischer Wortklauberei ging die griechische Kulturlüge so weit, Dir die Erfindung der Flöte abzusprechen: Erfunden habe sie Athene, Du habest sie nur gefunden, nachdem die Göttin ihren Einfall schon bald wieder verworfen habe. Athene mißfiel das Flöten­spiel; ihr hübsches Gesicht verziehe sich beim Blasen ... Ach, wie reizbar ist doch das Ebenmaß der Himmlischen! Daß die Harmo­nie nur ja nicht außer Atem kommt!

Die Legende, die die Erfindung der Flöte Athene zuschreibt, ist wesentlich jünger als der Marsyas-Kult. Es war im 5. Jahrhun­dert v. Chr., als der kleinasiatische Quellgott schon auf Bocks­beinen gehen mußte. Die Sage verdichtet den kulturgeschichtli­chen Sachverhalt, daß die Griechen die Flöte geringzuschätzen begannen als ein primitives Spielzeug für Hirten. Man bevor­zugte jetzt die Kithara, jenes Instrument, mit dem Apollo den Marsyas ausstach. Es gehört zur Arroganz der höher entwickelten Kulturen, daß sie die überwundenen Stufen weiterhin bestehen lassen: an verwunschenen Orten, in Gestalt von unterjochten und gedemütigten Dämonen. So mußte Marsyas, ein Gott ani-mistischer Frömmigkeit, weiterleben, u m immer aufs neue geschunden zu werden zur Ergötzung der feinen Stadtmenschen, die sich weiß Gott was einbildeten auf ihre Zivilisiertheit. Der Barock zitierte den Topos in diesem Sinn. Riberas Gemälde ist das bekannteste aus einer kunstgeschichtlichen Hekatombe von Marsyas-Schindungen, in denen Apollo den alten Silen dem Geist der Neuzeit opfert: zum Triumph der akademisch-klassi­schen Bildung über das, was man für Banausentum hielt.

Das Siegesgefuhl über das Primitive ist allerdings nur in den Werken des Durchschnitts ungebrochen. Schon der antike

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Kapel le , Vat ikan

Michelangelo,Jüngstes Gericht Mythos berichtet, Apollo habe sich seiner Härte hinterher ge-( p e t a i l ) , J 5 3 6 - 4 1 , S i x t m i s c h e s c h ä m t u n d a m R e u e ^ ^ z e m s s e n £ r s t d l e

sänftigenden Hände der Musen konnten die Harmonie der Töne auf dem Instrument wiederherstellen. Die großen Maler der Renaissance ahnten in Marsyas eine Wahlverwandtschaft mit ihrer eigenen Künstlerexistenz. Tizian schildert die Schindung des Fauns als ein Mysterium; ein stilles, heidnisches Ritual wird bei ihm vollzogen. Keiner schreit, keiner triumphiert. Marsyas duldet die Tortur als ein Auserwählter, und als ein Werkzeug der Not ­wendigkeit vertieft sich Apollo in den Opfervorgang. Sein Knecht fuhrt das Messer so wie der Stecher den Stichel auf der Platte; der Blick folgt sorgsam den Spuren des Eingriffs in die weiße Haut, wodurch die Idee der Gerechtigkeit körperlich wirksam wird. Marsyas ist ein neuzeitlicher Märtyrer: der Märtyrer für die Kunst; sie soll aufleuchten durch sein qualvolles Sterben, wie die Heilsgewißheit eines Christen durch seine Blutzeugenschaft. Von den christlichen Heiligen hat Marsyas die fromm-demütige U n ­beugsamkeit. Sein Glaube liegt beschlossen im schlichten Klang der Flöte, mit der er der Musik huldigt und dafür alles erleidet.

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Im Martyrium geschunden zu werden ging Marsyas dem hei­ligen Bartholomäus voraus. Die Künstler der Neuzeit haben die beiden Gestalten in die Nähe zueinander gerückt, damit religiöse Leidensbereitschaft und ein Leiden u m der Kunst willen sich gegenseitig durchstrahlten. Ribera hat nicht nur das Marsyas-Motiv mehrmals geschildert; auch der Schindung des Bartholo­mäus galt sein obsessives Interesse. Die eindrücklichste Personal­union aber hat Michelangelo hergestellt in seinem Fresko des

Jüngsten Gerichts. Der auferstandene Märtyrer steht im Epizen­trum des Gotteszorns; er muß sich ducken, denn über ihn hin­weg donnert der Fluch auf die verworfene Schöpfung. In seiner Linken hält Bartholomäus die abgezogene Haut, in deren grämli­chen Falten Michelangelo ein Selbstporträt fixierte.2 Der Künst­ler steht vor Gott wie Marsyas vor Apollo. Geschickt hat er dem offiziellen Thema sein Existenzbild eingewoben; der heidnische Mythos ist dem Jüngsten Gericht als persönliches Kryptogramm in der Bildmitte eingeschrieben.

Michelangelo bleibt durchaus im Rahmen ikonographischer Gepflogenheit, wenn er auf Apollo und Marsyas anspielt; auch humanistisch beeinflußte Gerichtsbilder zitieren den Topos. 3

Einmalig ist jedoch die Durchführung der geschichtstypologi-schen Parallele bei Michelangelo: Der heidnische Antitypus scheint zugleich in Christi Gestalt auf, deren Gebärde den Apollo vom Belvedere zitiert. 4 Auf den Belvederischen Torso geht die Haltung des Bartholomäus zurück: In dem antiken Fragment des

Apollo vom Belvedere, ges tochen v o n Agos t ino Venez iano

Belvederischer Torso, ges tochen v o n Miche l e Merca t i

2 Francesco La Cava: II volto di Michelangelo scoperto nel Giudizio Finale, un dramma psicologico in un ritratto simbolico, Bologna 1925. Charles Tolnay beansprucht nachträg­lich, die Entdeckung gleichzeitig ge­macht zu haben, siehe ders.: Le juge -ment dernier de Michel-Ange, in: T h e Art Quarterly, Bd. III, 1940, S. 125.

3 Siehe O t t o von Simson: Gerard Davids Gerechtigkeitsbild u n d der spätmittelalterliche Humanismus , in: Festschrift Wolfgang Braunfels, T ü ­bingen 1977, S. 349-356 . Z u dem ty-pologischen Problem eines Gerichts­bildes über dem Altar der Sixtina seien zwei gegensätzliche Auffassungen ge­nannt: Alexander Perrig: Michelangelo Studien III, Das Jüngste Gericht und seine Vorgeschichte, Frankfurt a. M . 1976 (= Kunstwissenschaftliche Stu­dien, hg. v. Alexander Perrig, Band 3) sowie R u t h Feldhusen: Ikonologische Studien zu Michelangelos Jüngs tem Gericht, Esslingen 1978.

4 Der geläufige Hinweis auf den Apollo vom Belvedere wird in einer neueren Un te r suchung vertieft von Jack M . Greenstein: H o w Glorious the Second C o m i n g of Christ, Michel -angelo's Last Judgement and the Trans-figuration, in: Artibus et Historiae, 10 ,2 ,1989 , S. 33 ff.

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5 Schon Carl Justi hat in der Bar­tho lomäus-F igur das Vorbi ld des Belvederischen Torsos erkannt in: ders.: N e u e Beiträge zur Erklärung sei­ner Werke , Berlin 1909, S. 3. Zu r Interpretation des Belvederischen Tor ­sos als Marsyas-Fragment siehe Arnold von Salis: Antike und Renaissance, Zürich 1947, S. 165 ff. Gösta Säflund: T h e Belvedere Torso, an Interpretati­on, in: Opuscula Romana , 1 1 , 6 , 1976, S. 75 ff. Säflund erkennt in der Haltung des Rumpfes den Typus des »Marsyas religatus«, dessen Hände auf dem R ü k -ken zusammengebunden sind. Säflunds These führte Cecilia Magnusson dazu, die Figuren Bartholomäus/Marsyas und Christus/Apollo im Sinne des Mythos aufeinander bezogen zu sehen. Siehe Cecilia Magnusson: En not o m M i ­chelangelo och Belvederetorson, in: Konsthistorisk tidskrift, 53 , 1984, S. 45.

6 Phil ippe Verdier sieht die Nacktheit im Licht einer platonischen Quelle. Im Gorgias-Dialog sagt So-krates voraus, daß Zeus die To ten nackt von nackten Richtern richten werde. Siehe ders.: Y-a-t ' il des images reminis-centes des mythes de Piaton sur la resurrection dans le Jugement Dernier de Michel-Ange? in: Bulletin de la societe nationale des antiquaires de France, 1987, S. 181-196.

7 So schrieb M . Pitti an Vasari am 1. Mai 1545, die Haut des Bartholo­mäus sei »senza barba, e lo scorticato ha il barbone: il che mostra che quella pelle non sia la sua.« Zit . nach: Rober to Salvini: La cappella sistina in Vaticano, con un appendice di Ettore Camesasca e una lettera artistica di C . L. Ragghianti, 2 Bände, Mailand 1965, S. 250. Die Briefsammlung Vasaris ist herausgegeben von Carl Frey: II carteg-gio di Giorgio Vasari, M ü n c h e n 1923.

8 In seinem berüchtigten Schmäh­brief verglich Aretino Michelangelos

Jüngstes Gericht mit einer Szene, der man selbst in e inem Bordell nur mit gesenktem Haupt begegnen würde . Z u r Identifizierung von Michelangelos Selbstbildnis in der Hau t des Bar tho­lomäus mit den Zügen Aretinos siehe D . Angeli: Ii volto di Michelangelo scoperto nel Giudizio insieme con quello del suo awersario Aretino, in: II giornale d'Italia, 28. Mai 1925; siehe auch die Replik von C. Ricci in: II giornale d'Italia, 2. Juni 1925. Aretinos Kritik ist ein Akt der Rache . In e inem Brief vom 15. September 1537 an M i ­chelangelo hatte Aretino eine eigene Schilderung des Jüngsten Gerichts ge-

vorgebeugten Leibes mit angewinkelten Schenkeln vermutete man die Darstellung des sitzenden, flötenspielenden Marsyas. 5

Gesehen durch die Erinnerung an zwei antike Statuen, die er verehrte, stellte Michelangelo so Apollo-Christus und Marsyas-Bartholomäus ineinander und sich gegenüber. In der zweiten Figur spiegelt sich schließlich der Künstler selber; er sieht sich in der Rolle des faunsköpfigen Stümpers, der von Gott verurteilt wird, weil er sich anmaßte, als Kunstschöpfer mit dem Schöpfer des Kosmos in Wettstreit zu treten. Der niederfahrende Arm Gottes verdammt nicht nur die Sünder, die da gemalt sind, son­dern diese Malerei überhaupt, u m die Gestalt, die Michelangelo dem Schöpfer gab - gleichsam eigenhändig - wieder auszu­wischen. Der Gott winkt ab: >Genug der Possen, Marsyas!< Das Fresko der Sixtinischen Kapelle ist nur ein Satyrspiel auf jenen Jüngsten Tag, von dem geschrieben steht, daß niemand dessen Tag noch Stunde wisse - auch nicht der vielgerühmte Meister Michelangelo! Vor dem Weltenrichter bezichtigt sich der Künst­ler seines eitlen Schöpfertums. Es scheint grotesk: Dieses rück­sichtslose Genie, das über dem Altar des Papstes nackte Leiber 6

herunterregnen läßt, deren Prallheit den religiösen Anstand ver­letzt, sieht sich selbst als schlaffe Satyrhaut. Beispielhaft sind hier Selbsterniedrigung und arrogante Überheblichkeit zu einer A m -biguität verdichtet, die jeder Künstler zuinnerst kennen muß.

Doch in dieses erhabene Schauspiel mit seinem antik-christ­lichen Zweiklang mischen sich auch satirische Töne, die die Zeitgeschichte dazwischenblies. Die Römer rätselten nämlich darüber, warum dem geschundenen Bartholomäus der Bart nicht mit der Haut abgezogen worden war. 7 Sollte der Märtyrer etwa einen falschen Bart, oder vielmehr eine falsche Haut, zu Markt tragen? Die prächtige Barttracht erinnerte verdächtig an die des Pietro Aretino, Michelangelos Intimfeind. Wie er gesenkten Hauptes und halb abgewandt zu Christus hinaufschielt! Sieht es nicht aus, als sei sein Leidenswerkzeug, das Messer, gegen Gott erhoben, aus stumpfem Reflex vor dem strafenden Arm? Wahr­haftig, diese auferstandene Seele hat vielleicht etwas zu verber­gen; vielleicht steht hier ein Scheinheiliger vor Christus, der sich mit der abgezogenen Haut Michelangelos brüstet. Aretino prahlt vor Gott, einen unzüchtigen Maler geschunden zu haben und verlangt dafür den ewigen Lohn. 8 Nach dieser Lesart stellt Michelangelo, der Gehäutete, sich dar als einer, der gleich zwei apollinischen Instanzen ausgeliefert ist: einem irdischen Kunst­richter und dem himmlischen Weltenrichter, die beide über einen leeren Balg verhandeln. Zu dem Zeitpunkt, da die Kunst Gegenstand der öffentlichen Meinung wurde, tauchte der Mythos von Apollo und Marsyas wieder auf: als Identifikations-

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möglichkeit für den Künstler, der sich dem Urteil von Gott und der Welt ohnmächtig ausgeliefert sah. 9

Michelangelos Fresko stiftet nicht die Gewißheit, daß am Jüngsten Tag den Guten Recht widerfahren werde. Der Mal­strom der Verdammung droht hier selbst den Himmel in die Tiefe zu reißen. Niemand kann auf die Gnade dieses Gottes bauen, der in seinem Zorn über die gescheiterte Schöpfung kaum noch Unterschiede machen wird zwischen der üblichen Schwäche und Verfuhrbarkeit und den willentlich bösartigen Menschen, wie jener falsche Bartholomäus einer zu sein scheint: ein Artist, ein Bluffer, ein Antichrist vor dem wahren Schöpfer. — Die Neuzeit mit ihrem Hang zur Häresie, zur Gotteslästerung und zum Irreligiösen wirft den Künstler in die Hölle seiner eige­nen Imagination. Er verantwortet diese Strafe selbst; er selber hat den bescheidenen, aber Sicherheit bietenden Dienst zur Ehre Gottes gekündigt und muß dafür die Konsequenz tragen: allein der Grund seiner Kunst zu sein und für sein Schaffen keine andere Rechtfertigung zu haben als die des ästhetischen Gelin­gens. Seine Werkwelt verpflichtet ihn jetzt, selber als Gott zu walten. Es ist dies eine ungeheure Bürde, die Wirklichkeit seiner Ideen in Gang zu halten und gegen die Versuchung anzukämp­fen, alles zu zerschlagen wie Michelangelos enttäuschter Christus.

Im Geist der Gegenreformation beschrieben Vasari und Con-divi das Jüngste Gericht in düsteren Farben; die Kunsthistoriker des frühen 20. Jahrhunderts haben diese Tonlage aufgenommen. Nach Ernst Steinmann feuert der Kreis der Heiligen, die Werk­zeuge ihres Martyriums als Anklage vorzeigend, Gott zum Straf­gericht an. Aus dem Bild tönt der Schrei der Gerechten nach Rache, der schon Dante hat erbleichen lassen. Beatrice muß ihm erklären, daß selbst am hellichten Tag des Paradieses sich das Donnern des heiligen Zorns vernehmen läßt: »nel qual, se 'nteso avessi i prieghi suoi, / giä ti sarebbe nota la Vendetta, / che tu vedrai innanzi che tu muoi .« 1 0

Arturo Farinelli hört aus dem Fresko nicht nur den paradiesi­schen Schrei nach >vendetta< heraus, sondern auch das »Dies irae, dies illa« des Dominikanermönchs Tommaso da Celano. Jeder Anflug von Gnade sei - so Farinelli - erloschen, Gott bereue es gar, die Schöpfung geschaffen zu haben: »ne piü si offrirebbe al mondo malvagio in olocausto questo Redentore, per redimederlo una seconda volta col suo sangue ed il martirio.« 1 1 Als sähe er im

Jüngsten Gericht das Grauen des Zweiten Weltkriegs heraufdäm­mern, wertet Charles Tolnay 1940 Michelangelos Wandgemälde als einen Ort , wo Himmel und Erde, Gut und Böse sich vermi­schen: »L'idee medievale de la providence parait etre abandonnee pour un retour ä l'idee antique du Fatum.« 1 2 Für Andre Malraux

schickt, in der eitlen Hoffnung, sich damit buchstäblich ins Werk des M e i ­sters e inzuschreiben. Michelangelo entgegnete kühl, die Arbeit sei schon zu weit fortgeschritten, als daß er auf literarische Anregungen e ingehen könne. Als der Maler sich schließlich auch noch weigerte, Aretino ein paar Arbeitsskizzen zu schenken, sein m der Kunstkr i t iker in Mafia-Manier zur Strafaktion der Verunglimpfung. Siehe dazu Ernst Steinmann: Die Sixtinische Kapelle, 2 Bände, M ü n c h e n 1 9 0 1 -1905, Bd. IL, S. 492 ff. Mit Aretino hat ein scheinheiliger Libertin aus eitlem Eigennutz eine Hetze gegen das Jüngste Gericht eröffnet, die in den C h o r der gegenreformatorischen Eiferer m ü n ­den wird. Z u r Nachgeschichte des G e ­mäldes siehe R o m e o de Maio : II Giudizio di Michelangelo e la C o n -troriforma curiale, in: Civiltä delle macchine, XXIII , 1975, S. 17 -48 .

9 Z u den frühesten plastischen W e r k e n Michelangelos gehör t der Faunskopf mit den Gesichtszügen des Künstlers: ein Bekenntnis zur Ver­wandtschaft mit Marsyas. Siehe dazu Paul Barolsky: Michelangelo's Nose , A Myth and it's Maker, London 1990.

10 Paradiso X X I I / 1 3 - 1 5 . Zi t . nach: Dante Alighieri: La Divina C o m -media. Tes to critico della Societä Dantesca Italiana, riveduto col com-mento scartazziniano, rifatto da Giu­seppe Vandelli, Mailand (21. Aufl.) 1983. »Und hättest du verstanden erst sein Flehen, / So hättest du die Rache schon erfaßt, / Die du vor deinem Tode wirst sehen.« Zit. nach: Dante Alighieri: Die Gött l iche K o m ö d i e , aus d. Ital. v. Wilhelm G. Hertz, M ü n c h e n 1978, S. 406.

11 Arturo Farinelli: Michelangelo e Dan te , ed altri brevi saggi, Mai land/Rom 1918, S. 252. Daß das >Dies irae< die Dan te -Mot ive sogar übertönt, glaubt Deoclecio Redig de Campos: Ii Giudizio finale di M i ­chelangelo e le sue fonti letterarie ed iconografiche, in: R e n d i c o n t i della Pontificia Accademia romana di archeologia, 18, 1941-1942, S. 4 7 - 6 3 . »Dieser Erlöser würde sich der ruchlo­sen Wel t nicht mehr zum Opfer dar­bieten, u m sie ein zweites Mal mit sei­n e m Blut und dem Martyr ium zu ret­ten « (Übers, v. Verf.).

12 Charles Tolnay: Le jugement dernier de Michel-Ange, in: T h e Art Quarterly, Bd. 111,1940, S. 125. »Die mittelalterliche Idee der Vor ­sehung scheint aufgegeben zugunsten der ant iken Idee des b l inden G e ­schicks.« (Übers, v. Verf.)

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ist das Jüngste Gericht eine Verdammung. »Les saints anxieux ne sont pas des elus, et la fresque est moins ordonnee autour du Christ [...] que savamment desordonnee par le grand vide oü s'ecoule sans remplir l'avalange des damnes«. So steht der Chor der Heiligen, »comme une garde royale terrifiee«, um einen hel­dischen, wütenden Gott versammelt, der sich kaum herabgelas­sen hätte, in einer Krippe geboren, geschweige denn für dieses Menschengewürm am Kreuz geopfert zu werden. 1 3

Das dionysische Opfer als Kunst der Selbstaufgabe

13 Andre Malraux: Les voix du silence, Paris 1951, S. 325. »Die verängstigten Heiligen sind keine Auserwählten, und das Fresko ist weni­ger um Christus angeordnet [...] als wild in Unordnung gebracht durch die große Leere, wo die Lawine der Ver­dammten ausfließt, ohne sich wieder zu füllen.« (Ubers, v. Verf.)

Wenn die Künstler des Amts als absolute Herrscher in ihrem Reich müde sind, träumen sie davon, das Rad zurückzudrehen, in Epochen, da noch Götter durch die Menschen tanzten und sich durch deren Ausdruck offenbarten. Die europäische Kunstgeschichte benutzt den Begriff >Primitivismus< für zwei Strömungen, die nur an der ästhetischen Oberfläche verschieden sind. Der Primitivismus der älteren Kunstliteratur umfaßt Künst­lergruppen des 19. Jahrhunderts, die, in Reaktion auf den Klassi­zismus, an die Kunst des Mittelalters und der Frührenaissance anknüpften. In neuerer Bedeutung meint Primitivismus die Auf­nahme von Elementen außereuropäischer Kulturen durch die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Kunstgeschichtliche Stilbegriffe sind immer etwas zufällig, da sie Geschöpfe der Geschichte sind, wie die Erscheinungen, die sie zu ordnen trach­ten. In diesem Fall hat die zweifache Verwendung des Begriffs eine innere Logik. Die stumme Inbrunst einer Sacra conversa-zione von Fra Angelico wirkte auf die Präraffaeliten ebenso wie die abweisende Strenge einer Negermaske auf Picasso. Derselbe sentimentalische Blick sah durch die Formen zurück auf eine Kultur, die, im Gegensatz zur eigenen, noch glaubensstark war. Eine göttliche Unbewußtheit strahlten diese Andachtsbilder und Fetische aus. Dort und damals schienen die Menschen noch nicht vom Zweifel gezeichnet, den die Arbeit der Individuation gebiert. Dem modernen Betrachter war es, als ließen Ich und Es sich so verschwistern, daß sie wieder zusammenwirkten mit der Unbeirrbarkeit eines Schlafwandlers und der Todvergessenheit mythischer Helden im Schlachtenlärm.

Im Primitivismus klagt sich die Zivilisation ihrer Zivilisiertheit an. Wie alle Ismen ist auch er das Zeugnis einer Kultur, die so hochreflektiert ist, daß sie auch ihre Blindstellen mitdenkt. Primi­tivismus ist nur möglich infolge des Wissens um die unterworfe­nen Zonen der Kultur; er zeigt die mildtätige Seite der Kolonisie­rung. Statt mit arroganter Beschränktheit für Apollo, nimmt der

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Hochzivilisierte schuldbewußt für Marsyas Partei. Dessen Leiden indes wird dadurch nicht mehr rückgängig gemacht: Marsyas muß geschunden sein, damit wir ihn sentimentalisch ins Herz schlie­ßen können. Wie der mehrdeutige Stilbegriff anzeigt, gibt es ver­schiedene Rhetoriken des Primitiven; sie gleichen sich darin, daß sie dem zivilisierten Betrachter etwas unbeholfen erscheinen und ihn an Abgelegtes, Entlegenes und Überwundenes erinnern: Kinderreime, Kirchenportale, exotische Tänze und Fieberträume. In erster Linie ist Primitivismus keine Ästhetik, sondern ein Ethos: Parteinahme für die unterjochten Gebiete seiner Selbst.

Gegen die Vorurteile des Banausen, aber auch gegen die Bequemlichkeit des Spontangenies sei gesagt: Primitivismus gibt den Schein des Primitiven, der durch hart erworbenes Metier hergestellt ist. Den Ernst eines künstlerischen Verfahrens teilt der ins Primitive sich versenkende Künstler mit dem Akademiker. Adornos Produktionsästhetik kennt die Pole Mimesis und Rationalität. Man kann sie mythologisch einkleiden in die Figu­ren von Marsyas und Apollo. Die beiden Gegenspieler bezeich­nen Grenzwerte, innerhalb deren jeder Künstler verfahren muß. Ein konventioneller Stillebenmaler muß vom Rausch des Schaf­fens angerührt sein, ebenso, wie der Aktionist gezwungen ist, dem Ausdrucksritual eine Regel zu geben. Wer nur auf Apollo setzt, verfällt in akademische Starre; wer seinen Marsyas nicht schindet, bleibt ein trunkener Dilettant.

Primitivismus entlastet nicht von der Arbeit an der Könner­schaft; das Wort zielt somit nicht auf das Metier, sondern auf die Selbsteinschätzung des Künstlers. Apollo oder Marsyas? Die Parteinahme läuft schwankend durch die Neuzeit zur Moderne. Wie schon erwähnt, haben große Künstler der Renaissance in jenem ungleichen Wettkampf die Präfiguration ihres eigenen Schaffens gesehen. Apollo, der Marsyas schindete, brachte dem neuzeitlichen Geniebegriff das Initiationsopfer dar. Im Verlauf des Barock verlor das Motiv jedoch seine schillernd-tiefe Bedeutung; allzuoft zitiert, wurde es banal und ad usum academicum miß­braucht: Apollo siegte jetzt als der selbstverständlich schönere, der gebildetere und stärkere über den stumpfsinnigen Lüstling Mar­syas. Die barocke Zuversicht — eine Zuversicht der notorischen Sieger in Christo - hatte keinen Sinn für die abgründige Stärke des phrygischen Quellgotts. Erst die Romantik, die das Unbe­wußte, den Wahnsinn und das Unvernünftige als Triebkraft der Kunstproduktion wiedererkannte, vollzog einen Wandel, den das Urteil zugunsten von Marsyas hätte verschieben können. 1 4 Doch seltsam: Seit dem Beginn der Moderne sucht man Marsyas ver­geblich auf der Leinwand. Es ist, als hätte der Barock den Faun wirklich zu Tode geschunden. Hingegen wird ihm in der Litera-

14 Victor Hugo soll, beauftragt für die neu zu errichtende Pariser Opera ein Motto zu finden, sarkastisch die Inschrift vorgeschlagen haben: H I C M A R S Y A S A P O L L I N E M (Hier schindet Marsyas den Apoll). Zit. nach: Martin Sperlich: Dialog der Bilder, in: Klaus Fussmann: Die Schindung des Marsyas, Ausstellungskatalog, Raab Galerie, Berlin 1984, S. 3.

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15 Edgar Wind schreibt in: Heidnische Mysterien in der R e ­naissance, übers, v. Christa Münster­mann, Frankfurt a . M . 1981, S. 199f: »Wie Silen gehörte auch Marsyas zum Gefolge des Bacchus, und seine Flöte war das bacchische Instrument zur Erweckung der dunklen, unkontrol­lierbaren Leidenschaften, die im Widerspruch zur Reinheit der Leier Apolls stehen.«

16 Friedrich Nietzsche: Die Ge­burt der Tragödie, Oder Griechentum und Pessimismus, in: ders.: Werke, Bd. I, München 1966, S. 7-134.

tur späte Genugtuung zuteil: Nietzsches Schrift über die Geburt der Tragödie huldigt ihm in der Gestalt des Dionysos. 1 5 Die ästheti­sche Zwietracht zwischen dem Gott aus Delos und dem Satyr ist bei Nietzsche umgemünzt zum Begriffspaar des Apollinischen und des Dionysischen.1 6 Die Polarität wird hergeleitet aus der Entwicklungsgeschichte des griechischen Trauerspiels. Nietzsche hebt die Tatsache hervor, daß das klassische Drama aus den Dio­nysosfeiern hervorging, aus dem weinrot schimmernden Schoß der Ekstase stieg der Held, der Gepanzerte. Er verkörperte das apollinische Prinzip, das die dunkle Energie des Begehrens, dem jener zu trotzen schien, in ein Gefäß aus Klarheit umgegossen hatte. Im tragischen Helden fand der vorbewußte Lebenswille eine Maske der Individuation. Alle Gestalten der attischen Bühne waren nichts anderes als Metamorphosen des Dionysos in seinem Leidensweg zur Bewußtheit. In Erinnerung an den Zusammen­hang zwischen dionysischem Treiben und apollinischer Hand­lung wurde die Aufführung einer Tragödie von Satyrspielen umrahmt. Das Aufblühen, ein selbstbewußter Wille, das Schei­tern des Helden umtanzte ein Reigen aus groteskem Klamauk, Bockssprüngen und schrillem Flötenschrei.

Sich einzugestehen, daß sein helles Ich nur ein Nebelschleier sei über dem Meer des Willens, nannte Nietzsche >Pessimismus der Stärker Stark ist dieser Pessimismus, weil er sich ohne Rück­versicherung mit der dionysischen Energie verschwistert weiß; pessimistisch ist diese Stärke, da sie den Illusionen der Aufklärung abgeschworen hat. Die Tragödienschrift räumt mit dem moder­nen Optimismus auf, der an die endliche Durchsetzung der Rationalität glaubt. Nietzsches Plädoyer für den Wahnsinn, für den satyrhaften Urmenschen in einem jeden Selbst brachte zum Ausdruck, was Sigmund Freud später der Psychoanalyse als Grundsatz unterlegt hat: die potentielle Übermacht des Unbe­wußten über das Bewußtsein. Das Ich herrscht zwar, aber als schwacher König über ein Volk schlummernder Fiesen. Man kann den Mythos von Marsyas und Apollo psychoanalytisch deu­ten als Urdrama der Individuation. In der Gestalt Apollos macht sich das Ich zum Beherrscher des Es. Daß der Strom des Begeh­rens durch die List vernünftiger Berechnung gezähmt wurde, erzählt auch der Mythos: Marsyas ist nur deshalb geschlagen, weil Apollo mehr Tricks kennt - er kann die Kithara umgedreht spie­len und dazu noch singen. Das geht mit der Flöte nicht. Das Instrument ist wie sein Erfinder: Geradlinig die Modulationen eines atmenden Willens ausströmend. Apollo, der Hinter-, Unter- und Nebentöne zu erzeugen weiß, ist der Gott des Metiers, der einstudierten Fertigkeit. Daher hat sein Triumph einen schalen Geschmack. Nach der Schindung des Marsyas bleibt

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dem apollinischen Ich das Eingeständnis, daß der Sieg der Bewußtheit über das Unbewußte nur durch faulen Zauber ge­glückt ist. Daraufhin widerruft Apollo sein Urteil und zerreißt die Saiten der Kithara. Nietzsche macht es ihm in der Theorie nach: er widerruft die Idee der Subjektautonomie, die die Ästhetik der Aufklärung vertrat. Das Bewußtsein sei nicht Ursprung, sondern Gegner der Kunst. Was >Ich< sagt in mir, steht unter dem Gesetz der Selbsterhaltung. Dieses Gesetz ist der Kunst fremd; ihr Zweck ist nicht, sich zu erhalten - sie will sich verschwendet wissen! Durch ihre Formen rauscht der Fluß des Begehrens, dessen sich das rationale Bewußtsein erwehrt wie der Eremit vor der Königin von Saba. Nur wer den Versuchungen des Dionysos erliegen kann, wird Künstler. Kunst entsteht nicht wegen der Fähigkeit zum sich setzenden und sich abgrenzenden Bewußtsein, sondern ihm und dem Gesetz der Selbsterhaltung zum Trotz.

Nietzsche hat der Lobrede auf Dionysos nachgelebt. Von sei­ner Tragödienschrift sagte er: »Sie hatte singen sollen [ . . . ] , nicht reden.« 1 7 Damit aber lief Nietzsche der gelehrsamen Philologie ins Messer; die Durchführung der Maxime hat ihn die akademi­sche Laufbahn gekostet. Er selber wurde zu einem Marsyas, der die Herausforderung an die herrschende Wissenschaft teuer bezahlt hat. Dabei hat Nietzsche dem Gesetzesgott Apollo durch­aus seine Schuldigkeit entrichtet. Daß zwischen apollinischem und dionysischem Prinzip eine Mischung bestehen muß, offen­bart schon ein Blick auf Nietzsches Alltagsleben: Keineswegs ein rasender Satyr, pflegte er in Kleidung und Auftritt ein Gebaren, das sogar im modefernen Basel als ältlich auffiel. Durch die Rei­bung zwischen Zucht und Hemmungslosigkeit wird das Denken zum Sprühen gebracht. Der Schaffende verkörpert beides: Mar­syas und Apollo - der warme Mund des Zeugens und dessen Richter in einer Person. Artifex martyr! Jede bearbeitete Lein­wand ist ein Stück Haut, die sich der Künstler abzog. Der apolli­nische Teil des Selbst hat die Aufgabe, das Pochen der Unterwelt in ein tönendes Lied zu übersetzen. Apollo ist der Schöpfer einer >Mittelwelt< der Kunst, die die Sphären des Dionysos überhaupt erst erträglich macht. Apollo verkörpert die ästhetische Ver­klärungskraft - einen >Schmerzlust-Ökologen< nennt ihn Peter Sloterdijk - , während Dionysos, mit Marsyas in seinem Gefolge, zu einem Götterkreis vor aller Kunst gehört. Sie wohnen in der Nacht der Titanen, wo der absurde Schrecken gellt und die Gier unersättlich zehrt. Diese überwindend, steigt der Gott des schö­nen Maßes auf. Der blinden Vitalität öffnet Apollo die Augen; der Trieb wird zahmer und nimmt menschliche Gestalt an: Das Absurde wird Humor, Gier wird Sehnsucht, Entsetzen wird Drama. Indem Apollo das Unmäßige eindämmt, macht er das

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17 Nietzsche (zit. Anm. 16), S. 12.

18 Nietzsche (zit. Anm. 16), S. 134.

19 Piaton: Das Trinkgelage oder Uber den Eros, hg. und übers, von Ute Schmidt-Berger und Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1985. Die Herausgeber bezeichnen Piatons Symposion als eine Apologie des Sokrates, »des gerechte­sten Mannes« (S. 126). Die Hin­richtung des Philosophen 399 v. Chr. kommt im Dialog nicht zur Sprache; doch Piaton unterlegt mit dem Hinweis auf den Silen eine typologi-sche Parallele zur Aburteilung des Marsyas.

20 Siehe Piaton: Symposion, in: Piatonis opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, B d . II, Oxford 1901 , ed. Steph. 215b. Deutsche Übertragung in: Piaton, Das Trinkgelage oder Uber den Eros (zit. Anm. 19), S. 89.

Begehren als ein ästhetisch erfahrbares erst möglich. Apollinisch ist: die Vision der verfugenden Gewalt über die Triebe. Dem Müssen in der Natur schleudert Apollo sein >Ich will!< entgegen -ein Jauchzer, der sich hell dem orgiastischen Weltdonner entwin­det. Der apollinisch gezähmte Wille läßt die Notdurft als Zucht­rute der artistischen Könnerschaft erscheinen; das dionysische Urbegehren erfährt eine sinnliche Verfeinerung zum kultivierten Genießen. Die nackte Vitalität wird umgelenkt in eine Vision souverän Handelnder und Leidender.

Allerdings bleibt die apollinische Bändigungskraft nur so lange schöpferisch, als ihr Opfer, die dionysische Erregtheit, stark und unbändig bleibt. Schönstens ausgeprägt sah Nietzsche - unter den romantischen Klassizisten der Späteste - den Antagonismus bei den Griechen zur Zeit des Aischylos. »Seliges Volk der Hellenen! Wie groß muß unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nötig hält, um euren dithyrambischen Wahn­sinn zu heilen.«1 8 Schon mit Sokrates - so Nietzsche - sei aber diese hohe Zeit zu Ende gewesen; der sokratische Dialog bedeu­tete für Nietzsche Zerfall: ein seichter Optimismus der Vernunft, die sich taub stellte für die Lehren des Dionysos. - U m das Unrecht einzusehen, das Nietzsche dem Sokrates antat in seinem Rundschlag gegen alles, was nach Aufklärung roch, gilt Piatons Symposion noch immer als wirksamste Verteidigungsschrift. Die­ser Dialog setzt die Tradition des attischen Dramas mit philoso­phischen Mitteln fort. Die Inszenierung der Erkenntnis durch die Sprechenden spiegelt zugleich deren Inhalt: Eingebettet in den satyrhaften Klamauk eines Zechgelages entfaltet sich die Lehre Diotimas, wonach die Ekstase der Urtrieb zur Weisheit ist. Dieser Lehre ein Exempel beistellend, läßt Piaton zu später Stunde noch Alkibiades auftreten: volltrunken, gestützt auf die Schultern einer Flötenspielerin, bricht er in die Runde der maßvoll Trinkenden ein und löst die bisher eingehaltenen Regeln der Unterhaltung auf. Vom Wein begeistert und von der Verliebtheit in seinen Leh­rer, fuhrt Alkibiades aus dem Stegreif eine hinreißende Lobrede auf Sokrates. Einen rasenden Satyr nennt er ihn; seine gedrun­gene Gestalt sei Marsyas 1 9 ähnlich: »Ich behaupte nämlich, er ist ganz und gar den Silenen vergleichbar, die in den Bildhauerwerk­stätten ausgestellt sind - wie die Künstler sie mit Hirtenpfeifen oder Flöten in den Händen schnitzen; klappt man sie auseinan­der, so kommen innen Götterbilder zum Vorschein.«2 0 Das auf­klappbare Kultgerät machte die Schindung des Marsyas auf mechanische Weise repetierbar. Die göttliche Idee wurde von einer Faunshülle verborgen, die wegzuziehen war, damit jene sich offenbare. Nicht zuletzt pries Alkibiades Sokrates' Trinkfestig­keit: Als der Morgen graute, hatte Sokrates nämlich gezeigt, daß

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er nicht nur am meisten vertrug, sondern trotz - oder gerade wegen des vielen Weins - zuletzt der Redekundigste blieb. Aga­thon und Aristophanes schliefen ein, während der Meister sich noch darüber ausbreitete, ein wahrhaft großer Dichter müsse die Komödie so gut wie die Tragödie beherrschen.

Sokrates vertrat das antike Ideal der Unerschütterlichkeit: sich als Individuum zu erfahren im zähen Standhalten gegen den unbändigen Strom des Lebenwollens. Entspricht diese nüchterne Trunkenheit oder trunkene Nüchternheit nicht jener >Mittel-weltx, die Nietzsche in seiner Tragödienschrift beschwört? Jedes Kunstwerk ist Produkt eines Ausgleichs, einer versteinerten Spur des Kampfes zwischen Apollo und Marsyas. Wie aber entgeht das Werk der Gefahr, die dem Ausgleich innewohnt: als seichter Kompromiß die Härte des Kampfes vergessen zu machen? Man täusche sich nicht: Auf der Ebene des künstlerischen Scheins gewinnt Apollo immer; er diktiert die Bedingungen für den Aus­gleich im Werk. Das Apollinische ist die Seite der Illusion, die das Kunstwerk überhaupt erst erfahrbar macht. Der Künstler ist gezwungen, das Leben zum Artefakt zu verharmlosen, damit es sichtbar wird. Die titanische Gier und das Leiden, die das Kunst­wollen hervortreiben, werden durch das Werk schließlich im ästhetischen Augenblick dessen Genusses überstrahlt.21

»Vielmehr ist die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt.«2 2 Dieser Satz Nietzsches ist so schön, daß er das wirklich Bittere, von dem er spricht, zu überhören verfuhrt. Es verschweigt sich viel hinter einer verklärenden Erinnerung - vielleicht an Tribschen? an eine Plauderei mit Cosima? - , die eine Föhnstimmung am Vierwaldstätter See zum melancholischen Sprachbild verdichtet hat. Nicht einmal der Produzent mag später daran zurückdenken, aus welchen persön­lichen, allzu persönlichen Lebensumständen seine Arbeit tatsäch­lich hervorging. Als Ungesagt-Unsägliches erlischt die subkutane Produktionserfahrung im vollendeten Produkt.

Aber nur in den akademischen Werken der Mittelmäßigkeit tritt die Erinnerung an Marsyas ganz zurück: Dort triumphiert die Beschönigung Apollos mit naiv lärmender Harmlosigkeit. Ein großer Künstler hingegen wird die apollinische Illusion so durchsichtig spinnen, daß die Dissonanz - der schreiende Mar­syas! - über dessen Tod hinaus vernehmbar bleibt. Dann verhält sich der Künstler wie der delische Gott, der sich seines Sieges hinterher geschämt hat. Besuche auch du die Grotte von Kelai-nai! Hier ist die Haut des Marsyas aufgespannt über der Quelle. Die Sage weiß, daß der Balg sich bewegt zu den Tönen einer

21 Peter Sloterdijk spricht von »clandestiner Verdoppelung des Apol­linischen«, und er bemerkt: »Ein apollinisches Prinzip regiert über dem Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen«, in: ders.: Der Denker auf der Bühne, Nietzsches Materialis­m u s , Frankfurt a. M . 1986 , S. 164 , S. 56.

22 Nietzsche (zit. Anm. 16), S. 58.

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phrygischen Flöte - als fahre das Leben des Fauns, durch göttli­che Reue versöhnt, wieder in seine Hülle zurück.

Das Publikum steuerte das Seine bei, Apollo das grausame Urteil leidig zu machen. Ovid erzählt, alle Zeugen des unglei­chen Wettkampfs hätten auf Marsyas' Seite mitgelitten:

Ihn beweinten die Götter des Feldes / und Waldes, die Faune, / auch seine Brüder, die Satyrn, Olympus, / der jetzt ihm noch teuer, / auch die Nymphen und jeder, der dort in / den Bergen die Herden / wolliger Schafe geweidet und / hörnertra­gender Rinder. / Naß ward die fruchtbare Erde, sie / nahm die fallenden Tränen / auf und trank sie ein in die Adern der Tiefe und ließ ein / Wasser sie werden und sandte es wieder / hinaus in das Freie. / Strömend in steilen Ufern von dort zu / dem raffenden Meere, fuhrt es des Marsyas Namen als klarster der phrygischen / Flüsse. 2 3

Die Sympathie des Publikums verwandelte den leiblichen Mar­syas in einen Fluß aus Tränen. Machtlos, wie das Opfer, neigt sich der Zuschauer allem Scheiternden entgegen, in dem er sein eigenes Schwachsein wiedererkennt, während der allzu strah­lende Sieger, der allzu konsequente Rechtsstandpunkt nichts Anrührendes verströmt. Der Beitrag der Zuschauer im Wettstreit zwischen Apollo und Marsyas bildet ein Drittes, das die bloße Polarität des Apollinischen und des Dionysischen überwölbt: das Mitleid - Nietzsche hat es bekämpft. Bekämpfen muß es auch der Künstler, wenn er die Schärfe der Idee - ganz im Sinne Apol­los - an seinem Marsyas vollziehen will. Dem Kunstbetrachter ist es gegönnt, weich und versöhnlich zu sein und ein >tertium datur< zu sprechen, das in den Chor der Flurgötter und Dämonen einstimmt, die um ihren Bruder weinen, erniedrigt wie dieser durch Apollos Schroffheit. Dieser Chor ist die mythische Vor­wegnahme des Publikums. Der Fluß der Tränen, den jener gestiftet hat, ist eine sentimentalische Abfindung, die jeder mit­leidende Zuschauer seither bekräftigt: Das Opfer ist rehabilitiert in der Möglichkeitsform der Kunst. Die ästhetisch Mitleidenden stellen das Dionysische, das abgetötet ward, durch Nachahmung wieder her; ihr hemmungsloser, hingebender Fluß der Sympathie vertritt jetzt den Fluß des Begehrens, sublimiert in Form einer kulturellen Erfahrung.

Das Mitleid: Göttliche Gnade und künstlerische Katharsis im Zweiklang

Hier sei der Ort, die rituelle und die künstlerische Dimension von Michelangelos Jüngstem Gericht zu unterscheiden als zwei Ebenen, die sich durchdringen, so wie die Figuren von Apollo und Christus, Bartholomäus und Marsyas ineinander verschränkt

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23 Publius Ovidius Naso: Meta­morphosen, hg. und übers, v. Erich R ö s c h . München 1952, 6. Buch/ 3 V 2 - 4 I M ) .

sind. Im Wandgemälde der Sixtina wird eine neuzeitliche Schnittstelle religiöser und ästhetischer Auffassungen sichtbar. Als Ausmalung eines Kirchenraums verbildlicht das Fresko einen christlichen Glaubensinhalt; zugleich veranschaulicht es eine künstlerische Inspirationslehre. Das Jüngste Gericht zeigt den Pro­zeß, der den Auferstandenen gemacht werden wird, und ist zugleich Parabel für den Kunstprozeß, der sich in der Schindung des Marsyas symbolisiert. Die Auferstandenen werden gerichtet werden von Christus, so, wie der Künstler sich von Apollo hat richten lassen. Religiöse und ästhetische Erfahrungen erscheinen als parallele Vorgänge; das Verschränken der beiden Ebenen ist eine Leistung der neuzeitlichen Kultur, die religiöse Erfahrung in Form von sinnlich erfahrbaren Kunstparabeln vorführte.

So verkündet das Jüngste Gericht eine Heilstatsache von schrecklicher Erhabenheit und ist zugleich Göttliche Komödie. In Michelangelos geistlichem Schauspiel treten biblisch belegbare Figuren auf, von denen einige in der Maske von Antiken zugleich die Rollen ästhetischer Erfahrung vorspielen. Den mythischen Zuschauern im Wettstreit zwischen Apollo und Marsyas entspricht der Kreis der Heiligen um Christus im Jüng­sten Gericht. Im religiös-gegenständlichen Sinne veranschaulicht er die Fürbitte am Pdchtstuhl Gottes; wirkungsästhetisch erfüllt er die Funktion des Chors, dessen Figuren als Vermittler zwi­schen Publikum und Hauptgeschehen die Sinne des Betrachters in das Mitleid erheischende, geistliche Drama hineinziehen. Zum Chor der Heiligen, die den richtenden Christus-Apollo als Fürbitter umgeben, gehört Beatrice, Dantes Kunstfigur. Sie hat im 31. Gesang ihren Dichter verlassen, um in die Entrücktheit am Thron Gottes zurückzukehren. Michelangelo malt sie an die­ser Stelle, zur Linken der Eskorte Christi, wo die Frau unter den heiligen Statisten eine aktive Rolle einnimmt: Über die Köpfe hinweg gibt sie Bernhard von Clairvaux ein Zeichen, Dante bei­zustehen. »A terminar lo tuo disiro / mosse Beatrice me del loco mio;« 2 4 erklärt Bernhard dem erstaunten Dichter, der plötzlich, statt der Freundin, den Greis vor sich findet - Michelangelo malt ihn bärtig, mit der weißen Kappe des Zisterziensers. Der heilige Bernhard begleitet den Dichter das letzte Stück des Weges im Paradies und richtet sein Bittgebet für Dante an Maria, die als höchste Fürbitterin den richtenden Gott begleitet.

Donna, se' tanto grande e tanto vali, / che qual vuol grazia ed a te non ricorre, / sua disianza vuol volar sanz'ali. / La tua benignitä non pur soccorre / a chi domanda, ma volte fiate / liberamente al dimandar precorre. / In te misericordia, in te pieta-te, / in te magnificenza, in te s'aduna / quantunque in creatura h di bontate. / Or questi, che daH'infima lacuna / dell'universo infin qui ha vedute / le vite spiritali ad una ad una, / supplica a te, per grazia, di virtute / tanto, che possa con Ii occhi levarsi / piü alto verso Fultima salute. 2 b

24 Paradiso X X X I / 6 4 - 6 6 , zit. nach: La Divina Commedia (zit. Anm. 10). »Um zu beenden dein Verlangen, / trieb Beatrice mich von meinem Ort,« zit. nach: Die Göttliche Komödie (zit. Anm. 10), S. 448.

25 Paradiso X X X I I I / 1 3 - 2 7 ; Deutsch von Stefan George unter dem Titel: »Gebet des Heiligen Bernhard«, in: Dante Alighieri: Göttliche K o m ö ­die, übertragen von Stefan George, Berlin 1912, S. 116-117.

»O Frau! du bist die große Hilfe­volle. / Wer Gnade sucht und nicht zu dir sich wendet / Ist wie wer ohne Schwingen fliegen wolle. / U n d so ist deine Milde daß sie sendet / Nicht nur dem bittenden - oft ward dem armen / Freigebig vor dem Bitten schon ge­spendet. / In dir ist mitleid! In dir ist erbarmen! / In dir ist Langmut! Was nur j e des guten / In menschen war entströmt aus deinen Armen. / N u n naht er dir der aus tiefuntern gluten / Des Weltalls sich erhob zu dieser Steile. / Durch alle stufen sah der geister fluten / U n d ruft zu dir daß deine Huld ertei­le / Die Kräfte seinem blick und daß er trete / N o c h weiter aufwärts bis zum größten Heile.«

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26 Bezweifelt von R e d i g de Campos und von Greenstein (zit. Anm. 4).

27 Siehe Tolnay (zit. Anm. 12). 28 Michelangelo Buonarroti :

R i m e , hg. v. Enzo N o e Girardi, Bari 1960, S. 87. »Herr, in der letzten Stunde, / streck' nach mir deine mitleidigen Arme, / zieh' mich aus mir und mach' mich zu einem, der dir gefällt.« (Übers, v. Verf.)

29 Paradiso 1/13-21, zit. nach: La Divina Commedia (zit. Anm. 10), deutsch von Stefan George unter dem Titel »Anruf Apollos«, in: Göttliche Komödie (zit. Anm. 25), S. 94.

»Apollo gütiger! zur lezten [sie] mühe / Gib daß ich so viel deiner kräf-te fasse / Daß der geliebte lorbeer dann mir blühe! / Bislang braucht ich Ein joch nur zum Parnasse / Doch für die jetzo mir gezogne strecke / Bedarf ich beider eh ich ein mich lasse. / Dring nun in meinen busen und erwecke / Die töne wie einst in des Marsyas jähre / Als du ihn zogst aus seiner glieder decke!«

So scheint es in Michelangelos Gemälde, als wende die Gottes­mutter ihr Gehör in die Pachtung des um Dantes Erlösung bittenden Mönchs. Ihre Geste des Hinhorchens steht für das Erwachen der göttlichen Gnade; ihre kauernde Haltung - hier als ein Aufkeimen von Zuwendung zu sehen - zitiert die römische Kopie einer hellenistischen Venusstatue. Im christlich-dogmati­schen, antikisch-ästhetischen Zweiklang, den Michelangelo ins Bild gebracht hat, spiegelt sich in der Figur der Maria die höchste Fürbitterin und die Göttin der Liebe - derselben Liebe, die schon Dante, Beatrice vor Augen, durch das Paradies geleitet hat. Beatri­ces Anwesenheit im Chor von Michelangelos Heiligen unterstützt eine Identifizierung der stämmigen Figur links von Johannes dem Täufer als Eva. 2 6 Die zwei Frauen umrahmen den linken Flügel im Kreis der Heiligen: Die höher stehende, bekleidete Beatrice antwortet der aufblickenden, nackten Mutter der Menschheit als Verkörperung der Himmlischen auf die Irdische Liebe. - Dante, der Empfänger liebender Fürbitte im Himmel, entsteigt eben sei­nem Grab, und wie in der Göttlichen Komödie, so weist, links unten im Jüngsten Gericht, wieder Vergil den Weg nach oben. Hinter den Dichtern, die den antiken und christlichen Zweiklang von Kunst und Religion verbildlichen, blickt Michelangelo selbst aus dem Bild. Der Maler, der sich als Auferstehenden malt, hat gar zwei Fürbitter im Himmel. Tolnay 2 7 identifizierte das halbverdeckte Frauengesicht hinter dem Rücken des hl. Laurentius als Vittoria Colonna, den Mann hinter Bartholomäus als Tommaso Cavalieri. Nach Michelangelos Vision leisten die beiden Freunde, die ihn während der Entstehung des Kunstwerks im Leben begleiteten, seiner armen Haut am Jüngsten Tag Beistand - im Schutz von Laurentius und Bartholomäus, wenn Christus-Apollo ihn richten wird. Aus den späten 1530er Jahren, der Entstehungszeit des Wandgemäldes, stammt das Sonett 161, das Michelangelo Vittoria widmete: »Signor, nell'ore streme / stendi ver me le tue pietose braccia / tomm' a me stesso e fammi un'che ti piaccia.«2 8 Wie Bea­trice dem Dante, so schweben Vittoria und Tommaso Michelan­gelo vor als die Brennpunkte vergeistigter Liebe im Sinne der Vita Nuova<. Die liebenden Fürsprecher im Himmel wohnen dem Moment bei, wo ein gütiger Apoll die Bitte des Malers erhört, Gott möge >ihn aus sich herausziehend ein Eingriff, der den Künstler-Marsyas aus der engen Haut des Selbst erlöst und ihn zur mystischen Vereinigung mit Gott befähigt. Michelangelos Bitte ist eine Paraphrase auf Dantes Gebet beim Eintritt ins Paradies:

O buono Apollo, all'ultimo lavoro / fammi del tuo valor si fatto vaso, / come dimandi a dar l'amato alloro. / Infino a qui Tun giogo di Parnaso / assai mi fu; ma or con amendue / m'e uopo intrar nell'aringo rimaso. / Entra nel petto mio, e spira tue / si come quando Marsia traesti / della vagina delle membra sue. 2 9

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Marcello Venusti, Dante, Vergil und Michelangelo als Auferstehende, 1549, Detail aus der Kopie von Michelangelos Jüngstem Gericht

Michelangelo hat die Anregung wohl aus Raffaels Stanza della Segnatura übernommen; dort schmückt eine Schindung des Mar­syas das Gewölbe zwischen den Wandbildern des Parnaß und der Disputä, in denen Dante erscheint: als moderner Dichter zwi­schen Homer und Vergil, als christlicher Denker zwischen den Heiligen Thomas von Aquin und Bonaventura. Raffael hat damit Dantes Bitte genau umgesetzt, Christus als Apoll möge ihn vom Parnaß ins Paradies führen. 3 0 Michelangelo verflicht in der Six-tina das concetto Dantes zu einem Existenzbild des Künstlers, der sich als Maler dem Künstlergott Apoll stellt, als Mensch dem Schöpfergott der Christen. Seine Haut wird zwar gerichtet, doch bei aller Angst vor dem Jüngsten Tag überwiegt das Vertrauen, erlöst zu werden: Michelangelo malt sich, neben Dante, Vergil und allen Auferstehenden auf der linken, der heraldisch >rechten< Seite des Pachters, wo nach der Bildtradition die Guten stehen.

So scheint das Vendetta-Gedröhn der Heiligen zu verstummen und statt des drohenden >Dies irae< die Fürbitte des heiligen Bern­hard nachzuklingen. Die Szene der Verdammnis, die die Kunst­historiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Michelan­gelos Wandbild der Sixtina erblickt hatten, verwandelte sich unter den Augen der Kunsthistoriker in den 80er Jahren zu einer Szene der Erlösung. So hat Greenstein den Christus des Jüngsten Gerichts im Licht einer Transfiguration gedeutet.3 1 »Drama of Judgement or Drama of Redemption?« fragt John W. Dixon und kritisiert die alte Meinung, Christus verdamme zornig die Gerichteten. »What

30 Johann David Passavant hat den ikonologischen Zusammenhang erkannt in: Raffael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, 2 Bände, Leipzig 1839-1858.

31 Greenstein (zit. Anm. 4), J o ­hannes der Täufer und Petrus, die den Kreis der Heiligen um den Welten­richter anfuhren, wären demgemäß die evangelischen Gestalten einer Erfül­lung, die auf dem Berg Tabor in den prophetischen Gestalten des Alten Testaments, Elijah und Moses als B e ­gleiter des verklärten Christus, voraus­gedeutet ist.

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32 John W. Dixon Jr.: Michelan-gelo's Last Judgement: Drama o f Judge-ment or Drama of Redemption? in: Studies in Iconographie, 9, 1983, S. 69.

33 Dixon (zit. Anm. 32), S. 71 . 34 Leo Steinberg: A Corner of

the Last Judgement, in: Daedalus, 109, 1980, S. 257. Steinberg weist darauf hin, daß Michelangelo der valdensi-schen Frömmigkeit aufgeklärter Kreise zuneigte, zu denen auch Vittoria Colonna gehörte. Vittorias Beichtvater war Bernardino Ochino, der G e ­neralvikar der Kapuziner und Für­sprecher valdensischer Theologie. Juan de Valdes hatte die Realität der Hölle und der ewigen Verdammung in Zweifel gezogen, da sie mit der umfas­senden Güte Gottes nicht vereinbar sei. Im Jüngsten Gericht erwartete er Christus als den Zweiten Adam, der die Menschheit, die der Erste Adam ins Verderben gebracht hatte, in einem Erlösungsakt ins Heil zurückfuhren wird. Das Konzil von Trient (1545— 1563) verurteilte die Lehren von Valdes als Häresie.

35 Auch Werner Hofmann bringt diesen Gedanken auf und belegt ihn mit einen Ausspruch des Erasmus zur >Silen-Natur< des Heilands. Siehe Hofmann (zit. Anm. 1), S. 407.

36 Benjamin Wiffen bemerkt zu Valdes' >Hundertundzehn göttlichen Betrachtungen: »Men deceived by human philosophy and chiefly misled by superstition and false religion, repre-sent god to us as so fastidious and iras-cible, that he is offended at anything; as so vindictive, that he punishes all of-fenses; as so cruel that he chastizes with eternal punishment.« Siehe Benjamin Wiffen: The Life and Writings of Juan de Valdes . . . , with a Translation of his Hundred and T e n Considerations, London 1965, S. 307. Zit. nach: Steinberg (zit. Anm. 34), S. 252.

we actually see is a remarkably handsome young man, looking downward to his left and holding his hand over his head.« 3 2 Nur ein Sechstel der Auferstandenen scheine verdammt zu werden. »Thus the Last Judgement is not a Dies Irae but an exultant repre-sentation ofthat remarkable article in the Creed, the Resurrection of the Body.« 3 3 Leo Steinberg spricht von einer »mercyful heresy« Michelangelos, das Häufchen der Sünder links unten im Bild werde — so Steinberg — nicht einmal verdammt, sondern erleide bloß »a remedial, purgatorial punishment, inflicted for the sinner's ultimate restoration.«3 4 Zwar erhebt Christus die rechte Hand richtend, doch weist er mit der linken Hand zugleich auf das Wundmal. Die Leidenswerkzeuge, die am Himmel erscheinen, zeigen an, daß der Weltenrichter, wie Marsyas, ein Märtyrer war. 3 5 Sollte er am Jüngsten Tag sein Leiden einfach rächen wol­len, einfach die Schöpfung verwerfen, deren kreatürliche Qualen er selbst bis zur Neige durchmessen hatte? Ein derart banaler Gott verdiente die Anhänglichkeit und Ehrfurcht seiner Geschöpfe nicht. Ein aufbrausender Götze in der Sixtina könnte nicht der sein, der Er ist; eher käme der wütende Rechthaber als Welten­richter einer apollinischen Selbstbezichtigung des Interpreten gleich. 3 6 Die Aufhellung der Deutungsvorschläge in den 80er Jah­ren, die die Figuren in einem Umkehrschub nicht mehr fallen, sondern steigen läßt, ist durch die aufhellend bunte Restaurierung der 90er Jahre besiegelt worden. So nimmt Denkmalpflege teil an der Interpretation von Kunstwerken.

Michelangelos Jüngstes Gericht vermittelt die Vorstellung, daß Gott seine Geschöpfe erlösen wird, so wie der Künstler wußte, daß seine Schöpfung in der Sixtina gelungen war: »Und siehe, es war gut.« Das W^tgericht ist Kunstprozeß: In der Neuzeit ver­laufen religiöse Inhalte und künstlerische Konzeptionen parallel in jenem dogmatisch-ästhetischen Zweiklang, der in der M o ­derne in das Unisono der autonomen Kunstreligion mündet. Die dogmatischen Glaubensinhalte verdampfen, doch die rituellen Topoi des Religiösen - das kathartische Richten und Reinigen, die Selbstaufgabe, die Erlösung aus dem Käfig der Individuation, die mystische Vereinigung mit einem allgemeinen, höheren Prinzip - bleiben in den Kunsttheorien der Moderne als säkulare Metaphysik erhalten. Die Erlösung der Menschen ist demnach präfiguriert im gelungenen Kunstwerk; der Gedanke, der sich bei Michelangelo noch im antikisch maskierten Unterton äußert, wird vorherrschend.

Man kann das entstehende Kunstwerk als ein Mysterium betrachten, bei dem Apollo den Marsyas schindet. Die Kulthand­lung wird eingeleitet vom Künstler, der als letzter Schamane der aufgeklärten Gesellschaft deren Bedürfnis nach Rätseln verwal-

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Tizian, Apollo und Marsyas, um 1570-76

ten darf. Wie auch immer er das Ritual gestaltet, der Künstler handelt unter einem tierverwurzelten Wiederholungszwang der Individuation: Er muß, stellvertretend für alle, die schmerzhaften Nachwehen in den Narben, die die Arbeit am Ich zurückließ, immer und immer wieder aufrühren. Das Uropfer, in dem der primitive Grund seiner Selbst dargebracht wird, wird in jedem Werk von neuem vollzogen. Unverstellt von christlichen Heilsbedeutungen, gewissermaßen heidnisch, schildert Tizians Schindung des Marsyas den Kunstprozeß als Opferung: Mit er­griffenem Staunen sinnt König Midas über das Geschehen. Umrahmt von einem Faun, einem Kind und von Hunden sticht sein Antlitz - ein Selbstporträt des Malers? - entschieden aus der Anonymität dumpfer Kreatur hervor: als Principium individua-tionis. 3 7 Dem Publikum kommt die Rolle zu, den rituellen Kreis zu schließen; sein Mitleiden läßt das Opfer im Andenken der eigenen Niederlage wiedererstehen - Triumph der Ohnmacht aller, die den Wettstreit des apollinischen Ich gegen das dionysi­sche Es einst auch hatten gewinnen müssen.

Damit ende ich meine Klage um Marsyas. Sie sei ein Preislied auf das Flötenspiel des Fauns - und sollten mir darob, wie König Midas, die Eselsohren wachsen!

37 Zur Auffassung, daß Tizian sich in der Gestalt des Midas porträtiert hat, siehe Jaromir Neumann: Tizianuv Apollo a Marsyas v Kromerizi, Umeni 1961; ders.: Marsyas ecorche, Prag 1962.

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ERSTENS: DER STREIT

Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist von Raffaels Transfiguration

Der Pessimismus der Stärke

Nietzsches Ablehnung des Mitleids ist ein Schritt in die Klassi­sche Moderne.

Daß die Kunst >Mitleid und Schrecken< zu erregen habe, gehört zur Tradition aristotelischer Wirkungsästhetik: Sie sollte von Nietzsche verabschiedet werden. Biographisch vollzog er diesen Schritt im Bruch mit Richard Wagner, der ihn zur Nie­derschrift der Geburt der Tragödie angeregt hatte. Wahrlich, ein pseudomorphes Unterfangen: Was im Mai 1869 auf Tribschen, Wagners Asyl bei Luzern, begonnen wurde als philosophisches Seitenstück zum Ring des Nibelungen, verkehrte sich zur polemi­schen Absage. Cosima und Richard hätten es eigentlich als erste Leser schon merken können, einen Kuckuck in ihrem Nest aus­gebrütet zu haben. Doch der Untertitel wahrte den Schein der Verbundenheit: Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik hieß es da liebedienerisch. » . . . aus dem Geiste der Musik« wurde für die Neuauflage von 1886 gestrichen und durch den Untertitel Grie­chentum und Pessimismus ersetzt. Ein gezielter Szenenwechsel auf der tragischen Bühne! Deren Kulissen könnten an den Sorrenti-ner Herbst 1876 erinnern, wo sich Nietzsche und Wagner zum letzten Mal trafen und ihre Entfremdung nicht mehr zu über­spielen war. Hier, in den Grotten der Felsküste, in der hellen Sonne des Mittelmeers, war Dionysos zuhause. Die christlichen Motive des Parsifal-Stoffes, finster und schwer wie die gründer­zeitlichen Polsterbezüge in Wagners Villa Wahnfried, paßten nicht in Nietzsches hellenische Landschaft. Und in den triefen­den Nebeln Walhalls gedeiht die Weinrebe nicht.

Das Vorwort begründet Nietzsches Distanz zu Wagner mit der Antwort auf die Frage: »Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins?« Drei Grundübel machen die wahre Dekadenz aus: Optimismus, Moralismus und die »dialekti-

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sehe Unlustigkeit der Deutschen« 1. Der zeitgenäße Optimismus: Das war der Fortschrittsglaube in Politik, Naturwissenschaft und Technik. Die Geburt der Tragödie, dieses erste Manifest der Klassi­schen Moderne, polemisiert gegen die real existierenden Verhält­nisse des modernen Lebens. Der Avantgardeblick durchbohrt das Bestehende, schaut rückwärts nach vorwärts. Den wahren Pessi­mismus der Stärke< erkannte Nietzsche in den Dramen des Äschylus aus der Zeit um 500 v. Chr. - einem Kairos der Kultur, dem das Zeitalter des Sokrates schon 100 Jahre später ein Ende bereiten sollte. Heidegger wird seine Zivilisationskritik der >Seinsvergessenheit< an derselben Epochenschwelle ansetzen.

Mit Sokrates beginnt die Philosophie, optimistisch und mora­lisch zu werden, schlägt sich mit Fragen des gesunden Menschen­verstands und des Alltags herum und gleicht darin aufs Haar dem 19. Jahrhundert der Sozialverträge und Sozialverträglichkeit - der >Sklavenmoral<. Man muß dieses berüchtigte Wort im Sinne von Nietzsches »Pessimismus Jenseits von Gut und Böse«<2 verstehen: nicht als (anti-)moralisches, sondern als ästhetisches Postulat. Nietzsche lehnte das Moralisieren ab, das in Kunst und Literatur so schwülstig daherkam mit einer falschen Versöhnlichkeit, die un­ter Plüsch und Schnörkelwerk die Härten der industriellen M o ­derne verbarg. Das Verdikt der >Sklavenmoral< richtet sich gegen die Tendenz zum Sozialkitsch. >Sklavenmoral< entstammte eigent­lich den Herrenphantasien, deren erhobener Zeigefinger davon ablenken sollte, daß es in der Gegenrichtung zum Bordell ging.

Der philosophische Anachoret in heiterer Mitleidlosigkeit auch gegen sich selber, der Herrenmensch in klar durchlüfteter Einsamkeit auf Zarathustras Gipfel, sie umschreiben den Künstlerstandort der Klassischen Moderne. Mondrian wird diese Position ansteuern mit seiner Kunst des Aufgehens im mniversel-len Gleichgewicht jenseits individueller Stallwärme, jener Quelle allzumenschlicher Tragik. Der künstlerische Selbstent­wurf einer ästhetischen Existenz realisiert und radikalisiert den Pessimismus der Stärke<, der mit den Annehmlichkeiten des All­tagslebens gebrochen hat.

Die Stallwärme individueller Gemütlichkeit: Sie bildete das dritte Grundübel, die »dialektische Unlustigkeit der Deutschen«, jenen Dreischritt von Versagung und Versöhnlichkeit in all seinen theologischen und philosophischen Gestalten. Zunächst natürlich in der Hegeischen. Gegen Hegel zu sein, war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beileibe kein herausragendes Merk­mal; für viele Intellektuelle der Klassischen Moderne war er der Buhmann der Philosophie, der vom Katheder den Zweckopti­mismus des preußischen Beamten vertrat und mit dialektischer Unlustigkeit< vom Wirklichen auf das Vernünftige schloß.

1 Friedrich Nietzsche: Die G e ­burt der Tragödie, Schriften zu Litera­tur und Philosophie der Griechen, hg. v. Manfred Landfester, Frankfurt a. M . 1994, S. 9-10 u. S. 12.

2 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 14.

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Dialektisch war aber auch das Christentum, das den Drei­schritt predigte von Leben, Tod und Auferstehung. Die salbungs­vollen Phrasen zwischen Entsagung und Verklärung sah Nietz­sche allerdings fortgesetzt von seinen beiden Lehrmeistern; das Vorwort zur Ausgabe seiner Geburt der Tragödie von 1886 ist ein Aufstand gegen die geistigen Ziehväter Arthur Schopenhauer und Pdchard Wagner. Nietzsches Ablehnung des Mitleids rich­tete sich gegen Schopenhauers ethische Maxime von der Vernei­nung des Willens<; die umfassende Sympathie für die Leiden der Kreatur lenke den wollenden Willen von dessen selbstbegehr­licher Trägheit ab. Nietzsche witterte hinter solcher Lehre einen als Buddha kostümierten Pfarrherrn. Der Verneinung des Wil-lens< schleuderte der ungebärdige Schüler sein Jasagern entgegen. Pfäffisch schien ihm schließlich auch Wagner als Dramatiker; auf ihn ist Nietzsches dialektische Unlustigkeit der Deutschem direkt gemünzt. Die aristotelische Dramentheorie verfährt dia­lektisch - der Ring des Nibelungen in seinen vier Teilen, was war er anderes als die titanische Umsetzung eines Handlungsgefuges von der Exposition über die Katastrophe zur Katharsis? Und der Zuschauer war verdammt, diesen schweren Dreischritt mit dem Helden auf der Bühne zu machen, während er im Theatersessel saß und den Willen verneinte, in der Empfindung von Mitleid und Schrecken für ein paar Schauspieler! An die Stelle der Trias des Dramas setzte Nietzsche die Dualität des tragischen Pessimis­mus, der darin bestand, die unlösbare Spannung des Apollini­schen und des Dionysischen in sich auszuhalten.

Nietzsches Griechentum kennt keinen Himmel, aber auch nicht Fegefeuer und Hölle. Es gibt kein Mitleid und keine Ver­söhnung in der Kunst. Die Tragik reinigt den Helden nicht vom ewigen Konflikt, den das Leben der Individuation als Erblast zumutet. Erlösung ist »Artistenmetaphysik«, Nietzsche macht sich 1886 selber den Vorwurf, zur Zeit der Abfassung seiner Geburt der Tragödie noch einer »Kunst des metaphysischen Tro­stes« das Wort geredet zu haben. Dieser Versuchung, zu der die Kunst nur zu gern verführt, der er selber ja fast erlegen wäre, begegnet er nun: »Nein, dreimal nein! Ihr jungen Romantiker: es sollte nicht nötig sein! Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß ihr so endet, nämlich >getröstet<, wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, >metaphysisch getröstetx, kurz wie Romantiker enden, christlich.«3 Dionysische Kunst aber darf nichts versprechen. Sie weist den Betrachter auf sich selber zurück, hält ihn nur an, den Pessimismus der Stärke auszuhalten. Eigentlich ist die Tragödie, dionysisch verstanden, kein Drama im aristotelischen Sinn. Tiefste Tragik verlangt vom Betrachter weder Mitleid noch erzieherische Läuterung. Der ein-

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3 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 17-18.

zige Auftrag der Kunst ist, über dem dionysischen Abgrund von Gier und Leid fliegen zu lernen. Auftrieb gibt dem Segler die Antwort >Nichts< auf die Sinnfrage. Der Pessimismus der Stärke erzeugt eine schwindelerregende Leichtigkeit, nachdem grüble­risch-gravitätische Gedanken als Ballast abgeworfen wurden. Auch Melancholie gehört nicht ins Gepäck - sie ist für den Auf­stieg zu schwerblütig. »Ihr solltet lachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt.« 4

Auch Mondrians Ablehnung des Tragischen ist von Nietzsche her zu verstehen. Seine Kompositionen sind Einübungen in die Leichtigkeit, das Individuelle zu überwinden im Angesicht des >universellen Gleichgewichts<. Doch greifen wir kunsthistorisch nicht vor und fragen uns vielmehr, was Nietzsche sah, wenn er dionysisch dachte.

Rausch und Traum

In der Geburt der Tragödie liefert Nietzsche eine ausführliche Be­schreibung von Raffaels Transfiguration, in der sich das gedankliche Konzept der Schrift visuell verdichtet. Das Gemälde von 1520 ist ein Bild des 19. Jahrhunderts, was seine Berühmtheit betrifft. Nietzsche kannte das Gemälde nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus Jacob Burckhardts Cicerone; und doch bildet seine Deutung in der Geburt der Tragödie den Höhepunkt eines Diskur­ses: Seit Winckelmann stritt man sich über die Frage nach Sinn und Geglücktheit von Raffaels schroffer Komposition. 5 Burck-hardt stand auf der Seite der Verteidiger: »Hier wird durch einen dramatischen Gegensatz, den man ungeheuer nennen darf, das Übernatürliche viel eindringlicher dargestellt, als alle Glorien und Visionen der ganzen übrigen Malerei dies vermocht haben.«6

Eine ikonographische Entschlüsselung mag die merkwürdige Doppelhandlung im Bild inhaltlich erklären. Eingerichtet in ein Oben und Unten, bezieht sich Raffaels Gemälde auf zwei Bege­benheiten, die in Matthäus 17 und Lukas 9 geschildert werden: die Verklärung Christi und die Heilung des besessenen Knaben. In der dunklen Bildzone, unten rechts, ist der Mondsüchtige zu sehen, gehalten vom Vater, der die Jünger verzweifelt um Rat fragt. Doch ratlos sind auch sie, ihre Meinungen gehen auseinan­der, wie ihr Gestikulieren, das Da- und Dorthin-Zeigen der Hände andeutet. Ein Jünger, vorne links, buchstabiert nach einer Erklärung in der Bibel. Sein Glaube ist, wie geschrieben steht, »kleiner als ein Senfkorn« (Matth. 17/14-21), denn er sucht die bergversetzende Kraft nicht im eigenen Herzen. Dort könnte er finden, was wir als Bildbetrachter sehen: Christus, auferstanden

4 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 18. 5 Siehe dazu Wolfgang von

Löhneysen: Raffael unter den Philoso­phen, Philosophen über Raffael, Ber­lin 1992.

6 Jacob Burckhardt: Cicerone, bearbeitet v. Wilhelm Bode, 2. Teil, Die Kunst des Mittelalters und der Renaissance, 4. Auflage, Leipzig 1879, S. 657.

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Raffael, Transfiguration (Verklärung Christi), 1519/20

von den Toten, wie es das Alte Testament voraussagt. Zwei Pro­pheten, Moses und Elija, umschweben als Zeugen die Lichtge­stalt, die so hell ist, daß die Apostel Petrus, Jakobus und Johannes auf dem Berg Tabor geblendet zu Boden sinken. Neben den Propheten zeigt das Bild zwei Figuren, die dem strahlenden Hei­land anschauend standhalten. Vielleicht sind es Stifterfiguren, die am linken oberen Bildrand knien, die eine betend, die andere mit einer hingebenden Gebärde, bereit, die Wundmale zu empfan­gen. Mit den Betenden veranschaulicht Raffael die Imitatio Chri­sti, von der in dieser Textstelle geschrieben steht: »Wer mein Jün­ger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« (Luk. 9/23-27; Matth. 17/1-9).

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Erhellt im biblischen Kontext, wäre das Tragische in diesem Bild wohl dionysischer Tiefe entzaubert und Nietzsche vergällt worden. Jedoch, kunstgeschichtlich unbelastet wie er war, konnte er Raffaels Werk betrachten wie eine Tragödie des Äschylus. Die Doppelhandlung deutet er im Sinne des Urgegensatzes zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen. Die beiden Ebenen der Transfiguration - die Gruppe um den Besessenen und die Verklärungsszene auf dem Berg Tabor - entsprechen im Drama dem dionysischen Chor und den apollinischen Helden. Die strenge Zweiteilung bei Raffael kommt Nietzsches dramaturgi­scher Theorie über den Chor zustatten: Der streng stilisierte Rei­gen bildet einen Schirm der Künstlichkeit gegen das wirkliche Leben, vor dem sich die Heldenhandlung entfalten kann.

Nietzsche lobt den >naiven< Äschylus, der im Gegensatz zum späteren Euripides - ein Vorläufer des Naturalismus! - den Chor nicht mit banalen Alltagsmenschen bevölkert.

Raffael, selbst einer jener unsterblich >Naiven<, hat uns in einem gleichnisartigen Gemälde jenes Depotenzieren des Scheins zum Schein, den Urprozeß des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen Kultur, dargestellt. In seiner >Transfiguration< zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelten Trägern, den rastlos geängstigten Jüngern, die Widerspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der >Schein< ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen - ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige N o t ­wendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns mit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nötig ist, damit durch sie der einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, im Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitzt.7

In dieser Beschreibung von Raffaels Transfiguration liegt der Hauptgedanke von Nietzsches Tragödienschrift geschürzt. Der schwankende Kahn< nimmt zugleich eine zentrale Denkfigur Schopenhauers auf, die das Verhältnis von Wille und Vorstellung veranschaulicht: »Denn wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt [sie], heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Quaalen [sie], ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das prineipium individuationis, oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung.«8 Die Welt als >Wille< ist das tobende Meer, die Welt als >Vorstellung< jener milde Wahn des Schiffers,

7 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 33. 8 Arthur Schopenhauer: Die

Welt als Wille und Vorstellung. Zür­cher Ausgabe in 2 Bänden, Zürich 1977, Bd. II, S. 439. Zu Schopenhau­ers Philosophie als eine Grundlage moderner Ästhetik siehe Ulrich Pot-hast: Die eigentliche metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhe­tik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt a. M . 1982.

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seinen Fahrplan des Lebens den übermächtigen Elementen ab­trotzen zu können. Als Navigationsgerät dient ihm das Prinzip der Individuation, mit dessen Hilfe er sich im Meer seiner selbst versichert, um anzusteuern, was nach seiner Vorstellung sicherer Hafen ist, vom Willen her erwogen aber nur Luftspiegelung oder >Schleier der Maja<. Nietzsche verleiht Schopenhauers >Welt als Vorstellung< die Gestalt Apollos. Apollinisch ist im Gemälde Raf-faels die Vision Christi auf dem Berg Tabor: eine Lichtgestalt, die unser Glaube erfindet, damit das Leben in seiner dunklen Uner-löstheit einen Leitstern habe. Sein Schein legt Schönheit und Zuversicht über das dionysische Jammertal dieser Erde, das, mit den Augen Nietzsches, in der unteren Sphäre von Raffaels Trans­

figuration zu sehen ist. Für alle dargestellten Figuren, in ihrem Wähnen, ihrem Jammern, gilt die Weisheit des Silen, von der die Tragödienschrift berichtet: »Es geht die alte Sage, daß König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dio-nysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte aus­bricht: >Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was zu hören für dich nicht das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste ist für dich - bald zu sterben.< Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt? Wie die ent­zückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peini­gungen?« 9 Der assoziative Zusammenhang von Dionysos und Marsyas wird hier offenkundig in der Gestalt des Silen, der als »Begleiter des Dionysus« zugleich ein phantasierender Märtyrer ist. Ein marsyasverwandter Märtyrer im Dionysos-Gefolge ist auch der besessene Knabe in Raffaels Transfiguration, der den Widerstreit von Vision und Peinigung aushalten muß.

Die Polarität von >Vorstellung< und >Wille<, von Gesetz und Rausch, Individuation und Verschmelzung, apollinischem und dionysischem Prinzip ist ein Topos, der die Mentalität der Klassi­schen Moderne kennzeichnet. Freud, der Schopenhauerianer, steckt vier Jahrzehnte nach Nietzsche das Gegensatzpaar in den weißen Klinikkittel von Ich und Es. Das Ich ist jener kleine, selbstbewußte Schiffer, der es sich kraft seiner >Vorstellung< vom vernünftig planbaren Leben zutraut, durch die heulenden Wasserberge des triebhaft Unbewußten, der >Welt als Wille<, zu segeln. Das Leben vollzieht sich im Streit zwischen Bewußtheit und dem Unbewußten.

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Mondrian überträgt den Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen auf die Entwicklung der Abstraktion: »Man er­reichte die neue Gestaltung nur durch ununterbrochenen Kampf der Gegensätze (Körper und Geist). Die künstlerischen Mittel zeigen das klar. Schon im Altertum stellte sich die Flöte der Leier entgegen (Bacchus-Apollo).« 1 0 Mit dieser, vielleicht absichtlich ungenau gehaltenen, Bemerkung läßt Mondrian den Eingeweih­ten durchblicken, daß er seine Kunsttheorie aus dem Wettstreit zwischen dem leierspielenden Apollo und dem flötenspielenden Marsyas-Bacchus-Dionysos gewann.

Hans Jaffe, Kenner und Förderer von Mondrians Werk, orga­nisierte 1961 für das Stedelijk Museum in Amsterdam und die Ruhrfestspiele Recklinghausen die Ausstellung >Polarität. Das Apollinische und das Dionysischem Der Katalog zitiert eine Pas­sage aus Nietzsches Geburt der Tragödie. Die Konzeption der Aus­stellung bezeugt, daß der Polaritätstopos bis in die Nachkriegszeit zum gängigen Kanon der Kunsterfahrung gehörte. Zur Ausstel­lung wurden Malerei und Plastik aus mehreren Epochen zusam­mengetragen und durch das Raster des >Apollinischen< und des >Dionysischen< gesiebt. Daß Nietzsche dabei mißverstanden wurde, mag eine Textstelle aus Jaffes Kommentar belegen: »Im Geleit des Apollon und des Dionysos schreiten zwei Züge von Künstlern durch die Jahrhunderte, die einen maßvoll beherrscht, die andern rauschhaft entfesselt.« Das Layout des Katalogs ver­traut visueller Evidenz: Kunst von geschlossenen, >linearer< Form ist >offenen<, >malerisch< bewegten Werken gegenübergestellt. Wölfflins >Grundbegriffe<, entwickelt zur Bestimmung von geschichtlichen Stilen, sind hier ins Vorgeschichtlich-Ontologi-sche gesteigert: zu einem Urgegensatz in der Kunst. »Fast möchte es scheinen, als ob die beiden antiken Götter, zu Anbeginn einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte, zwei Heroen berufen hätten, um die Polarität der beiden Lebenswege den Menschen Europas vorbildlich vorzufuhren [...] Kandinsky und Mondrian, die beiden frühen Meister der Abstraktion, stehen zueinander im selben Gegensatz wie Delacroix und Ingres, wie van Gogh und Cezanne; in Kandinskys Bildern fluten Farben und Formen in einem triebhaften Tanz über die Fläche, wie verzaubert an einer rauschhaften, entfesselten Musik - Mondrians Bilder leben aus der Zucht und der Ordnung eines strengen Gesetzes. . . « ü

Das Apollinische und das Dionysische als stehendes Entweder-Oder zu betrachten, ist ein populäres Mißverständis. Nietzsche zufolge spielt sich der Gegensatz in jedem Kunstwerk ab: als Resultat eines Streits, der sich im sichtbaren Ausdruck zum Apollinischen oder Dionysischen neigen kann. Das Dionysische zeigt sich dabei immer schon von Apollos Suprematie bezwun-

10 Piet Mondrian, Neue Gestal­tung, Neoplastizismus, Nieuwe Beel­ding, hg. v. Hans M . Wingler, Mainz/ Berlin 1974, S. 43.

11 Polarität, Das Apollinische und das Dionysische, Ausstellungskata­log, Recklinghausen, Städtische Kunst­halle / Amsterdam, Stedelijk Museum, Recklinghausen 1961, o .S .

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gen. So ist auch der Schein dionysischen Leids in der unteren Ebene von Raffaels Transfiguration hergestellt durch apollinische Mittel - die Komposition der gestikulierenden Arme folgt einer strengen Choreographie der Ratlosigkeit. Kein Menschenauflauf würde sich so kunstvoll bewegen. Das apollinisch gezähmte Werk macht den quälenden Rausch des Lebens erst erträglich. Er legt über die Erfahrung von Lust und Leid einen besänftigenden Schleier. Das Apollinische in uns fördert die Kulturleistung, die »wie Rosen aus dem dornigen Gestrüpp« hervorbricht.1 2

Von dieser ästhetischen Erlösung kann der Besessene in Raf­faels Bild nur phantasieren. Niemand glaubt ihm seine Vision vom strahlenden Heiland, niemand schaut in die Pachtung des >dionysischen< Verrückten. Aber wir tun es als Kunstbetrachter. Die >verrückte< Kunstfigur ist das stellvertretende Opfer dafür, daß wir die doppelte Wahrheit betrachten können, ohne selbst verrückt zu werden. Wir können vor dem gemalten Besessenen einen Schritt zurücktreten und dem Bann entgehen, der ihn getroffen hat: In der ästhetischen Erfahrung lichtet sich das Reich des Dionysischen. Der Kunstbetrachter wird damit seinerseits zum Subjekt der Transfiguration. Wir werden erlöst von der Qual, die den Besessenen umtreibt. Wir haben, statt der Kunst­figuren, eine Gnade gewährt bekommen, die uns das Werk Raf­faels stiftet. Wir erkennen das wähnende Leben als Schein — und zwar im doppelten Sinne: Schein als Wahnbild eines dionysisch Besessenen und Schein von diesem Wahnbild eines Besessenen, den Raffael gemalt hat.

Als Bildbetrachter können wir uns gleichzeitig im dionysischen Dickicht und in der apollinischen Lichtung aufhalten. Die Kunst­erfahrung gewährt, wie der Tagtraum, die Möglichkeit, wachend zu träumen und träumend zu wachen. Das ästhetische Paradox liegt darin, den Zustand unbewußten Dahinfließens zugleich bewußt zu steuern. Dem entspricht auf der Seite des Schaffens das Paradox des Künstlertums: höchste Subjektivität, die sich in der Trance des Schaffens auslöscht. In der Entstehung des Werks kommt es zur scheinbaren Versöhnung des Widerspruchs zwi­schen der Inspiration aus dem Unbewußten und dem höchst bewußt eingesetzten Metier. Der Künstler ist Subjekt, das sich im Schaffen aufgibt, um kraft seiner apollinischen Könnerschaft Medium des Dionysos zu werden. >Persona< hieß die antike Thea­termaske, deren Ausdruck unbeweglich, deren Mund übergroß geformt war zum Schalltrichter des deklamierenden Schauspielers. In diesem Sinne sieht auch die Klassische Moderne den Künstler als >Durchtönenden<, als >per-sona< des Weltrauschens.

So erzeugt Kunst die schöne Illusion, sich zu verschwenden, 12 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 30. ohne zerstört zu werden, sich dem Rausch hinzugeben und doch

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ganz in sich selbst zu bleiben. »Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernich­tung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie notwendig, bei dem Ubermaß von unzähligen, sich ins Leben drängenden und stoßenden Daseinsformen, bei der überschwenglichen Fruchtbar­keit des Weltwillens [...] Trotz Furcht und Mitleid sind wir die Glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.« 1 3

In der ästhetischen Erfahrung erscheint uns dionysische Rase­rei in der Gestalt apollinischer Täuschung. Der gefährliche Rausch hat sich zum heilenden Traum gemäßigt. Wäre die Kunsterfahrung also nur das Methadon-Programm des Lebens? Webt der Künstler nur am Schleier der Maja? Sähen wir in der Kunst nur ein Beruhigungsmittel, dann wären wir allerdings nicht zum >Pessimismus der Stärke< vorgedrungen. Die Einsicht, daß die Kunst Schein ist, muß zur Enttäuschung führen - oder besser zur Ent-Täuschung. Wir sollen in der apollinisch-dionysi­schen Doppelbödigkeit der Kunst erkennen, daß sie uns nichts vorführt, als was wir immer schon aushalten müssen: Den Streit von Selbstsein und Vergehenwollen.

Mondrian und Heidegger: ein moderner Paragone

Der platonische Holzweg

Aristotelische Lehrsätze abzulehnen gehört zu den Idiosynkrasien der Klassischen Moderne. Aristoteles stand für akademisch­spröde Systematik, Kathederphilosophie, langfädige Faktenhube-rei. Die >Christianisierung< aristotelischer Philosophie durch Thomas von Aquin schadete dem R u f zusätzlich. Piaton hinge­gen, der dionysische Widerpart systematischen Denkens, genoß seit der Renaissance das Zutrauen der Künstler als Philosophen-Patron des Sichtbaren. Piatons Ideenlehre hatte sich im Lauf der Neuzeit in ein Geflecht von Natur-Philosophie verzweigt, die zu den Fortschritten empirischer Natur-Wissenschaft in Opposition stand. In diesem Sinne reiht sich die ästhetische Mentalität der Klassischen Moderne in die Tradition esoterischer Weltentwürfe gegen das gewöhnliche Bewußtseins Dem herrschenden >Aristo-telismus< in der modernen Industriekultur ward eine artistische Ideenkultur vorgeblendet, die das >Zweckdenken< und den >Materialismus< bekämpfte. Piatons Höhlengleichnis versinnbild­lichte das moderne Lebensgefühl, das sich umstellt sah von Ba- 13 Nietzsche (zit. Anm. 1), S. 93.

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14 Zur Rezeptionsgeschichte des Höhlengleichnisses siehe Hans Blu­menberg: Höhlenausgänge, Frankfurt a . M . 1989.

15 Res publica VII, ed. Steph., p. 5 1 4 a - 5 1 7 a .

16 Martin Heidegger: Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus, Bern/ München 1947, S. 17 f.

17 Der Ursprung des Kunstwer­kes, in: Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a. M . 1950, S. 7 -65 .

nausen, die in der Welt der Vorstellung befangen blieben. Da saßen sie, mit dem Rücken zum Höhleneingang, ließen sich un­terhalten und täuschen vom Schattenspiel und dem Geplapper der Passanten draußen. Die Moderne aber betrachtete sich als jene Ausreißerin, die sich von den Fesseln befreit hatte, die das Blend­werk des Feuerscheins durchschaute, die Puppen sah, die vor der Welthöhle hin und her getragen wurden, deren Schatten die da unten für das wahre Leben hielten. Sie hatte die Sonne gesehen und wußte wohl, wie schwer es sein würde, die Höhlenbewohner über ihren Wahn aufzuklären. Ihr selber hatten die Augen ja auch geschmerzt, als sie von der Erkenntnis geblendet wurde. 1 4 Hören wir Sokrates, der Glaukos das Gleichnis zu Ende erzählt:

U n d nun also bedenke dieses, erwiderte ich: Wenn der solcherart aus der Höhle Herausgekommene wiederum hinabstiege und an denselben Platz sich niedersetz­te, füllten sich ihm da nicht, wo er plötzlich aus der Sonne kommt, die Augen mit Finsternissen? - Gar sehr allerdings, sagte er. - Wenn er nun wieder mit den stän­dig dort Gefesselten sich abgeben müßte im Aufstellen und Behaupten von Ansichten und Schatten, während ihm noch die Augen blöd sind, bevor er sie wie­der angepaßt hat, was nicht geringe Zeit der Eingewöhnung verlangte, würde er dann dort unten nicht der Lächerlichkeit preisgegeben sein, und würde man ihm nicht zu verstehen geben, daß er ja nur hinaufgestiegen sei, um mit verdorbenen Augen (in die Höhle) zurückzukehren, daß es also auch ganz und gar nicht lohne, sich auf den Weg da oben zu machen? U n d werden sie denjenigen, der Hand anlegte, sie von den Fesseln zu lösen und hinaufzufuhren, wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, nicht wirklich töten? - Sicherlich wohl, sagte er.

Platon hatte das Höhlengleichnis in seinem Dialog über den Staat dem Sokrates in den Mund gelegt und ihn mit der letzten Frage dessen Hinrichtung voraussehen lassen.1 5 Die deutsche Überset­zung, die ich zitiere, stammt von Martin Heidegger, 1 6 auf dessen Ästhetik ich jetzt eingehen möchte. Der Ursprung des Kunstwerkes, um 1935 als Vortrag entstanden, steht als Testament am Ende der Epoche, die mit Nietzsches Geburt der Tragödie begann. Die bei­den Schriften begrenzen als zwei symmetrische Hermen den Weg, auf dem sich die Klassische Moderne erstreckt.17

Was ist Ästhetik? Was ist Kunsttheorie? Es sei hier der Ort, die beiden Begriffe gegeneinander abzugrenzen. Ich halte es pragmatisch: Ästhetik ist eine philosophische Disziplin, die sich aus der allgemeinen Erkenntnistheorie entwickelt hat und sich mit Wesen und Zweck der sinnlichen Wahrnehmung beschäftigt. Im Gegensatz zur Ästhetik, die man als Etikette eines gei­steswissenschaftlichen Fachs im Singular stehen lassen kann, kann man von >Kunsttheorie< eigentlich nur im Plural sprechen -Kunsttheorien, zumeist von Künstlern verfaßt, begleiten Kunst­werke oder künstlerische Haltungen als Kommentar und Recht­fertigung im aktuellen Kunstbetrieb. Ästhetik ist von diesem Legitimationszwang befreit, denn Philosophen und Kunsthistori­ker müssen mit ihren Schriften kein reales Kunstprodukt lancie-

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ren. Heidegger kann über van Goghs Bauernschuhe schreiben, Wölfflin die Venus von Tizian mit der Venus von Veläzquez ver­gleichen: Ihre Ästhetik ist modern. Der fehlende Bezug von Phi­losophie und Kunstgeschichte zur zeitgenössischen Kunst mag auf einen Mangel an Geschmacksbildung und Gegenwartsinter­esse zurückzuführen sein - die Avanciertheit ästhetischer Erfah­rung muß das nicht unbedingt belasten. Dieser Merkwürdigkeit geht das vorliegende Kapitel nach.

Von Philosophen und Kunsthistorikern wird gemeinhin be­hauptet, sie seien visuell nicht ä jour und hätten einen schlechten oder zumindest veralteten Geschmack. Das läßt sich leider empi­risch nachweisen. Doch der Geschmack der schreibenden Zunft läßt keine Schlüsse auf die Zeitgemäßheit ihrer ästhetischen Ent­würfe zu. Daß Heideggers Kunstbegriff, zumindest in dessen konzeptuellem Gerüst, parallel zur Topline der künstlerischen Avantgarde stand, soll ein kontextueller Vergleich mit Piet Mon-drians Kunsttheorie darlegen.

Doch zunächst noch einmal ein Blick auf Raffaels Transfigura­tion - ein moderner Blick, der Raffael durch Nietzsches Brille sieht! Der besessene Knabe entspricht dem Gefangenen in Pia­tons Höhle, der aus der Schattenwelt aufgetaucht ist, sich damit die Augen >blöd< gemacht hat und nun von den Mitgefangenen für verrückt erklärt wird. In seiner dionysischen Verzückung ist der Knabe ein sokratischer Kritiker des gewöhnlichen Bewußt-seins<. Die Umstehenden müssen ihn dingfest machen, damit er die Gemütlichkeit nicht stört, mit der sich die Menge in der Schattenwelt eingerichtet hat. Durch die Lektüre Nietzsches betrachtet, transfiguriert Raffaels Mysterium von der Transfigu­ration zum Schaubild eines modernen Nihilismus. »Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von leben­digen Wesen nicht leben könnte.« Heidegger zitiert diesen Nietz­sche-Satz in seiner Darlegung des Höhlengleichnisses.1 8 Die Moderne sieht sich in der Rolle der Besessenen, deren Erkennt­nis von den Nicht-Erkennenden stets gefährdet, und vom Nicht-Erkennen immer wieder eingeholt wird. Die Verdunkelung der Wahrheit durch die Banausen ist das eine, das andere, schwieriger zu Fassende, die Selbstverdunkelung der Wahrheit. Der besessene Knabe in Raffaels Transfiguration ist wirklich verrückt, nur nicht so, wie die Menge meint. Sein Ver-Rücktsein entspricht Heideg­gers Begriff der alätheia. Wahrheit sei eigentlich Un-Wahrheit, schreibt er im Ursprung des Kunstwerkes19 und paraphrasiert damit Nietzsches Satz über jene Art Irrtum, die Wahrheit sei. Diesen Gedanken gilt es für die moderne Kunst zu vertiefen. Die Kunst der Moderne, sei die These, äußert sich nach der Art des Kreti­schen Paradoxes, da sie wahrhaftig sagt: »Ich lüge!«

18 Heidegger (zit. Anm. 16), S. 45. Nietzsches Satz siehe in ders.: Auf­zeichnung aus dem Jahr 1885. Der Wille zur Macht, n. 493.

19 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 43.

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Wahrheit gibt es nur vor dem Vorhang der Unwahrheit, so wie Licht nur durch die Dunkelheit ihren Glanz hat. Wieder operiert klassisch-modernes Denken mit einem Gegensatzpaar, dem sich auch das >Apollinische< und das >Dionysische< überblenden läßt. Wahrheit besteht zunächst einmal darin, sich durch Unwahrheit durchzuarbeiten. Eingedenk der Gefährdung, für verrückt erklärt zu werden, geht die Moderne mit Bedacht an die Erziehungs­arbeit der Höhlenbewohner. Mondrian hat es darauf angelegt, die Augen behutsam von den Fesseln gewöhnlichen Sehens zu befreien. U m seine abstrakten Kompositionen verständlich zu machen, schrieb er ein Gespräch, dessen ungelenker Titel auf deutsch nicht besser klingt: »Natürliche und abstrakte Realität, Gespräch zwischen einem Kunstliebhaber Y, einem naturalisti­schen Maler X , einem abstrakt-realistischen Maler Z während eines Spaziergangs, der auf dem Lande beginnt und in der Stadt endet, und zwar im Atelier des abstrakt-realistischen Malers.« 2 0

Das Gespräch vollzieht den platonischen Weg der Wahrheits­suche aus der Höhle des Irrtums und der Meinungen über das Hin und Her eines Gesprächs. Die Wahrheit in der Malerei zeigt sich als Enthüllungsakt; die Entschleierung erfolgt in sieben Szenenbildern eines Lehrstücks, das vorführt, wie durch die gewöhnliche Ansicht der Natur hindurchzusehen sei auf die uni­versellen Gesetze sichtbarer Ordnung, zu der Mondrian als Künstler um 1920 eben unterwegs war: der Horizontalen und Vertikalen, den Grundfarben Rot, Gelb und Blau sowie der Unfarbe Grau. In sieben Schritten wird den Höhlenbewohnern Schicht für Schicht ihrer Alltagsschau abgezogen. Zugleich ist der Trialog eine Art Selbstkritik des Künstlers über den zurückgeleg­ten Weg - besser Un-Weg - vom Naturalismus zur Abstraktion.

Szene: Spät abends. Ebenes Land. Weiter Horizont. Sehr hoch: der Mond Y: Wie schön! X : Die Tiefe des Tons und der Farbe! Z : Welche Ruhe! Y: Die Natur ergreift also auch Sie? Z : Wenn dem nicht so wäre, wäre ich kein Maler. Y : Da Sie nicht mehr nach der Natur malen, glaubte ich, diese berühre Sie über­

haupt nicht mehr. Z : Im Gegenteil, die Natur ergreift mich zutiefst. Nur male ich sie auf andere

Weise. 2 1

20 Im niederländischen Original: Natuurlijke en abstracte realiteit ( . . . ) , dreizehn Artikel, erschienen in der Zeitschrift >De Stijl<, 1919-1920. Zit. in der deutschen Ubersetzung nach: Michel Seuphor: Piet Mondrian, Le­ben und Werk, Köln 1957, S. 301-351 .

21 Zit. nach: Seuphor (zit. Anm. 20), S. 303.

Die Frage nach dem Wesen des Schönen wird beantwortet mit der Spannbreite vom tautologischen Laienurteil »Wie schön!« über das Formurteil des Naturalisten »Die Tiefe des Tons und der Farbe!« zum Wesensurteil des abstrakten Künstlers, der hin­durchsieht auf die »Ruhe« als Grund der Dinge. Durch die Ebene und den Mond am Himmel dringt das kosmische Prinzip der Balance von Horizontale und Vertikale. Die Abstraktion zeigt

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Piet Mondr ian , Schafstall am Abend, 1907

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die zur Ruhe gebrachten Beziehungen von Gleichgewichtsver­hältnissen, die in der natürlichen Erscheinungsform >verschleiert< sind. Mondrian hat bestimmt nicht Heidegger gelesen; Zeitge­nossen in verschiedenen Disziplinen sind einander oft zu nahe, als daß sie einander wahrnähmen. Mondrian kannte Spinozas Ethik. Sie spricht davon, daß die gewöhnliche Sicht auf die Dinge verworren sei, daß es darum gehe, durch die Schleier des Alltäglichen hindurchzusehen: clare et distincte, auf den Grund der Natur. Die >verschleierte< Welt wird im zweiten Szenenbild des Gespräches vor die abstrakte Wahrheit geblendet:

Launische Baumformen, die sich schwarz vom Hintergrund des Mondhimmels abheben. Y: Wie das Gesichter schneidet! X : Welche Majestät! Z : In der Tat, fratzenhaft und großartig zugleich. In den kecken Konturen

erscheint deutlich die launische Seite der Natur . 2 2

In der dritten Szene wird das Bild der Fratzen wieder gelüftet, ein Bild der Ruhe kehrt zurück: »Nacht. Sehr klarer Sternen­himmel über einer Sandebene«. Noch vollkommener als die erste 2 2 Zit nach- Seuphor (zit Anm Landschaft, wo Wiese und Mond noch an Romantik und wei- 20), S. 307.

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Piet Mondr ian , Mühle am Wasser, u m 1905

Piet Mondrian, Kirchturm von Domburg, um 1909

dende Kühe erinnern mochten, zeigt die bestirnte Dünenland­schaft einen Zustand der Harmonie jenseits des Lebens. Sand und Sterne bilden gleichsam die Schnittpunkte unendlich vieler Horizontalen und Vertikalen, die sich im rechten Winkel, im Gleichgewicht der Richtungen, treffen, um für einen Augenblick das Nullgewicht des Kosmos anzuzeigen, dessen Balance die Kunst in unermüdlicher Wiederholung immer wieder einrichten soll. »Wir sehen nun, daß es noch eine andere Realität gibt als die Aufgeregtheit der menschlichen Kleinlichkeit. Und wir sehen, wie eitel das alles ist: alles, was trennt, hat aufgehört zu sein.

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Mondrians Victory Boogie Woogie im N e w Yorker Atelier des Malers, Fotografie (1944)

Wir sehen ein Ganzes: gegenüber dem wechselhaften Wollen der Menschen das Unwandelbare.« 2 3

Von der unbewohnten Landschaft führen die drei folgenden Szenenbilder an Architekturen vorbei: einer Windmühle, dem Sinnbild für die Sphäre des Nützlichen, einem Haus mit kunst­voll angelegtem Garten, der Sphäre des Schönen, einem Kirch­turm, dem Symbol des Erhabenen. Seine Fassade ist »schwach vom Schein der Stadt beleuchtet«, 2 4 dem vollendeten Schauplatz durchgeistigter Natur. Der Trialog behandelt die Fragen, ob das Schöne den Dingen als Form »angetrimmt« sei, oder ob es durch die Dinge hindurch erscheine; was der Künstler tun müsse, damit Schönheit entsteht, und ob sie schon erfüllt sei in der Herstel­lung nützlichen Werkzeugs. Das sind Fragen, wie sie Heidegger ähnlich in seinem Nachdenken über das >Ding< und das >Zeug< stellt und, Mondrian verwandt, beantwortet.

Vorweggenommen sei die gemeinsame Schlußfolgerung des Philosophen und des Künstlers: Kunst steckt nicht als Form im Werk, sondern Kunst ist »Anfang«: das Vermögen einer das Schöne eröffnenden Sichtweise auf die Welt. Schönheit, die nicht einer »gemachten« Form anhängt, ist zugleich Wahrheit; Mondrian muß das seinen Spaziergängern in den Geist der Abstraktion am Ende des Trialogs gar nicht mehr ausdrücklich sagen: »Der Abend ist vorüber, aber die Schönheit bleibt. Wir haben die Dinge nicht nur mit unseren gewöhnlichen Augen betrachtet: Es hat ein tätiger Austausch zwischen uns und der wahrnehmbaren Welt stattgefunden f . . .1 Und diese Bilder, nicht 2 3 Z l t - n a c h : Seuphor (zit. Anm.

20) S 310

die Gegenstände, die wir sahen, sind für uns die wahre Kundgabe ^ Z l t m c h . S e u p h o r ( z i t A n m

des Schönen. Schulen Sie sich darin, die Bilder der Schönheit 20), S. 325.

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Piet Mondrian, Waldlandschaft, um 1903/05

klar zu schauen und im Innern zu bewahren: Schließlich wird ein und dasselbe Bild für immer bleiben.« 2 5 Der Spaziergang endet im Atelier des Künstlers, das sich in Paris bedeutsamerweise an der Rue du Depart befunden hatte, wo der Geist des Künstlers zu sich selber einkehrte nach dem Gang durchs Gehölz.

»Es ist doch selbstverständlich, daß ein wahrhafter Künstler seinen Weg niemals sofort findet, sondern genauer: daß er ihn erfinden, in jedem Stück erst konsturieren muß, und dafür ist es unerläßlich, im verwachsenen Dickicht der Ideen einmal Holz schlagen zu lernen. Schöpfer neuer Wege? Zuerst Holzfäller!« 2 6

Es ist dem Hasard objectif der Epoche zu danken, daß Heidegger für die Wahrheitssuche dasselbe Bild verwendet wie Mondrian, der übrigens in seiner Frühphase obsessioneil den Rhythmus von Baumstämmen im Gehölz gemalt und gezeichnet hat. Die Sammlung von Aufsätzen, unter denen Heideggers Ursprung des Kunstwerkes publiziert wurde, trägt den Titel Holzwege; Heideg­ger erläutert ihn in einer lyrisch gestimmten Präambel:

Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche der eine dem andern. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf dem Holzweg zu sein. 2 7

Daß die Rodung von Mondrians Holzfäller anders aussieht als die Lichtung von Heideggers Waldhüter, wird noch zu behandeln sein. Doch so verschieden die Zielvisionen sein mögen, der Weg

25 Zit. nach: Seuphor (zit. Anm. 20), S. 331 .

26 Zit. nach: Seuphor (zit. Anm. 20), S. 74.

27 Heidegger (zit. Anm. 17), o. S.

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geht durch denselben Holzweg der gewöhnlichen Erfahrung. Wie Sokrates, von dem Alkibiades sagt, daß er von Lasteseln, Schmie­den, Schustern und Gerbern spreche auf dem Weg zur Wahr­heit, 2 8 muß der Künstler sich durch die alltägliche Sicht auf den Grund der Dinge durcharbeiten. Mondrians Spaziergang vom Land in die Stadt entspricht Heideggers »Kreisgang« im Kunst­werk-Aufsatz, der im Dickicht der Irrtümer beginnt. Der Text ist ein platonischer Monolog, der über Holzwege nach der Lichtung sucht, in der Kunst sich ereignet. Das »Fest des Denkens« 2 9 setzt mit Bedacht ein Wort vor das andere, geht Schritt für Schritt durch die Unwahrheit den Gang der Entschleierung. So wie Mondrian anleitet zum Hindurchsehen durch das gewöhnliche Sehen auf die innere Sichtbarkeit der Welt, leitet Heideggers Sprache an, durch die Abgenutztheit der Wörter hindurchzuhö­ren auf ihre erste, unverstellte Bedeutung. Mit den Zeichen der Sprache soll den Dingen auf den Grund gegangen werden.

>Hindurchhören< heißt nach Heideggers Diktion, die Schmier­spuren des alltäglichen Gebrauchs — den Jargon von Unterhal­tung und Information - von den Wörtern zu fegen. Heidegger sucht die Sprache in ihrer Schlichtheit auf, so wie der moderne Künstler aus dem Vielzuviel des Sichtbaren das einfache Ur-phänomen herausholen will. Die geschichtlich sich anlagernden Bedeutungshülsen werden weggedroschen bis auf den Keim. Moderne Zeichen sollen aussehen wie am Tag, als sie von Gott gesät wurden, als hörten die zivilisatorischen Kratzgeräusche, die das Reden und Bilden zu begleiten pflegen, plötzlich auf. Diesen reinen Klang! - wie man ihn aus den Wörtern herausholt, das hat Heidegger bei Hölderlin gelernt.

Die Moderne denkt etymologisch: in Pachtung Anfang. Eine urmoderne Frage ist daher die nach dem Ursprung der Dinge. So dreht sich Heideggers Ursprung des Kunstwerkes um die Entfaltung des Themas, das der Titel setzt: »Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist. Das, was etwas ist, wie es ist, nennen wir sein Wesen. Der Ur­sprung von etwas ist die Herkunft seines Wesens. Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes fragt nach seiner Wesensher­kunft.« 3 0 Die Frage nach der Wesensherkunft der Kunst ist somit eine doppelte: Was ist Kunst und wodurch bzw. woher ist Kunst >Kunst<? Heidegger eröffnet die Suche mit drei Möglichkeiten, die in der Tat zur Disposition stehen, seit Marcel Duchamp 1912 in der New Yorker Armory-Show ein Urinoir ausgestellt hatte: Ist es der Künstler, der kraft seiner Selbstermächtigung sagt, was Kunst sei? Ist es das Werk, das den Meister lobt, die gelungene Schöpfung, die den Künstler bestätigt und damit Kunst als Insti­tution? Oder ist es gar das Wesen von Kunst selbst, welches Werk

28 Symposion, in: Piatonis opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit loannes Burnet, B d . II, Oxford 1901, ed. Steph. 215b.

29 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 8. 30 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 7.

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und Künstler macht? Heidegger steuert schon zu Beginn auf die dritte Möglichkeit, wenn er - in Frageform zunächst - die These formuliert: »Gibt es Werk und Künstler nur, sofern die Kunst ist als ihr Ursprung?« 3 1 Die dritte Möglichkeit böte eine Alternative zu der romantischen ersten Auffassung, derzufolge der Künstler Kunst setzt kraft seines Genies, eine Alternative aber auch zur biederen zweiten Auffassung, daß das gekonnte Werk Kunst und Künstlerschaft bestätigt. Weder Künstler-Subjekt noch Kunst-Objekt sind Ursprung der Kunst. Offenbar gibt es einen Bezirk, in welchem Künstler und Werk sich überhaupt erst entfalten: in der Kunst selbst als einer heiligen Leere, worin der Künstler dem Werk einen Ort einräumt. Kunst ist Hergang.

Aber wie kommen wir dahin? Wo finden wir den R a u m der Kunst? Davon handelt der Textgang: durchs Gestrüpp der Mei­nungen, auf Holzwegen, die - vergleichbar mit Mondrians Spa­ziergang durch den Wald der Fratzen - erst eingeschlagen, dann abgebrochen werden und schließlich zur Umkehr führen. Wir lassen die Schritte des Waldhüters knacken im Gestrüpp, über­springen seine Umwege über das >Ding< und über das >Zeug< und treffen den Holzmacher wieder - direkt bei der Lichtung, in die er, auf falscher Fährte, durch Zufall eintritt.

Erde und Welt

Einen griechischen Tempel sieht Heidegger vor sich aufragen als Sinnbild raumeröffnender Kunst: »Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dieses Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es weg­rasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vorschein. Das sichere Ragen macht den unsichtbaren R a u m der Luft sichtbar. Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meerflut und läßt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen.«3 2 Das Kunstwerk macht die Natur sichtbar durch seine strahlende »Fysis«, sein blütenhaftes Aufgehen aus der Erde, auf der steht es und aus der es gemacht ist.

»Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als

31 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 7. der heimatliche Grund herauskommt.« 3 3 Lassen wir das >heimat-33 H e i d e ^ r ^ ^ liche< zunächst noch unbeachtet; in diesem Wort steckt auch das

31-32 . Unheimliche, zu dem die Moderne fähig ist - davon später. Was

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ist die Erde, der >Grund< der Kunst, für sich genommen? »Sie ist das Hervorkommend-Bergende. Die Erde ist das zu nichts ge­drängte Mühelos-Unermüdliche.« 3 4 Den bloßen Vorwitz des Eingriffs läßt sie an ihr selber zerschellen. Wir können einen Stein mit Instrumenten quälen: mit dem Hammer zerkleinern, die Stücke auf die Waage legen: Doch die Erde »läßt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen.« 3 5

Im Kunstwerk aber teilt sich die Erde mit und offenbart ihr Wesen, das ja In-sich-Verschlossensein ist. Das Werk der Kunst kann es ihr entlocken, weil es von ihr nichts will. Der Bildhauer braucht den Stein, ohne ihn zu verbrauchen oder gar Mißbrauch zu treiben. Der künstlerische Paß verschleißt die Materie nicht -wie etwa der technisch gerichtete Zugriff auf den Stoff. Das Werk der Kunst macht sich die Erde nicht Untertan, sondern befreit sie zu sich selbst.

Damit ein Werk zustande kommt, bedarf es des hellen Ge­gensatzes zur verschlossenen Erde: der >Welt<. Ist >Erde< der passiv duldende und bergende Pol der Kunst, so >Welt< der aktiv wal­tende. »Welt weitet und ist seiender als das Greifbare und Ver­nehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weitet die Welt.« 3 6 In der Welt sind die geistigen Formen versammelt, von denen wir wol­len, daß sie unserem Leben Sinn geben.

Das Kunstwerk stellt das ungegenständliche Prinzip >Welt< auf die >Erde< zurück, damit dessen Walten sichtbar werde. So ist ein Doppeltes vollbracht: das >Aufstellen von Welt und das H e r ­stellern der Erde. »Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende j e ­weils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten.«3 7 In der Kunst ereignet sich also ein Streit: »Aufstellend eine Welt und herstellend die Erde vollbringt das Werk diesen Streit. Das Werk­sein des Werks besteht in der Bestreitung des Streits zwischen Welt und Erde.« 3 8 Das Gegensatzpaar wird in der >streitesden< Durchdringung erst sichtbar. Wenn die Welt nur >welten< würde, verdunstete sie. Sie muß zurückgestellt, verankert sein in diesem verschwiegenen Bereich der Erde, der, für sich allein genommen, opak bliebe.

>Aufgehende< Welt und >bergende< Erde werden zu dem, was sie sind, durch ihr Verwobenwerden. Wie Kette und Schuß des

34 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 35. 35 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 36. 36 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 33. 37 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 37. 38 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 38.

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Piet Mondrian, Komposition mit Rot, Gelb und Blau, 1921

gewirkten Tuchs läßt sich >Welt< der Vertikalen, >Erde< der Hori­zontalen zuschreiben - gemäß Mondrians Kunsttheorie. Als Theosoph sah er, wie Seuphor berichtet, das Ineinander der Gegensätze ausgedrückt im daoistischen Symbol: »[ . . . ] das Yin und das Yang, das Sein und das Werden. Uberall finden wir die­sen fundamentalen Dualismus wieder, diese nicht weiter zu­rückführbare Entgegensetzung von - einander indes ins Gleich­gewicht bringenden - Kräften; dies ist die Lebensphilosophie, die Mondrian dem Neo-Plastizismus zugrunde legen wollte und die sich durch den rechten Winkel mit den tausend Variationen, die der Künstler über dieses Thema erfindet, ausdrückt. Eine Art gigantischer plastischer Fuge, deren Aufführung neunundzwan­zig Jahre erheischte.«3 9

Der Topos des befruchtenden Streits zweier Gegensätze ge­hört zum mentalen Bodensatz der Jahrhundertwende; die Kennt­nis des daoistischen Ursprungssymbols war in esoterischen Zir­keln verbreitet. Yin, das Dunkle, Weibliche, und Yang, das

39 Seuphor (zit Anm 20) S Helle, Männliche, schmiegen sich im flamboyanten Wirbel zum 201 f. Uranfang aller Dinge. Es braucht wenig Phantasie, die Wortpaare

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>Vertikal< und >Horizontal<, >Welt< und >Erde< auf das Ewigmänn-lich-Ewigweibliche zu übertragen. Mondrian hat dies in seinen Tagebuchnotizen getan: »Da sich das männliche Prinzip in der vertikalen Linie ausdrückt, wird ein Mann dieses Element (zum Beispiel) in den zur Höhe strebenden Bäumen eines Waldes erkennen. Seine Ergänzung wird er (zum Beispiel) in der hori­zontalen Linie des Meeres sehen. Die Frau wird sich eher in den hingestreckten Linien des Meeres wiedererkennen und ihre Ergänzung in den vertikalen Linien des Waldes sehen, die das männliche Prinzip verkörpern. So unterscheidet sich der Ein­druck bei den Geschlechtern. In der Kunst aber wird dies völlig anders, weil der Künstler geschlechtslos ist. Da also der Künstler zugleich das männliche und das weibliche Prinzip ausdrückt und die Natur nicht unmittelbar darstellt, muß daraus folgen, daß das Kunstwerk mehr als Natur ist.« 4 0

Also schwingt in Mondrians kahlen Kompositionen seit 1920 die symbolistische Schwüle unerlöster Jugendstil-Träume nach. Doch auch bei Heidegger verführt die Wahl der Adjektive und Umschreibungen dazu, sich >Welt< und >Erde< als umschlungenes Paar zu denken, wie es der damalige Kitschmeister Fidus nicht besser hätte malen können. »Der Streit ist kein Paß als das Auf­reißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.«4 1

Selbst an den sprödesten Abstraktionen und den erhabensten Denkfiguren haftet das billige Parfüm des Zeitgeists.

Poiäsis

Was ist es, das im Liebeskampf zwischen Erde und Welt erstritten wird? Die Wahrheit. Nicht >Wahrheit< im Sinne von homoiosis, der cartesianischen >Pdchtigkeit<, sondern im Sinne von alätheia, >Unverborgenheit<. Im Kunstwerk erstreiten Erde und Welt die Unverborgenheit des Seienden. Denn das Seiende offenbart sich nicht einfach von selbst: »Durch das Sein geht ein verhülltes Ver­hängnis.« 4 2 Zum Wesen der Wahrheit als alätheia gehört gerade das Verhülltsein. Die Wahrheit ist »von der Verweigerung durch­waltet.« 4 3 Daß sich die Dinge verschließen, ist Teil ihrer Wahr­heit. Das Seiende ist wesentlich in sich verborgen, und die Wahr­heitssuche besteht darin, dieses Verborgene als Verborgenes zu entbergen. »Mit dem verbergenden Verweigern soll im Wesen der Wahrheit jenes Gegenwendige genannt sein, das im Wesen 40 Seuphor (zit. Anm. 20), S. 117. der Wahrheit zwischen Lichtung und Verbergung besteht.« 4 4 4 1 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 51.

Das >Gegenwendige< der Wahrheit führt Heideggers Text sei- 43 Heide^er (zit Anm! 17)! s! 41 ber vor, indem er den Leser durch den Holzweg der Meinungen 44 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 43.

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fuhrt. Wie das Unterholz zur Lichtung, so gehören der zu­rückgelegte Denkweg, die abgelegten Meinungen, zum Gedan­ken. Wir irren durch die Verborgenheit, bis sich plötzlich »inmit­ten des Seienden« diese heitere Stelle auftut. »Eine Lichtung ist. Sie ist vom Seienden her gedacht, seiender als das Seiende. Diese offene Mitte ist daher nicht vom Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist wie das Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende.« 4 5 Der Lichtung eignet, wie der Wahrheit als alätheia, als Unverborgenheit, ein verneinender Zug: sie hat etwas von der Drift des Nichts, ist Un-Seiend. Die Lichtung >nichtet< das Seiende, indem es die Dinge, die in diesen Bezirk treten, aus den Hüllen seines gewohnten Vorhandenseins ent­blättert. Dieses Entbergen des Seienden ist die philosophische Parallele zum Blick des Avantgardekünstlers auf die Welt des Sichtbaren. Der Wahrheitsbegriff der homoiosis - >Pdchtigkeit< -in der Erkenntnistheorie entspricht dem Abbildrealismus in der Kunst, nach dem das Werk übereinstimmen soll mit dem, was das Auge sieht. Kunstvoll ist danach, was >richtig< - homoios -abgebildet erscheint. Im Sinne der alätheia hingegen geht der Weg der >Abstraktion<: Auch in diesem Wort liegt etwas Vernei­nendes; es benennt eine Sehweise, die den Dingen die äußere Haut ihres Anscheins >abzieht<. Der gewöhnliche Blick ist der verstellende Schleier, den es zu durchdringen gilt, um zu der Lichtung zu gelangen, wo sich das innere Wesen der Welt zeigt.

Wie für Heidegger, liegt auch für Mondrian das Wesen der Kunst im Hergang ihres Entstehens. Das Werk als Objekt ist totes Ding; Kunst lebt nur, solange das >Aufstellen< von Welt und das >Herstellen< der Erde in ihr am Werk sind. Heidegger und Mondrian, die sich persönlich nicht kannten, treffen sich in der Bezugnahme auf die Kunsttheorie Cezannes. Dessen Begriff der »realisation« findet seine Entsprechung in Heideggers Auffassung von der Kunst als einem »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit«.4 6

Kunst ist »Geschehnis«, sagt Heidegger, denn die Lichtung, die sich in ihr eröffnet, »ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf dem sich das Spiel des Seienden ab­spielt«.4 7 Am Kunstwerk darf der Puls seines Gemachtseins nicht zu schlagen aufhören; daher hat Cezanne die Farbe so aufgetra­gen, daß auch der zurückgenommene Pinselstrich, ein letztes Zögern, der Entschluß zur Setzung sichtbar bleiben, zusammen mit den weißen Stellen der Leinwand, wo das Ungemalte das Gemalte durchwächst wie eine rissige Narbe.

Mondrian hat Cezannes Verfahren der >realisation< in avan­cierter Weise umgesetzt in seinen wechselnden Kompositionen

46 Heidegger (zit Anm 17)' S 28 m ^ t gleichbleibenden Mitteln: Horizontale, Vertikale, Primärfar-47 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 42. ben und Grau. Jedes Werk setzt aufs neue an, das kosmische

5 0

Gleichgewicht zu erreichen zwischen dem Aufragen und In-sich-Ruhen. Jedes Werk ist nicht nur Resultat, sondern Seismo-gramm eines Streits, der immer wieder aufs neue bestritten wer­den muß. So wie die Wahrheit »in ihrem Wesen Un-wahrheit« 4 8

ist, bleibt Mondrians dynamisches Gleichgewicht ein Un-gleich-gewicht, das die Balance in jedem Augenblick, da sie Bild wird, um Haaresbreite nicht erreicht oder überschreitet. Die tatsächli­che Asymmetrie in den Kompositionen zeigt an, daß das univer­selle Gleichgewicht stets als zu erstreitendes erscheinen muß. Im Ausgleich der Horizontalen und Vertikalen darf es kein »kein fades Übereinkommen« 4 9 geben. Der Mensch - so Mondrian -neige zwar zum statischen Vergleich, aber »die Vitalität der un­unterbrochenen Aufeinanderfolge, die eigentlich die Zeit aus­macht, zerstört unaufhörlich diese Balance. Die abstrakte Kunst ist ein konkreter Ausdruck dieser Vitalität.«5 0

Der Streit um das unverborgene Gleichgewicht ruht nicht nur im Kunstwerk; sein unstetes Flackern steckt auch in der Aufmerk­samkeit des Betrachters. Nur für Augenblicke vermögen wir den Kairos ästhetischer Erfahrung auszuhalten. Es gehört zum Gegen­wendigen der Kunst, daß die Erhellung, die von den Werken aus­geht, immer wieder plötzlich abbricht. Dabei ändert sich im Werk nichts, nur ist es, als sei der Streit darin erfroren oder als sei ein Nebel aufgekommen zwischen der Kunst und dem Betrachter. Flüchtig sind die Aufenthalte in der Lichtung des Seienden; ein >Aha!<, und schon hat uns ein nächster Schritt wieder auf den Holzweg des Vergessens geführt. Wir sind gar nicht fähig zu dau­ernder Andacht vor Kunst. Unser Alltagsbewußtsein, beladen mit Verpflichtungen, Neigungen und Nöten zieht immer wieder den Schleier der Alltagsrealität über das schöne Nullgewicht der Welt.

Michel Seuphor, Mondrians Schüler und erster Biograph, pflegte den Vorwurf der Phantasielosigkeit seines Meisters witzig umzukehren: »Ich ging mit Vergnügen noch darüber hinaus, indem ich sagte, daß Mondrian überhaupt nur ein einziges Bild male, stets dasselbe, doch daß dieses Bild ein Jenseits der Kunst sei.«5 1 Mondrian betrachtete seine künstlerische Tätigkeit als ein Werk, das im Machen unabschließbar immer wieder neu entsteht. Wer einen Werkkatalog von Mondrian durchblättert, der erfährt die Entschleierung des Realen über das Daumenkino. Besonders konsequent erscheinen seine unvollendeten Bilder, in deren ver­worfenen und vorskizzierten Linien die unabschließbare Suche nach dem Gleichgewicht nachzittert. Mit Mondrian geht die Idee des geschlossenen Kunstwerks zu Ende. Zwar gibt es da noch den Bildrahmen, an ihm aber kommt es nur zum Einhalten im Machen, einem vorübergehenden Verbergen des ewigen Ge­wirks, das die Notdurft der künstlerischen Mittel diktiert. Im

48 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 43. 49 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 38. 50 Zit. nach: Seuphor (zit. Anm.

20), S. 199. 51 Seuphor (zit. Anm. 20), S. 151.

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52 Mondrian (zit. Anm. 10), S. 6. 53 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 56. 54 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 55. 55 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 49. 56 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 55. 57 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 54. 58 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 59.

Prinzip ist jedes Bild Momentaufnahme eines dazwischen verbor­genen Streits, der in die Bilder davor und danach eingeht.

Mondrian betrachtete seine Werke nicht als Endzweck, son­dern als Ort des Durchgangs in die Erfahrung des kosmischen Gleichgewichts. »Das, was wir wirklich sehen und hören, ist die unmittelbare Manifestation des Universums.« 5 2 Daß das Werk ein Wirken anstiftet über sein formales Objekt-Sein hinaus, trifft sich mit Heideggers Auffassung vom Künstler, der zwar techni-tes, ein Handwerker, sei, dessen Fertigkeit jedoch nicht einfach schönes Zeug hervorbringe. Heideggers Ablehnung »jener nur geschmäcklerischen Kennerschaft des Formalen am Werk« 5 3 fin­det in Mondrian einen Verbündeten. Beide bekämpfen den Umgang mit Kunst als Nippsache, worin ein seichter Sensualis­mus den »Erlebniserreger« sucht. 5 4

Der Künstler richtet die Wahrheit ein. Heideggers Begriff der >Einrichtung<55 steht im Einklang mit dem Bestreben der Avant­garde, Kunst aus dem altmodischen Korsett des in sich ruhenden, gediegenen Werks zu erlösen, um sie dem Leben zuzuführen. Kunsterfahrung sei das »ekstatische Sicheinlassen des existieren­den Menschen in die Unverborgenheit des Seins«. 5 6 Kunst stiftet uns an, zu existieren, das heißt ekstatisch zu sein, >hinauszuste-hen< über den Mief gewöhnliches Behagens. So sah Pdlke den Torso des Apoll als Gedankenblitz vor sich aufstehen: »Du mußt dein Leben ändern!« Kunst ist Anstoß, der in uns eine >Ver-rückung< erzeugt: Unsere gewohnten Bezüge zur Umwelt wer­den verwandelt, »das bislang geheuer Scheinende umgestoßen.« 5 7

Kunsterfahrung erschüttert also das konventionelle Weltbild, denn »aus dem Vorhandenen und Gewöhnlichen wird die Wahr­heit niemals abgelesen.« 5 8 Bei aller Kritik an Piatons Ideenlehre bleibt das Höhlengleichnis für Heidegger Grundlage seiner Welt­anschauung. Künstler und Philosophen sind Rebellen gegen die Gewohnheit, Schatten an der Wand zu deuten.

Kunst als Geschehnis ist ein Neuanfang, der die historisch an­gelagerten Verkrustungen des gewöhnlichen Bewußtseins durch­schlägt. »Immer wenn Kunst geschieht, d. h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an.« Die messianische Avantgarde hat ihre Aufgabe nicht anders aufgefaßt. Der Blaue Reiter sah sich als Speerspitze gegen ein Ubermaß an Geschichte. Kandinsky verglich die Bewegung mit den Trompetern von Jericho<, die das alte Gemäuer der Welt zum Einsturz bringen. Avantgardistische Kunst durchstößt die Geschichte und kehrt zum Ursprung eines künstlerischen Schaf­fens zurück, das in den primitiven Kulturen Verbündete findet. Was für August Macke die Negermaske, ist für Heidegger die archaische Skulptur der Ägineten.

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Vincent van G o g h , Bauernschuhe 'Ein Paar Schuhe), 1887

?Kt Mondr ian , Verschiedene K o m ­positionen, aus: Michel Seuphor: Piet Mondrian. Leben und Werk , Köln 1957

59 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 62fT.

Vor der Kunst als einem Anfang ist nur Nichts, wogegen jene sich setzt. Kunst >gründet< und >schenkt< Wahrheit, die sonst nicht wäre. Ihr Fundament liegt in der ekstatischen Entscheidung zum Machen. Der Satz: »Das Wesen der Kunst ist die Dichtung« 5 9 darf nicht nur verstanden werden als Bekenntnis zu einer gattungs­mäßigen Vorliebe Heideggers für die Poesie, für Hölderlin, über den er im Winter 1934/35 seine erste Vorlesung hielt. Natürlich klingt Hölderlins Schlußvers aus >Andenken< darin fort: »Was blei­bet aber, stiften die Dichter«. Doch im Wort >Poesie< ist noch das griechische Verb >poiein<, machen, zu hören. Das Wesen der Kunst ist Poiäsis, das Machen; Kunst ist Dichtung, sofern sie Wahrheit >macht<. Heideggers poiätische Ästhetik trifft sich mit den moder­nen Künstlertheorien seit Cezanne, die in der Realisation das Wesen der Kunst sehen, nicht im fertigen Werk. Eine poiätische Ästhetik erkennt als Ziel des Werks den Weg des Werkens.

»Die Kunst erspringt als stiftende Bewahrung die Wahrheit des Seienden im Werk. Etwas erspringen, im stiftenden Sprung aus der Wesensherkunft ins Sein bringen, das meint das Wort Ur-

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Sprung.« 6 0 Wahrheit wird erst durch Kunst - ein umwälzender Gedanke, ausgesprochen von dem Vertreter einer Zunft, die Kunst als Blend- und Nebelwerk, im besten Fall als Abbild von Gedanken ansieht!

Das Zeug mit den Bauernschuhen

Der Vergleich mit avantgardistischen Kunsttheorien möchte die Modernität der philosophischen Ästhetik Heideggers nahelegen. Vielleicht sträubt sich die historische Erinnerung dagegen. Kann jemand modern sein, der sich gleichzeitig nationalsozialistischer Kulturpolitik andient? Der Ursprung des Kunstwerkes entstand um 1935, nur zwei Jahre nach Heideggers berüchtigter Freiburger Rektoratsrede. Zeigt diese Ästhetik nicht die Spuren jenes politi­schen Sündenfalls?

Leicht sind sie nicht nachzuweisen. Das liegt schon am Kunstbegriff der Moderne selbst, der konzeptuell jenseits von Gut und Böse ist. Wir werden sehen, daß Heidegger Stichworte liefert zum Abdriften in völkische Zivilisationskritik, aber auch zum philosophischen Beistand der Avantgarde. Verfolgen wir zunächst diese zweite Lesart weiter. Das Fragespiel im Ursprung des Kunst­werkes wird eröffnet mit den Spielzügen: Was ist Kunst? - Ist Kunst etwa ein Ding? - Und wenn ja: was ist eigentlich ein Ding? - Und damit wird der Leser ganz schön auf den Holzweg geschickt. Die drei Antworten im Angebot werden von Heideg­ger alle wieder verworfen. Ist das Ding zusammengesetzt aus Sub­stanz und Akzidenzien, dem Wesen und seinen Eigenschaften? Das wäre der Weg des abendländischen Logozentrismus, den uns Aristoteles und die Scholastik gewiesen haben: ein Uberfall des Denkens auf die Dinge! Ein umgekehrter Weg wäre der Sensua­lismus, der dem Ding über die Empfindungen begegnen will: ein Überfall auf unsere Sinne. Der dritte Holzweg ist der klassische Weg von Kunsttheorie und Ästhetik: das Ding zusammengesetzt zu denken aus >hylä< und >morfä<, Stoff und Form. Auch hinter diesem Denken steckt der Mensch als bestimmendes und verfü­gendes Subjekt. Der Hylämorfismus fußt, wie die klassische Logik, auf dem System scholastischer Philosophie. Die Untertei­lung in Stoff und Form geht davon aus, daß die vorhandene Welt eine geschaffene sei. Im Gegensatz zu den griechischen Naturphi­losophen, denen das Weltall ewig, sogar vor den Göttern, bestand, dachte sich das Abendland einen Schöpfergott, der immer schon da war und dann auf den Gedanken verfiel, die Welt zu erschaf­fen. In das Chaos pflanzte er Ordnung. Seither gibt es nichts Ungeschaffenes mehr, kein jungfräuliches, unberührtes Ding; 60 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 64.

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jedes ist, aus Stoff geformt, durch die Hände Gottes oder des Menschen gegangen. Wenn jedes Ding also eigentlich ein Erzeugnis ist, was erwarten die Schöpfer ihres >Zeugs< denn ande­res, als daß es ihnen Werkzeug werde? So ist der Hylämorfismus ein dritter Überfall: »Der Überfall auf das Dingsein des Dings.« 6 1

Alle drei Denkgewohnheiten versperren uns den Zugang zum Ding, aber auch zum Werk der Kunst. Es ist gerade die naiv­arrogante Selbstverständlichkeit, mit der wir uns über die Dinge hermachen, die uns den Weg zu ihnen verstellt. Wir müssen unser Verhalten, das auf ihre Behändigung und Beherrschung abzielt, aufgeben. Wenn wir jetzt fragen, wie man das tut, tun wir es schon wieder auf die herkömmliche Weise - wir denken gleich ans Tätigwerden. Die Alternative aber ist ganz schlicht: nicht tun, sondern lassen. »Was scheint leichter, als das Seiende eben das Seiende sein zu lassen, das es ist? Oder kommen wir mit dieser Aufgabe vor das Schwerste, zumal wenn ein solches Vorha­ben, das Seiende sein zu lassen, wie es ist, das Gegenteil darstellt von jener Gleichgültigkeit, die dem Seienden einfach den Rücken kehrt? Wir sollen uns dem Seienden zukehren, an ihm selbst auf dessen Sein denken, aber gerade so es in seinem Wesen auf sich beruhen lassen.« 6 2 Das Ding eröffnet sich uns, wenn wir es nicht zu unserem Nutzen zurüsten wollen. Zum Wesen des Dings gehört sein Verschlossensein. Wenn wir es zunächst ein­mal gar nicht verstehen, haben wir schon einiges verstanden. Das Denken beginnt mit dieser Verwunderung.

Mit dem Erstaunen beginnt auch Kunsterfahrung: >Ich ver­stehe das nicht, was ich hier sehe!< Das Sehen wird sehender, wenn dieses Nicht-Begreifen am Anfang steht. Für Mondrian war die Kunst gegenständlichen Abbildens deshalb abgenutzt, weil sich vor ihr die Frage nach dem Begreifen gar nicht mehr zu stellen schien; die vorgestellten Dinge lagen da vor, als wären sie zum Greifen nah. Mondrian aber erhob den Anspruch, in seiner Kunst »die Dinge zu zeigen, so, wie sie sind«. 6 3 Dazu bedurfte es neuer Verfahren, die das gewohnte Sehen in Frage stellten. »Übertreibung« nannte er den Prozeß der Abstraktion. 6 4 Mon­drian hatte in seinem Werk selber die Kunstgeschichte der Avantgarde durchgemacht, vom Symbolismus bis zur Gegen­standslosigkeit. In seiner naturalistischen Phase pflegte er unge­wöhnliche Perspektiven und Ausschnitte anzulegen; als er wie die Fauves malte, wählte er deren grelle Farbpalette; im Stil der Kubisten übte er das Fragmentieren der Körperdinge in der

61 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 19. Fläche. Die schnelle Abfolge der neuen künstlerischen Verfahren 62 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 20. befreite die Dinge von der gewöhnlichen Sicht. 63 Mondrian (zit. Anm. 10), S. 33. o • i T- I • T T • J i TT 64 Zk . nach: Seuphor (zit. Anm. S o v i e l Fortschritt erwartete Heidegger von der Kunst gar

20), S. 322. nicht. In den 30er Jahren hatte er sich noch nicht in die Strömun-

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gen zeitgenössischer Kunst vertieft. Ihm genügte es zu wissen, daß die Kunst immer schon die Dinge dem Gebrauch entzieht, sobald sie diese im Werk unantastbar erscheinen läßt. Da das Ding selbst schwierig zu befragen ist, wandte er sich also an einen Künstler, der zweckfrei mit Dingen umgeht. Er wählte Vincent van Gogh; von ihm hatte er ein Bild gesehen, das ein Paar Schuhe zeigt. Dieses Paar Schuhe sollte ihn von dem Holzweg führen, auf dem er sich - und mit ihm sein Leser - verlaufen hatte. Auf der vertrackten Suche nach dem Ding, dem Zeug und dem Kunst­werk erweist sich das Schuhzeug, das van Gogh gemalt hat, als ein Ding, das alles zugleich ist: Ding, Zeug und Kunst.

U m dieses Paar Bauernschuhe herum ist nichts, wozu und wohin sie gehören könten, nur ein unbestimmter Raum. Nicht einmal Erdklumpen von der Ackerscholle oder vom Feldweg kleben daran, was doch wenigstens auf ihre Verwendung hinweisen könnte. Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. U n d dennoch.

Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Fel­des. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen u m die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not , das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug, und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zu­gehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.

Aber all dieses sehen wir vielleicht nur dem Schuhzeug im Bilde an. Die Bäuerin dagegen trägt einfach die Schuhe. 6 5

Dem Philosophen Heidegger ist es nicht so wichtig, dem Leser zu sagen, auf welches Gemälde von van Gogh er sich bezieht. Der Künstler hat das Motiv mehrfach gemalt; seine Schuh-Bilder hängen in Museen und Privatsammlungen. Vielleicht hat Hei­degger nur eine Reproduktion gesehen: Zum Nachdenken und Interpretieren ist dies ohnehin praktischer. Man frage sich, ob einem die Worte einfallen würden: »In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde«, während man im Amsterda­mer Pdjksmuseum steht, dessen Räume im geräuschvollen Rau­nen der Besucher schwingen. Nein, eine Reproduktion verhilft viel inniger zum Denken - einerlei, ob einem (Euvrekatalog oder einem Kalenderblatt entnommen. Vielleicht war es nicht einmal nötig, daß die Reproduktion des van-Gogh-Bildes auf Heideg­gers Schreibtisch lag. Es mochte dem Schreibenden schon ein­geprägt gewesen sein, vermengt mit der Erinnerung an andere Bilder: Vielleicht an Jean-Francois Millets Vesperglocke, dessen 6 5 H e i d e g g e r ( z l t A n m yj), S. Öldrucke in vielen deutschen Stuben für Bauernstimmung sorg- 22-23 .

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ten. Dann die Spaziergänge im Schwarzwald, die eigenen gena­gelten Wanderschuhe, unter deren Sohlen sich »die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend« schob und die - nach Fotografien von Heidegger als Wanderer zu urteilen - von der soliden Machart der gemalten Schuhe van Goghs waren.

Diese Bemerkung will nicht nur ironisch verstanden sein, son­dern einen Hauptgedanken Heideggers nachvollziehen helfen. Die >Wesensherkunft< der Kunst ist nicht in ihrem greifbaren Gegenständlich-Sein zu suchen. Nicht in der Kammer der Bäue­rin beginnt das Nachdenken über das Wesen ihres Schuhzeugs. Wenn der Schuster sagt, das Oberleder sei brüchig, werden die alten Bauernschuhe weggeworfen, ohne daß sie je mehr zu be­denken gegeben hatten als die Frage, ob eine Neubesohlung sich noch lohne. Durch die Vermittlung im Bild hingegen werden die Bauernschuhe zum Gegenstand der Betrachtung. Van Goghs Darstellung ermöglicht uns, das Wesen des >Zeugs< zu erkennen, das wir sonst so gedankenlos verbrauchen. »Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhwerk in Wahrheit ist.« 6 6 Doch so wenig wie das Schuhzeug selber, macht das Kunstwerk als gegenständli­ches Ding das Wesen der Kunst aus. Daß Heidegger über den Ursprung des Kunstwerks auch mittels einer Reproduktion nach­denken kann, zeugt vom Wesen der Kunst als >Ursprung<. Kunst ist nicht die Leinwand mit der pastos aufgetragenen Ölfarbe, die aus Tuben kam, die van Goghs Bruder Theo aus Paris nach Arles sandte - ein gerahmtes Werk, 37,5 x 45 cm, signiert links oben, im Besitz des Amsterdamer Pdjksmuseums. Kunst ist Anstoß zur Poiäsis der Wahrheit, zu einem Machen, »das vordem nicht war und nachmals nie mehr sein wird«. 6 7 In dieser >Eröffnung< durch Kunst kann van Goghs Gemälde, aber auch Heideggers Nach­denken über ein Paar Bauernschuhe geschehen.

Die Kunst ruht also nicht auf einem »dinglichen Unterbau«. 6 8

Heidegger verwirft den geschlossenen Werkbegriff, Kunst entfal­tet sich im Machen. Gewiß hat der Philosoph in den 30er Jahren noch kaum über van Gogh hinausgesehen, aber der Gedanke trägt weiter. Auch Happenings und Performances bestehen aus der Poiäsis ihrer Schöpfer, ohne die Spur eines Gegenstandes zu­rückzulassen - außer vielleicht Asche oder ein Videotape.

Die Frage nach dem >Ding< und dem >Zeug< ist nicht nur reni­tente Spitzfindigkeit eines Philosophen aus der badischen Pro­vinz. Heideggers Sprache mochte zwar nicht gerade der Stimm­lage des internationalen Künstlerjargons entgegenkommen, doch die Fragen selbst, sie standen damals zur Diskussion: in Amster­dam, Paris, Zürich, Weimar und Moskau. Mit der These, Kunst

66 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 24. • i • r^- J I _ • • r i . i •• ^7 67 Heidegger (zit. Anm. 17)' S. 50. s e l k e m > D m g < u n d schon gar nicht einfach schönes >Zeug<, weist 68 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 27. Heidegger eine gängige Auffassung der Identität von Nützlich-

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keit und Schönheit im Werk zurück und nimmt Partei in einer Debatte, die die Avantgarde der 20er und 30er Jahre heftig umtrieb. Der Streit brachte Mondrian und van Doesburg ausein­ander und bewirkte, daß Gropius und die Bauhäusler Male­witsch, diesen Spinner, belächelten. Auf der einen Seite standen die Verfechter einer gegenstandslosen Kunstx. Das geistige Prin­zip der ästhetischen Erfahrung sollte die Suprematie, die Ober­herrschaft, erlangen über die Sphäre des Gestaltens bloßer Nützlichkeit - daher der Name >Suprematismus<: ein Künstler­programm, in dem Malewitsch seinen polemischen Eifer gegen den Konstruktivismus zusammenfaßte. Letzterem gehörten Künstler an, die Kunst ganz eindeutig vom Gegenständlichen be­griffen. Bezeichnenderweise hieß die Zeitschrift der Konstrukti-visten, herausgegeben von El Lissitzky und Ilja Ehrenburg, die in Berlin erschien: >Vesc< (Gegenstand).

Die Konstruktivisten waren begeistert von der industriellen Fertigung und neigten zum Material- und Produkt-Fetischismus. Sie bestimmten in der Zeit, als Heidegger in Freiburg über das >Zeug< dachte, das Klima in den Akademien und den Kunstwerk­stätten. Ihr Traum war die große Verschmelzung von Kunst und Technik. Stoff in Form zu bringen unter den Bedingungen der industriellen Produktion - das war Hylämorfismus in seiner modernen Prägung, wie er etwa am Bauhaus tonangebend war. Der Konstruktivismus schuf jene Konfusion in der Frage, wo die schöne Kunst beginnt und die nützliche Gestaltung aufhört. Der Naivität dieser pragmatisch-aktivistischen Avantgarde gilt Hei­deggers Satz, sie frage »halb nach einem Ding, halb nach einem Zeug«. 6 9 Ihren Vertretern galt ein Produkt als schön, wenn es nützte und vor allem, wenn es volkswirtschaftlich günstig produ­ziert wurde. Ein Teil der russischen Konstruktivisten bekannte sich zum Utilitarismus, einer Ethik, die nicht nur das Schöne, sondern auch das Gute unter das Prinzip der Nützlichkeit stellte. In dem Begriff >Utilitarismus< steckt das französische >outil<, das Werkzeug, womit wir wieder in die Nähe der Wortfindungen Heideggers kommen.

Wenn er das >Zeug< nicht zum Wesen der Kunst rechnet, wis­sen wir, wo seine Ästhetik anzusiedeln ist in den Flügelkämpfen der Avantgarde: Eher bei Mondrian als bei de Stijl, eher bei Malewitsch als bei Tatlin und El Lissitzky.

Mondrians Kunsttheorie wandte sich gegen den Konstruktivis­mus, der die Aufgabe der Kunst im zweckmäßig gestalteten Gegenstand erfüllt sieht. Aufgabe der Kunst ist für ihn nicht das Urbarmachen der Natur, sondern vielmehr deren geistige Durch­dringung. Gewiß war Mondrian - im Gegensatz zu Heidegger -begeistert von der Technik und ihrer konstruktiven Schönheit, 69 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 28.

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70 Mondnan (zit. Anm. 10), S. 15. 71 Suzanne Blum/Ed Hill: Bor-

rowed Shoes, in: Art Forum, April 1988, S. 111-117.

72 Jacques Derrida: La verite en peinture, Paris 1978, S. 291 ff.

73 Meyer Schapiro: La nature morte comme objet personnel, in: The Reach of Mind: Essays in Memory of Kurt Goldstein, N e w York 1968. Zur Uberbietungsstrategie Derridas siehe Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Zwölf Vorle­sungen, Frankfurt a. M . 1985, S. 191 ff.

aber Ziel der Kunst war für ihn nicht etwa das perfekte Gerät, sondern der neue Mensch, der durch die vollkommene Technik in einen glasklaren Bezirk spiritueller Erkenntnis freigesetzt wurde. In seiner Programmschrift >Nieuwe Beelding< behauptet Mondrian von der Kunst: Sie »vernichtet das Kunstwerk, sofern es Objekt oder Ding ist.« 7 0 Mondrian sagte ein Ende der Kunst­werke voraus. Seine Kompositionen betrachtete er als Mittel zur meditativen Einübung in diese Zukunft, die seine eigenen Arte­fakte überflüssig machen würde. In diesem Kunsthimmel des universellen Gleichgewichts können wir uns auch Malewitsch denken, wie er, auf einem selbstgefertigten >Planiten< sitzend, ein ästhetischer Kosmonaut, dem >befreiten Nichts< zuschwebt.

Sind die Visionen der Avantgarde der Gegenstandslosigkeit nicht ein wenig weit entfernt von Heidegger und seinem bäuer­lich bestrittenen Streit zwischen Erde und Welt? Durchaus nicht. Heidegger bleibt absolut modern, selbst wenn er die Wahrheit in Bauernschuhen austrägt.

Zu sehr hat die Rezeption Heidegger auf ein Motiv festgelegt, an dem die Scholle haften blieb. 7 1 Die philosophische Metapher wurde auf ein ikonographisches Problem verkürzt. Die Frage, ob van Goghs Bauernschuhe überhaupt Bauernschuhe seien, und wem sie allenfalls gehören, hat sich von der ästhetischen Anlage verselbständigt. Jacques Derrida hat dem Diskurs die Krone aufgesetzt,7 2 indem er sich in Meyer Schapiros Kritik an Heideg­ger einmischt, die darauf abzielt, die Schuhe nicht einer Bäuerin, sondern dem Künstler selbst zuzusprechen. 7 3 Ob man überhaupt von einem Gegenstand im Bild sagen könne, er käme von irgendwoher, entgegnet Derrida und knüpft damit an seinen eigenen Grundgedanken vom verlorenen Urtext an. Jede Über­lieferung decke hinter sich die Herkunft zu, in der Abschrift erscheine die Urschrift immer schon als eine korrumpierte. Was für die Bibel gelte, wo der göttliche Logos hinter den Nach­schriften verstummt, gelte auch für das Kunstwerk: die Über­tragung der Schuhe in Malerei habe Titel und Rechte ihrer möglichen Besitzer getilgt. Die Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Schapiro erscheint als Duell zwischen einem bau­erntümlichen Schwarzwaldphilosophen und einem weitläufigen New Yorker Juden, deren Argumente Derrida als Schiedsrichter mit dem Zeitvorteil der späten Geburt dekonstruiert. Sein inne­rer Monolog zerpflückt den Diskurs der Vorredner mit dem Gestus des zirkulären Fragens, jenem Philosophieren in den Holzwegen eines Wortwaldes, dessen vermeintliche Vertrautheit in den Kehren des Überdenkens fremd wird, um sich - dann und wann - im Staunen zu lichten. Mit anderen Worten: Derrida knöpft Heidegger das philosophische Konzept ab - bis auf die

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Bauernschuhe, in denen er ihn als Waldschrat stehen läßt, zum Gespött der Urbanen Intellektuellen.

Mit der Auffassung vom poiätischen Charakter der Kunst hat Heidegger eine Ästhetik entworfen, die bis zu den konzeptuellen Kunsttheorien der Nachkriegszeit tragfähig bleibt. Derrida fällt hinter diesen Ansatz zurück und benutzt Kunstwerke, nach gewohnter Philosophen-Sitte, als Illustration von Gedanken. Man sollte den Gegenwartsphilosophen, die sich über Kunst ausbreiten, die Denksportbilder Rene Magrittes vorenthalten -vielen fiele zu Kunst nichts mehr ein.

Wer Heideggers Passage über van Goghs Bauernschuhe unvor­eingenommen liest, muß erkennen, daß das gegenständliche Motiv konzeptuell eingebunden ist in eine poiätische Kunsttheo­rie: »Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.« Die Bauernschuhe stehen buchstäblich im Schnitt­punkt von Erde und Welt. Im Abschreiten des Feldes erschreitet die Bäuerin, gewissermaßen als Performancekünstlerin, den Bezirk der Kunst - sie räumt dem Werk seinen Ort ein, um es mit einer späteren Formulierung Heideggers auszudrücken.7 4 Als Kunst-Metapher >erspringen< die Schuhe die Wahrheit im Werk. Van Goghs gemaltes Schuhzeug steht in der Lichtung des Seien­den, nicht als Ding, sondern als Mittel einer Aktion: der poiäti­schen Wahrheitsbewegung. Wenn überhaupt ein Eigentümer für dieses Paar Schuhe gefunden werden kann, dann ist es der Wald­hüter auf dem Holzweg zu der Lichtung.

Wer die Bildbeschreibung der Bauernschuhe ins Zentrum von Heideggers Ursprung des Kunstwerkes rückt, wird verführt, dessen Kunstgeschmack vorschnell in eine völkisch-reaktionäre Nähe zu rücken. Im Nazi-Deutschland der 30er Jahre paßte van Gogh nicht in den offiziellen Kunsthorizont. Alfred Rosenberg, der amtliche Wachhund nordischer Schönheit im Dritten Reich, hatte dem Vorläufer der Expressionisten das Stigma der Entar­tung auf die Stirn gedrückt. Van Gogh galt als ein Beispiel für das »Rassenchaos der Weltstadt«, die ihre Talente verkommen ließ: »Und Vincent malte Apfelbäume, Kohl und Straßensteine. Bis er verrückt wurde.« 7 5 Vincent malte auch Bauernschuhe, die Hei­degger 1935 für wert befand, sie in den Ursprung des Kunst­werks zu stellen.

>Das geschichtliche Volke Deutschgriechentum

Heideggers Kunstgeschmack war nicht reaktionär; daß Form und Inhalt sich untrüglich gegenseitig bestätigen (und hinterrücks denunzieren), gehört zu den trügerischen Zuversichten aus der

74 Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum/L'Art et l'espace, St. Gallen 1969.

75 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltkämpfe unserer Zeit, München 1943, S. 298.

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Erbmasse des modernen Hylämorfismus. Louis Henry Sullivans Maxime »Form follows function« wurde zum Glaubenssatz in der visuellen Welt; die Ideologiekritik der 70er Jahre, die mit Hei­degger sehr ungnädig verfuhr, hat diese Zuversicht auf das Feld der Interpretation übertragen. Das latent Reaktionäre bei Hei­degger liegt aber ausgerechnet in seinem konzeptuellen Raum­begriff der Kunst, der zugleich das Avancierte dieser Theorie aus­macht. Es kommt darauf an, wer sie liest und wann sie gelesen wird. Der Kunstwerk-Aufsatz folgte in der Tat dem Drall völ­kischer Aufbruchsstimmung, war aber auch wieder gut für den ästhetischen Dezisionismus der Aufbaujahre nach dem Krieg. Die Wendehälsigkeit der Ästhetik ist noch wenig erforscht.

Die Kunst als raumeröffnende Entscheidung kann dort poli­tisch fatal wirken, wo Raum mit Erde und Heimat konnotiert wird. Das >Volk ohne Raum< ist da angesprochen, sich ins politi­sche Gesamtkunstwerk zu setzen. Doch gibt es nicht nur die aggressiv-raumgreifende Auffassung; noch im harmlosen Wort der >Kunstlandschaft< überlebt die Engführung von Kunst und Lebensraum. Daß in der Kunst »der schweigende Zuruf der Erde« sich vernehmlich macht, bezeichnet in poetischer Über­höhung nur das, was in der Kunstgeschichte noch weit in unsere zweite Jahrhunderthälfte hinein Gemeingut war: Kunstwerke seien Naturgewächs eines kunsttopographischen Raums, gesät und geerntet von einem >Volk<, das sein Erbe in Bauernschuhen bestellt und pflegt.

Das >Volk< in Zusammenhang mit raumeröffnender Kunst ist der zweite problematische Begriff in Heideggers Kunstwerk-Auf­satz. Der Künstler kommt im Ursprung des Kunstwerkes kaum vor. Nach der Lesart der 30er Jahre wird der Entscheidungsraum der Kunst vom Volk gestiftet. Das Volk stellt im Werk eine Welt auf die Erde und ruft Gott in seinen Bezirk herbei. In der Kunst erschafft sich das Volk den Himmel der Mächte, die es besingt.

Wer ist das >Volk< in Heideggers Kunstwerk-Aufsatz? Nach manifester Lesart ist es ausgestorben. Wie bei allen Intellektuellen seiner Zeit war Heideggers ästhetische Utopie gepaart mit der pessimistischen Kulturkritik an der Jetztzeit. Die Griechen waren das Volk gewesen, das sich beispielgebend durch Kunst ins Werk setzte. Wie Hölderlin, der ob der vergangenen Größe von Hellas verzweifelt war, stand auch Heidegger fassungslos in der Münch­ner Glyptothek: »So stehen und hängen denn die Werke selbst in den Sammlungen und Ausstellungen. Aber sind sie hier an sich als die Werke, die sie selbst sind, oder sind sie hier nicht gerade als die Gegenstände des Kunstbetriebs? Die Werke werden dem öffentlichen und vereinzelten Kunstgenuß zugänglich gemacht. Amtliche Stellen übernehmen die Pflege und Erhaltung der

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Werke. Kunstkenner und Kunstrichter machen sich mit ihnen zu schaffen. Der Kunsthandel sorgt für den Markt. Die Kunstge­schichtsforschung macht die Werke zum Gegenstand der Wissen­schaft. Doch begegnen uns in diesem mannigfachen Umtrieb die Werke selbst?«76 Natürlich nicht. Kunst als raumeröffnender Anfang ist aus den aufgebahrten Trümmern der Giebelskulpturen verraucht. Die Ägineten sind in der Glyptothek vorhanden als »die Gewesenen«, ihr Herumstehen dort »reicht immer nur bis an das Gegenstandsein der Werke«. Es liegt nicht nur daran, daß die Skulpturen aus ihrer Erde verpflanzt wurden; eine Rückschaf-fung nach Ägina brächte sie nicht in ihre Welt zurück. »Die Welt der vorhandenen Werke ist zerfallen. Weltentzug und Weltzerfall sind nicht mehr rückgängig zu machen.« 7 7 Dieser Gedanke wäre durchaus zu nobilitieren mit Hölderlins Bangigkeit: »Aber die Thronen wo? Die Tempel, und wo die Gefäße, / Wo mit Nektar gefüllt, Göttern zu Lust und Gesang? / Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche? / Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?« 7 8

Doch man muß nicht so weit zurückgehen, um modernen Kulturpessimismus mit poetischem Wohllaut zu überhöhen; Heideggers Ressourcen finden sich auch in der intellektuellen Nachbarschaft seiner Zeit. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr sah das Museum als Symptom für den »Verlust der Mitte«. 7 9 Das Kunstwerk, in seinem ursprünglichen Sinne, war die Schöpfung eines gläubigen Volks, das zwischen Mensch und Gott eine Brücke herstellte. Kunstbetrieb und Museumskunst haben - so Sedlmayr - den heiligen Bezirk, in dem Kunst sich zeigt, zerstört. Wenn Burg und D o m zum Gegenstand der Denkmalpflege wer­den, sind sie als Räume der Werksetzung im christlichen Abend­land erloschen. Der Snobismus vieler Intellektueller im frühen 20. Jahrhundert wollte sich nicht damit abfinden, daß im Museum und im Urbanen Kunstbetrieb eine Demokratisierung der Kultur stattfand. Wer >Kunstbetrieb< sagte oder schrieb, begleitete dies mit einer abwertenden Geste: mit all seinem Drum und Dran war er oberflächlich, übervölkert, lärmend und daher abzulehnen. Nicht nur Heidegger muß sich dabei die Gegenfrage gefallen lassen: Wo hat er denn Kunst, zum Beispiel van Goghs Bauernschuhe, gesehen? In einem heiligen Bezirk oder auf dem Kalenderblatt? Er hatte Ägina nicht besucht, als er über den grie­chischen Tempel schrieb. Reichte tatsächlich ein schnöder Foto­bildband, industriell im Offsetdruckverfahren vervielfältigt, ihm die Erhabenheit eines solchen Bauwerks vor Augen zu führen?

Das am meisten problematische Wort in Heideggers Kunst­werk-Aufsatz ist aber das harmlos klingende Adjektiv >geschicht-lich<: In der Verbindung mit dem Substantiv >Volk< kann es jedoch

76 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 29. 77 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 30. 78 Friedrich Hölderlin: Brod und

Wein, zit. nach: Sämtliche Werke, frankfurter Ausgaben hg. v. D . E. Sattler/W. Groddeck, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1976, S. 248-252 .

79 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit , Salzburg 1948, S. 31 ff.

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80 Heidegger (zit. Anm. 17), S. 31. 81 Oswald Spengler: Der Unter­

gang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München (1918-1923) 1980.

82 Siehe dazu Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Hei­degger und seine Zeit, München 1994, S. 285.

zu einem explosiven Gemisch werden. Wie kommt es nämlich zu Weltzerfall und Weltverlust? Wenn das »geschichtliche Volk« 8 0

zerstoben ist, das sich seine Welt einst auf die Erde gestellt hat. Man schaut betroffen um sich: So viele Menschen auf dieser

Erde, doch nirgends ein geschichtliches Volk<? Das muß stutzig machen. Gäbe es also auch ungeschichtliche Völker? Völker ohne Heimatbindung, ohne rechte Rasse? Oswald Spengler verglich ihren Zustand mit den Fellachen Ägyptens, welche zwischen den großartigen Ruinen der Pharaonen ihr Vieh weiden und von nichts mehr wissen. 8 1 Verdient eine solche Gesellschaft über­haupt noch das ehrwürdige Blutsiegel >Volk<? Ist das nicht viel­mehr nur Masse, was in den modernen Großstädten sich auf­staut? Und mittendrin der Jude, geschäftig in aller Welt, der heimatlose Händler! Der Jude ist geschichtslos, denn er ist, wie Ahasver, zur ewigen Wiederkehr verdammt.

Die Biographen beeilen sich stets zu betonen, Heidegger sei kein Antisemit gewesen - nur streng katholisch aufgewachsen, der Sohn eines Mesners in Meßkirch. Nun erzählt man sich ja gerade in Kreisen, wo die Kirche noch im Dorf ist, jene Geschichte vom Ewigen Juden, der den Heiland bei dessen Gang nach Golgatha verhöhnte und schlug und zur Strafe nicht sterben durfte. Ahasver ist zur Geschichtslosigkeit verdammt, stellvertre­tend für ein Volk, das die Frohe Botschaft von Christi Geburt geleugnet hat. Das jüdische Volk ist von der neuen Zeitrechnung des Erlösungswerks ausgeschlossen. Geschichtslos leiert sich Jahr um Jahr in der Gebetsmühle des Alten Testaments - bis der Tag des Jüngsten Gerichts anbricht. Das explosive Wort vom g e ­schichtlichen Volk< wurzelt in diesen märchenraunenden Ab­gründen des volkstümlichen Rassismus.

Politische Unbedarftheit wurde Heidegger zugute gehalten. Vielleicht brach wirklich noch einmal der Läutebub und Mini­strant aus Meßkirch in ihm hervor, als er in kurzen Hosen und im Schillerkragen vor der versammelten Freiburger Professorenschaft - letztere im Talar - auftrat, jugendbewegt. Es war an jenem 27. Mai 1933, als er seine Antrittsrede als Universitätsrektor hielt, umrahmt von den Standarten mit Hakenkreuz. Die Studenten sangen das Horst-Wessel-Lied. In der vierten Strophe, so sah es das Protokoll vor, hatten die Hände in die Höhe zu fliegen. 8 2 Karl Jaspers, in der vordersten Reihe sitzend, vergrub die seinen ner­vös in der Hosentasche, während der Wald der gestreckten Arme um ihn wuchs. Der Redner am Pult wird sich kaum enthalten haben, den Hitlergruß des Publikums zu erwidern.

Heideggers Rektoratsrede ist die politische Version vom Ur­sprung des Kunstwerkes; nach ihrem parallelen Aufbau könnte man sie Der Ursprung der Politik nennen. Sie spricht vom Volk, das sich

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setzt durch die Entscheidung zum Aufbruch. Vorbild sind die gleichen Ägineten, die die Wahrheit in der Kunst eröffneten, indem sie durch ihre Tempelbauten den Streit von Erde und Welt austrugen. So sah Heidegger für die Dauer einer politischen Ver­blendung das hinter Hitler geeinte deutsche Volk als das wieder­kehrende Volk der Griechen, die sich ihre Götter schufen, indem sie diese in Standbildern und Tempelbauten herbeirühmten. Heideggers Nationalsozialismus sieht sich im Freundschaftsbund mit Schelling, Hegel und Hölderlin, die in ihrer Studentenzeit im Tübinger Stift zwischen 1790 und 1795 von einem neuen Zeit­alter der Mythologie schwärmten. In Frankreich wütete die Schreckensherrschaft, ertranken die Bauern der Vendee, ging der Stern Napoleons auf; und während er Europa mit den Koalitions­kriegen überzog, beschwor der Freundesbund in deutscher Pro­vinz den letzten Homer, 8 3 der, wie der erste, mit seinem Gesang einem geschichtlichen Volk< Götter und Helden zurückgab.

Karl Löwith sagte über Heideggers Rektoratsrede, sie habe die Hörerschaft im Unklaren darüber gelassen, ob jetzt die Vorsokra-tiker zu studieren oder in die SA einzutreten sei. 8 4 Nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen, verteidigte sich Heidegger mit dem Hinweis auf Hölderlin: wie jener von der Gestalt Napoleons, so sei er von Hitler getäuscht worden. Heidegger war nicht nur naiv, sondern auch selbstbewußt in der geistesgeschichtlichen Einordnung seiner Irrtümer. Selbst betrachtete er sich, wie Höl­derlin, als den Propheten, der sich in den Dichterturm zurückzog, als der aktuelle Zeitgeist sich nicht als jener ideale Weltgeist her­ausstellte, der das Griechentum zurückbringen sollte.

Die Abneigung auf den ersten Flirt war gegenseitig. Der real existierende Nazi-Apparat seinerseits hatte für Schwärmer vom Schlag Heideggers keine Verwendung und begann in der zweiten Hälfte der 30er Jahre, dessen nihilistischen Idealismus zurückhal­tend bis feindselig aufzunehmen. Für Heidegger gilt das, was George Orwell dem intellektuellen Übereifer anmahnte: »das ret­tende Quentchen Dummheit« fehlte ihm, um innerhalb einer fanatischen Bewegung bestehen zu können. »Eifer allein genügte nicht. Der strenge Glaube handelte unbewußt.« 8 5 Es fehlten die schlagkräftigen Elemente des Populär-Banalen: das Lob der Rasse und das Lob der Wissenschaft zur Stärkung des Reichs. Heideg­gers Technikkritik war mit der Aufrüstungspropaganda der Nazis nicht zu vereinbaren. 1938 brandmarkte ihn das Parteiblatt >Der Alemanne<, das, zunächst freundlich gesonnen, auch Artikel von ihm veröffentlicht hatte, als typisches Beispiel des nutzlosen Phi­losophen, der von »niemandem verstanden werde und der das Nichts [...] lehre.« 8 6 Instinktiv muß der biedere Nazi gemerkt haben, daß in diesem >Nichts< in der Tat die Schwachstelle seiner

83 Siehe dazu Beat Wyss: Der letzte Homer. Z u m philosophischen Ursprung der Kunstgeschichte im Deutschen Idealismus, in: Wolfenbüt-teler Symposion, Kunst und Kunst­theorie, 1400-1900, hg. v. Peter Ganz, Wiesbaden 1991, S. 231-255 .

84 Safranski (zit. Anm. 82), S. 292. 85 George Orwell: 1984, Zürich

1950, S. 53. 86 Safranski (zit. Anm. 82), S. 321.

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Legitimierung lag. Eigentlich hatte gerade Heideggers >Aufbruch< vor dem Abgrund des Nichts die Züge einer nihilistischen Meta­physik, die den heroischen Faschismus ja ausmacht. Doch der war zu elitär, u m einer Massenbewegung vorgesetzt zu werden. Erst nach der Katastrophe von 1945, während der Nürnberger Pro­zesse, als dieses Nichts >gelichtet< war, konnte Göring den fausti­schen Kern der Bewegung bekennen, wenn er zu Protokoll gab, Sinn der nationalsozialistischen Revolution sei es gewesen, we­nigstens zwölf Jahre anständig gelebt zu haben.

Broadway oder Todtnauberg?

Die Klassische Moderne macht die Gesellschaft zum Gegenstand ihres Gesamtkunstwerks. Im Sinne des platonischen Königsphilo­sophen sehen sich Künstler und Intellektuelle als Meisterdenker der Macht. Kunst eröffnet also - wie Heidegger sagt - die politi­sche Wahrheit. Als raumgreifende und raumstiftende Energie schafft sie die Bühne, innerhalb der sich die Gesellschaft ins Werk setzt. Diese Bühne kann einen Wald oder einen Flugplatz zur Kulisse haben - modern sind beide. Beide setzen Kunst als Ur ­sprung voraus. Doch welcher Ursprung ist gemeint: Natur oder Geometrie? Archaik oder Technik? Der griechische Tempel als Ausdruck des Streits zwischen ruhender Erde und ragender Welt oder das Uhrwerk als Mikrokosmos der Kraftwirkungen im All? Der Ursprungsbegriff der Klassischen Moderne entspringt dem romantischen Zwielicht des 19. Jahrhunderts, wo beide Auffas­sungen vermischt sind. Davon zeugt die Ambivalenz der Künst­ler, Dichter und Philosophen angesichts der modernen Industrie­kultur. Die Verherrlichung der Maschine steht gegen die Stadtflucht und das Lob primitiven Lebens: nicht nur als Streit zwischen Künstlergruppen, sondern als R iß im persönlichen Befinden des einzelnen. Die Mentalität der Klassischen Moderne ist in der Frage der Technik unentschieden. Ihr Weg kann nach Todtnauberg fuhren, zu Heideggers Hütte , ebenso wie zum N e w Yorker Broadway, Mondrians Platz.

Heidegger und Mondrian vertreten zwei exemplarische Posi­tionen: Ein Holzmacher und ein Holzfäller, die im Wald der Moderne verschiedene Wege gehen. Mondrian geht den Holz­weg vom Land in die Stadt, von der Sphäre der Natur zur Stätte urbaner Geistigkeit. Der holländische Calvinismus disponierte ihn zur Vergeistigung dessen, was der Fall ist; seine Kunst ist eine Apotheose bürgerlicher Rationalität. Der Entwicklung hin zur Abstraktion entsprach Mondrians Lebenslauf, der in seinem Geburtsort Amersfoort begann und in N e w York endete. M o n -

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Piet M o n d r i a n , Pier und Ozean, 1915

drian schätzte diese Stadt besonders, weil in den Straßenschluch­ten der Wolkenkratzer kaum Bäume waren, die auf den Boule­vards von Paris so störend dominieren. In Innenräumen soll er sich so gesetzt haben, daß er durch das Fenster kein Laubwerk sehen mußte. Mondrian hatte die Bäume seiner eigenen Imagi­nation abgeholzt. Wir erinnern uns: Auf dem Holzweg zur gegenstandslosen Abstraktion dienten ihm die Baumstämme noch zur Veranschaulichung der Vertikale vor dem Horizont. Das Prinzip geometrischer Komposition hat sich aus dem älteren Natur-Symbolismus herausgeschält. Also schimmert das roman­tische Zwielicht vom Ursprung des Kunstwerks auch in den Arbeiten aus Mondrians Frühphase. Noch seine abstrakten Oval­kompositionen von 1912 bis 1914 beziehen sich auf die Schöp­fungsmythen der Theosophie. So verweist die Ovalform auf Helena Blavatskys >Weltei<, die kubistischen Knitterformen auf der Bildfläche erinnern bei senkrechter Stellung des Ovals an den >Lebensbaum<,87 in der Waagrechten an das Wellenspiel des welt­gebärenden Meeres, das mit seinen weiblichen Eigenschaften Heideggers bergender >Erde< verwandt ist.

»Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!« Was Walter Gropius als Programm für das Weimarer Bauhaus formu­lierte, gehört zum ideellen Gemeingut der Klassischen Moderne: Architektur ist Inbegriff einer Kunst, die der Gesellschaft Lehran­stalt und Bühne sein will. Sah Heidegger die Kunst im griechi­schen Tempel symbolisiert, so setzt sie Mondrian als Stadt der Zukunft ins Bild. Seine Kompositionen erhalten im Spätwerk (1939-1944) wieder Titel: Place de la Concorde, New York City,

87 Weltei und Lebensbaum sind Symbole theosophischer Kosmogonie. Siehe dazu Helena Blavatsky: The Secret Doc t r ine , 3 Bände , L o n d o n 1888 (deutsche Überse tzung 1898-1906) ; Die Geheimlehre . Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Phi ­losophie. Eine Auswahl, Calw 1987.

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Piet M o n d r i a n , Komposition in Oval (Bäume), 1913

Trafalgar Square heißen die Orte urbaner Utopie. Die Linien sind nicht mehr schwarz, sondern beginnen in den Primärfarben Blau, Rot und Gelb zu wechseln. Fröhlich, hell und tänzerisch klingt Mondrians Schaffen aus; man glaubt das Brausen der Stadt zu hören, vermischt mit den Saxophonklängen eines Ragtime, den er liebte. In den letzten Bildern löst sich die Linie als Begrenzung auf, verwandelt sich in bunte Korpuskeln, die flackern und blin­ken wie Verkehrsampeln oder Neonreklamen, so in Broadway Boo-gie-Woogie. Die moderne Großstadt verarbeitete Materie in Licht, Leben in Kunst. Eigentlich hatte N e w York mit seinen Straßen­zügen im Schachbrettmuster Mondrians Kompositionen im monumentalen Maßstab bereits überholt. N e w York war die Vor­wegnahme des verheißenen Neoplastizismus — einer Kunsttheo­rie, welche die Kunst abschafft zugunsten eines Lebens mit Schnellverkehr, Wolkenkratzern, Sport und Jazzklängen. Ein neuer Menschentyp sollte entstehen als »Synthese aus Arbeiter,

88 Z k . nach: Seuphor (zk. Anm. B ü r B e r u n d Aristokrat« 8 8: em U o m o universale des Moderms-20), S. 348. mus, der vom Arbeiter den Umgang mit der Maschine, vom Ari-

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stokraten das kulturelle Raffinement, vom Bürger den Sinn für das Rationale übernimmt. »Er wird sein körperliches Wesen als eine vollendete Maschine begreifen, doch ohne dabei selber zu einer Maschine zu werden. Und hier sehen wir genau den Unter­schied: Früher war der Mensch selbst Maschine, jetzt aber bedient er sich der Maschine, sei diese sein eigenes körperliches Wesen oder eine von ihm konstruierte Vorrichtung. Und dieser Maschine vertraut er im größtmöglichen Umfange die schwere Arbeit an, um sich selbst auf die inneren Dinge zu besinnen. Betrachtet man es vom höchsten Standpunkt aus, so ließe sich sogar sagen, daß er sich vollends seiner Seele als einer Maschine bedient, während er selber zum bewußten Geist wird.« 8 9 Mondr i -ans Technikeuphorie ist nicht so laut und aggressiv wie der Futu­rismus von Tommaso Marinetti. Ein mystischer Ernst durchzieht sein Lob der Maschine; im Hintergrund seines industriellen Para­dieses sehen wir Spinoza, bedächtig, beim Linsenschleifen. M o n -drians Weltgeist ist ein gutartiger Roboter-Ingenieur, der den Gleitflug mit dem Doppeldecker als Form des Bewußtseins lehrt.

Heidegger hatte in Hitler seinen Dionysios von Syrakus. M o n ­drian ist nie in die Lage gekommen, den Alptraum Piatons von der Machtbegleitung zu verwirklichen. Er saß in seinem Atelier an der Avenue du Depart, bevor er 1938 nach London abreiste, auf der Flucht vor der Bewegung, der Heidegger seinen philoso­phischen Willkommensgruß erboten hatte. Trotzdem hat es Mondrian im populären Vergleich der utopischen Vorstellungen heute schwerer als Heidegger, dessen völkische Tendenzen zwar politisch diskreditiert sind, sich aber ganz umweltverträglich anhören, dank der markigen Invektiven gegen die Technik. M o n ­drian hingegen steht mit seiner Technikbegeisterung im zeitgeist­lichen Abseits von heute. Dafür dient seine Kunst immer wieder als Anregung für Modeschöpfer und Produktdesigner.

Die eigentümliche Gegenläufigkeit in der Wirkung der beiden modernen Antipoden ergibt eine Krebsfigur: Mondrian wird praktiziert, ohne die Theorie des Künstlers zu bedenken; der Philosoph Heidegger wird theoretisiert, ohne dessen Praxis zu bedenken.

D e m tatsächlichen politischen Sündenfall Heideggers steht ein Sündenfall Mondrians gegenüber, der nur in künstlerischen Tag­träumen stattfand. Einen Herrschaftsanspruch hatte er insofern, als er der Menschheit ein »Leuchtfeuer« sein wollte, »welches auf dem Meere anzeigt, daß da der Hafen sei« 9 0; die Leuchtturm-und die Kirchturmserien von 1909 bis 1910 symbolisieren dieses messianische Selbstbild des Künstlers. Der T u r m markiert das 8 9 Z l t - nach: Seuphor (zit. Anm.

20) S 327

>weltende< Prinzip seiner geistigen Führung. Mondrian glaubte h

9 Q Z l t m c h ; S e u p h o r ( z k A n m

wie die Futuristen an die >artecrazia<, die Kunstregentschaft. 20), S. 201 .

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Piet M o n d r i a n , Leuchtturm, Westkapelle, u m 1909

Doch der Prophet fand seinen Berg nicht. Die Versuchung, sich als >Artokrat< auf die Realpolitik einzulassen, war bei Mondrian zu keinem Zeitpunkt gegeben. An wen hätte er sich wenden sol­len: an Mussolini, Hitler oder Stalin? Es fand sich kein politischer Führer, der die ästhetische Vision einer zweckfreien Technik

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teilte. Für so etwas Spinnertes gab es auch in der Industrie keine Lobby. D e m spirituellen Enthusiasmus für die Technik ging jener Sinn für Pragmatik ab, der nötig war, zwischen Risiko und Erfah­rung den optimalen Nutzen zu erzielen. Aber es war ja noch schlimmer: Dieser Enthusiasmus hatte etwas Weichliches - er tönte zu friedfertig, zu vertrauensselig, auf das Gute im Menschen bauend. Mondrians theoretischem Vortrag fehlt das herrische Bellen der Futuristen, die ihre Manifeste knattern ließen wie Maschinengewehre. Es fehlt die schlagende Überzeugungskraft eines Le Corbusier, der die neue Architektur anpries, indem er sie mit der Schönheit von Kanonenbooten verglich. Ein Sieg der Technik, bei dem der Krieg nicht vorkam - das hatte keinen Biß für die Polittechnokraten, die an den Schalthebeln der Macht schließlich bereit waren, ihre gigantischen Maschinenparks wie Mähdrescher über die Schlachtfelder und die Städte dröhnen zu lassen. Der Zweite Weltkrieg war die Fortsetzung der futuristi­schen Manifeste mit politischen Mitteln.

Die Technokratie, von der Mondrian träumte, verwirklichte sich ohne Künstler, ohne theosophische Betulichkeiten, auf dem kaltem Weg der Ökonomie und im Wettbewerb des heißen und des kalten Kriegs. Rührend ist Mondrian zu lesen, wenn er mit der idealistisch-okkulten Sprache des 19. Jahrhunderts das ober­flächlich-lärmende Zeitalter des Boogie-Woogie preist. Er blieb der Theosoph, der im Straßenverkehr ein Mittel der Vergeisti­gung erblickte. Als politischer Führer blieb dem Sohn eines calvinistischen Schulmeisters Gott allein. Beim Anblick seiner Kompositionen empfand er »Heimweh nach dem Universalen, Heimweh nach seinem tiefsten Selbst«.9 1 Damit kennzeichnet Mondrian treffend das gegenwendige Reiseziel moderner Utopie: Es entspringt dem Heimweh nach einem Ort , an dem man noch nie zu Hause war. Der Or t ist weit weg, groß wie das Universum und findet zugleich Platz im Ich. Nirgendwo heißt der Or t und ist zugleich unmittelbar da, wo das Ich mit seiner Sehnsucht steht.

Die Klassische Moderne als Utopie ist nicht das, was geschichtlich aus ihr wurde. Im Verhältnis von innerer Welt und äußerer Realität zeigt sich wieder eine Ähnlichkeit bei den Anti­poden Heidegger und Mondrian: Heidegger sprach vom Auf­bruch der Ägineten - und Hitler marschierte. Mondrian sprach von der Vollendung der Kunst im Schnellverkehr - und die Autolawine stockt. Heidegger war nie in N e w York. Er hatte Heimweh nach seiner Hütte in Todtnauberg, mitten im Schwarzwald. Mit Rucksack und genagelten Bauernschuhen wanderte er dorthin, wenn er Seminare und Vorlesungen hinter sich gebracht hatte, u m dem Seienden nahe zu sein, wie es die 9 1 z i t

Griechen in Agina einst gewesen waren. Auf den Holzwegen 20), S. 347.

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nach: Seuphor (zit. A n m .

beschritt er die Wahrheit als alätheia: im Streit von Lichtung und Verborgenheit. Dasselbe gegenwendige Gleichgewicht erfuhr Mondrian an jeder Straßenkreuzung der Upper East Side in N e w York, dessen Stadtplan seinen späten Bildern gleicht. Sein letztes Atelier hatte er an der schnurgeraden East 61 st Street, die in ihrer gesamten Länge - von der Queensboro Bridge bis zum Central Park - acht Avenues im rechten Winkel kreuzt, achtmal ein dynamisches Gleichgewicht erreichend - wie die vollendete Tonleiter.

Die >Kehre< zur Nachkriegskunst

92 Walter Benjamin: Das Kunst­werk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkei t , Frankfurt a. M . 1963, S. 48.

Anfang der 30er Jahre schwebte Heideggers Denken im prekären Kairos von Kunst und Politik: in deren Quidproquo liegt die Selbstgefährdung der Moderne. Zu den kollektiven Visionen ge­hörte das politische Gesamtkunstwerk, in dem das Gesellschaft­liche ästhetisch und die Ästhetik gesellschaftlich würde. Einer, der die Versuchung der Moderne erkannte, war Walter Benja­min, wenn er vor der »Ästhetisierung des politischen Lebens« 9 2

warnte. Die Verwechslung von Kunst und Politik entspricht einem intellektuellen Narzißmus, der sich mit Bewegungen identifiziert, die im Rausch des Revolutionären auftreten.

Die Geschichte der Moderne zeigt aber auch, wie schnell die Versuchung in der Erfüllung ernüchtert wurde. Nur im ästheti­schen Zustand des Flirts war die Idee der Artokratie aufrechtzu­erhalten. Mit der Enttäuschung bleibt schließlich vom politischen Wunschtraum nur noch ein Kunstversprechen zurück. Geistes­geschichtlich symptomatisch ist die Bekehrung des Intellektuel­len von der Ästhetik der politischen Aktion zur radikalen Her-metik der Kunst. Die ästhetische Erfahrung wird damit zum Kirchenasyl enttäuschter Revolutionäre im Geist. Sie gewährt spirituelle Stetigkeit, im Gegensatz zu den Unwägbarkeiten poli­tischer Fortune. Der Tyrannis von Syrakus entronnen, schrieb Piaton wieder Dialoge. Wenn die Meisterdenker von den Adres­saten ihrer politischen Entwürfe enttäuscht, entlassen oder gar verfolgt worden sind, ziehen sie sich in ihre angestammte Kunst zurück. In Gestalt der Utopie setzt sich diese eine Tarnkappe auf, u m sich vor dem Zugriff der Machthaber zu schützen. Dieses Mittel der Unangreifbarkeit sollte der Kunst deshalb nicht mut ­willig entzogen werden! Unausweichlich käme es erneut zur Ver­wechslung von Kunst mit politischem Leben, wie dies nicht nur Heidegger unterlaufen ist.

Heideggers Rückzug aus dem Philosophenkönigtum in die philosophische Ästhetik erfolgte in zwei Etappen: Die erste, im

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Ursprung des Kunstwerkes von 1935, wandelt den politischen >Auf-bruch< zum >Fest des Denkens<, das um die Ägineten und die Vorsokratiker kreist; die zweite, u m 1950, öffnet sich der Kunst der Gegenwart und sollte in der Zusammenarbeit mit dem Bild­hauer Eduardo Chillida ihren Höhepunkt finden.

Heidegger war mit dem Kunsthistoriker Hans Jantzen befreundet, der den Philosophen mit der Gotik vertraut machte. Jantzens Auffassung der Kathedrale beeinflußte Heideggers Sicht auf den griechischen Tempel als einen heiligen Bezirk, in dem ein geschichtliches Volk sich seine Welt einrichtet. Wie Heideg­ger hatte auch Jantzen im Nationalsozialismus den Anfang einer neuen Ins-Werk-Setzung von Welt gesehen: »Die mit der Grün­dung des Dritten Reiches ermöglichte straffe Formung des ge­samten Volkes im Geiste eines neuen schöpferischen Ganzheits­gedankens« habe »auch für die deutsche Kunst wieder einen tragenden Grund geschaffen«.9 3 Derselbe Jantzen führte Heideg­ger aber auch an die Malerei von Paul Klee und an die Architek­tur von Le Corbusier. Heidegger spricht in den 50er Jahren über Le Corbusiers Wallfahrtskirche von Ronchamp so, wie er in den 30er Jahren vom griechischen Tempel und wie Jantzen von der Gotik gesprochen hat. Seit dem Mittelalter habe Le Corbusier erstmals wieder einen »heiligen Raum« geschaffen. 9 4 Im Wir t ­schaftswunder der 50er Jahre schienen sich endlich doch jene Kräfte des >Aufbruchs< bemerkbar zu machen, die einst dem geschichtlichen Volk< verheißen wurden.

Nach dem Krieg begann sich Heidegger intensiv mit moder­ner und zeitgenössischer Kunst auseinanderzusetzen. Theodor Hetzer, der ihn mit dem Werk Cezannes vertraut gemacht hatte, dankte Heidegger, indem er ihm 1960 die Reclam-Ausgabe des Kunstwerk-Aufsatzes widmete. In den 50er Jahren wurde Hei ­degger zur kulturellen Galionsfigur; seine Vortragsreisen und Fest­reden trugen ihm die Freundschaft von Künstlern ein. Während seiner Sommeraufenthalte in der Provence lernte er Georges Braque kennen. Hans Arp und Heidegger begegneten sich 1960 bei der Feier zum 200. Geburtstag von Johann Peter Hebel in Hausen im Wiesental. Vier Jahre zuvor hatte Heidegger selbst in Lörrach den Hebel-Preis erhalten. Seine Festrede begeisterte Georg Schmidt, den Direktor der Basler Kunsthalle. Der enga­gierte Verfechter der Moderne ließ seine Bedenken gegen den einstigen Rektor der Freiburger Universität fallen und versuchte, Heidegger für einen Katalogbeitrag zu einer Paul-Klee-Ausstel­lung zu gewinnen. Ein ausgearbeiteter Text kam jedoch nicht zustande. Die Frucht von Georg Schmidts Anregung war ein Vortrag Heideggers über Klee, den er 1960 vor Freiburger Archi­tekten hielt.

93 Hans Jantzen: Geist u n d Schicksal der deutschen Kunst (1935), zit. nach: Heidegger und die praktische Philosophie, hg. v. Annemarie Ge th -mann-Siefert /Otto Pöggeler, Frankfurt a . M . 1988, S. 260.

94 Zit . nach: Dieter Jähnig: Die Kunst und der R a u m , in: Er innerun­gen an Mart in Heidegger, Pfullingen 1977, S. 136.

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Zu den jüngeren Künstlerfreunden Heideggers gehörte Bern­hard Heiliger. Nach einem Besuch in dessen Berliner Atelier schrieb der Philosoph dem Künstler: »Sie zeigen das Aufgehen der Erde in den uns noch erfüllten irdischen Himmeln. Ihre Werke stellen nichts mehr dar - sie stellen uns in den Aufenthalt im Zwischen von Erde und Himmel - die ins befreite Freie wachsende Bewegung selber und gerade sie wird offenbar.« 9 5

1969 ergab sich die engste Zusammenarbeit Heideggers mit aktueller Kunst. Für die Sankt Galler Galerie Erker verfaßte er den Text >Die Kunst und der Raum<, der unter dem Titel >L'art et l'espace< auch in Französisch veröffentlicht wurde. Wirksamer noch als der anspruchsvolle Kunstwerk-Aufsatz, hat das schmale Bändchen der zeitgenössischen Kunstkritik die zentralen Topoi Heideggerscher Ästhetik nahegebracht. Es erschien anläßlich einer Ausstellung des baskischen Plastikers Eduardo Chiliida. Die Vorzugsausgabe war ein Gemeinschaftswerk vom Künstler und vom Philosophen, bestehend aus sieben Lithocollagen von Chil-lida; seinen Text trug Heidegger handschriftlich auf die Stein­platten auf. Der einstige Kritiker des schnöden Kunstbetriebs bewegte sich daselbst jetzt ganz gewandt - bis an die Wahrung der Grenze zum geschmäcklerisch gemachten >Zeug<.

Der Aufbau der Gedanken in >Die Kunst und der Raum< folgt exakt dem Holzweg des 30 Jahre älteren Kunstwerk-Aufsatzes. Zunächst wird das gewöhnliche Bewußtsein durchmessen. Fragte der Kunstwerk-Aufsatz nach den landläufigen Auffassungen, was ein >Ding< sei, so fragt >Die Kunst und der Raum< nach den gewöhnlichen Vorstellungen von >Raum<. Wie verhalten sich der R a u m der Kunst und der wissenschaftliche Raum-Begriff der Neuzeit? D e m Descartes-Satz »cogito, ergo sum« entspricht der ordnende Standpunkt des Künstlers, der die gesehene Welt in den Fluchtlinien seines Blickwinkels trimmt. Der zentralperspektivi­sche R a u m nimmt, wie die aristotelische Logik, begreifend Besitz von den Dingen und spaltet das Seiende in die Objektivität der vorliegenden Sache und die Subjektivität des Bewußtseins. Der künstlerische R a u m hingegen, wie ihn Heidegger der Moderne zuschreibt, fällt nicht mehr ineins mit dem geometrisch rekon­struierbaren R a u m der Wissenschaft. Wieder findet sich die Lich­tung, nachdem die geläufigen Meinungen durchforstet wurden: »Doch wie können wir das Eigentümliche des Raumes finden? Es gibt einen Notsteg, einen schmalen freilich und schwankenden. Wir versuchen, auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene

95 Zit. nach: Tähnig (zit. Anm. r n ^ .. . . , _ T T» •• • i i 9 4 ) s 1 3 9

J ö [.. .J Räumen ist Freigabe von Orten. Im Räumen spricht und 96 Heidegger (zit. Anm. 74), S. 8 f. verbirgt sich zugleich ein Geschehen.«1 .96

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Das >Räumen< ist schlankes Synonym für das >Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheitx; das kurze, transitive Verb gibt der Kunst als poiätischem Geschehen noch mehr Schwung. In der räumenden Kunst wird ein Or t sowohl eröffnet als auch geborgen und ver­borgen. Das Motiv der gegenwendigen Wahrheit alätheia klingt hier wieder an. Als antagonistischen Gegenbegriff zum >Ort< setzt Heidegger die >Leere<. Der R a u m der Kunst entsteht durch deren luftiges Zusammenwirken. >Leere< und >Ort< stehen jetzt für >Welt< und >Erde<. Diese Begriffskorrektur ist mit der Gegen­wartskunst besser zu vereinbaren. Zwischen >Erde< und >Welt< war der Tempel von Ägina beheimatet; zwischen >Leere< und >Ort< erfuhr die Nachkriegskunst eine lichtere, leichtere Wor t ­stätte. An dem alten Gegensatzpaar hing zuviel Scholle; die White cubes, die eleganten Kunstgalerien der 50er Jahre, betrat man nicht mit Bauernschuhen.

E d u a r d o Chil l ida, Windkämme, 1 9 7 2 - 7 7

Die Leere ist auch ein beherrschender Gedanken bei Chillida, und zwar als ein Sinnbild des Nichtbeherrschens, Nichtverein-nahmens der Dinge. An die Mauer seines Ateliers in San Seba­stian schrieb er den Spruch: »Lieber eine Wolke von Vögeln im Himmel als einen einzigen in der Hand.« Kunst lehrt, das Sei­ende sein zu lassen. Der Bildhauer ist nach Chillida ein Architekt der Leere, in der die Dinge geborgen sind, ohne gefangenge­nommen zu sein. In der geistigen Auseinandersetzung mit He i ­degger entstanden Chillidas Windkämme in einer Meeresbucht bei San Sebastian: Bizarre Eisenskulpturen, die auf Felsklippen in den Himmel ragen. Die Kunst schafft einen Ort , indem sie durch ihren Eingriff das Meer, die Klippen, den Wind erfahrbar

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macht, ohne etwas von deren elementarer Zweckfreiheit wegzu­nehmen. Die einräumende Leere macht die Bucht in ihrem Glit­zern, ihrer Ruhe und ihrem Rauschen zu dem, was sie je schon gewesen ist: ein Ort . »Die Plastik wäre die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein Freies u m sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.« 9 7

Das >räumende< Werk ist Anfang, vor ihm ist nur mehr nichts, folgt daraus, in Anlehnung an das Fazit in Heideggers Kunst­werk-Aufsatz. Kunst ist nach wie vor >Ursprung<; sie stellt sich trotzig gegen den absoluten R a u m Isaac Newtons. Erst im >Räu-men< entsteht ein Or t der Kunst als Ergebnis einer poiätischen Entscheidung. Der politische >Aufbruch< hat sich zu einer >Ent-scheidung< gemäßigt, wie sie etwa ein existentialistischer Künstler bei der Wahl seiner Ausdrucksmittel trifft. Der Dezisionismus ist zivil und ästhetisch geworden: Es geht nicht mehr u m das geschichtliche Volk<, das sich selber entwirft, indem es - zum Beispiel - Sudetendeutschland besetzt. D e m Tachisten genügt die entschlossene Selbstsetzung über den Farbfleck.

Wie elastisch ist der Subtext einer Mentalität! In seiner laten­ten Programmatik gibt es darin Platz für viele, sich manifest widersprechende Texte. Das wird noch näher zu bedenken sein.

Heideggers Ästhetik war abstrakt geworden. Die visuellen Konfigurationen wechselten, während das philosophische Grund­gerüst bestehen blieb. U m beim Bild von der Bühne zu bleiben: Im Schnürboden des Denkens hatte ein Szenenwechsel stattge­funden - statt der malerischen Tempelruine >weltete< jetzt eine gestisch kahle Eisenplastik von Chillida auf dem >bergenden< Felsengebirge. In seiner Vorliebe für das Ursprüngliche, Vorin­dustrielle bevorzugte Heidegger die gestische Abstraktion, in der die Spur des Handwerklichen sichtbar blieb - Chillida hatte bei einem baskischen Dorfschmied gelernt. Äußerungen Heideggers zu Mondrian sind bisher nicht bekannt. U n d Mondrian war ein unbekannter Maler während der ersten zehn Jahre nach dem Krieg. 1872 geboren, war er 17 Jahre älter als Heidegger. Nach Mondrians Tod 1944 dauerte es noch über zehn Jahre bis zum Durchbruch seines Werks anläßlich der Gedächtnisausstellungen in Den Haag und Zürich 1955.

Doch gibt es Gemeinsamkeiten in der Rezeption von Heideg­ger und Mondrian. Auch Heideggers Kunstwerk-Aufsatz wurde erst in den 50er Jahren maßgebend für die Kunstszene. So wie der ästhetische Text, in den 30er Jahren geschrieben, in der Lek­türe der 50er Jahre das kulturkonservativ Griechentümelnde

97 Heidegger (zit. Anm. 74), S. 11. abgestreift hatte, ging bei Mondrian zur selben Zeit das spiritu-

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eile, theosophisch beeinflußte Gedankengut verloren. Die junge Generation der Konkreten u m Max Bill, der Op-art u m Vasarely, sie betrachtete Mondrian ganz formal. Der Künstler-Messias hatte seine Kompositionen verstanden als Entwürfe einer Utopie, in der die Gesellschaft und die Technik zu einem spirituellen Einklang finden. Nach dem Krieg verdampfte das Ethos der Kunstregentschaft. Die Weltentwürfe wanderten als Originale in die Museen und wurden als Bilder gerahmt. Heidegger hat irgendwie doch recht, wenn er den Weltzusammenhang in den Werken durch ihre Musealisierung schwinden sieht. Nicht wenige Zeitgenossen mochte es in den 50er Jahren gegeben haben, die hinter den asymmetrisch komponierten, schwarzen Gitterstäben und dem aufregenden Stakkato von Blau-Gelb-Rot auf Schminktuben und Tailleurs die Hand eines pfiffigen Ent­werfers im Modehaus Courreges vermuteten.

So wie in die Bilder Mondrians eine neue Praxis einströmte, so strömte in die Ästhetik Heideggers eine neue Theorie. Unwidersprochen blieb das allerdings nicht. Auftakt der D e m o n ­tage Heideggers in Deutschland war Adornos Jargon der Eigentlich­keit von 1964: eine beißende Rückschau auf die 50er Jahre und das epigonale Heideggern, jener »Himmelfahrt der Worte über den Bereich des Tatsächlichen«. 9 8 Hier beginnt mein biographi­sches Erleben sich mit der Geschichte zu verbinden. Ich erinnere mich an Gymnasiallehrer, die mir Heidegger näherbringen woll­ten. Das »Es riecht nicht gut!«, womit Nietzsche die Welle der Wagner-Begeisterung meinte, glaubte ich am schwerverständli­chen Murmeln der Heidegger-Texte zu riechen. Reform-Mief. Diese neue >Eigentlichkeit< war eigentlich eine von gestern. Es war die zur Moderne bekehrte Betulichkeit, die jetzt nicht mehr nur für völkisch verstandenes Griechentum, sondern auch für Informel und Gedichte Paul Celans aufgeschlossen war. Durch das avancierte Formverständnis hindurch roch es nach gestern, nach deutscher Innerlichkeit, die trotz Wanderschuhen und Rucksack zu abgestanden war, um noch romantisch zu wirken.

In diese Rehabilitierung der Vorkriegsmoderne in der Nach­kriegszeit schlug die Pop-art wie ein erlösender Blitz ein. Die Analyse des Oberflächlichen und des Ephemer-Alltäglichen war eine heilsame Provokation gegen ein Tiefseinwollen um den Preis des Verdrängens jüngster Vergangenheit. Seit den 50er Jah­ren hatte die amerikanische Kunst die Mythologie der Klassi­schen Moderne im Visier. Schon die Irascibles um Jackson Pollock erkannten, daß der europäische Weg der Abstraktion eine Fortsetzung des Symbolismus mit anderen Mitteln war. Der Versuch von Ad Reinhardt, das Figur-Grund-Muster in schwarzen Bildern aufzuheben, geht parallel zur Ablehnung ge-

98 So charakterisiert Adorno etwa den Sprachstil Friedrich Bollnows in: Jargon der Eigentlichkeit. Z u r deut­schen Ideologie, Frankfurt a. M . 1964, S. 13. Z u Heideggers Kunstbegriff aus ideologiekritischer Sicht siehe Jutta Held: Z u r Bes t immung zeitgenössi­scher Plastik durch Chillida und H e i ­degger, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 20,1975, S. 106-120.

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malter Philosopheme. Keine Figur, kein Grund hieß: keine Er­innerung an etwas wie das Apollinische und das Dionysische. Clement Greenbergs Propagierung der >Flatness< in der Kunst ließ die narrative Luft ab, die in den Werken der Klassischen Moderne noch steckte. Allerdings standen die amerikanischen Abstrakten der 50er Jahre noch mit einem Bein in dieser klassi­schen Tradition, die sie bekämpften. Die Belesenheit von Bar­nett Newman und Mark Rothko stiftete zu mythologischen Titeigebungen an wie Euclidian Abyss und Teiresias, die eigentlich mit dem manifesten Kunstprogramm unvereinbar waren. Zudem tranken die Irascibles zuviel, als müßten sie das Dionysische, das sie aus der Kunst austreiben wollten, ihrer Leber antun. Erst Andy Warhol löste sich von der klassischen Tradition. Warhol litt nicht, war reich, unbelesen und kein Trinker. Dionysische Anfälle beschränkten sich bei ihm auf das damenhafte Laster, hin und wieder eine Schachtel Pralinen wegzuputzen.

Damit war die Klassische Moderne zu Ende.

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Z W E I T E N S : DIE B E J A H U N G

Einspruch: Methodische Zweifel der Kunstgeschichte

Nietzsches Schnauz

W i e sollte es zulässig sein, den Text eines Phi losophen mi t d e m Werk eines Künstlers zu vergleichen, zumal beide v o n ­einander keine Not iz g e n o m m e n haben? W i e verschieden sind die intellektuellen Profile! Das von Mondr i an — G r o ß ­stadtmensch, Mystiker der Rationali tät mi t calvinistischer Tradi t ion — daneben das Profil von Heidegger, im Schwarz­wald geboren, Idealist in der Tradi t ion Hölderlins, in kathol i ­scher Queru lanz gegen bürgerliches Zweckdenken . Mi t der Auswahl wollte ich die Spannbreite einer epochalen Unver ­träglichkeit vor fuhren u n d zugleich die epochale Drift b e ­s t immen, die unterhalb aller Idiosynkrasien beide bewegt.

Aber ist dieses Verfahren zulässig? W a r u m nicht Cezanne u n d Bergson, Klee u n d Husserl, D u c h a m p u n d Wittgenstein? Entspricht dieses Q u i d p r o q u o nicht gerade der grassierenden Beliebigkeit im Kunstfeuilletonismus, der mit p rominen ten Zi ta ten jongliert , statt richtig hinzuschauen? Eine methodisch korrekte Kunstgeschichte vergleicht nicht Apfel mi t Bi rnen; sie bleibt bei ih rem Leisten u n d vergleicht, w e n n denn vergli­chen werden soll, ein Kunstwerk mi t e inem anderen Kuns t ­werk, von Künstlern, deren Beziehung bekannt oder nach­zuweisen ist. Das ist alles richtig. N u r - sobald der Kuns t ­historiker den M u n d auftut oder z u m Schreiben ansetzt, hat sich der Vergleich von Äpfeln mi t Bi rnen unbemerk t in die Binnengrenze des Fachs verlagert. Ist es zulässig, Bilder zu beschreiben? Ergeben sich wissenschaftlich fundierte Resu l ­tate, w e n n optische Eindrücke sprachlich umschr ieben u n d mi t der Logik der Sprache analysiert werden? Als Produzent in von Texten befaßt sich die Kunstgeschichte mi t visuellen Z e i -chensystemen außerhalb ihres Med iums . W i e ist das kuns th i ­storische Sprechen über sinnlich w a h r g e n o m m e n e Kuns t ­werke a priori möglich? Wenige Kunsthistoriker haben sich dieser Frage gestellt. Einer von ihnen ist E r w i n Panofsky, u n d

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1 Erwin Panofsky: Über das Ver­hältnis von Kunstgeschichte und Kuns t theor ie . Ein Beitrag zu der Erör te rung kunstwissenschaf t l icher Grundbegriffe^ in: Zeitschrift für Ästhet ik und Allgemeine Kuns t ­wissenschaft, XVIII, 1925, S. 129. Zit. nach: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer /Egon Verheyen, Berlin 1974, S. 4 9 - 7 5 .

es w u n d e r t nicht, daß der betreffende Aufsatz Über das Verhält­nis von Kunstgeschichte und Kunsttheorie1 zu den wenig beach­teten gehört . De r j unge Gelehrte hatte 1925 den ehrgeizigen Versuch u n t e r n o m m e n , Kunstwissenschaft mi t Kants Model l transzendentaler Erkenntnis zu verknüpfen. Er versuchte damit eine Brücke zu schlagen zwischen Formanalyse u n d Ikonographie, die er später kaum noch benutzte u n d die, überwachsen vom Gestrüpp gegenseitiger Nichtbeachtung, in Vergessenheit geriet.

Z u entwickeln wäre eine Ikonologie der Abstraktion. W i e ist es möglich, ein gegenstandsloses Bild kontextuell zu er­schließen? Da sich Panofskys Ikonologie hauptsächlich im R a h m e n abbildender Kunst bewegte, löste sich die Frage einer zulässigen Verknüpfung von Bild u n d Kontext auf h e u ­ristische Weise scheinbar von selbst. Was der Phänomens inn in e inem Renaissancegemälde als nackte Frau entzifferte, ließ sich bei ikonographischer Überprüfung der Attr ibute als G ö t ­tin Venus identifizieren, die allegorisch eine Sinngebung im Geist neuplatonischen Schrifttums nahelegte. N u n bezieht sich die neuzeitliche Kunst in der Regel ausdrücklich auf ei­nen Kanon von Texten, u n d die Aufgabe des Kunsthistorikers ist es, eine vergessene Verknüpfung zwischen Bildthema u n d Text wiederherzustellen. Die klassische Ikonographie verfährt wesentlich nach d e m repräsentativen Gesichtspunkt der A b -bildlichkeit: Sie sucht nach künstlerischen Zeichen, die sich in Wör te r , N a m e n u n d Sätze übersetzen lassen. Sie >liest< ein Bild als visuelles D o k u m e n t der Geschichte. Die Ikonogra­phie wird d e m mittelalterlichen u n d neuzeitl ichen Kunstwerk gerecht, sofern dieses den kanonischen Text u n d die reprä­sentativen Absichten seines Auftraggebers illustriert. Die künstlerische Seite der Betrachtung bleibt allenfalls im N a c h ­weis, wie frei der Künstler die Vorgaben interpretierte.

Mi t P i e g l und Wölfflin trat eine Generat ion von Kuns th i ­storikern auf, die die Begründung der Kunst in vorgegebenen Texten nicht m e h r interessierte. Sie entwickelten eine Selbst­begründung der Kunst in deren Stilgeschichte. Sie >lasen< den Formen Entwicklungsgesetze ab, die sich allen übrigen histori­schen Kontexten gegenüber au tonom verhielten. Einer Kuns t ­geschichte, die die Werke nach historisch-ikonographischen M e t h o d e n untersuchte , warfen die Formanalytiker vor, sie verkenne das Kunstwerk als Objekt ästhetischer Erfahrung. Aus der Formanalyse der Jahrhunder twende entwickelten sich die Verfahren kunsthistorischer Hermeneu t ik . Lorenz Di t t -mann , M a x Imdahl, Gottfried B o e h m teilen mi t Wölfflin den konsequent m o d e r n e n Blick auf die Kunst der Vergangenheit .

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Edvard M ü n c h , Allegorisches Porträt von Friedrich Nietzsche, 1906

Sie analysieren das Werk nicht nach d e m Was, sondern nach d e m W i e der Darstellung. Im Einklang mi t d e m Haupts t rom mode rne r Kunst theorie , die am Werk nicht eine Darstellung, sondern dessen Herstel lung sieht, versucht die Hermeneu t ik , die Poiäsis, das Gemachtsein der Werke , als ausschließlichen Gegenstand der Interpretation zu >lesen<2. D e r Sinn der Kunst soll — nach d e m Begriff Cezannes — an deren »realisation« erscheinen.

1906 hat Edvard M ü n c h das Bildnis Friedrich Nietzsches gemalt. Ein Ikonograph würde den Sinn des Bildes am Schnauz, d e m Was des Dargestellten entziffern: Aha, N ie t z ­sche, identifizierbar an seinem charakteristischen Attr ibut , an ein Geländer gelehnt. Als Quel lenkenner würde d e m Ikono-graphen vielleicht auffallen, daß M ü n c h die Figur Nietzsches von einer Fotografie abgemalt hat, die ihn mit seiner M u t t e r am A r m zeigt. Das Gemälde gibt, an Maria Nietzsches Statt,

2 Die Anführungszeichen sind gesetzt, eingedenk der Kritik Oskar Bätschmanns an Gadamer, der H e r m e ­neutik als »Lektüre« verstanden hat. Mi t diesem schönen W o r t geraten wir in der Tat in die Falle der Metaphorik, die, statt das Geschäft der Interpreta­tion zu begründen, sein T u n nur aus­schmückt. Siehe Oskar Bätschmann: Einführung in die H e r m e n e u t i k , Darmstadt 1984, S. 35.

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3 Panofsky (zit. Anm. 1), S. 62. 4 So hat Felix Thür lemann das

schriftliche und malerische W e r k von Kandinsky einer vergleichenden Ana­lyse unterzogen. Siehe dazu Felix Thür lemann : Kandinsky über Kan­dinsky, Der Künstler als Interpret eige­ner Werke , Bern 1986.

den Blick frei auf Sils-Maria, was den Ikonographen, w e n n er Lacanianer wäre, zu Sprachspielen verführte. D e r Schauplatz für die Niederschrift der Fröhlichen Wissenschaft assoziierte sich mi t psychoanalytischen Vermutungen , die schließlich auf E d ­vard M ü n c h als Verursacher u n d auf den Ikonographen als Entdecker dieser Verschiebung zurückfallen würde . D e m H e r m e n e u t e n wäre das alles Biographismus, im schlimmsten Falle psychologischer Kitsch, d e m Werk uneigentlich. Er ließe das Gemälde in der Stockholmer Thielska Galerie auf seine Augen wirken, bis die Linien, die die >kahle< Berglandschaft umre ißen , als >stürzende< Diagonalen >in Bewegung gerieten<: von den oberen Bildrändern her auf die >einsame, dunkel auf-ragende< Gestalt. D e m >Malstrom< des in sich verfallenden Grundes stemmte< sich die >Figur< Nietzsches im Vorder­g rund entgegen, mit einer Anstrengung, die die Stirn schwel­len macht . Ich habe einige W ö r t e r u n d W e n d u n g e n in Anfuhrungszeichen gesetzt, die besonders deutlich zeigen, daß j ede Bildbeschreibung immer schon eine Interpretation ist, die sich ungesichert als Wortgespinst über den begrifflich opaken Fo rmen der Kunst ablagert. Im Prinzip ist jedes Adjektiv in einer Bildbeschreibung unerklärte Hypothese . Aber schon in harmlosen W ö r t e r n wie >Figur< u n d >Grund< wird auf ein zweidimensionales Gemälde die Gewohnhe i t des dreidimensionalen Sehens angewandt. Panofskys Krit ik an Wölfflins »stilcharakterisierenden« Begriffen trifft auch die Hermeneu t ik : »Was aber gibt der Kunstgeschichte das Rech t , in dieser Weise >deutend< vorzugehen, da doch eine jegliche Deu tung , w e n n sie nicht bare Wil lkür sein soll, das Vorhan­densein fester u n d legitimer Best immungsmaßstäbe voraus­setzt, auf die das zu Deu t ende bezogen werden kann?« 3

Die kunsthistorische Semiotik hat den Versuch gemacht, der freihändig lautmalenden Sprache der Hermeneu t ik das Korsett exakter Me thode zu geben. Ein Semiotiker würde Münchs Nietzsche-Porträt vielleicht in den fahrigen Pinsel­strichen, in den parataktisch gesetzten Linien, in der asympto­tisch auslaufenden Kurve links im Bild mit der Syntax der Sprache Nietzsches, seinem »Philosophieren mit d e m H a m ­mer«, vergleichen. U n d vielleicht fänden sich auch Tagebuch­aufzeichnungen Münchs aus dem Jahr 1906, welche fiebrig angesteckt von der Lektüre des Zarathustra, sich seinem Model l auch schreibend annäherten. Die Semiotik hat den Versuch gemacht, die Gesetze des Lesens von Zeichen zu verallgemei­nern u n d so die Kunst als System einer Metasprache zuzuord­nen. Fruchtbar können semiologische Ansätze werden, w o Künstlertheorien als kongeniale Kontexte untersucht werden . 4

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Lange genug sind Künst ler theorien gering geschätzt w o r ­den als meh r oder weniger ungelenke Versuche der R e c h e n ­schaft oder Rechtfer t igung — nach getaner Arbeit. Allenfalls ziert ein Zitat im Original ton des Künstlers den Text mi t einer Farbspur, die d e m strengen Deutungsgeschäft die Aura von Werkstattvertrautheit verleiht. Im wesentl ichen wird auf die Gewaltentei lung von Kuns tprodukt ion u n d Kunst inter­pretation geachtet. D e r Künstler habe das Wesentliche in sei­n e m Kunstwerk schon gesagt, ist die Auffassung einer Kuns t ­geschichte in der Tradit ion der Formanalyse. Wölfflins Anspruch auf die Selbstbegründung der Kunstgeschichte fällt in der Tat zusammen mit d e m Selbstbegründungsanspruch der Avantgarde. Nach dieser Rollenvertei lung verhalten sich Künstler u n d Interpret als M o n a d e n , die in prästabiler H a r ­mon ie einander verstehen, weil sie in demselben ästhetischen Zeitgeist stehen u n d die M a x i m e n mode rne r Kunst theorie j e verinnerlicht haben.

Worauf die strikte Formanalyse u n b e w u ß t beruht , das macht eine ikonologisch-kontextuelle Analyse bewußt : Das Wissen u m die Kunst theor ie , die Kunstkri t ik u n d das küns t ­lerische Selbstzeugnis als fundamentale Quel len , Kunstwerke überhaupt zu verstehen. De r Diskurs der M o d e r n e be ruh t auf e inem System von »Painted Words«: Die Schriftspur, die T o m Wolfe — etwas holzschnittartig u n d ironisch — skizziert hat für die amerikanische Nachkriegskunst v o m Abstrakten Expres­sionismus bis zur Pop-ar t , 5 ließe sich zurückverlängern u n d vertiefen bis in die Anfänge der M o d e r n e im Zeitalter der Aufklärung. Seit d e m Ende des 18. Jahrhunder ts begann sich die Kunst von gesellschaftlich vorgegebenen, konventionellen Texten zu lösen; sie trat in die Phase der Selbstbegründung. Einen H ö h e p u n k t bildete die Zei t der Avantgarden, da die Künstler selbst schrieben oder sich einer Gruppe anschlössen, die schreibend ihre Motive u n d Ziele formulierte, denn Selbstbegründung heißt ganz praktisch, daß die Kunst sich eigene Kontexte schaffen m u ß t e , u m die Bildwelt gesell­schaftsfähig zu halten. W e r den Anschluß an den Königsweg >gemalter Worte< verpaßte, blieb u n d bleibt außerhalb des Kunstbetriebs. De r Kunstbetr ieb, verkörpert in Galerien, Museen , Verlagen, Zeitschriften u n d Stipendien, ist nichts anderes als der institutionalisierte Kontext mode rne r Kunst nach d e m Verblassen der konventionellen Sinnkreisläufe in den Inst i tut ionen der Kirche, des Staates u n d einer geschlos­senen Bürgerkultur . Aus Stellungsprogramme, Kataloge u n d Rezens ionen halten, zusammen mit Freundschaften u n d 5 T o m Wolfe-The Painted W o r d

m e h r oder weniger idealistischen Investoren, den Kuns tbe- London 1975.

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6 Siehe dazu Wolfgang K e m p (Hg.) : D e r Betrachter ist im Bild, Kunstwissenschaft und R e z e p t i o n s ­ästhetik, Köln 1985.

trieb als unsichtbares Ne tz >gemalter Worte< zusammen. Daß Meister vom H i m m e l gefallen seien, gehör t ins Re ich der Sage.

Schellings Bezeichnung der Kunst als »ästhetische Kirche« trifft die Sache genau. Die m o d e r n e Kunst wurde zur au tono ­m e n Rel igion mit eigenen Künstlerheiligen u n d Kuns t theo­logen, die einen K a n o n von Schriften u n d Glaubenssätzen auslegen u n d verwalten. O h n e den Bücherh immel von M a n i ­festen u n d obligater Lektüre ginge der M o d e r n e das Licht aus. D e r Unterschied zwischen e inem Quadra t van Doesburgs u n d e inem Quadra t von Malewitsch wäre nicht meh r auszu­machen. De r Kunsthistoriker kann seinen Augen allein nicht trauen. Aus e inem gegenstandslosen Bild sind keine Wör te r , N a m e n oder Sätze zu entziffern, wie es die herkömmliche Ikonographie tut. Eine Ikonographie der Abstraktion s t immt aber mi t den formanalytischen M e t h o d e n überein in der Überzeugung , daß die Kunst der M o d e r n e nicht m e h r das Was sondern das W i e ins Z e n t r u m stellt. Die Kontextfor­schung der Abstraktion sucht in der Kunst theor ie nicht reprä­sentative, sondern generative Elemente . E inen Schnauz im Bild emblematisch bes t immt zu haben, hilft uns noch nicht weiter in der Frage, was Edvard M ü n c h allenfalls mit N ie t z ­sche verbinden könnte . Ha t die Semiotik versucht, eine ver­gleichende Grammat ik u n d Syntax zwischen Bild u n d Text zu entwickeln, so richtet die Kontextforschung das Augen ­merk auf eine vergleichende Rhe to r ik . Als strenge Formwis ­senschaften haben H e r m e n e u t i k u n d Semiotik nach d e m W i e gefragt; im Z e n t r u m standen dabei die Verfahrensweisen der Kunst , die im Werk zu erschließen sind durch die Analyse der binnenkünst ler ischen Mittel . U m sich selber nicht un t reu zu werden , kann u n d darf die Formanalyse nicht nach d e m W a r u m fragen, denn dies sprengt die Au tonomie der F o r m u n d rühr t an die kul tur- u n d geistesgeschichtlichen Gründe außerhalb des monadisch verstandenen Werks. Das W a r u m ist aber die wichtigste Frage der Ikonologie.

Merkwürdigerweise geben die Künstlertexte weniger Aus ­kunft über das Wie-es-gemacht- is t als über das W i e - e s - z u -betrachten-ist . Kunst theor ien sind Regieanweisungen an das Publ ikum: schriftlich festgelegter Bestandteil einer R e z e p ­tionsästhetik, wie sie Wolfgang Kemp einfordert . 6 Als G e ­brauchsanweisung für die ästhetische Erfahrung unterstützt der Künstlertext also die Formanalyse. D o c h neben den Anlei tungen über die Art u n d Weise, wie der Betrachter sich auf das Kunstwerk einzustellen habe, sind das W a r u m - e s -gemacht-ist u n d das Warum-es-gemacht -werden-sol l te die

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Hauptmot ive mode rne r Kunst theor ie . D e r Künstler äußert damit sein Bedürfnis, sich zu seiner Gegenwart , seiner H e r ­kunft u n d Zukunf t zu bekennen . Die Form, in welcher der Künstler sein T u n sprachlich begründet , besteht aus rhetor i ­schen Figuren, die sich auch in zeitgenössischen Texten der Philosophie u n d Literatur wiederf inden.

Unscharfe Gedanken

Verbinde ich Kunstwerke mit künstlerischen Selbstzeugnis­sen, fördere ich das >Kunstwollen< eines Künstlers oder einer Gruppe zutage: das Feld der Kunstgeschichte als P rodukt ions ­u n d Theoriegeschichte. Ziehe ich Ausstellungskataloge her ­an, Manifeste u n d Zeitungskri t iken, beschreibe ich die W i r k ­kräfte des Kunstbetriebs: das Feld der Kunstgeschichte als Rezeptionsgeschichte. Untersuche ich die Wechselwirkungen zwischen Kunstbetr ieb u n d den zeitgenössischen En twick­lungen in Politik, Wirtschaft u n d Gesellschaft, betreibe ich Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Alle drei Wege gehören zu den probaten Tätigkeiten des Fachs. Eine noch bleibt zu erwähnen: die Kunstgeschichte als Geistesgeschichte<. Die Et i ­kette dieser Schublade ist etwas vergilbt, gewissermaßen mi t der Sütterlinschrift der W i e n e r Schule beschrieben. Kuns tge­schichte als Geistesgeschichte rückt die Fo rmen der Kunst in den Kontext von Literatur, Philosophie u n d Musik — ein methodisch hochriskantes Unterfangen, mit d e m sich glän­zend Schindluder treiben läßt. Hitlers Mein Kampf ist ein gei­stesgeschichtlicher Essay, der alles mit allem verwechselt, u m auf das eine zu setzen.

W i e sollte es zulässig sein, Werke der Kunst mi t Werken der Sprache zu vergleichen? Die j e immanen ten Diskurse sind zu kurz u n d können nicht von e inem auf das andere M e d i u m übertragen werden. W i e soll ich einen R o m a n , in d e m kein Künstler vorkommt , mit e inem Gemälde vergleichen, das nichts erzählt? U n d wozu überhaupt solche Akrobatik? Jede Kunstform verfährt nach eigenem Recht : Die Aufforderung an den Philosophen, erst einmal seinen Geschmack zu bilden, ist für seine erkenntnistheoretische Arbeit so unerheblich wie die Aufforderung an den Künstler, erst einmal Kants Kritik der Urteilskraft zu lesen. Selbst lebenspraktisch sind die Bereiche erstaunlich undurchlässig: Es gibt Phi losophen- , Literaten-, Cineasten-, Künstler-, Theater- , Architekten-, Musiker- , Kunsthistorikerkreise, die sich alle zur Gemeinschaft der Kul ­turschaffenden zählen; doch w e n n sie über ihren eigenen

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Kreis überhaupt j e hinausschauen, gehen die Kenntnisse schon von der Nachbardisziplin nicht über dilettantische A h n u n g e n hinaus.

Das Verständnis von der Kunstgeschichte als Geistesge-schichte< stammt aus einer Zeit , da man be im Aufbau seiner Hausbibliothek mit d e m Ankauf von gepflegt gebundenen Gesamtausgaben begann, was den optischen Vorteil hatte, daß die Buchrücken in den einzelnen Regalen gleich hoch waren. Das Sammeln u n d Herausgeben von gepflegt gebundenen Gesamtausgaben ist stark zurückgegangen. Könnte dies ein Symptom dafür sein, daß es auch für die Kunstgeschichte als Geistesgeschichte vorbei wäre? Ist nicht jeder Kreis der Kul ­turschaffenden mit seinem jeweils eigenen Diskurs vollauf beschäftigt? Diesen Zweifel — weniger methodischer als exi­stentieller Art - kann ich nicht ausräumen.

Gewiß gibt es keine Rückkeh r zur Geistesgeschichte im Sinne von M a x Dvorak: Sein »Geist« atmet noch im Weltgeist Hegels, der die Geschichte vernünftig e inem Ziel zuführte. De r >Geist< einer geistesgeschichtlich motivier ten Kunstge­schichte heute wäre eher u n b e w u ß t u n d träge; er gliche d e m >Kunstwollen< im Sinne Riegls u n d Wölfflins. In An lehnung an die Historikerkreise könnte man von einer K u n s t g e ­schichte als Mentalitätengeschichte< sprechen. D e r Vergleich zwischen Heidegger u n d Mondr i an hat versucht, die mentale Hal tung des Intellektuellen u n d des Künstlers im frühen 20. Jahrhunder t zu skizzieren. D e n Kunsthistoriker interessieren die Auffassungen über Wesen u n d Sinn des schöpferischen Tuns , mi th in Fragen der intellektuellen Selbstbegründung: im Blickfeld steht damit die ästhetische Mentali tät . U m diese herausdestillieren zu können , sind zeitgenössische Werke erforderlich, die nach Gat tung u n d Personenkreis sich nicht zu nahestehen sollten. Der Vergleich von Mondr i an mit Malewitsch bleibt im Geist der Künstlerkreise; der Vergleich Mondr ians mit Gropius bleibt im geistigen Umkre i s des Bau­hauses. Vergleiche ich aber Mondr i an mi t Heidegger, einen Künstler u n d einen Phi losophen, die sich nicht kannten , aber zur selben Zei t tätig waren, so steht zu erwarten, daß der resultierende Vektor ihrer geistigen Bestrebungen die mentale Drift anzeigt, in die ihr T u n e ingebunden ist. Als M e d i u m des Vergleichs dienten Texte von Heidegger u n d M o n d r i a n über das Wesen u n d den Sinn der Kunst . Die Vergleichsarbeit selbst besteht darin, gewissermaßen an den R a n d der Texte zu treten, bis die individuellen Besonderhei ten verschwinden u n d das epochale Moi re der unscharfen Gedanken sichtbar wird. Die Übersetzungsschwierigkeiten waren auf beiden Sei-

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ten etwa gleich groß. Beide Zuträger hat ten Startnachteile auf d e m W e g zu diesem imaginären Paragone: E inem Maler, der schreibt, steht ein Philosoph gegenüber, d e m Kunst nicht Profession ist.

Die unscharfen Gedanken liegen in der Z o n e des gesell­schaftlich U n b e w u ß t e n ; Mental i tä ten bezeichnen die latenten Z o n e n der Kultur, w o sich die dumpfen Ermächt igungsphan­tasien u n d schemenhaften Zielvorstellungen abzeichnen. Sie handeln nicht von der konkreten Ausfuhrung der Werke: Diese geschieht in der manifesten Zone der Kunst. Hier herrscht das Gesetz der »Idiosynkrasie«, wie es Adorno bezeichnet. Z u r manifesten Z o n e gehört der erbitterte Kampf der Ismen, w o in F o r m spektakulärer Seeschlachten u m die Marktantei le von Künstlern u n d Gruppen gefochten wird im M e e r des Kunstbetriebs. D o c h nur ein paar Meter unterhalb dieser schaumgekrönten Oberf läche wird es ruhig. W i r sind in der latenten Mentali tätszone, im Jargon der Klassischen M o d e r n e ausgedrückt: im Strom des >Kunstwollens< angelangt, das als resultierender Vektor die partikulären S t römungen u n d W i r ­bel unbemerk t mi t sich fortreißt.

Das heißt nicht, daß die manifeste Ebene aus d e m Blickfeld verschwinden darf. Eine Untersuchung zur ästhetischen M e n ­talität sollte nicht einer blinden Kunstgeschichte Vorschub leisten, die die vielfältige, manifeste Welt der Werke in die Tiefsee des Kunstwollens versenkt, w o alle Unterschiede im redundanten, zeitgeistlichen Rauschen aufgingen. D e r W i d e r ­spruch zwischen Mondr i an und de Stijl war keine Kleinigkeit; er zeigt an, daß die >klassische< nicht die einzige S t römung der M o d e r n e ist. Konstruktivismus und Futurismus gehören einer gleichzeitigen Tendenz an, die man als >aktionistisch< bezeich­nen könnte . Die aktionistische M o d e r n e sieht sich eng mit konkreten politischen Idealen verbunden und zielt auf die direkte Umsetzung von Kunst ins gesellschaftliche Leben. Die klassische St römung der M o d e r n e ist dagegen vornehmer , zeigt sich im platonischen Sinne distanziert gegenüber vor­schnellen Dienstleistungen an der gewöhnlichen Wirklichkeit . Sie besteht aus Meisterdenkern u n d Kunstfuhrern, die von prophetisch hoher Warte ein spirituelles Heil verheißen. Unerschütterlich überzeugt bis ins Humorlose , unterscheidet sie sich von einer dri t ten Unters t römung: der >nominalisti-schen< M o d e r n e . 7 Un te r ihr versammeln sich Impressionismus u n d Kubismus, Dada u n d Surrealismus. Der Geist der n o m i -nalistischen M o d e r n e hat sich historisch durchgesetzt u n d best immt als Erbe die Kunst der Gegenwart . Die aktionistische M o d e r n e veraltete mit ihren technischen und politischen Ide-

7 Z u einer verwandten Stilbe­s t immung k o m m t Thierry de Duve: Pikturaler Nominalismus, Marcel D u -champ, die Malerei und die Moderne , M ü n c h e n 1987.

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8 He inr ich Wölfflin: Kuns tge ­schichtliche Grundbegriffe. Das P r o ­blem der Stilentwicklung in der neue­ren Kunst, M ü n c h e n (6. Aufl.) 1923, S. 12.

9 Siehe dazu Oskar Bätschmann: Bild-Diskurs: Die Schwierigkeit des parier peinture, Bern 1977.

alen, wie auch die Klassische Mode rne , insofern sie sich in ihrem Messianismus kulturpolitisch ü b e r n o m m e n hat. Was wir Kinder der nominalistischen M o d e r n e am klassischen Erbe nicht meh r verstehen, ist das Essentialistische, das Pathos für das Wesentliche, das große Ganze; in dieser Hinsicht ist die M o d e r n e Geschichte geworden. Nach d e m Zwei ten Wel t ­krieg u n d d e m teilweisen Zusammenbruch der faschistischen Staaten glaubten die westeuropäischen Künstler zwar, mit n e u e m Elan die Ziele der alten Avantgarde fortzusetzen — aber es war eben ein neuer Elan. A m Erlösungswerk der Klassi­schen M o d e r n e ahmten die Nachkriegskünstler nur noch die Formen nach, aus denen die geistigen Kontexte verdunstet waren; u n d so wie frühchristliche Bildhauer antike Embleme falsch zitierten, schuf die Nachkriegskunst Neues aus d e m produktiven Mißverstehen des Alten.

Die Stilanalysen von Wölfflin u n d Riegl entwickelten das epochale >Kunstwollen< aus d e m formalen Vergleich von Kunstwerken, die nicht notwendigerweise in e inem direkt nachweisbaren gegenseitigen Einfluß standen. D e r Italiener Bernini u n d der Holländer Terborch haben sich nicht gekannt; die beiden Zeitgenossen waren geographisch u n d motivisch zu weit voneinander entfernt. »Unvergleichbar wie die Menschen , sind denn auch ihre Werke . Vor den s türmi­schen Figuren Berninis wird n iemand an die stillen feinen Bildchen Terborchs denken.« Wölfflin weist nach, w a r u m beide barock sind: »Es ist beidemal j ene Manier eines Sehens in Flecken statt in Linien, etwas, was wir malerisch n e n n e n u n d was ein unterscheidendes Merkmal des 17. Jahrhunder ts gegenüber d e m 16. Jahrhunder t ist.« 8 Das Kunstwollen über ­windet nicht nur geographische Distanzen, sondern durch­quert , wie in diesem Fall, auch unbemerk t die kulturellen Demarkat ionsl inien zwischen Gegenreformation u n d Calvi­nismus. Hier knüpft die Kunstgeschichte als Mental i tä tenge­schichte am Begriff des Kunstwollens an. N u r werden M e n ­talitäten nicht gewonnen aus d e m Vergleich stilistischer Formen , sondern aus der Entwicklung unscharfer Gedanken. In dieser latenten Tiefenschicht unter tauchen wir die mediale Schranke zwischen Bildlichkeit u n d Sprachlichkeit u n d über ­w inden so das Paradox des »parier peinture«. 9 Im Geschwader unscharfer Gedanken erscheinen die Grundlagen der manifest ausgeführten philosophischen u n d literarischen Begriffe sowie die vollendeten Fo rmen der Kunstwerke, konvertiert auf die Programmsprache einer Epoche .

M i t der vorliegenden Unte r suchung zur Mental i tä tenge­schichte der M o d e r n e wird eine M e t h o d e bereits angewandt,

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während sie sich zugleich selber erst entwirft — im Blick zurück auf eine Epoche , die ihr die Fakten u n d die M e t h o d e n vorbereitet hat. De r Historiker ist Gefangener einer petitio principii. Im Gegensatz zu Panofsky glaube ich nicht, daß Kunstwissenschaft sich apriorisch in transzendentalen G r u n d ­begriffen verankern läßt. Als historisches Fach ist sie ein h e u ­ristisches Geschäft auf Kreditbasis; sie erklärt Sachverhalte mi t M e t h o d e n , die aus ebendiesen Sachverhalten gewonnen sind. Geschichte ist so wahrhaftig wie die Erzählung M ü n c h h a u ­sens, er habe sich u n d sein Pferd am eigenen Schopf aus d e m Schlamm gezogen. W i r stecken als historische Objekte im trägen Fluß der Zei t u n d haben den Anspruch, uns durch die Kraft der Ref lexion z u m Subjekt der Geschichte zu erheben.

Leser u n d Schreiber der vorliegenden Textreise halten sich gleichsam im Zwischendeck eines Überseedampfers auf, der das M e e r des Kunstwollens durchquer t — von e inem J a h r h u n ­dert, das sich seinem Ende zuneigt, zurück z u m Anfang. Hie r sehen die Passagiere k a u m den Hor izon t . D e n Kurs der Reise erleben sie über den Wellengang, der ihnen manchmal den Magen umdreh t . A n solchem O r t hält einen nur die Hoff­n u n g anzukommen .

Geschichte als Traumdeutung

Die Geschwader der unscharfen Gedanken stellen K n o t e n ­punk te dar, die als Topoi ein rhetorisches Raster bilden, durch das die Werke betrachtet u n d miteinander verglichen werden können . Topoi sind unscharfe Denkf iguren — mit Leonardo gesprochen: Flecken an der Mauer einer Epoche , deren Unbes t immthe i t die Künstler zu Komposi t ionen u n d Erzählungen inspiriert. Auf der wolkig rauschenden R e d u n ­danz einer menta len Verfaßtheit entstehen die Lichter, Akzente u n d artikulierten PJ iy thmen einer künstlerischen Information. Es ist eben nicht so, daß der Maler vor einer weißen Leinwand steht, der Schriftsteller auf ein leeres Blatt starrt. De r Malgrund ist immer schon behandelt , die Stich­wor te stehen, die Tonar t ist gest immt. Fühlt der Schreibende sich blockiert, k o m m t dies nicht durch den H o r r o r vacui vor d e m unbeschriebenen Blatt zustande, sondern weil da schon zuviel steht, was auf den Autor eindrängt, ohne daß er dieses wolkige Rohmater ia l in eine manifeste O r d n u n g überfuhren könnte . Das unbewuß te Verfahren der Kunst besteht darin, redundantes, mentales Vorwissen in manifeste, informative Neuigkei ten zu übertragen. Entsprächen also die unscharfen

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Topoi d e m dionysischen Grundrauschen, der kreative Akt d e m apollinischen Schöpfertum? — Schon wieder ertappen wir uns dabei, daß wir in der Geschichte stecken, die wir eigentlich beschreiben wollen. W i r denken mode rn , während wir m o d e r n e Gedanken analysieren möchten . D e r Gegensatz des Apollinischen u n d des Dionysischen ist in der Tat ein latenter Schlüsselgedanke der M o d e r n e .

D o c h gehen wir der R e i h e nach, was natürlich nicht geht: Die R h i z o m e unscharfer Gedanken kennen keine logische Abfolge; w e n n ich sie jetzt ordne, so sind sie bereits ihrer U n b e w u ß t h e i t entrissen u n d informativ verarbeitet. U n ­scharfe Gedanken zu benennen , entspricht der Traumarbei t . D e n T r a u m selber haben wir nur, solange wir t räumen. Das wache Bewußtse in schafft Traumerzählung u n d T r a u m d e u ­tung aus wolkigen, abgerissenen Er innerungen . D e r T raum, den wir im Wachzustand schließlich überliefern, ist ein Erzählgebilde, halb rekonstruiert , halb fragmentarisch, wie es den Bedürfnissen der Sinngebung gerade en tgegenkommt. Dar in gleicht die Geschichte der Traumarbeit : Aus den Rücks tänden verflossener Leben, einer Generationsstaffette von Toden u n d Gebur ten , konstruiert der Historiker eine sinnvolle Information. Die Parallele von T r a u m d e u t u n g u n d Geschichtsschreibung ist nicht allegorisch gemeint: D e r H i ­storiker ist wirklich Traumdeuter , wie Joseph es d e m Pharao in Ägypten war: Er ist der säkulare Seher, der aus d e m ima­ginären Bodensatz kollektiver Er inne rungen die Zukunf t liest. Die Vergangenheit entspricht d e m Stoff der Herrscher­t räume; ihre verschlüsselten Botschaften entziffert der rück­wärtsgewandte Prophet u n d e n t n i m m t ihnen Ratschläge z u m Hande ln für die Gesellschaft angesichts einer Zukunf t , ge ­mischt aus Bedrohung u n d Verheißung.

De r T r a u m des Pharao von den sieben fetten und den sie­ben mageren Kühen ist uns überliefert von den Auf- u n d Nachschreibern des ersten Buchs Mose (1,41), die als Nachge ­borene immer schon wuß ten , daß Josephs prophetische D e u ­tung sich erfüllt hatte. Auf die sieben Jahre des Überflusses folgten in Ägypten wirklich sieben Hungerjahre. Die Über l i e ­ferung des richtig gedeuteten Traums hat nicht zuletzt die Aufgabe, dessen Deuter , Joseph, als Führer seines Volks auszu­zeichnen. Geschichte als System der Überl ieferung rechtfertigt sich selber, indem sie deren Beiträge als eine Kette von P r o ­phezeiungen darstellt, die historisch zu Erfüllungen wurden . Die Tradit ion der Sinngebung von Vergangenheit darf nicht mutwill ig unterbrochen, frühere Ergebnisse dürfen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Schon die Fakten, auf

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die wir uns stützen — Archivalien, Inschriften, Bilder —, sind in der s inngebenden Absicht erstellt worden , der Geschichte den Eindruck von Folgerichtigkeit u n d Zielstrebigkeit zu verlei­hen. »Unsere Geschichtsquellen bewahren nicht die Schicksale der bei der Eroberung Lüttichs zertretenen Veilchen, nicht die Wolkenbi ldungen vor Belgrad, nicht die Leiden der Kühe im Brande Löwens, sondern mit ungeheuer verengter Einstellung das für gewisse menschliche Interessengruppen Selektiv-Wirk­same.« T h e o d o r Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen erschien ein Jahr nach d e m Ende des Ersten Weltkriegs. Daß Geschichte >sinnlos< sein müsse, ist eine These, die sich auf­drängt unter d e m Eindruck vor allem der Katastrophen, die die Menschen sich selber zufügen. M a n könnte , im Sinne Lessings, zu d e m Schluß k o m m e n , daß das Prinzip Sinnge­bung überhaupt aus der Geschichte zu verabschieden sei, denn es gehört in der Tat selbst zu den Ursachen des Unrechts . Kriege u n d Völkermorde sind nichts anderes als gewalttätige Fo rmen der Sinngebung. Das Bereinigen u n d Vollenden einer Geschichte zeitigt als entropisches Produkt Zers törung u n d Tod. Die Geschichtsschreibung rechtfertigt dabei die Seite der Sieger.

T ro tzdem gibt es kein E n t k o m m e n vor d e m Prinzip der Sinngebung. N o c h der gerechte Z o r n über das Leid in der Geschichte entspringt der Ent täuschung über verfehlten u n d verratenen Sinn. W i r sind, was Aristoteles v o m politischen Menschen sagt, s inngebende Lebewesen. Geschichte ist S inn­gebung des Vergangenen; darin sind sich alle M e t h o d e n u n d Gegenstandsbereiche gleich. O b Kunsthistorie h e r m e n e u -tisch, semiologisch oder ikonologisch ausgerichtet ist, es geht in j e d e m Fall darum, überlieferte Bilder in Sätze zu fassen, die schon durch ihre syntaktischen u n d grammatikalischen Rege ln auf sinnvolle Aussagen hin angelegt sind. Etwas ande­res als Sinn zu schaffen, schiene uns in der Tat Uns inn zu sein. Uns inn können wir nu r denken in der U m k e h r u n g des Sinntrichters, nach d e m wir die Welt w a h r n e h m e n u n d ord­nen. De r Sinntrichter gehört zu den Bedingungen unserer Denkmögl ichkei ten , bildet die Denkinhal te u n d ist zugleich die Grenze des Denkprogramms , die wir nu r feststellen, nicht aber überschreiten können .

Die Einsicht in die notwendige Sinngebung der Sprache m u ß als methodische Einschränkung bewuß t bleiben, w e n n von >unscharfen Gedanken< die R e d e ist. Sind solche denn überhaupt möglich oder gilt Wit tgensteins Satz, daß m a n schweigen müsse über das, worüber m a n nicht sprechen kann? O d e r sind unscharfe Denkf iguren gar »das Mystische«

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des späten Wit tgenstein, das »sich zeigt« im Schweigen? Be i ­leibe nicht! Unscharfe Gedanken gehören zu allem, was in der Welt >der Fall< ist. Sie sind ganz einfach Muster der A r g u m e n ­tation u n d der Rhe to r ik , die auffallen, weil sie immer wieder v o r k o m m e n in Gestalt der Mythologie , des Kunstwerks, des naturwissenschaftlichen Modells . W e b e n die unscharfen G e ­danken in i rgendeinem Ideenhimmel als selbständige Wesen­heiten, die unser D e n k e n pneumatisch begeistern? Die Theosophie , der viele Künstler der Klassischen M o d e r n e nahestanden, dachte so. Sie glaubte an ein Re ich von >Gedan-kenformen< in der Mentalsphäre über unseren Köpfen, die durch Medi ta t ion sichtbar u n d in die Med ien von Malerei u n d Fotografie übertragbar seien. Das >Kunstwollen< als spiri­tistisch anrufbarer Geist! Die Gedankenformen sollen im vor­l iegenden Kapitel zwar kunsthistorischer Gegenstand, nicht aber kunsthistorische M e t h o d e sein. Unscharfe Gedanken sind heuristisch gewonnen aus der vergleichenden Analyse von Werken . So wie der Barock nicht als Geist nachweisbar ist, sondern nur vermittelt erscheint im vergleichenden Blick auf Kunstgegenstände, die im 17. u n d 18. Jahrhunder t en t ­standen. Die unscharfen Gedanken sind, wie die kunsthis tor i­schen Stilbegriffe, gewonnen aus einer nachträglichen Ana­lyse: synthetisch a posteriori . Die Tatsache, daß die Menschen sich in einer bes t immten Epoche ähnlich ausdrücken, ist historisch festzustellen, aber nicht hinreichend zu begründen . Die epochalen Inspirationsflecken an der Mauer einer Epoche erscheinen i m m e r schon übermalt durch die konkreten Werke .

D a ß das vergleichende Zusammenstel len vergangener Tat ­sachen methodisch auf schwankender Eselsbrücke geschieht, teilt die Geschichte mi t der Wahrsagerei aus Tarot-Karten. Beider Grundpfeiler ist der Glaube, daß in der menschlichen Existenz ein Sinn zu finden sein müsse. Geschichte bettet die einzig unumstößl iche Tatsache - die Gewißhei t des Sterben­müssens — in die beruhigend große Sage, daß es immer schon ein Weiterleben gab in der Folge der Geschlechter, der E r i n ­ne rung u n d der r ü h m e n d e n Nachrede. »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber e inem Menschen der leben will, wider ­steht sie nicht«, so komment ie r t Franz Kafka im Prozeß die innere Verfaßtheit von Josef K. kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils. Ebenso vermag die Geschichtsschreibung die starre Logik zu beugen, i ndem sie Sinngebungen anstrebt, die nur im Lebenwollen begründet sind. D e r Immanenz des Lebens verhaftet, ist Geschichte eine Ausdrucksform der Hoffnung. Sie läßt sich nicht verankern in der apriorischen

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Logik, die w i e d e r u m sich ganz auf die Immanenz des rein for­mal Denkbaren beschränkt. Es w u n d e r t nicht, daß sich W i t t ­genstein als unbeugsamer Logiker nicht für Geschichte inter­essiert hat.

Moderne Topoi

Mit mnscharfen Gedanken< soll also nicht versucht werden, die Interpretation von Kunst — nach Panofskys Versuch — transzendental abzusichern. Synthetisch a posteriori aus Werkvergleichen gewonnen , kennzeichnen unscharfe Gedan­ken eine epochale Vorgefaßtheit. Sie gipfeln in Topoi , deren N u t z e n für die Interpretat ion darin besteht, den redundanten Gehalt eines Kunstwerks zu bes t immen. Der redundante Gehalt ist gewissermaßen der Mentalstil , der gegenüber einer formalen Sti lbest immung den Vorteil hat, daß in i h m Sprache u n d Bilder konvertierbar erscheinen. Epochale Mental i tä ten sind formal unspezifisch. Mi t dieser These unterscheidet sich me in Versuch von Pdchard Hamanns u n d Jost He rmands Epochen deutscher Kunstgeschichte.10 In enzyklopädischer Weise ist zwar der Kontext von Literatur, Kunst , Mus ik u n d Ph i lo ­sophie zwischen Gründerzei t u n d Expressionismus herge­stellt, doch die epochalen Stichworte, die damit gewonnen wurden , sind in die stilgeschichtliche Abfolge der Kuns tge­schichte gebracht. Aber Topoi sind stilistisch neutral. M o n ­drians Malstil wechselt v o m Natural ismus z u m Symbolismus, von fauvistischen u n d kubistischen Verfahren zur Gegen­standslosigkeit, ohne daß sich die darin ausgedrückten Gedan­ken ändern.

De r mentale Spielraum der Sprache ermöglicht es, Topoi in ihrer Vagheit zu formulieren. Dies gilt es zu be tonen gegen die These des Logozentr ismus, die der Sprache eine n o r m i e ­rende Macht vorwirft, während vieldeutiges, >wildes Denkern die Bilder auszeichne. In der herrschenden Bilderflut sehe ich allerdings wenig von dieser anarchisch-kreativen T u g e n d en t ­faltet, sondern, im Gegenteil , visuelle Strategien der N o r m i e ­rung. In der medialisierten Welt sind alle Bilder in einer Weise festgelegt, daß der Imagination nichts meh r zu w ü n ­schen übrig bleibt. Dagegen hält die Sprache die alte, p ro te ­ische Kunst aufrecht, im Höre r oder Leser schillernde Vor­stellungen aus der Tiefe der Einbi ldung wachzurufen. Die Sprache eignet sich z u m Ideentransport von Visionen dank ihrer imaginativen Unscharfe. Von H o m e r sagt man, er sei blind gewesen.

10 R icha rd Hamann/Jos t H e r -mand: Epochen deutscher Kunstge­schichte, 5 Bände (Gründerzeit, N a t u ­ralismus, Impressionismus, Stilkunst u m 1900, Expressionismus), Frankfurt a. M . 1977.

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11 Wal ter F. O t t o : Dionysos , Mythos und Kultus (1933), Frankfurt a. M . 1960; Karl Kerenyi: Dionysos, Urb i ld des unzers törbaren Lebens, Stuttgart 1994.

Das M o t t o von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: »... u n d alles, was man weiß , nicht bloß rauschen u n d brausen gehört hat, läßt sich in drei W o r t e n sagen« — ein abgerissenes, unvollständiges Zitat nach Ferdinand Kürnberger — sei hier Anlei tung, ein paar Topoi zur menta len Ikonographie der M o d e r n e in wenigen Sätzen, kurz, bündig u n d unvollständig aus d e m Zusammenhang unscharfen Denkens herauszu­reißen.

Topos A: Schöpfung entspringt einem unbewußten Antrieb D e r Furor divinus gilt der Renaissance als Quel le der Inspira­t ion — ein Gedanke, der w i e d e r u m im antiken Dionysos-Kult verankert ist. Dionysos, d e m die Kreter mi t O p i u m versetzten H o n i g opfern, offenbart sich im T r a u m u n d im Rausch. Im Ri tua l des sparagmös wird der Leib des Gottes zerstückelt u n d als heiliges Saatgut in die Erde gestreut, auf daß Dionysos-Zagreus wiederauferstehe in Verkörperung des unzerstörba­ren Lebens. Nach humanistischer Lesart der Neuzei t gewinnt das dionysische Leiden eine christliche Bedeutung . Künstler malen den Märtyrer als von Got t begeistert u n d entrückt: durch die i h m zugefugten Schmerzen weiß er sich e inem Got t verbunden, der selber Märtyrer war. Nietzsche wird es wohl nicht geschätzt haben, daß Jesus das Gleichnis benutzt : »Ich bin der wahre Weinstock.« (Joh. 15,1) Mi t Bacchus teilt der geopferte u n d auferstandene Gottessohn das E m b l e m der Weinrebe . In der M o d e r n e wandelt sich der Furor divinus z u m Furor Vitalis. Die Dionysos-Monographien von Walter F. O t t o u n d Karl Kerenyi sind Zeugnisse des m o d e r n e n Interes­ses am Dionysischen. Auch archäologische Forschungsinteres­sen folgen d e m inneren Fahrplan des Kunstwollens. A n z u ­n e h m e n , daß Georg Lukäcs die Rol le Apollos gespielt hätte, als er Kerenyi wegen Dekadenz aus U n g a r n vertrieb, wäre allerdings ein mythologischer Adelsbrief, den der Stalinismus nicht verdient . 1 1

Topos B: Das Kunstwerk entfaltet sich im Streit eines Gegensatzes Topoi sind platt u n d unoriginell , Bodensatz des Denkens , für den es i m m e r Vorgänger u n d Doppelgänger gibt. Goethe läßt Torquato Tasso ausrufen: »Und w e n n der Mensch in seiner Qua l vers tummt, / gab mir ein Got t zu sagen, wie ich leide.« Es ist die epochale Leistung, einen unscharfen Gedanken zur akuten Formul ie rung zuzuspitzen, so daß er informativ als neue Erkenntnis erscheint. Die Vorstellung von der Polarität als wirkungsmächtiger Kraftquelle findet sich überall: im dao-istischen Yin u n d Yang; im zoroastrischen Göt terkampf von

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Licht u n d Finsternis; in Heraklits Satz v o m Krieg als d e m Vater aller Dinge . Dieser uralte mythologisch-naturphi loso­phische Dualismus erhält nicht nu r literarische Wiedere r ­weckung durch Nietzsche; gleichzeitig entdeckt auch die m o d e r n e Physik das Apollinisch-Dionysische als physikali­schen Sachverhalt: in der elektrischen Spannung zwischen positiv geladenen Pro tonen u n d negativ geladenen Elekt ro­nen. Es würde viel zuweit führen, einen unscharfen Gedan­ken in all seinen Verzweigungen beschreiben u n d herleiten zu wollen; es liegt gerade in der Na tu r seiner Unscharfe, daß seine Spuren überall ausgestreut sind — wie Kiesel am W e g z u m Steinbruch. Topoi gleichen d e m Stein der Weisen, von d e m es heißt, er sei unscheinbar, massenhaft vorhanden, doch nur der Eingeweihte könne ihn entdecken. So eine E n t ­deckung war Nietzsches Gegensatzpaar des Apollinischen u n d des Dionysischen: ein redundanter , unscharfer Gedanke, ein Kiesel am Wegrand der Geistesgeschichte; aber Nietzsche hat ihn gefunden u n d daraus einen zündenden Funken geschla­gen. Im selben Geist entwickelt M o n d r i a n eine Kunst , die aus d e m Gegensatz der Horizontale u n d der Vertikale ein »dyna­misches Gleichgewicht« schafft. Heidegger nenn t es den Streit von Erde u n d Welt; der Künstler lasse Wahrhei t entstehen, i ndem er in die Erde einen F a ß macht . Dabei deutet der P h i ­losoph in mode rne r Weise einen Ausspruch Dürers , der sagt: »Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur , wer sie her ­aus kann reißen, der hat sie.« 1 2 War schon in der Malerei der Renaissance der Wettstreit von Apollo u n d Marsyas als U r -szene der Kunst vorgebildet, so verwandelt sich in der M o ­derne die Allegorie zur abstrakten Denkfigur: Marsyas wird zur Heideggerschen »Erde«, die v o m »weltenden« Widerpar t geöffnet u n d »gerissen« wird.

Eine späte m o d e r n e Formul ie rung erfährt der Polaritätsge­danke in der Dialektik der Aufklärung,13 w o Apollo u n d D i o n y ­sos sich in den listenreichen Odysseus verwandeln, der den triebhaften Polyphem blendet; in ih rem ungleichen Kampf ereignet sich Aufkärung in Gestalt des Mythos .

Topos C: Ästhetische Erfahrung besteht im Aushalten des Gegensatzes in Topos B »Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz den ­ken — u n d was ist sonst der Mensch? —, so würde diese Disso­nanz, u m leben zu können , eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eigenes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen N a m e n wir alle j ene zahllosen Illusionen des schönen Scheins

12 Zit. nach: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt a. M . 1950, S. 58.

13 M a x H o r k h e i m e r / T h e o d o r W . Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.

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zusammenfassen, die in j e d e m Augenblick das Dasein über ­haupt lebenswert machen u n d z u m Erleben des nächsten Augenblicks drängen.« 1 4 Nietzsche beschreibt, was man Ästhetik der Dissonanz nennen könnte als ein Leitmotiv mode rne r Kunsterfahrung. D e r Gegensatz des Apollinischen u n d des Dionysischen wird im Werk zur Einhei t gebracht, nicht durch eine dialektische Versöhnung — das wäre süße, platte H a r m o n i e —, sondern im Aushalten ihrer Differenz. Was Richard Wagner an Schopenhauer gewiß besonders e in­leuchtend fand, ist dessen Wertschätzung der Musik als rein­ste Manifestation des Willens. Ihre führende Stellung unter den Künsten ist unbestr i t ten in der Klassischen M o d e r n e : Nietzsche versucht sich als Komponis t ; der Blaue Rei te r en t ­wirft eine Synästhesie von Musik u n d Malerei; M o n d r i a n ist der Schrecken des Tanzparketts. W e n n die Kapelle z u m Tango aufspielt, verwandelt sich der steife, hagere Maler in einen lachenden Satyr, ohne Thyrsosstab, ohne Weinlaub im Haar, im grauen Straßenanzug die D a m e der Wahl unter hef­tigsten Verrenkungen mitreißend. Er gleicht d e m Tänzer Zarathustra: »Erhebt eure Herzen , meine Brüder, hoch, höher! U n d vergeßt mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, u n d besser noch: Ihr steht auch auf d e m Kopf!« 1 5 Das Gesamtkunstwerk, das Mondr ians künstlerische Überzeugungen zusammenfaßte, wäre ein »Konzertsaal der Zukunft«, ein Bau i m Stil des Neoplastizis-mus . Hier werden auf einer B ü h n e während 24 Stunden kinetische Komposi t ionen im Wechsel von Blau, Gelb, R o t gegeben, während sich dazu unablässig horizontale u n d vert i ­kale Balken ineinander verschieben. Im Foyer steht eine Snackbar mit Erfrischungen. Das Pub l ikum geht ein u n d aus nach Belieben. De r atemlose Tag-und-Nach t -Be t r i eb vibriert in der Musik von Jazzbands. Die Ästhetik der Dissonanz, eine musikalische Metapher , kennzeichnet dieses Aushalten der Differenz von beschränkendem Selbstsein u n d Vergehenwol­len im U n m a ß als schmerzlich schönen Akkord.

14 Friedrich Nietzsche: Die G e ­burt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Werke in drei Bän­den, Bd. I, M ü n c h e n 1966.

15 Friedrich Nie tzsche: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Werke in drei Bänden (zit. A n m . 14), Bd. II, S. 102.

16 Nietzsche (zit. A n m . 14), S.47 17 Nietzsche (zit. Anm. 14), S.40

Topos D: Kunst sprengt die Grenzen der Individuation Pjchard Wagner vergleicht das Verhältnis von individuellem Alltagsleben u n d Kunst mit d e m Lampenschein u n d d e m Tageslicht: Bricht der Tag der Kunst an, wird der mat te Schein der Lampe im Lebenszimmer von ihrer Helle aufgeso­g e n . 1 6 Die ästhetische Erfahrung zerbricht den Bann der Indi ­viduation; denn das Indiv iduum kann »nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden .« 1 7 Nach M o n d r i a n steht die vo rmoderne Ästhetik un ter d e m Bann des individu-

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eilen Bewußtseins. Die N a c h a h m u n g der äußerlichen Na tu r »verschleiert« die freie Sicht auf das Universelle. Die Individu-ation ist Quel le des Tragischen, weil sie das Subjekt erzeugt als nichtidentisches Wesen, das ein j e eigenes Glück anstrebt u n d so mi t d e m Universellen im Konflikt gerät. U m dies zu vermeiden, m u ß es zur »Ausmerzung des >Ich< aus der Kunst« k o m m e n . 1 8 »Im Vollmenschen gebiert das Universelle die Vernichtung des Individuellen durch das Individuum. D a n n beginnt das Indiv iduum universal zu sehen u n d zu hören .« 1 9

Diese har ten Wor t e gegen das Individuelle gilt es zu be tonen gegen die unpräzise Gewohnhe i t der Kunstkri t ik, in der M o d e r n e pauschal die subjektive Künstlerpersönlichkeit am Werk zu sehen. Die En tdeckung der »Individuellen M y t h o l o ­gien«, nach d e m M o t t o Harald Szeemanns zur D o c u m e n t a 1972, ist ein P roduk t der Nachkriegskunst . Die Klassische M o d e r n e wendet sich gegen eine Kunst als emotionale Zufluchtsstätte, die d e m Kult des Gefühls u n d d e m freien Spiel individueller Er innerungen huldigt. Nach Mondr i an beendet die >Neue Gestaltung< die Gefuhlsamkeit der Kunst , die darin besteht, individuelle Ne igungen u n d Sehnsüchte — schäbige Lebenstragik — in Poesie umzugießen. »Lyrik ist ein Überbleibsel aus der Kindhei t der Menschen u n d s tammt aus einer Zeit , in der man zwar die Leier, aber nicht die Elek­trizität kann te .« 2 0 Mi t d e m Menschlich-Allzumenschlichen tötet der Ü b e r m e n s c h »den Geist der Schwere«: »Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe fliegen gelernt, seitdem will ich nicht erst gestoßen sein, u m von der Stelle zu k o m m e n . Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, je tzt sehe ich mich unter mir, je tzt tanzt ein Got t durch mich. Also sprach Zarathustra.« 2 1

M o d e r n e Kunsterfahrung ist ein Flug über sich selbst h i n ­aus. Er reicht, bei Mondr i an u n d Malewitsch, v o m medi ta t i ­ven Segeln durch den Imaginationsraum der Bilder z u m Motor f lug im Aeroplan, dessen heroischem D r ö h n e n M a r i -netti Gedichte widmet . In der erhabenen Kälte des H immels über den Wolken, wie ihn Saint-Exupery beschreibt, gefröre das W o r t >Nestwärme< zur kitschigen Eisblume.

Topos E: Keine Gefühle, keine Kompromisse. Tertium non datur »Je mehr das Tragische verschwindet, desto mehr gewinnt die Kunst an Reinheit .« Die Abstraktion überwindet die natür­lichen Empfindungen, jenes »Weib im Manne«, das das Tragi­sche gebier t . 2 2 Marinet t i läßt aus männlicher Selbstzeugung »Mafarka«entstehen, den futuristischen Übe rmenschen in G e ­stalt eines Flugapparats, der, unbelastet von der Erdschwere

18 Piet Mondrian: N e u e Gestal­tung, hg. v. Hans M . Wingler, Mainz/ Berlin 1974, S. 20 (= N e u e Bauhaus­bücher).

19 Mondrian (zit. Anm. 18), S. 43 . 20 Mondrian (zit. Anm. 18), S. 65. 21 Nietzsche (zit. Anm. 15), S. 307. 22 Mondrian (zit. Anm. 18), S. 8 ff.

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23 Tommaso Marinetti: Marfaka le futuriste, Paris 1909.

24 Deutsche Fassung: 1922, Aus­blick auf eine Archi tektur , Braun­schweig/Wiesbaden 1982. Die deut­sche Ubersetzung n immt der Dynamik und Unbedingtheit des französischen Originals die Schärfe.

des Weibes, der Sonne entgegenrast . 2 3 D e r Ab lehnung des Tragischen entspricht die Ab lehnung der aristotelischen W i r ­kungsästhetik, die den Menschen über starke Gefühle von Mitleid u n d Schrecken erziehen will. Die Klassische M o d e r n e ist keine moralische Anstalt; sie ist eine Stätte der wenigen, die den Urgegensatz (Topos B u n d C) auszuhalten vermögen. Das Weib bedeutet Gefahr, weil es Gefühl erregen könnte . Die Klassische M o d e r n e ist vorwiegend Männersache. D e r strenge Dualismus (Topos B) richtet sich gegen die Dialektik, nach der auf die Anti these die Synthese folgt. Kompromisse macht die M o d e r n e keine; Ziel m u ß das große Ganze sein: Alles oder Nichts . W i r rühren damit an die narzißtische Struktur der Klassischen M o d e r n e , die als Schatten des U n b e ­dingten u n d Einen, das sie will, polare Zwietracht erzeugt. Dieser H a n g wirkt im Kunstbetr ieb noch harmlos, mi t seinen Kunstführern, an deren Wesen die Welt genesen soll. Folgen­reicher sind die Erlösungskampagnen im Bereich der Politik, die das Muster m o d e r n e r Pathologie in konsequentester Weise umsetzen. Ich verzichte aber darauf, den weitverzweig­ten Adern dieses unscharfen Gedankens weiter nachzugehen, in deren labyrinthischer Nach t die Epoche gescheitert ist.

Topos F: Zurück zum Anfang und auf den Grund der Dinge! Die Buchtitel , welche die zeitliche Grenze der Klassischen M o d e r n e markieren, handeln vom Anfang — Geburt der Tragödie bei Nietzsche, Ursprung des Kunstwerkes bei Heidegger. D e m philosophischen D e n k e n in Anfängen entspricht der m e ­thodische Pdgorismus in der Kunstgeschichte, die sich als strenge Wissenschaft etablieren will. Wölfflin entdeckt die »Grundbegriffe« künstlerischen Wandels . Künstler u n d Intel­lektuelle erblicken in der Jetztzeit eine verkrustete »Zivilisati­on«, die weggesprengt werden m u ß . Statt des materialistisch verstandenen »Fortschritts«, wie ihn das 19. Jahrhunder t der Industrialisierung vorangetrieben hat, gilt es z u m Anfang zu­rückzukehren. Le Corbusiers Programmschrift Vers une archi-tecture 2 4 verleitet zu denken, es habe seit Menschengedenken noch keine richtige Baukunst gegeben. Kul tur ist neu zu er­finden auf dem G r u n d des Ursprüngl ichen, Echten. Im N e u e n Geist konstruiert , wird ein Automobi l , ein Kampf­b o m b e r Ausdruck derselben inneren Notwendigkei t sein wie der Bau eines griechischen Tempels.

Topos G: Notwendigkeit ist Freiheit D e r Satz ergibt sich durch die Ube rk reuzung der unscharfen Gedanken in den Topoi D u n d F. Individuelle Kunst ist die

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Kunst der »Suche«, der Picasso entgegenhält: »Ich suche nicht, ich finde.« Eine >suchende< Kunst bleibt befangen in den ind i ­viduellen Impulsen des Wähnens , Hoffens, Bangens. Dieser Schleier der Individuation m u ß zerrissen werden; das B e ­wußtse in m u ß aus der persönlichen Enge heraustreten, u m sich für die Energieströme des Universums empfänglich zu machen. Was i h m dabei zufällt, ist eine Manifestation des großen Weltwillens. Alle Gestalten der Kunst sind M e t a m o r ­phosen einer kosmischen Kraft: Sie ist der »Wille« bei Scho­penhauer, das »Brahma« der Helena Blavatzky, die »Innere Notwendigkeit« Kandinskys. Sich dieser Kraft zu überlassen, ist Freiheit. De r Zufall, der sich unter ih rem Einfluß ereignet, ist Gesetz. Auf d e m Gedankenr iß be ruh t die theosophische Medi ta t ion , von der sich die Künstler der Klassischen M o ­derne angesprochen fühlen. De r Topos aktualisiert alte Ver­senkungspraktiken, wie sie in vielen religiösen Lehren, v o m Zen-Buddh i smus bis zur christlichen Mystik, ähnlich wieder ­zufinden sind. Selbst Picasso, den m a n gewiß nicht zu den Obskurant is ten der M o d e r n e zählen kann, findet ohne zu suchen, weil er sich direkt an den verwandlungsmächtigen Kraftstrom der Kunst angeschlossen weiß .

Das Kunstwollen der Kunsthistorik

Panische Sujets

Kunstgeschichte hat v o m Historismus, deren Geist sie sich verdankt, die angeblich neutrale Weise der Betrachtung bewahrt . Was Leopold von R a n k e zu Gottes Standpunkt sagte — alle Epochen s tünden in der gleichen unmit te lbaren Weise zu i h m —, machten sich die Kunsthistoriker zu eigen. Mi t Ausnahmen: Pdegl hat e inen archimedischen O r t für die G e ­schichte ausgeschlossen, w e n n er feststellt, »daß selbst die Wissenschaft trotz aller anscheinenden Selbständigkeit u n d Objektivität ihre R i c h t u n g im letzten G r u n d e doch von den jeweilig fuhrenden geistigen Ne igungen erhält u n d auch der Kunsthistoriker über die Eigenart des Kunstbegehrens seiner Zeitgenossen nicht wesentlich h inauskann.« 2 5 Es sei un te r ­sucht, wie Riegls Satz von der Zeitgenossenschaft zwischen

Kunst u n d Wissenschaft sich in Heinr ich Wölfflins Ästhetik 25 AI R 1 S h einlöst. Wichtiger, als bloß Zeugnisse von Wölfflins W e r t - K u ^ d m ^ Schätzung moderne r Kunst beizubringen, wird dabei sein, die p r i n t v o n 1927), S. 3.

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A r n o l d Böckl in , Selbstbildnis mit fiedelndem Tod

(Ausschni t t ) , 1872

26 Martin Warnke hat im Nach ­laß von Franz R o h , Assistent Wölfflins in München , eine Postkarte gefunden, datiert auf den 7. Oktober 1916: »Wol­len Sie morgen Sonntag 1 U h r bei mir Mittag essen? Wi r könnten dann nach­her zusammen in die Marc-Ausstellung gehen. Antwort unnötig. Bestens grüs-send, H . Wölfflin.« Zit. nach: Martin Warnke: Heinrich Wölfflin, Sehendes Denken , in: N e u e Zürcher Zeitung, Nr . 164, 16./17. Juli 1994.

27 August Griesebach: Heinrich Wölfflin. Ein Gedenkzeichen, in: Die Wandlung, eine Monatsschrift, hg. v. Dolf Sternberger unter Mi twi rkung v. Karl Jaspers/Werner Krauss/Alfred Weber , 1. Jg. (1945/46), 10. Heft, S. 893-898 .

28 Zit . nach: Ludwig Curt ius : Heinrich Wölfflin, in: Merkur . Deu t ­sche Zeitschrift für europäisches D e n ­ken, 17 (1949), S. 638.

Modern i tä t seiner Kunstgeschichte nachzuweisen; es gilt dar­zulegen, daß Wölfflin die Kunst der Renaissance u n d des Barock nach den Verfahren der Abstraktion gedeutet hat.

Die Beziehung Wölfflins zur zeitgenössischen Avantgarde bleibt auf der Ebene von Anekdoten u n d Gleichzeitigkeiten. Er wurde im selben Jahr 1912 nach M ü n c h e n berufen, als dor t der Almanach des Blauen Reiters erschien . 2 6 Gleichzeitig mi t Barlach wurde i hm der O r d e n Pour le meri te ver l iehen . 2 7

Bekannt sind Wölfflins anerkennende Wor t e für van Gogh. D o c h Eichmarke der aktuellen Malerei blieb i hm Böcklin: D e r werde noch geschätzt werden, nachdem mit dem Impres­sionismus abgerechnet worden se i . 2 8 Auf der Ebene des man i ­fest bekunde ten Geschmacks bleibt Wölfflin, bei aller Offen­heit für das N e u e , eher den gesicherten Wer ten des 19. Jahrhunder ts verpflichtet.

D o c h die Topoi der M o d e r n e lassen sich auch am konven­tionellen Kunstwerk ablesen. Arnold Böcklins Selbstbildnis mit

fiedelndem Tod entstand 1872, im Erscheinungsjahr von Nie tz ­sches Geburt der Tragödie. Z u gering war die Verbreitung der Erstauflage, als daß der Künstler Nietzsches Buch gekannt

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hätte. Doch die Gedanken darin waren fällig. Die mentalen Stichworte raunt sich die Zeitgenossenschaft direkt zu. D e r Künstler malt sich im gespannten M o m e n t seines H i n h o r ­chens auf das Geigenspiel des Todes, die Quelle seiner schöp­ferischen Inspiration. Böcklin porträtiert sich als apollinischen Helden seines Werks, in dem er der dunklen Melodie von Urlust u n d Urleid bleibende Gestalt abringt. Daß im Wollen immer auch das Vergehenwollen enthalten ist, geht auf Scho­penhauer zurück. Sigmund Freud wird die gemeinsame W u r ­zel von Eros u n d Thanatos »Nirwanaprinzip« nennen , nach dem Or t , w o höchste Selbstvergessenheit ist. De r Rausch, die Liebe, der Schlaf sind die kleinen Tode vor der Rückkehr z u m großen. Die kleinen Tode enthalten alle das schmeichelnde Versprechen, auf das der Künstler jetzt horcht: die schwachen Augenblicke erfüllter Lust — von Unlust , Langeweile u n d Qual immerfort unterbrochen — wären durch die goldene, tödliche Dosis zu ersetzen. Es ist dieselbe verführerische Weisheit, von der Nietzsches Silen spricht: Für den Menschen sei es das Beste, »nicht zu sein, nichts zu sein«. Da schreckt das Ich über sich selber auf: Es weiß sich verführbar, während es schwankt zwischen der Mühsal , selbst zu sein u n d der Angst, zu verge­hen. In den aufmerkenden Zügen des Künstlers liest sich die Individuation als ein Leiden am Wachsein.

Böcklins Porträt verkörpert das Individuationsprinzip als Persona, durch die die Musik des dionysischen Willens rauscht. Mi t Pinsel u n d Palette übersetzt er sie auf seine Lein­wand: Er biegt den dunklen Antr ieb u m in die Helle der Kunst . Das Werk , das daraus entsteht, verschafft die G e w i ß ­heit, daß der Widerspruch von Selbstsein u n d Vergehenwol­len auszuhalten ist in einer abgemilderten Form: der Ästhetik der Dissonanz. Die apollinisch-dionysische Doppelwel t ist im Schein der Kunst bezwungen . D e r Betrachter kann sich den Verlockungen des N i rwana hingeben, ohne sich zu verlieren. D e r Kunstl iebhaber kann den Kurs durch den Alltag halten wie das Schiff von Odysseus u n d seinen Gefährten: J enem, der hören kann, sind die Hände gebunden , u n d diese, die rudern , haben die O h r e n mit Wachs verstopft, während sie die Insel der Sirenen passieren. Tödl icher Verfuhrungsgesang ist zu Kunstgenuß gebändigt. Ästhetische Erfahrung ist, wie der T r a u m u n d die Liebe, ein kleiner Tod, der im dauerhaften Werk immer wieder gefahrlos u n d mi t heilender W i r k u n g wiederhol t werden kann.

Böcklins Bilderwelt ist belebt von Pan u n d Kentaur, von Faun u n d Najade, N y m p h e u n d Tr i ton , die sich selbstverges­sen treiben lassen von den Elementen Wasser, Erde, Luft u n d

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Feuer — den Elementen des Willens in der Natur , denen sie zugleich als D ä m o n e n individuelle Gestalt geben. Die pani­schen Sujets in Kunst, Literatur u n d Musik bildeten die U t o ­pie einer Zivilisation, die die Elemente industriell gezähmt hatte u n d die den Menschen mi t strengen Moralvorschriften, Korsetts u n d Stehkragen eine Hal tung in apollinischer Steif­heit abzwang. Der steife, scheue Wölfflin mochte Böcklins Bildwelt in diesem Sinne verstanden u n d geschätzt haben als Fenster in eine dionysische Welt , mit der er sich als Leser Nietzsches u n d Schopenhauers in Gedanken zwar verbunden wuß te , vor der er sich aber im realen Leben hinter vo rnehmer Zurückha l tung verschloß. Werne r Hofmann hat von der »Janusköpfigkeit« der Kunst u m 1900 gesprochen: R ü c k ­wärtsgewandt bildet sie eine S u m m e des 19. Jahrhunder ts ; mit d e m Blick nach vorn liefert sie die Voraussetzungen für die Avantgarde des 20. Jahrhunder ts . Hofmanns umfassender Blick auf eine M o d e r n e , die sich nicht nach den Kriterien der stilistischen N e u e r u n g e n fassen läßt, gilt u m so mehr im m e n ­talen Bereich. M o d e r n e Topoi sind formal unspezifisch; sie können sich äußern in Gemälden der Gründerzei t , so gut wie in den Manifesten der Avantgarde. Der Unterschied liegt im Übergang v o m Was z u m W i e der Kunst. Bei Böcklin er­scheint das Dionysische in mythologische Gestalten gekleidet; der Futur ismus setzt es in Bewegung. Die Avantgarde k o n -zeptualisiert dasselbe Ideengewölk, das die konventionelle Kunst der M o d e r n e in Abbi ldern repräsentiert.

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Arnold Böckl in , rritcn und Nereide, vor 1874

Auf der Ebene des Geschmacks blieb Wölfflin be im alten. Mi t d e m Bildhauer Adolf von Hi ldebrand war er seit 1889 freundschaftlich verbunden; dessen Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) bildet die Grundlage für Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Als klassizistischer Künstler bleibt Hi ldebrand be im gegenständlichen Was der Kunst, während er theoretisch in ein W i e vorstößt, das die abbildhafte Ebene seiner Gestaltungen hinter sich läßt. Das ­selbe gilt für Wölfflin: Auf der Ebene des Was schreibt er über Renaissance u n d Barock; wie er es schreibt, ist mode rn .

Wölfflin, modern

Es sei versucht, Wölfflins Modern i tä t nachzuweisen, i ndem die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe aufgerastert werden gemäß den m o d e r n e n Topoi , die wir aus den vorangehenden kontextuellen Vergleichen gewonnen haben. W i r schließen Wölfflins ästhetische Denkweise gewissermaßen ans Ne tz der zeitgenössischen Mentali tät , i ndem wir über seinen Text das Raster der unscharfen Gedanken legen.

Topos A: Schöpfung entspringt einem unbewußten Antrieb Wölfflin vergleicht das Formgesetz in der Kunst mi t der Schwerkraft. »Um ein Gleichnis zu gebrauchen: der Stein, der den Berghang herabrollt, kann im Fallen ganz verschiedene Bewegungen a n n e h m e n j e nach der Neigungsfläche des Ber­ges, d e m härteren oder weicheren Boden usw., aber alle diese Möglichkeiten unters tehen e inem u n d demselben Fallge­setz.« 2 9 Im Kunstwerk erkennen wir den Kampf des Willens zur Gestaltung gegen den übermäßigen Wil len der Schwer­kraft. Wölfflin entwickelt diesen Gedanken be im Betrachten eines Bauwerks: Es besteht aus Mater ie »ist schwer, sie [die Materie] drängt abwärts, will formlos am Boden sich ausbrei­ten. W i r kennen die Gewalt der Schwere von unserem eige­nen Körper. Was hält uns aufrecht, h e m m t ein formloses Zusammenfallen? Die gegenwirkende Kraft, die wir als Wille, Leben oder wie immer bezeichnen mögen . Ich nenne sie Formkraf t .« 3 0 Mi t diesem Bild knüpft Wölfflin an Schopen­hauers Ästhetik, die die Baukunst auf der untersten Stufe ansiedelt bei der Objektivation des Willens in Kunstform. D e r Wille an sich, als blinder Drang, will nu r wollen; in phy­sikalischer Erscheinungsform will er nu r fallen, nu r haften, nur starr u n d schwer sein. »Die ganze Masse des Gebäudes würde , ihrer ursprünglichen Ne igung überlassen, einen blos-

29 Wölfflin (zit. Anm. 7), S. 18. 30 Heinr ich Wölfflin: Prolego-

mena zu einer Psychologie der Archi­tektur (Diss. 1886), zit. nach: ders.: Kleine Schriften, Basel 1946, S. 22.

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31 Ar thu r Schopenhauer : Die Wel t als Wille und Vorstellung, Zür ­cher Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I, Zür ich 1977, S. 273 .

32 Wölfflin (zit. A n m . 30), S. 15. 33 Siehe dazu Meinho ld Lurz:

Heinr ich Wölfflin. Biographie einer Kunsttheorie, W o r m s 1981; Huber t Locher: Heinr ich Wölfflin u n d die Kunst als Weltsprache, in: N e u e Zü r ­cher Zei tung, Nr . 164, 16./17. Juli 1994; Norber t Schmitz: Kunst und Wissenschaft im Ze ichen der M o ­derne, Hoelzel, Wölfflin, Kandinsky, Dvorak (Diss.), Wuppertal 1993.

sen K lumpen darstellen, so fest als möglich mi t d e m Erdkör­per verbunden, zu welchem die Schwere, als welcher hier der Wille erscheint, unablässig drängt, während die Starrheit, ebenfalls Objektivität des Willens, widersteht. Aber eben die­se Neigung , dieses Streben, wird von der Baukunst an der u n ­mittelbaren Befriedigung verhindert .« 3 1 Architektur ist sol­chermaßen die Kunst des Umwegs für die Schwerkraft; über Dachgesimse, Wandgl iederungen u n d zierliche Säulen läßt der Baukünstler einen p lumpen, bl inden Drang kunstvoll zur Erde abfließen.

Wölfflin sagt es: »Wir kennen die Gewalt der Schwere von unserem eigenen Körper.« Durch ihn haben wir teil am W i l ­len der Schwerkraft, die auch an der Hausfassade wirkt . Ihr Schwersein ist uns zutiefst vertraut aus unseren inneren Lebensempfindungen. Aber ebenso kennen wir die Auf leh­n u n g dagegen — den Kampf der Fassade u m ihr Aufrechtblei­ben. Es ist das Werk des Künstlers, der die Schwerkraft des Steins mit der gegenwirkenden »Formkraft« gebremst hat. Im materiellen Schwersein u n d im kunstvollen Stehenwollen erkennen wir am Bauwerk uns verwandte Empf indungen . Das Kunstwerk entstand im Bann des Lebenswillens, in d e m der Betrachter steht. D e r Lebenswille ist die Bedingung der Möglichkeit , nicht nu r die Kunst, sondern die Welt zu verste­hen, mi t der uns ein selbiger, innerer Drang verbindet. Kants Problem transzendentalen Erkennens ist damit — an Auge, O h r u n d Gehi rn vorbei — direkt un te r die H a u t verlegt.

Im Lebenswillen sind wir sympathetisch mit der Welt ver­bunden . Als beseeltes, erkennendes Lebewesen fühlen wir uns spontan in das Gegenüber ein. »Unwillkürlich beseelen wir jedes D ing [...] Das Bild unserer selbst schieben wir allen Erscheinungen unter«, schreibt Wölfflin in seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur.32 W i e der Titel schon andeutet, schreibt Wölfflin der Kunst eine Seele zu: Es ist die Seele des Betrachters, die in das Betrachtete überspringt. Wölfflins Begriff der Kunsterfahrung beruht in der Tat auf der Einfuhlungspsychologie seines Basler Lehrers Johannes Volkelt, der den Studenten auch mit Schopenhauer vertraut m a c h t e . 3 3 De r Begründer der experimentellen Psychologie, Wi lhe lm W u n d t , hat die Einfühlung noch als einen physiolo­gischen Sachverhalt erklärt: Die Muskeltätigkeit der Augenbe­wegungen be im Sehen bereiten Lust- u n d Unlustgefühle, über die wir uns, so W u n d t , mit dem Gesehenen verbunden fühlen. Dieses mechanistische Einfühlungsmodell s tammt noch aus d e m 19. Jahrhunder t der Dampfmaschine, bei der Kräfte über Kolben u n d Zahnräder übertragen werden. Wölfflins Auffas-

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sung hingegen steht unter dem Einfluß der Lebensphiloso­phie: Die Einfühlung ist gleichsam elektrifiziert worden. Nich t über eine umständlich kausal sich abwickelnde Über t r a ­gungsmechanik, sondern über den Kupferdraht der »Seele« durchschießt uns der Stromstoß des »Lebens«, das uns aus d e m Kraftwerk kosmischer Weltenergie zufließt.

Das Kunstwollen ist eine Emanat ion des Allebens, das durch die Geschichte der Menschen pulst, als ein dumpfer Tr ieb sich aufzurichten, der Schwerkraft verr innender Zei t formend ein Bestehendes entgegenzuhalten. Die Kunstwerke bleiben als skhtbare Spur dieser Wirksamkei t zurück. D e r Gestaltungsdrang läßt sich nicht durch künstlerische Gat­tungsgrenzen h e m m e n : Das Kunstwollen erfaßt Architektur, Plastik, Malerei u n d die Angewandte Kunst mi t derselben Handschrift, die wir rückblickend als Stil erkennen. Als über ­persönliche Kraft schreibt es eine Kunstgeschichte »ohne Namen«. W ä h r e n d der individuelle Beitrag der Künstler da­mit herabgesetzt wird, gewinnt die Epoche selbst die Züge eines Überkünst lers . D e r Barock, die Renaissance sind ep o ­chale Subjekte, deren seelischer Ausdruck im Porträt der Kunstgeschichte festgehalten ist. In den fotografierten, im Geschichtsbuch versammelten Werken der Kunst erscheinen die Charakterzüge des Kunstwollens eingegraben. »Oswald Spenglers Kulturanalyse ist ohne ihn nicht denkbar«, schreibt Ludwig Cur t ius zur Einflußgeschichte von Heinr ich Wölff­lins Geschichtsbi ld. 3 4 In der Tat haben Spenglers Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte 3 5 das »Kunstwollen« ins M o n u ­mentale umgesetzt. Ant ike, Abendland, Arabische Welt er­scheinen zu Lebewesen erwacht, die in ihrer j e tausendjähri­gen Dauer eine kulturelle Biographie durchmachen.

Topos B: Das Kunstwerk entfaltet sich im Streit eines Gegensatzes Topos C: Ästhetische Erfahrung besteht im Aushalten des Gegensatzes in Topos B Das Kunstwollen als die Seele der Kunst einer Zeit , eines Volkes hat mi t der pneumatisch belebten Geschichte des deutschen Idealismus wenig m e h r zu tun. Wölfflin ist mi t Hegels Geschichtsphilosophie woh l vertraut geworden in der Brechung von Hippolyte Taine, mi t d e m er sich als Student befaßt hatte. D o c h Hegels Weltgeist u n d Wölfflins Kuns t ­wollen verhalten sich wie die unsterbliche Seele zur H o r m o n ­drüse. D e m Lebewesen Kunstgeschichte fehlt ein selbstbe­wuß te r Kopf, der sich wei terdenkt auf ein vernünftiges Ende 34 Curtius (zit. Anm. 28), S. 638.

der Geschichte hin, w o früher einmal das Paradies war. Nach , 3 5

n

S ° T

d e r u ™ e ] , s e i n 5 ^ cnes: Der Untergang des Abendlandes,

Wölfflin ist ein Stilwandel nichts als ein epochaler Adrenal in- München 1918.

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36 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 14. 37 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 23. 38 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 48.

stoß. Er weist j ene triadische Geschichtsschreibung zurück, wie sie von Vasari über Wincke lmann zu Hegel gepflegt wurde . Sie alle denken, so Wölfflin, in der Analogiesetzung von »Knospe — Blüte — Verfall [...] Die abendländische E n t ­wicklung der neuen Zei t läßt sich nicht auf das Schema einer einfachen Kurve mi t Anstieg, H ö h e u n d Abstieg br ingen, sie hat zwei H ö h e p u n k t e . « 3 6 Das dialektisch-dreistufige Model l ersetzt Wölfflin also durch ein zweipoliges; als >Höhepunkte< untersucht er Renaissance u n d Barock. Aus ihrer komple ­mentä ren Entsprechung gewinnt er die be rühmten fünf Grundbegriffspaare:

1. linear — malerisch 2. flächenhaft — tiefenhaft 3 . geschossene — offene F o r m 4. Vielheit - Einhei t 5. Klarheit — Unklarhei t

Aus d e m Vergleich zweier Epochen gewonnen , stellen diese Grundbegriffe ästhetische Konstanten der künstlerischen W a h r n e h m u n g dar, die auch auf andere Zei ten übertragbar sind. In der Kunstgeschichte ereignet sich die ewige Wied e r ­kehr zweier H ö h e p u n k t e ; einer »Kunst des Seins« folgt d e m ­nach stets eine »Kunst des Scheins«. 3 7 Ausfuhrlich hat Wölff­lin das Wesen von Renaissance u n d Barock entfaltet anhand des Vergleichs von Agnolo Bronzinos Porträt der Eleonora von Toledo mit Kind (1555) u n d Diego Veläzquez' Porträt der Infantin Margarita (1660). Im Sinne der »Kunst des Seins« läßt Bronz i ­nos Gemälde die dargestellte Sache in ihrer Erscheinungsform aufgehen. Die Farbtextur hat ein hohes Auflösungsvermögen: Fast so nah wie die Vögel den gemalten Trauben des Zeuxis können wir uns der Herzogin nähern — u n d bleiben doch getäuscht von der gemalten Wirklichkeit ihres Brokatkleides. Bei Veläzquez hingegen brechen der dargestellte Gegenstand u n d sein Schein auseinander. Die Textur der Farbe hat, aus der N ä h e gesehen, eine völlig abweichende Struktur von Reifrock, Antlitz u n d Locken der Infantin, die sie wiederge­ben soll. »Man darf keinen einzelnen Strich m e h r wörtl ich n e h m e n . « 3 8 Die Infantin bildet sich erst in einer gewissen Distanz; vor d e m zudringlichen Betrachter stürzt die Figur ab, implodiert das Abbild auf der Leinwand z u m Knäuel schmutziger Farben.

In he chefd'oeuvre inconnu erzählt Balzac v o m Maler Fren-hofer, dessen Bild, das zur vo l lkommenen Augentäuschung geraten sollte nach jahrelangem, besessenem Versuch der Annähe rung an das Ideal schließlich in ein Knäuel von Farben u n d Linien zerfällt. Veläzquez ist d e m Frenhofer-Effekt —

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ungewollter Zers törung durch Vollendungswahn — zuvorge­k o m m e n , indem er der illusionistischen Vollkommenhei t ge ­wollt Grenzen setzte. Sollte dieses unaufhaltsam Vergängliche schöner Erscheinung auf der Grundlage des Chaos d e m Betrachter das mahnende R a u n e n der Vanitas durchsichtig machen? — Wölfflin hätte sich, in strikter Beobachtung der reinen Form, diesen literarischen Seitenblick versagt.

Bronzino konstruiert sein Model l im linearen Stil präzis als Volumen. So körperlich greifbar Eleonora u n d ihr Kind aber einerseits wirken, erwecken sie doch den Eindruck, als seien sie in ihrer perspektivisch u n d anatomisch korrekten W i e d e r ­gabe kühl anzufassen — wie Bronzeskulpturen; seinen Spitz­namen t rug Agnolo zu Rech t . Je deutlicher ein Körper im Bild als Objekt definiert ist, desto unnahbarer erscheint er. U m g e k e h r t lebt das Körperliche, j e diffuser es im Schein sei­ner Wiedergabe f l immert , u m so anrührender im Blick des Betrachters auf. Die Kunst des Scheins bringt uns die Kuns t ­körper nahe in der Illusion. Sie entstehen ja erst im Auge u n d für das Auge, während die statuarische Gestalt, die Bronzino abbildet, auch ohne unser Hinsehen zu bestehen scheint.

Doppelse i te aus H . Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen m i t B ronz inos Porträt der Eleonora von Toledo u n d Velazquez ' Porträt der Infantin Margarita

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Doppelse i t e aus H . Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen mit J o a c h i m Patiniers Taufe Christi u n d Jacob van Ruisdaels Blick aufHaarlem

39 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 24.

Die Renaissance schildert die Welt nach deren tastbaren, der Barock nach deren sichtbaren Quali täten. Wölfflin deutet den Übergang von der »Kunst des Seins« zur »Kunst des Scheins« als Zivilisationsprozeß: »[...] wie das Kind sich abge­wöhn t , alle Dinge auch anzufassen, u m sie zu >begreifen<, so hat die Menschhei t sich abgewöhnt , das Bildwerk auf das Tastbare hin zu prüfen. Eine entwickeltere Kunst hat gelernt, der b loßen Erscheinung sich zu überlassen.« 3 9 Ein Res t von Geschichte als Erziehungsgeschichte zur Geistigkeit wirkt also doch nach: Das dumpfe Kunstwollen erbt von Hegels Wel t ­geist dessen H a n g zu sich selbst. Hegels Kunstgeschichte fuhrt von der körperhaften Schwere ägyptischer Pyramiden über den Gleichstand von Körper u n d Geist in der griechischen Skulptur zur Verflüchtigung des Körperhaften im Schein der abendländischen Malerei, worauf der Geist, sich selbst erken­nend , sich aus der Mater ie , u n d damit aus der Kunst, zurück­zieht. Diese letzte Stufe macht Wölfflins Kunstwollen nicht mit: Auf d e m H ö h e p u n k t des Scheins, der sich immateriell im betrachtenden Subjekt herstellt, sackt es wieder z u m ta-stend-körperhaften Anfang zurück. Die Kunstgeschichte b e -

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ginnt wieder von vorn abzulaufen, wie ein asthmatisches U h r w e r k , das neu aufgezogen wurde . Es fragt sich nu r von w e m - die schlüssige An twor t blieb Wölfflin schuldig. Es war woh l der grundbegriffliche Kunsthistoriker selbst, der als D e m i u r g die M e t h o d e in Gang hielt - u n d der Zeitgeist, der in der ewigen Wiederkehr von Gegensätzen zu denken liebte. Wölfflins grundbegriffliche Wortpaare be ruhen auf Adolf von Hildebrands Unterscheidung zwischen der »Daseinsform« u n d der »Wirkungsform« in der Skulptur. Alois Riegl stellt in der Spätantike einen Übergang von »haptischer« zu »opti­scher« Kunst fest. Ernst Buschor überträgt das duale Sehen auf die klassische Archäologie u n d spricht von der »Daseinsform« der Skulpturen aus perikleischer Zeit , die er gegen die »Erscheinungsform« der Kunst i m Hellenismus abgrenzt. D e r Kunsthistoriker Hans Jantzen unterscheidet zwischen »Eigen­wert« u n d »Darstellungswert« der Farbe, zu einer Zeit , als die gegenstandslose Malerei sich durchsetzt. Für T h e o d o r Hetzer werden »Form« u n d »Farbe« überhaupt zu Grundbegriffen. Jantzen u n d Hetzer waren Schüler Wölfflins. Dami t schließt sich der Kreis zu Heidegger, der mi t j e n e n verkehrte. »Erde«

Doppelsei te aus H . Wölfflins Kunstge­schichtlichen Grundbegriffen mi t d e m Palazzo Madama , R o m , u n d C h o r g e ­stühl in der Peterskirche, M ü n c h e n

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u n d »Welt« sind die grundbegriffl ichen Entsprechungen zu »geschlossener« u n d »offener« F o r m im Bereich der phi loso­phischen Ästhetik.

Schon Werne r Hofmann hat darauf hingewiesen, daß das »Dionysische« Nietzsches der »offenen« F o r m Wölfflins en t ­spreche. 4 0 Die dionysisch-apollinische Doppelnatur der G r u n d ­begriffe ist zugleich verankert in Schopenhauers »Wille« u n d »Vorstellung«. In seinen Prolegomena bes t immt Wölfflin als Kont rapunkt der Archi tektur den »Gegensatz von Stoff u n d Formkraft«. Gottfried Sempers hylämorfistische Formel von Stil als Resultat des Zwecks u n d der Mater ie wird dynamisch aufgeladen mi t Schopenhauers Ästhetik im Zeitgeist der Le­bensphilosophie. Stoff wird z u m dionysisch-offenen Wil len der Schwerkraft, Zweck zur apollinisch-geschlossenen F o r m ­kraft. So bemerkt denn der Dok to rand selbstbewußt: »Mit dieser Erkenntnis haben wir den entscheidenden Schritt getan, u m sowohl die formale Ästhetik durch lebensvollere Sätze zu ergänzen, wie auch u m d e m architektonischen E in ­druck einen reicheren Inhalt zu sichern, als i h m z u m Beispiel Schopenhauers viel bewunder te Theor ie zugestehen will .« 4 1

Die Grundbegriffe verhalten sich im R a h m e n einer Ästhe­tik der Dissonanz. So wie das Apollinische u n d das Dionysi ­sche immer schon gemischt auftreten, stellen das geschlossen Lineare u n d das offen Malerische reine Grenzwerte dar, innerhalb deren eine Zeit , mit Heidegger gesprochen, ihren »erstrittenen Streit«, den künstlerischen Ausgleich, trifft. Kunstgeschichte wäre somit >die Bestrei tung des Streits< zwi­schen den Grundbegriffen. W i e Nietzsche, so stellt auch Wölfflin fest, daß auf d e m Gebiet der Kunst Apollo selbst da siegt, w o das Dionysische entfesselt scheint. So gibt die Kunst des Barock den »Schein des Regellosen. Sie spielt, denn im ästhetischen Sinn ist natürlich in aller Kunst die F o r m eine notwendige; aber der Barock versteckt gern die Rege l .« 4 2

Apollo, d e m Got t des Metiers, haben alle zu opfern.

Topos D: Kunst sprengt die Grenzen der Individuation Wölfflin unterscheidet eine »doppelte Wurzel des Stils«. Der Individualstil, neben d e m Stil einer Schule, eines Volks, einer >Rasse<, bildet die erste Wurzel des Stils. Zwar treten schon in der Beschäftigung mit d e m Stil eines einzelnen Künstlers des­sen historische Lebensumstände in den Hintergrund; doch an die Wurze ln der strengen Formgesetze reicht der persönliche Stil nicht. Ein an Stilformen u n d Lebensumständen einzelner Künstler hängender Kunsthistoriker sähe vor lauter Bäumen den Wald nicht. Es gilt, durch die individuellen und die regio-

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40 W e r n e r Hofmann : Marsyas und Apollo, in: Merkur , April/Mai 1973, S. 404.

41 Wölfflin (zit. A n m . 30), S. 22. 42 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 159.

nalen Ausdrucksformen hindurchzusehen auf den Zeitstil, dem alle Individuen u n d Gruppen einer Epoche unterworfen sind. Wölfflins Me thode lehrt den Blick durchs Gehölz des historisch u n d psychologisch Zufälligen auf ein ewiges Gesetz der Geschichte. Es ist derselbe mode rne Blick, mit dem M o n -drian durch das Geäst der Bäume das reine dynamische Gleich­gewicht des Kosmos erfaßt. Im Zeitstil offenbart sich die o b ­jektive Form der Geschichte. An ihm als d e m Kunstwollen ist der resultierende Vektor einer Epoche abzulesen, dessen Drift die Einzelinteressen von Individuen, Gruppen u n d >Rassen< mit sich fortreißt.

Wölfflin s t immt ein in den Kanon der Kunst theor ien, die sich polemisch gegen den Kult des Individuellen wenden . D e r Klassischen M o d e r n e geht es nicht u m den Einzelfall, son­dern u m das Prinzip. Die Kunstgeschichte der Gründerzei t war eine Kunstgeschichte der großen N a m e n : So schrieb H e r m a n n G r i m m Das Leben Raphaels (1872), Carl Justi Diego Veläzquez und sein Jahrhundert (1888). Das P rog ramm einer »Kunstgeschichte ohne Namen« war eine Absage an den Geist solcher Buchtitel . Natürl ich t rug Wölfflin dies den Vorwur f des historischen Determinismus ein. Nach Panofsky verkürzt der Stilbegriff Wölfflins die Kunstbetrachtung auf na turge­setzliche Modali täten, die nicht weiter zu hinterfragen s ind . 4 3

Wölfflin ließ sich nicht erschüttern. Seinen Kri t ikern begeg­net er 1922 im Vorwor t der Neuauflage seiner Grundbegriffe: »Auch die originellste Begabung kann nicht über gewisse Grenzen h inauskommen, die ihr durch das D a t u m der Gebur t gesetzt sind. Es ist nicht alles zu allen Zei ten möglich u n d gewisse Gedanken können erst auf gewissen Stufen der E n t ­wicklung gedacht werden.« Gilt dieser Satz, so m u ß er auch auf die Gedanken Wölfflins anzuwenden sein.

Topos E: Keine Gefühle, keine Kompromisse. Tertium non datur Die dreistufigen Kunstgeschichten von Vasari zu Hegel spre­chen von Knospe, Blüte, Verfall. Sie beschreiben damit ein Erziehungsziel der Kunst . Wölfflins Ablehnung einer dreistu­figen Kunstgeschichte wendet sich gegen den normat iven Zug , der dialektischen Model len innewohnt . Eine strenge Kunstwissenschaft fällt keine Geschmacks- u n d Wertur te i le . Mi t ihr ist kein Weltgeist unterwegs auf Lehr- u n d Wande r ­jahren , e inem schönen oder gar vernünftigen Ziel entgegen. Wölfflins Kunstgeschichte schaltet alle Register der Kunst aus, die erzählen, belehren oder Gefallen erregen wollen. Die Ablehnung einer dialektischen Kunstgeschichte zielt also gegen die Didaktik, die N o r m u n d die Wirkungsästhetik.

43 Erwin Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst, in: ders.: Aufsätze zu Grundformen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf O b e ­rer/Egon Verheyen, Berlin 1974, S. 26.

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Dies beginnt schon bei der Behandlung der fotografischen Illustrationen. Die Bildunterschriften beschränken sich lako­nisch auf den N a c h n a m e n des Künstlers. Bildtitel werden nicht angegeben, sie könnten den Leser auf die Abwege nar-rativer Geschwätzigkeit fuhren. Das strikte Formgesetz ver­langt, vom Inhalt der Werke abzusehen, aber auch von der Frage nach deren >Schönheit<: Für Wölfflins Generat ion klang das W o r t ohneh in verbraucht durch die idealistischen Speku­lationen über das Kunstschöne an u n d für sich.

Jede Epoche löst ihr Ideal künstlerisch ein. So betont Wölfflin mehrfach, »daß die Kunst i m m e r gekonnt hat, was sie wollte, u n d daß sie vor ke inem T h e m a zurückschreckte, weil sie >das nicht konnte<, sondern daß man i m m e r nur aus­ließ, was nicht als bildlich reizvoll empfunden w u r d e . « 4 4 D i e ­ser Satz hebt den naiven Positivismus M a x Dvofäks aus den Angeln, der die Geschichte der Kunst als den Fortschritt in der Annähe rung an das Naturvorbi ld sah. Kunst entsteht aus Kunst . Die Geschichte der bi ldenden Kunst be ruh t auf der W i r k u n g von Bildern auf Bilder. Die Naturbeobachtung der Künstler ist i m m e r schon vorprogrammier t durch die Art u n d Weise, wie sie zeitgenössisch wiedergegeben erscheint. Dies ist die »Weltanschauung«, die der Künstler als Gestaltungs­möglichkeit vorfindet, das Ideengewölk, mit d e m seine Lein­wand immer schon grundier t ist. Wölfflin verwendet den Begriff der Weltanschauung strikt formal: Nicht , was wir in der Welt sehen, sondern wie wir sie sehen, ist in ihr enthal­ten. In Abwandlung von Bernard Berensons begrifflichen Arbei ts instrumenten »illustration« u n d »decoration« definiert Wölfflin die Weltanschauung als »dekorativ« u n d nicht »imi­tativ«. De r stilistische Wandel einer Weltanschauung betrifft i h m zufolge keine inhaltlichen Veränderungen, sondern nur einen Wandel »nach Grammat ik u n d Syntax«. 4 5 D ie Wel tan­schauung ist nu r »die Schale, in der die Nature indrücke aufge­fangen u n d gefaßt werden .« 4 6 Stile sind »ausdruckslos«, sie s t immungsmäßig zu deuten, ist daher falsch. Die Be tonung des Ausdruckslosen w iede rum setzt die Wirkungsästhet ik außer Kraft. »Anstatt zu fragen: >Wie wirken diese Kuns t ­werke auf mich (den m o d e r n e n Menschen) ?<, u n d danach den Ausdrucksgehalt zu bes t immen, m u ß der Historiker sich ver­gegenwärtigen, welche Auswahl von Formmöglichkei ten die Zei t überhaupt hatte. Das wird dann zu einer wesentlich andern Interpretation fuhren.« 4 7 Das hartnäckige Über leben

44 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 246. d e r sensualistischen W i r k u n g der Kunst , das Festhalten des 45 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 241 . „ u . • r u u - i • c i L u • i 46 Wölfflin (zit A n m 7) S 243 Betrachters an seiner sinnlich-subjektiven Selbstbespiegelung 47 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. IX. im Werk blieben der Klassischen M o d e r n e ein D o r n im

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Auge; sie sollten sich z u m Pfahl im Fleisch der Nachkr iegs­kunst auswachsen.

Kunst ist nicht der »Spiegel des Lebens« 4 8 : De r strikt for­male Gebrauch des Wortes >Weltanschauung< wirkt p rovo­kant, ausgesprochen im Schoß einer Geisteswissenschaft, die ausgerechnet in Wel tanschauungen inhaltliche Bekenntnisse erwartet . In seinen Frühwerken Renaissance und Barock (1888) u n d Klassische Kunst (1898) hatte Wölfflin den Stil als seeli­sche Ausdrucksform noch mit soziologisch-geschichtlichen Entwicklungen verknüpft. Erst die Kunstgeschichtlichen Grund­begriffe be tonen das Ausdruckslose des Stils. W e n n die Kunst in ihren Formgesetzen a u t o n o m ist, dann ist es auch die Kunstgeschichte . 4 9

Topos F: Zurück zum Anfang und auf den Grund der Dinge! Topos G: Notwendigkeit ist Freiheit Wölfflin tritt mi t d e m Anspruch auf, ein allgemeingültiges Formgesetz in der Kunstgeschichte zu formulieren: das Gravi­tationsgesetz der Kunst , das seismographisch exakt die innere Notwendigkei t einer Epoche anzeigt. »Jeder Künstler findet bes t immte >optische< Möglichkei ten vor, an die er gebunden ist. N ich t alles ist zu allen Zei ten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, u n d die Aufdeckung dieser >optischen Schichten< m u ß als die elementarste Aufgabe der Kuns t ­geschichte betrachtet werden .« 5 0 Unverkennbar hallt in d e m Versuch, H u m a n - mi t Naturwissenschaft in Gleichstand zu br ingen, das positivistische 19. Jahrhunder t nach. »In der Ze i chnung eines b loßen Nasenflügels m ü ß t e man schon das Wesentl iche des Stilcharakters erkennen.« 5 1 Wölfflin erweist der M e t h o d e Giovanni Morellis seine Reverenz. Diese geht davon aus, daß eine Künstlerhandschrift sich am unverwech­selbarsten in der Durchbi ldung nebensächlicher Körperteile verrät. Als ausgebildeter Mediz iner vertrat Morelli den Ideal­typ eines Gelehrten, der die Kunstgeschichte nach d e m stren­gen Maßstab exakter Wissenschaft betr ieb. Nich t nu r verglei­chende Anatomie u n d Rassenkunde gehör ten demnach in den Einzugsbereich der Kunstwissenschaft, sondern auch die Kriminalistik. Im selben Jahr 1890, als Morellis kuns tanato­mische Unte r suchung Die Galerien Borghese und Dorla Pamphili erschien, wurde in den Kriminalämtern die sogenannte Ber-tillonsche M e t h o d e eingeführt, die es erlaubte, Verbrecher über eine vergleichende Meßtechn ik des Knochenbaus zu identifizieren. D e r Teufel steckt buchstäblich im Detail: Kunstfälscher wie Kriminelle verraten sich an Eigentümlich­keiten wie der Fußlänge u n d d e m Ohransatz. Die Bert i l lon-

48 Wölfflin (zit. Anm. 7), S. 2 4 1 . 49 So deute t Mar t in W a r n k e

Wölfflins W e n d u n g zur s trengen Formanalyse im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch: »Die Weigerung, ästhetische Formen an außerkünstler­ische Faktoren zu verrechnen, bedeutet im Jahre 1914 eine Widerständigkeit gegen die Parolen des Tages.« Siehe Warnke (zit. A n m . 26). Eine >aus-druckslose< Kunstgeschichte entzieht sich den Ansprüchen propagandisti­scher Dienst le is tungen. Die F o r m ­analyse wäre somit - in Über t re tung ihrer selbstgesetzten Immanenz - zu deuten als der seelische Ausdruck eines Schweizer Professors in München , in Ausübung strikter Neutralität gegen­über dem kriegsführenden Gastland.

50 Wölfflin (zit. Anm. 7), S. 11 f. 51 Wölfflin (zit. Anm. 7), S. 3 .

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sehe Me thode wurde in den 1910er Jahren abgelöst von Sir Herschels Daktyloskopie, als sich im Bereich der Kunst die Abstraktion durchsetzte. W i e Kandinsky seine Lehrjahre bei Franz von Stuck überwand, so beendeten die abstrakten Linien des Fingerabdrucks das an th ropomorphe M a ß n e h m e n am Körper. So wie die Daktyloskopie das Indiv iduum ineffa-bile im optischen C o d e des Fingerabdrucks entziffert, versteht sich die Kunst der Avantgarde als visuelle Offenbarung u n ­sichtbarer Reali täten in der Atomphysik u n d Strahlentheorie. De r Künstler schafft nicht aus subjektiver Laune, sondern übersetzt Gesetzmäßigkeiten der Na tu r ins Bild. Dieser szien-tifische Anspruch der Avantgarde wird noch näher zu b e ­trachten sein.

Nach Kandinsky sind die Kunstformen von »innerer N o t ­wendigkeit«, da kosmische Kräfte die H a n d des Künstlers lei­ten. U m sich in die Botschaften des Weltwillens e inzuhören, m u ß der Künstler den Panzer zivilisatorischen Ballasts abstrei­fen u n d wieder zurückkehren z u m primitiven, unverstellten Anfang der Kultur. Wölfflin tut dasselbe im M e d i u m der Kunstgeschichte, w e n n er von den konventionell überliefer­ten Elementen — PJietor ik , Brauch tum, Ikonographie — in der Kunstbetrachtung absieht. D e m Antiakademismus einer Avantgarde, die sich weigert, die Gipsabgüsse nach den An t i ­ken als N o r m weiter anzuerkennen, entspricht eine Kunstge­schichte, für die es keine Eintei lung in Hochb lü ten u n d Z e r ­fallszeiten gibt. Die dreistufigen Geschichtsmodelle sahen, nach einer Zei t des Aufblühens u n d der Reife, die Zei t des Niedergangs, die oft mi t der eigenen zusammenfiel: Für Vasari etwa war die Kunst nach Michelangelo nur noch epigo­nal; für Hegel befand sie sich schon seit den Griechen im Niedergang u n d erreichte in der zeitgenössischen R o m a n t i k einen Tiefstand.

Einer der Grundgedanken Wölfflins ist hingegen, daß es keine >schwachen< Epochen gibt: Jede Zei t kann künstlerisch, was sie können will. Das Kunstwollen ist zu allen Zei ten gleich stark. U n d Wölfflins Kunstgeschichte selbst n i m m t an i h m teil, so gut wie Kandinskys Kunst . Dasselbe Kuns twol ­len, von d e m sich die zeitgenössische Avantgarde als M e d i u m von innen heraus durchfluten läßt, betrachtet Wölfflin von außen u n d entziffert dessen erstarrte Seismogramme als Stil­formen. Kunstgeschichte als strenge Formwissenschaft ver­läuft parallel zu einer Kunst, die sich von der motivischen Darstellung zur Abstraktion entwickelt. Kunsthistorische Formanalyse u n d künstlerische Avantgarde teilen den Blick für die reine Linie, die reine Komposi t ion, die reine Farb-

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beziehung. Es w u n d e r t nicht, daß Heinr ich Wölfflin einer der wenigen Kunsthistoriker war u n d ist, den die Künstler schätzten bzw. schätzen — eben weil sich seine M e t h o d e in der Tat parallel zur Kunst verhält.

Doppelse i te aus Le Corbus iers 1922, Ausblick auf eine Architektur. D i e A b b i l d u n g e n zeigen d e n P a r t h e n o n u n d zwei Spor twagen , Hispano-Su iza u n d Bignan

Kunstgeschichte und Reproduktion

1889, in Florenz, lernte Wölfflin den Bildhauer Adolf von Hildebrand kennen . Ihre Gespräche drehten sich u m die Kluft zwischen Kunst u n d Kunstgeschichte, die zu ü b e r w i n ­den Wölfflin noch in seinen späten Schriften P rog ramm bleibt: »Wer aber in Künstlerwerkstät ten verkehrte, m u ß t e die Erfahrung machen, daß überhaupt zwischen den hier tätigen eigentlichen Fachleuten der Kunst u n d den Histor ikern der Kunst eine tiefgehende T r e n n u n g bestand, begreiflich, da in den zwei Lagern in ganz verschiedener Sprache über die gemeinsame Angelegenheit gesprochen wurde . Hie r also, meine ich, m u ß t e eingesetzt u n d der Versuch gemacht wer ­den, das Spezifische der künstlerischen Leistung ins Licht zu rücken.« 5 2 N o c h steckt in diesen Sätzen die Auffassung, daß

52 Heinr ich Wölfflin: Vorwor t in: ders.: Gedanken zur Kuns tge ­schichte, Basel 1941.

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53 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 245. Parallelen zwischen Kunst und Kunst­geschichte zieht Hans Bel t ing im Kapitel >Das unwi l lkommene Erbe der Moderne< seines Buches: Das Ende der Kunstgeschichte, Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, S. 37ff.

54 Wölfflin (zit. A n m . 7), S. 234.

die Kunstgeschichte die Kunst begrifflich >objektiv< abzubil­den habe — eine Auffassung, die das historische D e n k e n aus Gründen wissenschaftlicher Selbsterhaltung woh l nie ganz aufgeben kann. Die Fehlerquelle kunstgeschichtlicher Perzep-t ion liegt darin, zu meinen , frontal, im rechten Winkel , zu den Kunstwerken zu stehen. Das mag empirisch zutreffen für den Betrachterstandpunkt; der interpret ierende Text h inge­gen bewegt sich im Sinne einer Phasenverschiebung parallel z u m untersuchten Gegenstand, im Strom des aktuellen Ze i t ­geistes. »Man sieht nur, was man sucht, aber man sucht auch nur, was man sehen kann«, hat Wölfflin richtig gesehen . 5 3

D e n kunsthistorischen Me thoden , die ihren eigenen histori­schen Kontext vernachlässigen, stellt sich Geschichtlichkeit unbemerk t selber ein auf der Brille der Betrachtungsweise: als Beschlag eines unerklärten Gegenwartsinteresses.

In den Mot iven u n d Forschungsabsichten der Kuns tge­schichte wirken die ästhetischen Interessen der eigenen G e ­genwart . Wölfflin gelingen die Charakter is ierungen des Ba­rock besonders gut. Er bewunder t zwar die Renaissance, doch ihre geschlossene Vol lkommenhei t läßt sein Schreibtempera­m e n t kühl . Es zeigt sich e inem Stil verpflichtet, der zu Ende des 19. Jahrhunder ts wiederentdeckt wurde u n d den noch die Generat ion von Jacob Burckhardt als geschmacklos u n d schwülstig empfand. Die Rehabi l i t ierung des Barock geschah zur gleichen Zeit , als der Impressionismus gesellschaftsfähig wurde . U n d impressionistisch sind denn auch Wölfflins Beschreibungen des Barock, w e n n er bemerkt , der Stil strebe danach, »einen vom Gegenständlichen unabhängigen G e ­samteindruck zu erzeugen«, und beweise eine Fähigkeit, »sich der Erscheinung als solcher hingeben zu können , ohne nach Sachwerten zu fragen.« 5 4 Bei der Beschreibung eines Kuns t ­wollens von einst hilft oder hinder t uns u n b e w u ß t das Kuns t ­wollen jetzt .

Kann man sein eigenes ästhetisches Interesse erkennen? Mi r will es nur gelingen, w e n n ich an mir selber zurückblicke. In den 60er Jahren entdeckte die Kunstgeschichte das bis dahin >kitschige< 19. Jahrhunder t . Für Studenten der Kuns tge­schichte war es ein weißer Fleck auf der Geschichtskarte, der zu Entdeckungen anregte. Gleichzeitig k a m es in M o d e , sich auf d e m Flohmarkt mi t Trödel einzudecken. Mi t Trödel u n d Massenprodukten des Konsums beschäftigte sich auch die Pop-ar t . Andy Warhol , ein Protagonist der Bewegung, sam­melte Trödel u n d Nippsachen zwischen Empire u n d Art deco. In seinem zeichnerischen Frühstil orientierte er sich an den Vertretern des W i e n e r Jugendstils, von Gustav Klimt bis

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Egon Schiele, w o m i t er den puristisch-abstrakten Kuns tge­schmack der 50er Jahre verletzte.

Das war vor 30, 40 Jahren. Es ist offenbar eine gewisse Distanz notwendig , bis der historischen Weitsicht das eigene Kunstwollen in den Blick kommt . Als ein blinder Fleck wird das ästhetische Interesse erst im Veralten erkennbar. Es ist wie mit den Kunstfälschungen, bei denen es den Fachleuten erst nach Jahrzehnten wie Schuppen von den Augen fällt: W i e konnte man sich von H a n Anthonius van Meegeren täuschen lassen, dessen Vermeer-Fälschungen aus den 30er Jahren von süßlichem Pathos nur so trieften! Solange die Betrachter j e ­doch selber süßlich-pathetisch empfanden, konn ten sie den Bluff nicht erkennen. D e r gemeinsame Zeitgeschmack m u ß t e in den Bildern u n d Köpfen erst einmal verdunstet sein.

Wölfflin n a h m Zeichenunter r icht bei Fritz Burger u n d hatte in Basel ein Atelier. Dabei war er Kenner genug, sein eigenes Künst le r tum nicht zu überschätzen. »Ich will das immer mehr ausbilden, das Verstehen der künstlerischen Seite der Kunstgeschichte, denn da liegt meine Überlegenhei t ; die anderen mögen m e h r Tatsachen wissen, ich kann sie aber immer aus d e m Sattel heben, i ndem ich mehr von der Sache selber verstehe.« 5 5 Wölfflin versuchte, die Malerei aus ih rem Entstehungsprozeß heraus zu verstehen. Dami t wandte er das künstlerische Ethos Cezannes u n d dessen Begriff der Realisa­t i o n auf die Kunstgeschichte an. De r gestische Nachvollzug der Bilder in der Sprache entspricht der poiätischen Kuns t ­theorie der M o d e r n e . »Die Analyse als Kunst ausbildend, völ­lig suggestiv wirkend«, spornt er sich selber in einer Not iz a n . 5 6 »Wölfflin ging v o m Ate l ie r des Künstlers< aus«, 5 7

schreibt Norbe r t Schmitz, der den U m g a n g Wölfflins mit Adolf Hoelzel verfolgt hat. W ä h r e n d seiner M ü n c h n e r Zei t besuchte Wölfflin den nachmaligen Bauhaus-Künst ler in des­sen Dachauer Malschule. Beide s t immten überein in der Überzeugung , daß der Blick geschärft werden müsse für die rationalen Strukturen in der Bildkomposit ion, vergleichbar den Komposit ionsgesetzen in der Musik . Hoelzel selbst war auf der Suche nach d e m »Kontrapunkt in der Malerei« — immer wieder klingt in den Kunst theor ien der Klassischen M o d e r n e die ideelle Leitfigur des Musikalischen für bi ldner i ­sche Prozesse an. Die Analysen alter Meister w u r d e n in das Lehrprogramm für Ze ichnen u n d E n t w u r f des 1919 gegrün­deten Bauhauses aufgenommen, ein Unterrichtsfach, das auch Itten, Schlemmer u n d Kandinsky vertraten. In der Regel wurde auf die Rep roduk t ion eines alten Gemäldes ein Paus­papier gelegt, auf d e m sich die formalen Strukturen der Vor-

55 Brief Wölfflins v o m 24. 1. 1901 an die Eltern, zit. nach: Meinhold Lurz: Heinrich Wölfflin. Biographie einer Kuns t theor ie , W o r m s 1981 , Anm. 1010, S. 301 .

56 Zit. nach: Lurz (zit. Anm. 55), S. 301 .

57 Schmitz (zit. Anm. 33), S. 148.

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läge in Linien u n d Flächen durchzeichnen ließen. Die Analy­sen alter Meister filterten das abstrakte Kunstwollen, den Generalbaß des Sichtbaren, aus e inem gegenständlichen Bild. Was der Begriff der »unscharfen Gedanken« benennt , das hat Wölfflin, hat die Bauhaus-Praxis der Kunstanalyse auf d e m Gebiet der reinen F o r m angestrebt: aus d e m gegenständlichen Bild die unscharfe Bildidee, den Mauerf leck der Imagination, freizulegen.

Das Pauspapier, über ein fotolithographisch vervielfältigtes Bild geklebt, ermöglichte das rein formale Sehen von Kuns t ­werken. Auf milchig-heller Oberfläche scheinen die gegen­ständlichen Details verblaßt, die narrativen Störfaktoren ver­s tummt , die uns v o m W i e immer wieder z u m Was der Kunst verfuhren. Die technische Voraussetzung, unter der eine formanalytische Kunstgeschichte möglich wird, ist die Fo to ­grafie. Bronzinos Porträt der Eleonora von Toledo u n d Velaz-quez' Porträt der Infantin Margarita sind in den Kunstgeschicht­lichen Grundbegriffen auf der Doppelseite 50/51 abgedruckt. Durch die fotolithographische Gegenüberstel lung der beiden Bilder gewinnen die Stilbegriffe Renaissance u n d Barock eine unmit telbare Evidenz. Das Original von Veläzquez hängt in W i e n , das von Bronzino in Florenz. Hät te Carl Friedrich von R u m o h r , ein Ahnhe r r unseres Fachs im frühen 19. J a h r h u n ­dert , eine St i lbest immung der beiden Bilder v o r n e h m e n sol­len, wären i hm die Bildeindrücke während der tagelangen Fahrt mit der Postkutsche über die Alpen aus der E r inne rung geschüttelt worden . So beschränkte sich von R u m o h r denn auch auf Italienische Forschungen, u m den Originalbestand der damals z u m großen Teil noch unpublizier ten Kunstwerke begutachten zu können — auf Reisen, die ohne Fotoapparat u n d ohne Eisenbahn zu bewältigen waren.

Wölfflin standen bereits Fotografie u n d Eisenbahn zur Ver­fugung. Dieser Fortschritt bereitete e inem enzyklopädischen Zugriff auf das Bildreservoir der Kunstgeschichte den Weg. Die Fotografien der Kunstwerke zwischen W i e n u n d Florenz, Sankt Petersburg u n d Amsterdam konnte Wölfflin auf seinem Schreibtisch auslegen, als er die Kunstgeschichtlichen Grundbe­griffe komponier te . Als einer der ersten Kunsthistoriker war er in der Lage, die neue Reprodukt ions technik fotografisch illu­strierter Bücher nicht nu r anzuwenden, sondern auch virtuos umzusetzen in Layouts, von denen die Kunstbuchverlage heute noch lernen könnten . Als Buchkünst ler hat Wölfflin sein gestalterisches Talent bewiesen.

Mi t der Fotografie war Kunst der Kunstgeschichte verfüg­bar geworden in e inem M a ß , wie es der reproduzierende

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Kupferstich nicht vermocht hatte. Erst die Fotografie e r m ö g ­lichte es, einer Rep roduk t ion stilistische Merkmale >objektiv< zu en tnehmen; bei der Druckgrafik war die Wiedergabe eines Kunstwerkes i m m e r auch v o m Kunstwollen des Stechers b e ­einflußt. O b linear oder malerisch, ob aus Stein, in Ölfarbe oder al fresco: Mi t der gleichen, grauen Neutral i tät überzog das fotografische Abbild alle Stilformen u n d Gat tungen. Daß die Stile »ausdruckslos« seien, fiel erst auf, als die Kuns tge­schichte als schwarz-weißes Fotopanorama verfugbar war. Seither wird das imaginäre M u s e u m der Kunstgeschichte im täglichen Unter r ich t überliefert mit Hilfe der Doppelprojek­tion von Diapositiven im verdunkelten Vortragsraum. Auch darin ist Wölfflin Pionier gewesen.

Panofsky, transzendental

Wölfflin hat seine Stiltheorie zwar in die N ä h e der transzen­dentalen Erkenntnis theorie gerückt, doch der Respekt vor d e m großen Immanue l Kant verbot es ihm, seine Grundbegriffe direkt mi t der Kritik der reinen Vernunft zu vergleichen. So w i e ­gelt er denn seinen kunstwissenschaftlichen Anspruch vor möglichen fachphilosophischen Einwänden ab: M a n könne die Grundbegriffe »Kategorien der Anschauung nennen , ohne Gefahr der Verwechslung mit den Kantschen Kategorien. Obgleich sie offenbar eine gleichlautende Tendenz haben, sind sie doch nicht aus e inem Prinzip abgeleitet. (Für eine Kantsche Denkar t m ü ß t e n sie als bloß >aufgerafft< erschei­nen . )« 5 8 Dami t war der Geschichte die Bescheidung auf U r ­teile a posteriori zugewiesen.

N u n gibt es v o m frühen Panofsky den schon erwähnten , ehrgeizigen Versuch, Kunstgeschichte in den synthetischen Urtei len a priori zu verankern. Panofsky u n t e r n a h m dies im R a h m e n seiner Krit ik am Begriff des Kuns twol lens . 5 9 Wölff­lin u n d Pdegl wirft er vor, das Kunstwollen von der Einfüh­lungspsychologie herzuleiten; eine solche Stilanalyse sei »dem circulus vitiosus verfallen, das Kunstwerk auf G r u n d von Erkenntnissen zu interpretieren, die wir selbst erst einer Interpretation des Kunstwerks verdanken«. 6 0 Das Kuns twol ­len aber könne nu r Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein, »wenn es nicht als psychologische Wi rk l i chke i t , sondern als metaempirischer Gegenstand betrachtet werde — als etwas, das als >immanenter Sinn< im künstlerischen P h ä n o m e n >liegt<«.61 Grundbegriffe, die diesen N a m e n verdienen, m ü s ­sen also außerhalb psychologischer Erfahrung verankert sein.

58 Wölfflin (zit. Anm. 7), S. 242. 59 Siehe Erwin Panofsky: Uber

das Verhältnis von Kunstgeschichte und Kunsttheorie (zit. Anm. 1). Schon fünf Jahre zuvor n immt Panofsky die Diskussion auf in: Der Begriff des Kunstwol lens , in: Zeitschrift für Ästhet ik u n d Allgemeine Kuns t ­wissenschaft, XIV, 1920, S. 321-339.

60 Panofsky (zit. Anm. 1), S. 49. 61 Panofsky (zit. Anm. 1), S. 49.

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62 Panofsky (zit. A n m . 1), S. 58. 63 Panofsky (zit. A n m . 1), S. 65. 64 Panofsky (zit. A n m . 1), S. 66.

Es geht u m nichts geringeres, als u m das a priori von G e ­schichte, von Kunst u n d deren Erkenntnis wert . Panofsky schlägt vor, die fünf Grundbegriffspaare Wölfflins durch ein einziges zu ersetzen: »Fülle« u n d »Form«. Sie definieren das polare Urp rob lem der Kunst . Mi t Kant gesprochen, bezeich­nen Fülle u n d Form, auf ontologischer Ebene , was Zei t u n d R a u m auf erkenntnistheoretischer Ebene sind: reine Fo rmen der Anschauung. Aus diesem apriorischen Urp rob l em leiten sich a posteriori die »Charakterisierungsbegriffe« ab, die d e m entsprechen, was Wölfflin »Grundbegriffe« nennt . Panofsky reduziert sie auf drei Gegensätze: optische gegen haptische Wer te ; Tiefenwerte gegen Flächenwerte; Wer te des Inein­ander gegen Wer te des Nebeneinander . Was sich im Verhält­nis von Fülle u n d F o r m als Urp rob l em stellt, das erscheint in den konkreten Werken , nach Stilen charakterisierbar, ge ­löst. Fülle u n d F o r m bezeichnen somit die transzendentale Problemstel lung a priori , während die Charakter is ierungsbe­griffe a posteriori aus der Beschaffenheit der Werke ablesbar sind.

Von dieser Zwei te i lung leitet Panofsky z u m einen eine Kunst theor ie ab, deren Erkenntnisse »vor u n d über aller Er ­fahrung gültig« s ind , 6 2 sowie darüber hinaus eine Kunstge­schichte, welche die empirische Vielfalt vergangener Tat ­sachen u n d Fo rmen bearbeitet. In ihrer Wechselwirkung w ü r d e n Kunst theorie u n d Kunstgeschichte aufhören, »reine Dingwissenschaft zu sein« 6 3 u n d von der Erkenntnis stilisti­scher Symptome zur Erkenntnis des stilistischen Wesens vor­dringen, das erst eigentlich als >Kunstwollen< zu bezeichnen sei. Dami t spann^ Panofsky den Bogen wieder zur Ikonologie: »Ist n u n in diesem Kunstwollen der >immanente Sinn< der gegebenen Erscheinung erfaßt, so steht nichts meh r im Wege , diesen in den bildkünstlerischen P h ä n o m e n e n sich b e k u n ­denden >Sinn< mit d e m >Sinn< musikalischer, dichterischer, u n d endlich auch außerkünstlerischer P h ä n o m e n e in Parallele zu setzen.« Panofsky schließt mit der Forderung einer allge­meinen , vergleichenden Geisteswissenschaft, die den N a c h ­weis liefert, »daß innerhalb einer bes t immten >Kultur< [...] alle geistigen Probleme — gegebenenfalls also mi t Einschluß der künstlerischen — >in ein u n d demselben Sinne< gelöst seien.« 6 4

Panofsky plädiert für ein Ziel, das mi t Wölfflins Formalismus nicht vereinbar ist: eine vergleichende Ikonologie der Form, die in eine Kunstgeschichte als Mentali tätengeschichte m ü n ­den könnte .

Panofskys Vorschlag ist in einiger Hinsicht theoretisch überspannt . Die T r e n n u n g in Kunstwissenschaft u n d Kuns t -

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geschichte wäre kein wünschenswer ter W e g für das Fach: Methodologisch strikt durchgeführt , zement ier te sie einen Zustand, der ohneh in schon besteht; ob die R e i h e n der Fak-tenhuber u n d die R e i h e n der Schwadroneure füreinander offener würden , w e n n sie transzendental begründet sind, ist fraglich. Fraglich ist auch die Möglichkeit einer t ranszenden­tal begründbaren Geschichte. Sind >Fülle< u n d >Form< wi rk ­lich, entsprechend von Zei t u n d R a u m , reine F o r m e n der Anschauung? O d e r bildet das Wortpaar nicht ganz schlicht >Charakterisierungsbegriffe<, die in ihrer lautmalerischen Al ­literation nur etwas schlagkräftiger wirken, als j ene von Wölfflin? Fülle u n d F o r m beziehen sich auf die D imens ionen von Zei t u n d R a u m nur metaphorisch; Panofsky hat ihre suggestiven Bedeutungsfelder aposteriorisch überblendet auf die reinen Fo rmen der Anschauung. D e n n o c h könn ten sie sich in ihrer abstrakten Gedrungenhe i t als nützlich erweisen: Etwas m o d e r n e r ausgedrückt, wären sie mi t d e m informati­onstheoretischen Begriffspaar von >Redundanz< u n d I n f o r ­m a t i o n parallel zu setzen. De r Fülle entspräche die R e d u n ­danz, der rauschende Übe r f l uß an Zeichen, die den Kern der Information, die definite F o r m einer Nachricht , trägt u n d begleitet.

Die apriorische Begründung historischer Urtei le k o m m t d e m Versuch gleich, Geschichte in unserem Kopf zu veran­kern. Dami t kehrte , in welcher Gestalt auch immer , der Hegeische Weltgeist zurück. Die transzendentale Beg ründung der Geschichte liegt allenfalls im Bewußtsein Gottes, von des­sen Existenz uns w i e d e r u m ein schlüssiger Beweis fehlt. W i e man es dreht u n d wende t - Historik m u ß sich damit abfin­den, daß der Lauf der Geschichte nicht berechenbar u n d nicht vorhersehbar ist.

Interessant ist Panofskys Vorschlag aber im zeitlichen K o n ­text. Er hält fest an der Kantschen Zwei te i lung in eine apr io­rische u n d eine aposteriorische Erkenntnis , während der modische Zeitgeist das Gegenteil anstrebte. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder ts wurde Kants vornehmes Ignora-bimus — die Welt an sich sei nicht erkennbar — von zwei Sei­ten aufgekündigt: Einerseits von e inem radikalen Neukan t i a ­nismus, der die Welt an sich überhaupt leugnete; andererseits von der Lebensphilosophie in der Nachfolge Schopenhauers, welche die Welt an sich mi t d e m Weltwillen gleichsetzte. In der unheil igen Allianz von Solipsismus (die Welt ist alles, was ich mir vorstelle) u n d Vitalismus (die Welt ist alles, was der Wil le in mir will), war das Transzendentalproblem der E r ­kenntnis weniger gelöst als schlicht aufgerieben.

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Riegl, vitalistisch

Sei es, daß die Welt als Halluzinogen der Bewußtse insmonade Ich direkt in die Nervenbahnen gespritzt war; sei es, daß ein rauschendes, kosmisches Über -Es durch uns tönen sollte - zu den erkenntnistheoretischen Radika lkuren ging Panofsky im Sinne intellektueller Skepsis auf Distanz. Aber j ene , buchstäb­lich en vogue, durchfluteten die ästhetische Mentali tät der Jahrhunder twende . Die Künstler sahen die schöpferische Arbeit als Tr ieb , der von der Energie des Allebens gespeist war. »Das Leben!« — es wurde wie »das Schaffen« zu e inem Modewor t . Für H e n r i Bergson verschmelzen beide B e d e u ­tungen im »elan vital«, einer schöpferischen Kraft, an der jedes Lebewesen, aber auch die bewegte Mater ie teilhat. D e r elan vital ents t römt der »duree«, der Welt als Zeit , als in ih rem Wesen unräumliche, dynamisch schwingende Dauer. R a u m u n d Mater ie entstehen darin als P rodukte des erstarrten Ze i t -u n d Lebensschwungs. Bergsons Revolution creatrice von 1907 ist ein Hauptwerk der Lebensphilosophie. Hat te sich das 19. Jahrhunder t aufgespalten in eine idealistische erste u n d eine materialistische zweite Hälfte, versuchte die Lebensphi­losophie u m 1900, deren Widerspruch aufzuheben. >Geist< u n d >Natur<, die beherrschenden Fundamentalbegriffe des 9. Jahrhunder ts , vereinigen sich im neuen Fundamenta lbe­griff >Leben<. Die Klassische M o d e r n e zeigt die monistische Tendenz , alle Erscheinungen auf ein Prinzip zurückzuführen. D e m widerspricht ein D e n k e n in Fundamentalgegensätzen nicht, sondern ist dessen konsequente Folge. D e r m o d e r n e Mon i smus bei gleichzeitig dualistischen Vorstellungen ist die Alternative zur idealistischen Dialektik im Sinne Hegels: Diese entwickelte sich von der These über die Anti these zur Synthese als ein D e n k e n in sukzessiven Fortschrit ten. E i n e m D e n k e n in Gleichzeitigkeiten hingegen entspricht der klas­s isch-moderne Monismus : Die Anti these ist in der These enthalten als synthetische Spannung. So ist im m o d e r n e n Spi­ritualismus der Geist das vorherrschende Prinzip; die Mater ie entwickelt sich daraus als dessen Gegensatz. Mater ie ist erkal­teter, erstarrter Geist. Dami t wird die transzendentale Bastion geschliffen, die Kant zwischen Ich u n d Welt gebaut hat: Zei t u n d R a u m als reine Fo rmen der Ansschauung. Bergson ver­flüssigt die beiden statischen Eckpfeiler der Erkenntnis , i ndem er den R a u m in der Zei t auflöst. R a u m ist materiali­sierte Zeit . Ich erkenne das D u u n d die Welt , weil wir aus demselben Stoff sind: Die schwingende duree in mir findet sich in den Dingen außerhalb von mir wieder.

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Der mode rne Spiritualismus lebte in vielen Varianten der Na tur - u n d Geisteswissenschaften bis h in zur Theosophie . Daß der Kosmos nichts anderes sei als körperlose Energie, bestätigten die En tdeckungen der Elektrizität u n d der K e r n ­physik. Rutherfords Atommodel l von 1911 war Phi losophen, Spiritisten, Künst lern der naturwissenschaftliche Beweis, daß die Welt Geist sei, daß es daher nicht länger da rum ging, den erkalteten Schein gegenständlicher Mater ie zu beschreiben, sondern die unsichtbaren, heißen Kraftströme, die diesen Schein erzeugten. De r philosophische Mechanismus wurde vom Vitalismus abgelöst wie die Dampfmaschine von der Elektrizität. Die Beschleunigung, die Geschmeidigkeit der neuen Technologie brachte eine neue Geisteshaltung hervor, dem Stromstoß ähnlich. Entsprach d e m mechanisch gesinnten Positivismus die Welt als Maschine, deren Zahnräder starr, wie Ursache u n d Wi rkung , ineinandergreifen, so entsprach dem Vitalismus die Welt als elektrisches Feld.

Die Elektrifizierung der Mentali tät erfolgte in denselben Gelehr tengehirnen: Aus Zet te lkastenhütern w u r d e n Lebens­philosophen, aus Statistikern Weltformelerfmder. Das viel­leicht prominentes te Beispiel ist S igmund Freud. Aus d e m Nervenarzt wurde der Stifter der psychoanalytischen Wel tbe ­wegung. N a c h d e m er den materiellen W e g ausgeschöpft hatte im vergleichenden Schnetzeln von Fischgehirnen, fand er die Lösung im Mythos des Ödipus . Dieselbe Kehre ist auch in Soziologie u n d Philosophie festzustellen. Georg Simmel, in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunder ts ein fleißiger Beobachter von Sozialstatistiken, verwandelte sich in den Denker feuilletonistisch vorgetragener Grundgesetze. N ich t die Schwere der Fakten, sondern die Leichtigkeit der Phi loso­phie bes t immte den intellektuellen Ton: Die Philosophie des Geldes, Die Philosophie der Geschlechter, Die Philosophie der Ruine lauten Simmeis Aufsatzthemen der Jahrhunder twende . D e r Mechanismus des 19. Jahrhunder ts war sich selber fad gewor­den. V o m Jagen u n d Sammeln, v o m Anhäufen der Tatsachen, d e m »Gewühl« der Dinge , u m es mi t Goethe zu sagen, drängte es die Forscher je tzt z u m »geheimen Gesetz«, z u m »lösenden Wort«.

Diese W e n d u n g ist im Werk Alois Pdegls als methodischer Grabenbruch ablesbar. Pdegl begann mi t d e m Stud ium der Philosophie u n d Geschichte, bevor er 1881 das damals neu eingerichtete Universitätsfach Kunstgeschichte belegte. Zwei Lehrer formten den Bi ldungshintergrund einer intellektuellen Doppelnatur : R o b e r t Z i m m e r m a n n , der Neukant ianer u n d Vertreter einer formalistischen Erkenntnis theorie , u n d M a x

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65 W i e n 1901. Zit. nach: Alois Riegl , Spätrömische Kunst indust r ie (Reprint) , Darmstadt 1973.

66 Benede t to Croce : Filosofia come scienza dello Spirito, 4 Bde., 1902-17 .

Büdinger, ein Universalhistoriker, der die Menschhei tsge­schichte im Sinne Hegels als umfassendes u n d sich selber er­füllendes System auffaßte. Seit 1886 war Riegl am Öster re i ­chischen M u s e u m für Kunst u n d Industrie tätig. 1897 wurde er als Professor für Kunstgeschichte an die Universität W i e n berufen. Die Verbindung von musealem Sammeln u n d u n i ­versitärer Lehre bildet auf beruflicher Ebene ab, was Pdegl methodisch versuchte: die Spannung zwischen Kennerschaft im Einzelnen u n d Theor ie im großen Ganzen auszuhalten. Pdegl verband das Erbe Kants u n d Hegels in einer Zeit , da sich deren Epigonen noch erbittert bekämpften.

Ursprünglich zweibändig geplant war sein Hauptwerk Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn, I. Teil.65 Das beschriebene Sammelgut umfaßt kuns tgewerb­liche Gegenstände des Mit te lmeerraums aus der Zei t zwi­schen d e m 4. u n d d e m 8. Jahrhunder t , von der Epoche Kaiser Konstantins bis z u m Regierungsantr i t t Karls des Großen . D e r geplante zweite Band sollte die materielle Kultur Germaniens behandeln. De r Aufbau des Katalogs war noch getragen von j ener positivistischen Gründlichkeit u n d e inem D e n k e n in Schubladen rassisch-nationaler Fundraster. Pdegls Botschaft bleibt darin ein pseudomorpher Kristall: Eingeschlossen im Sammlungsgeschiebe stößt sich die reine Lehre des Kuns twol ­lens an den repräsentativen Bedingungen eines k. u. k. M u ­seumskatalogs. So läßt sich die Spätrömische Kunstindustrie auf zwei Ebenen lesen; sie ist Kunstgeschichte als kennerschaft­liche Lehre v o m Erfassen, Beschreiben u n d Beurtei len des Einzelwerks u n d zugleich Kunstgeschichte als Lehre v o m Sinn historischen Wandels .

M i t seiner methodischen Zweite i lung in eine Geschichte des Kunstwollens u n d eine Realgeschichte der Dinge hat Pdegl eigentlich erfüllt, was Panofsky in seinem Aufsatz Kunsttheorie und Kunstgeschichte skizziert hat. Die Aufspaltung in Idee u n d Fak tum ist für die Zei t u m 1900 symptomatisch. Verbreitung fand sie etwa in Italien mi t der Kul tur theor ie Benedet to Croces. Sein vierbändiges O p u s m a g n u m teilt die Wel t in eine ideelle Sphäre der Ästhetik u n d der Logik sowie in eine praktische Sphäre der Ö k o n o m i e u n d der E t h i k . 6 6 D ie Geschichte der Ideen u n d die Geschichte der Praxis verlaufen parallel nebeneinander in prästabiler Ha rmon ie . W i e d e r u m zeigt sich darin der H a n g der Klassischen M o d e r n e , den dia­lektischen Dreischrit t in einen Dualismus der Spannung zu überfuhren. D e r Croce-Schüler R o b e r t o Longhi hat das Denkmode l l umgesetzt in seiner Breve ma veridica storia della pittura italiana von 1914. Kurz u n d bünd ig gliedert sich der

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Text in »Idee« u n d »Storia«. Das erste Kapitel beschreibt die Formgesetze des ewiggültigen Kunstwollens, das zweite die Geschichte der italienischen Kunst, in der sich die allgemei­nen Ideen >in Koinzidenz< bestätigt finden. Als konsequenter Spiritualist entschuldigt sich Longhi dafür, daß er die Wel t der Kunstideen ausgerechnet an der italienischen Malerei vor­führt: Er tat es in Erfüllung des Lehrplans an den römischen Gymnasien Tasso u n d Visconti, w o der damals 24jährige Kunstgeschichte unterr ichtete u n d w o der Text als hand­schriftliche >promemoria< unter den Schülern zirkulierte. »Non bisogna insomma che lo spirito si lasci prender la mano dalla geografia o dalla topografia. L'unico a priori e la storia dell'arte; >italiana< h u n a poster iori .« 6 7 Panofskys E n t w u r f einer transzendentalen Kunstgeschichte von 1925 findet sich in der »kurzen, aber wahren Geschichte« vorgeprägt. D e r i ro ­nische Falsetton, den Longhi in diesem Text ad u s u m del-phini meisterhaft durchhält , überspielt lässig den Anspruch, daß hier ganz ernst u n d wahrhaftig die Stilgesetze der Kunst vor aller Erfahrung ausgesagt waren. Longhi , der sich damals als Futurist verstand u n d im Voce-Kreis verkehrte, war nicht angesteckt vom nationalen Chauvinismus der Stunde; die Relat ivierung des italienischen Erbes hebt sich woh l tuend ab von der Kriegsposaune Tommaso Marinet t i , d e m theoret i ­schen C h e f einer faschistischen M o d e r n e . Es fragt sich, wie die Schüler u n d Kollegen diesen >heimatlosen< Kunstbegriff aufnahmen. Vielleicht war es - wie Longhi in seinem Schluß­satz feststellt — schlicht zu heiß an j e n e m letzten Schultag im Juli , als das Manuskr ip t den Schülern zur Vorberei tung ihres Examens überlassen wurde . N o c h dauerte es ein paar Mona te , bis die Eisenbahnen die Jugend an die Front karrten. Warnkes Feststellung, daß Wölfflins reine Formgeschichte der Kunst als Unabhängigkeitserklärung gegenüber der aktuellen Politik zu lesen sei, wäre auch für Longhi einzufordern. »[...] il fatto puö avere radice etniche: l'arte n o . « 6 8 M i t diesem Satz ist d e m Führer gegeben, was des Führers ist: Die Macht , Tatsachen zu schaffen. Longhi folgte d e m Marschbefehl der Genera lmobi l ­machung. Wölfflin war dazu schon zu alt.

Longhi diente als Soldat in den Bergamasker Alpen, als Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe 1915 in M ü n c h e n erschien. Durch das Buch, das nach d e m Krieg in Italien die R u n d e machte, konnte sich der kunstgeschichtliche Debü tan t bestätigt finden von Seiten des gestandenen deutschen Kolle­gen. Er hätte, so schrieb Longhi , Wölfflins Kunstgeschichte ohne Namen< nur noch hinzuzufügen: »senza date«. 6 9 Longhi selbst hat es nicht für wer t befunden, sein frühes Traktat in

67 R o b e r t o Longhi: Breve ma veridica storia della pittura italiana, con una introduzione di Cesare Garboli (1988), Mailand 1994, S. 103. Deu t ­sche Ausgabe: Kurze, aber wahre Ge­schichte der i talienischen Malerei , übers, v. He inz -Georg Held , Köln 1996, S. 234: »Es ist d e m n a c h völlig überflüssig, sich i m Geist v o n G e o ­graphie oder Topograph ie leiten zu lassen. Das Apriori ist die Geschichte der Kunst; >italienisch< ist eine nach ­trägliche Beifügung.« In einer Weise, die meine B e m ü h u n ­gen bestätigt, vergleicht Cesare Garboli in seinem Vorwort die kunstgeschicht­liche Methode Longhis mit der zeitge­nössischen Kunst.

68 Longhi 1994 (zit. Anm. 67), S. 104. Deutsche Ausgabe, S. 234: »Diese [= die dargestellten D i n g e u n d Ereignisse] m ö g e n in e i n e m b e ­s t immten Volk verwurzel t sein; die Kuns t ist es nicht.«

69 Zit. nach: Garboli in: Longhi 1994 (zit. A n m . 67), S. X X X I X . Vgl. die deutsche Ausgabe, S. 35.

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Goldschmiedea rbe i t en m i t Grana t ­einlagen, Buchse i te aus A. Riegls

Spätröm ischer Ku nstind us trie

TAFELI

G O L D S C H M I E D E Ali B E1TE N MIT G liAN ATE IN LA GEN

N r . I , 6, 8 M u s e u m Spalato — Nr. 2, 5 Kunsthist . M u s e u m W i e n — Nr. 3 österr. M u s e u r o W i e n — Nr. -\, 7 M u s e u m K l a u s c n b u r g — Nr. 9 Nationalimiseuin Budapest

die Ausgabe seines Gesamtwerks aufzunehmen. Tatsächlich wurde seine Breve ma veridica storia erst pos thum, 1988, veröf­fentlicht. D o c h das D a t u m der Niederschrift bezeugt, daß Gedanken einen Fahrplan haben, der weniger von der direk­ten gegenseitigen Beeinflussung, als v o m gemeinsamen U n t e r g r u n d der Mental i tät gesteuert wird. D e r Hegelianer Croce hatte seinen Schüler Longhi 1911 auf Adolf von Hi lde ­brands Problem der Form aufmerksam gemacht, das Buch des M ü n c h n e r Bildhauers u n d Künstlerfreundes von Wölfflin. So schließt sich der Kreis.

Auf demselben U n t e r g r u n d steht auch Riegls Spätrömische Kunstindustrie von 1901. Ausgehend von Hildebrands U n t e r ­scheidung zwischen der greifbaren »Daseinsform« u n d der

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sichtbaren »Wirkungsform« beschreibt Riegl die Kuns tge­schichte als eine Ideenwelt formaler Gesetze, nach denen die Kunstgegenstände — jenes Sammelgut musealen Geschiebes, abgelagert v o m positivistischen Bienenfleiß — durchgekämmt werden i m Richtungss inn der Lebensphilosophie. Im Gewüh l der Einzeldinge offenbart sich so das Gesetz des Kuns twol ­lens. Im Gegensatz zu Wölfflin u n d Longhi erkennt Riegl im Kunstwollen einen Ausdruck für geistesgeschichtliche Sach­verhalte. »Der Charakter dieses Wollens ist beschlossen in demjenigen, was wir die jeweilige Weltanschauung [...] n e n ­nen: in Rel igion, Philosophie, Wissenschaft, auch Staat u n d Recht [...] Zwischen d e m Wollen nun , das daraufger ichte t ist, d e m Menschen die Dinge mittels der bi ldenden Kunst möglichst wohlgefällig vor Augen zu stellen, u n d j e n e m andern, sie seinem Begehren möglichst entsprechend auszu­deuten, herrscht offenbar ein innerer Zusammenhang .« 7 0 In der Auffassung einer kulturgeschichtlichen Lesbarkeit der Form k o m m t Pdegl mi t Croce überein, dessen Ästhetik zur selben Zei t erschien u n d der den strengen Formalismus seines Schülers Longhi nicht billigen konnte .

Zwar geht es auch Pdegl u m das rein Künstlerische: die Kunst als »Umriß und Farbe in Ebene oder R a u m « . 7 1 Aber in der Geschichtskonzeption macht sich noch die Hegeische Sinngebung bemerkbar. D e r Gang des Kunstwollens in der Antike durchläuft drei Phasen, ansetzend bei den Ägyptern, in deren wucht igen Denkmäle rn ein »taktisch-nahsichtiges« Kunstwollen wirkt . Die Menschhei t tastet gleichsam noch blind durch die engen Grabkammern der Pyramiden. Im griechischen Säulenhaus weitet sich der Hor izon t z u m »tak­tisch-optischen« Ausdruck. Der tastbare Körper bleibt aber das M a ß antiker Darstellung. Die dichten Menschenknäuel auf den Sarkophagen vermeiden die Leerstelle, die den Blick in die Ferne abgleiten ließe. M e on ouk estin, Nichtseiendes

Penthesi leasarkophag, R o m , Vat ikanische M u s e e n , u n d M a r m o r s a r k o p h a g aus d e m M a u s o ­l e u m der Galla Placidia, R a v e n n a ; Fig. 22 u n d 38 in A. Paegls Spätröm ischer Ku nstindustrie

70 Riegl (zit. Anm. 65), S. 4 0 1 . 71 Riegl (zit. Anm. 65), S. 6.

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Por t rä tbüs te des Lucius Aurel ius C o m m o d u s ,

R o m , Konservatorenpalas t , u n d M a r m o r k o p f des Kaisers Dec ius , R o m , Kapitol inisches M u s e u m ;

Fig. 18 u n d 19 in A. Riegls Spätrömischer Kunstindustrie

72 Riegl (zit. A n m . 65), S. 50. 73 Riegl (zit. Anm. 65), S. 212.

ist nicht, sagt Parmenides. Die Welt ist gebaut aus stofflich undurchdr ingl ichen Elementen , die nach D e m o k r i t a tomoi sind, unteilbar. N o c h die Spätantike ist an das Prinzip des Tastbaren gebunden. In ihrer »taktisch-fernsichtigen« Aus­drucksweise leugnet sie aber das antike Leibesideal. Das Kör ­perhafte erscheint flachgedrückt in abstrahierenden Mosaiken u n d symbolischen Reliefs. Die Fenster, die an spätantiken Hei l ig tümern angebracht werden, durchbrechen die Kunst als Tastfläche u n d stellen eine erste Beziehung her zwischen Innenraum u n d Außenwel t . Die Lichtöffnungen in den K u p ­peln des Pantheons u n d des Tempels der Minerva Medica in R o m lockten »den Blick aus der stofflichen Hülle hinaus in den unendl ichen R a u m « . 7 2 Dieselbe Sehnsucht sieht Pdegl in der bi ldenden Kunst am Werk: »Gewahrt m a n die mächtig aufgerissenen Augen der spätrömischen Figuren, so wird man sofort inne, daß dieselben an der Figur geradezu die H a u p t ­sache bilden sollen, wie die Seele, als deren Spiegel ja das Auge fungiert, der materiellen Körperlichkeit des Menschen gegenüber nach spätheidnisch-christlicher Auffassung die Hauptsache ausmacht .« 7 3 Die durchfensterten Tempel , die großen Augen spätantiker Bildnisse r ichten sich auf eine >Zukunftskunst<, in der die Fernsicht entdeckt werden sollte. Die Ü b e r w i n d u n g der taktischen Körperkunst u n d der Durchbruch zur rein optischen R a u m k u n s t werden sich im Abendland erfüllen.

Pdegls Kunstwollen bewegt sich auf den ausgetretenen Spuren eines idealistischen Ziels. N o c h hat es nicht die n e u ­trale >Ausdruckslosigkeit< gewonnen , die Wölfflin u n d Longhi ein Jahrzehnt später einfordern. Sein Geschichtsmodell steht zwischen Hegels selbstbewußtem Weltgeist u n d d e m blinden Tr ieb der Stilgeschichte. Walter Benjamin hat der Spätrömi-

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sehen Kunstindustrie eine R e ­zension gewidmet . 1927 reiht er es un ter die »Bücher, die lebendig geblieben sind.« 7 4

Hervorgehoben werden die Parallelen zwischen Pdegls Kunsthistorik u n d der ak tu­ellen Kunst: »Dieses e p o ­chenmachende Werk t rug das Stilgefühl u n d die Einsichten des zwanzig Jahre späteren

Expressionismus mit prophetischer Sicherheit an die D e n k ­mäler der späteren Kaiserzeit heran .« 7 5 Im Zeitjargon Benja­mins war expressionistisch, was gegen die realistischen N o r ­m e n verstieß. P i e g l hat die Spätantike mit den Augen der Avantgarde betrachtet. Seine Spätrömische Kunstindustrie sei »einer der schlagenden Beweise dafür, daß j ede große wissen­schaftliche En tdeckung ganz von selbst, auch ohne es zu prä­tendieren, eine Revolu t ion des Verfahrens bedeutet . In der Tat hat in den letzten Jahrzehnten kein kunstwissenschaftli­ches Buch sachlich u n d methodisch gleich fruchtbar ge ­wirk t .« 7 6 Benjamins Begeisterung für Pdegls Spätrömische Kunstindustrie ist nicht zufällig. Auch er hatte vor, eine Indu­striegeschichte zu schreiben: eine über das kaiserliche 19. Jahrhunder t im Geist des surrealistischen 20. Auch er sam­melte eine Unzahl von Einzeldingen, Fragmenten, Objets trouves aus der Vergangenheit . Sie sollten — wie Eisenspäne die unsichtbare Kraft eines Magnetfelds — als historisches Geschiebe die innere Drift der Geschichte durchsichtig machen. Benjamin hat in Pdegls Spätrömischer Kunstindustrie den Vorläufer seines unvollendbaren Passagenwerks gesehen.

Diptychontafe l (Elfenbein), Staatliche M u s e e n , Berl in , u n d Kopt i scher Grabs te in (Kalk), W i e n , S a m m l u n g Figdor; Fig. 56 u n d 57 in A. Pdegls Spätröm ischer Ku nstindustrie

74 Walter Benjamin: Gesammel­te Schriften, hg. v. Hella T iedemann-Bartels, Bd. III, Frankfurt a. M . 1972, S. 169-171.

75 Ebenda. 76 Benjamin (zit. Anm. 74). Z u

Pdegls Kunstgeschichte siehe Thomas Zaunschi rn : Systeme der Kuns t ­geschichte, W i e n 1975; Will ibald Sauerländer: Alois Riegl und die Ent ­deckung der a u t o n o m e n Kuns tge ­schichte am Fin de Siecle, in: Roger Bauer (Hg.): Fin de Siecle, Z u Literatur und Kunst der J a h r h u n d e r t w e n d e , Frankfurt a. M . 1977, S. 125-139.

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GoWschna it Granaten

' Italienern darin Recht zu geben. Eine Entscheidung hierüber kann nur im Zusammenhange mit der Erörterung der ganzen »Barbarenfrage •< gefallt werden und muß daher dem zweiten Teile

dieses Werkes vorbehalten bleiben. Aber zwei Punkte daraus dürfen, ja müssen schon an dieser Stelle vorweg­genommen werden, weil sie zur Klärung der uns im vorliegenden ersten Teile gestellten Aufgabe — des Nachweises des engsten Zu­sammenhanges der Granateneinlage in Gold mit dem Kunstwollen der Mittelmeervölker in der spätrömi­schen Periode — ein Wesentliches beizutragen geeignet sind. Es handelt sich erstens um den Nachweis, daß

die Granateneinlage in Gold selbst noch in nachjustinianischer Zeit bei den Mittelmeervölkern in Gebrauch gestanden ist; zweitens um eine, wenn auch nur das Wesentlichste hervorhebende Cha­rakteristik der Unterschiede, welche die auf barbarischen Ursprung bezo­genen Denkmäler der Granatenein­lage in Gold gegenüber den von uns der spätrömischen Kunst revindizier­ten Denkmälern im Stile der Schnalle von Apahida aufzuweisen haben.

Den fortdauernden Gebrauch der Granateneinlage in Gold und zugleich die Fortdauer der führenden Stellung der Griechen im Kunstleben der ( Millelrneervölker beweisen für da; siebente Jahrhundert die bei Toledo gefundenen Votivkronen, die durch

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beigefügte Namen westgotischer Könige eine feste Datierung empfangen haben und infolgedessen, zusammen mit dem Grab­funde des Childerich, eine unverrückbare Grundlage für unsere Beurteilung der Entwicklung der Granateneinlage innerhalb der spätrömischen Kunstperiode bilden. Nun sind allerdings gerade diese Kronen seit jeher für schlagende Beweisstücke zugunsten des gotischen Ursprunges der ganzen Kunstgattung angesehen worden. W i r wollen hier nicht die Frage aufwerfen, wie die Goten auf ihren jahrhundertlan-gen Söldnermärschen und später als militärische Herren einer zahlreichen Untertanenbevölke­rung Zeit und Lust zum Gold­schmiedegewerbe gefunden ha­ben mochten, und auch nicht die ergänzende Frage daranschließen, wohin denn die kunstgewerb­lichen Ateliers der romanischen Untertanen geraten sein moch­ten. Schon allein die äußere Be­schaffenheit der Denkmäler lie­fert uns die Mittel an die Hand, um ihre Abhängigkeit von der mittelländisch-spätrömischen Kunst nachzuweisen, ob nun bei ihrer Herstellung Goten tätig gewesen sein mochten oder nicht.

Vor allem finden sich an der Krone des Swintila (in Madrid) noch immer beide Arten der Granateneinlage nebeneinander im Gebrauche: einerseits in Zellen mittels aufgelöteter Stege an den angehängten Buchstaben der Votivinschrift, anderseits in Gruben am Reif (Fig. 108) . Dieser weist in der Mitte einen breiten Streifen mit Granateneinlage auf, an den Rändern begleitet von je einer Reihe aufgesetzter mugliger Steine tn Kastenfassungen. Die mugligen Randsteine waren uns schon an der Schnalle von Apahida (Fig. 96) aufgefallen; aber dort waren sie noch ohne

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Goldschnal len u n d V o t i v k r o n e n - Pdegl beschreibt den Übergang von der Antike z u m M i t ­detail, Doppelse i te aus A. Riegls telalter als einen Abstraktionsprozeß, parallel zur Kuns ten t -Spätrömischer Kunstindustrie . -, , 0 1 1 • T - X 1 1 1 - 1 T-> 1

Wicklung u m 19U0. Schon beim Durchblat tern des Buches ist man er innert an den Almanach Der Blaue Reiter, der elf Jahre später erscheinen wird: In den vergleichenden Abbi ldungen fallen die Gattungsschranken. Freie u n d angewandte Kunst sind gleichgesetzt. Die Wellen des Kunstwollens durchströ­m e n Minia tur u n d M o n u m e n t , das Pantheon und die Gür te l ­schnalle. Die ikonographischen u n d his tor isch-brauchtüm­lichen Zusammenhänge der Gegenstände interessieren nicht. Altarretabel stehen neben Sarkophagen, Kapitelle neben Por­trätbüsten. Diese Bildstrategie verletzt bewuß t eine materiali­stische Ästhetik des Zwecks, wie sie Gottfried Semper vertrat. Das Kunstwollen wird aus d e m hylämorfen Korsett der Zweck-Mit te l -Rat ional i tä t befreit. War das Kunstwerk für Semper »Resultat eines bes t immten u n d zweckbewußten Kunstwollens«, 7 7 so kehrt Pdegl das Verhältnis u m : Die F u n k ­tion ist für ihn nicht Ziel, sondern nur der >Reibungskoeffizi-

77 Riegl (zit. Anm. 65), S. 9. ent< eines in sich zweckfreien Gestaltungstriebs.

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N o c h ist das Layout des Riegl-Buches nicht so perfekt durchkomponier t wie das der Grundbegriffe Wölfflins - Fo to ­grafien wechseln mit Umze ichnungen , durch die der Kuns t ­historiker sich mimetisch in das Kunstwollen einfühlt, d e m Formgeist aus der Geschichte gewissermaßen als M e d i u m die Hand leiht, u m als rückwärtsgewandter Entwerfer das Ents te ­hen vergangener Kunstformen zu wiederholen.

Die akademisch-klassizistische Sehgewohnhei t sah in der Spätantike eine Auflösungserscheinung: Mi t d e m Einbruch der Barbaren an den R ä n d e r n des Reiches zerfiel die antike Kunstfertigkeit. Riegl kehrt diese Sehweise u m , i n d e m er die Spätantike nicht an den R a n d zweier Hochkul tu ren , sondern als deren Wasserscheide ins Z e n t r u m stellt. So gesehen gibt es keine Zerfallzeiten; statt von Dekadenz , ist von Transforma­rion zu sprechen. Jede Epoche kann das, was sie können will und will das, was sie kann. Veränderungen im Formgefühl, wie der Z u g zur Abstraktion, liegen nicht im Unvermögen , sondern in e inem veränderten Ausdruckswillen. So will das Kunstwollen der Spätantike das bloß Abbildhafte, Illusionisti­sche, Körperhafte aufgeben zugunsten sinnbildhafter, flächi­ger Zeichen. Riegl m u ß noch gegen die konventionelle Vor­stellung seiner Zeitgenossen ankämpfen, die Kunst se»i N a c h ­ahmung der Natur . Er will die Einsicht fördern, »daß weder mit demjenigen, was wir Schönheit , noch mit demjenigen,

Statuen des g u t e n H i r t en , R o m , Lateran, u n d Kons tan t inope l , O t t o m a n i s c h e s M u s e u m ; Fig. 45 u n d 46 in A. Riegls Spätrömischer Kunstindustrie

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Adol f Hoelze l , Die Anbetung der Könige, 1912

was wir Lebendigkeit nennen , das Ziel der bi ldenden Kunst völlig erschöpft is t .« 7 8 Mi t denselben Argumenten m u ß t e die Avantgarde gegen die Vorurteile eines Banausenpubl ikums kämpfen, das fand, der m o d e r n e Künstler male abstrakt, weil er nicht meh r malen könne .

»Es wird n iemand bestreiten, daß der Zei t raum, dessen Kunst in diesem Bande ihre Bearbei tung gefunden hat, zu den bedeutsamsten zählt, welche die Weltgeschichte bisher zu verzeichnen gehabt hat. Völker, die ein Jahrtausend u n d län­ger die Füh rung in der allgemeinen Kul turbewegung der Menschhei t innegehabt hatten, schicken sich an, dieselbe aus den H ä n d e n zu legen; an ihre Seite drängen sich andere Völ ­ker, von denen m a n wenige Jahrhunder te früher k a u m die N a m e n gekannt ha t .« 7 9 Die Spätantike eröffnete ein neues Kapitel der Kunstgeschichte, vergleichbar d e m Übergang von Franz von Stuck zu Wassily Kandinsky. D e r Blaue Rei te r hat sich als Speerspitze einer Wel tbewegung eingeschätzt, wie es das Chr i s t en tum für die spätantike Menschhei t war. Der m o d e r n e Messianismus findet seine vorausdeutende P r o p h e -tie in der Rolle des N e u e n Testaments.

78 Riegl (zit. A n m . 65), S. 11. 79 Riegl (zit. Anm. 65), S. 2 1 . 80 Riegl (zit. A n m . 65), S. 3. 81 D e r Blaue Rei te r , hg. v.

Wassily Kandinsky/Franz Marc , d o ­kumentarische Neuausgabe v. Klaus Lankheit, München /Zür ich (7. Aufl.) 1989, S. 23 .

Der doppelte Boden der Moderne

Der Blaue Reiter, musikalisch

Pdegl war sich bewußt , daß der Kunsthistoriker »über die Eigenart des Kunstbegehrens seiner Zeitgenossen nicht wesentlich h inauskann.« 8 0 Gewiß ist im Kunstwollen auch das Gesetz der Trägheit wirksam, das sich äußert im Festhalten am ästhetisch G e w o h n t e n u n d Bewähr ten . M a n kann nur schaffen u n d wissen wollen i m R a h m e n dessen, was an G e ­schaffenem u n d G e w u ß t e m schon vorliegt. N u n gibt es aber Zei ten , w o das Wollen die Veränderung will. Da werden die D ä m m e der Gewohnhe i t eingerissen, bis zuletzt auch die Trägen im Geist d e m Z u g des N e u e n folgen. Für die intellek­tuelle Nachhu t wird das Kunstwollen dann z u m Müssen — oder wie Franz Marc es uns weissagt: »Man wird nicht wollen, aber m a n wird müssen.« 8 1

Die Künstlervereinigung >Der Blaue Re i t en verstand sich als Vorhut eines Kunstwollens, das nach grundstürzender E r n e u e r u n g drängte. Ihr Manifest war der gleichnamige Al -manach, dessen Erstauflage im Mai 1912 erschien. Felix

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Thür lemann hat bemerkt , daß dieses Künstlerbuch »in der Geschichte der Bildmanipulation« eine herausragende B e d e u ­tung habe, die bisher noch nicht voll erkannt worden se i . 8 2

Drucktechnisch gehör t Der Blaue Reiter in den Umkre i s der illustrierten Kunstzeitschriften, die u m die Jahrhunder twende dank der Fotoli thographie aufkamen. Das von Ira R u b e l 1900 entwickelte Offsetverfahren machte es möglich, Fotografien in hoher Auflage u n d guter Schwarzweiß-Quali tä t zu repro­duzieren. Franz Marc u n d Wassily Kandinsky verbanden als Herausgeber die technische Errungenschaft mit e inem aktuel­len künstlerischen Verfahren: d e m Montagepr inzip des syn­thetischen Kubismus, der im selben Jahr 1912 in Paris seinen Durchbruch erlebte. Der Blaue Reiter gehör t zu den Inkuna­beln der Druckmedien , die auf der technischen R e p r o d u k ­tion u n d der Bi ldmontage aufbauen. Das Layout vergleichen­der Fotografien wurde z u m Mittel , >Evidenz< herzustellen. Die Wahrhei t offenbarte sich d e m Auge unmit telbar in der Gegenüberstel lung von Ähnl ichem u n d Unähnl ichem. Was in Riegls Spätrömischer Kunstindustrie grafisch noch unausgereift angelegt ist, hat der Blaue Reiter künstlerisch perfekt durch­komponier t . Wölfflins Grundbegriffe hat ten die Bildstrategie der vergleichenden Montage als Bestandteil der kuns tge­schichtlichen Argumenta t ion eingeführt.

Die im kunsthistorischen Vortrag mi t Diapositiven üblich gewordene Parallelprojektion ist im Blauen Reiter prototypisch angelegt in e inem Aufsatz von Franz Marc mit d e m Titel >Zwei B i l d e n . 8 3 Auf einer Doppelseite sind die b iedermeier­liche Illustration einer Ausgabe von G r i m m s Märchen u n d die Komposi t ion Lyrisches von Kandinsky aus d e m Jahr 1910 einander gegenübergestellt. »Das erste ist echt u n d ganz in ­nerlich wie ein Volkslied u n d wurde von seiner Zei t mi t der vol lkommensten Selbstverständlichkeit u n d Liebe verstanden, da noch 1832 jeder Handwerksbursche u n d jeder Prinz das­selbe künstlerische Gefühl besaß, aus d e m heraus das Bild­chen geschaffen ist. [...] W i r me inen n u n aber, daß jeder, der das Innerliche u n d Künstlerische des alten Märchenbildes empfindet, vor Kandinskys Bild, das wir i hm als modernes Beispiel gegenüberstellen, fühlen wird, daß es von ganz gleich tiefer Innerlichkeit des künstlerischen Ausdrucks ist — « Diese tiefe Innerlichkeit, die sich im Bildvergleich wie von selbst verstehen soll, ist nichts anderes als der Puls des Kunstwollens. Die Tradi t ion des Akademismus hat sich davon entfernt; die Künstler gerieten — mit Heidegger gesprochen - in »Seinsver­gessenheit«. Im 19. Jahrhunder t erreichte die Ent f remdung v o m schöpferisch Ursprunghaften einen H ö h e p u n k t . Mi t der

82 Felix T h ü r l e m a n n : Famose Gegenklänge. Der Diskurs der A b ­bildungen im Almanach >Der Blaue Rei ten , in: Der Blaue Reiter, Aus­stellungskatalog, Kuns tmuseum Bern, hg. v. Christoph von Tavel, Bern 1987, S. 211-212 .

83 Der Blaue Reiter (zit. Anm. 81), S. 3 3 - 3 8 . Im Zeitalter der techni­schen Reproduk t ion wird Kunstge­schichte zum »anamorphic archive«. Siehe Donald Preziosi: Re th inking Art History, Meditations on a Coy Science, N e w Häven/London 1989, S. 54ff.

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Heute ist in Kunst und Religion diese lange Entwicklung durch­laufen. Aber noch liegt das weite Land voll Trümmer, voll alter Vorstellungen und Formen, die nicht weichen wollen, obwohl sie schon der Vergangenheit gehören. Die alten Ideen und Schöpfun­gen leben ein Scheinleben fort, und man steht ratlos vor der Her­kulesarbeit, wie man sie vertreiben und freie Bahn schaffen soll für das Neue, das schon wartet.

Die Wissenschaft arbeitet negativ, au detriment de la religion -welches schlimme Eingeständnis für die Geistesarbeit unserer Zeit.

Wohl fühlt man, daß eine neue Religion im Lande umgeht, die noch keinen Rufer hat, von niemand erkannt.

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Kandinsky

Religionen sterben langsam. Der Kunststil aber, der unveräußerliche Besitz der alten Zeit,

brach in der Mitte des 1 9 . Jahrhunderts katastrophal zusammen. Es gibt seitdem keinen Stil mehr; er geht, wie von einer Epidemie erfaßt, auf der ganzen Welt ein. Was es an ernster Kunst seitdem [9] gegeben hat, sind Werke einzelner1; mit »Stil« haben diese gar nichts zu tun, da sie in gar keinem Zusammenhang mit dem Stil und Bedürfnis der Masse stehen und eher ihrer Zeit zum Trotz entstanden sind. Es sind eigenwillige, feurige Zeichen einer neuen Zeit, die sich heute an allen Orten mehren. Dieses Buch soll ihr Brennpunkt werden, bis die Morgenröte kommt und mit ihrem natürlichen Lichte diesen Werken das gespenstige Ansehen nimmt,

' In Frankreich z. B. Cezanne und Gauguin bis Picasso, in Deutschland Marees

und Hodler bis Kandinsky; womit keine Wertung der genannten Künstler aus­

gedrückt sein will, sondern lediglich die Entwicklung der malerischen Ausdrucks-

form in Frankreich und Deutschland angedeutet wird.

Doppelse i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e iner Il lustration zu G r i m m s M ä r c h e n u n d K a n d i n s -kys G e m ä l d e Lyrisches (1911)

Salonmalerei erstarrte die Kunst in den konventionellen For­m e n des Gefälligen, im epigonalen Vir tuosentum. Diese hohle , erkaltete Meisterschaft sei, so Marc , zu zerschlagen, damit die Kunst wieder zurückkehre z u m einfachen, w a r m e n Ursp rung des Schaffens.

Auf der Seite 114 des Almanachs ist ein Holzrelief von Paul Gauguin abgebildet: Pape Moe/Geheimnisvolle Wasser. Eine Tahi-tianerin stützt sich auf eine Felswand, der eine Quel le en t ­springt, und trinkt. Das moderne Werk wird von einem antiken Pendant visuell erläutert: Die Abbi ldung auf der gegenüberl ie­genden rechten Seite zeigt eine Gorgo als Her r in der Tiere. So wie mi t Gauguins Figur eine archaische Waldgött in zurückkehrt , kehrt mi t der M o d e r n e eine Kunst zurück, die aus der unget rübten Quel le des Kunstwollens schöpft. Die Bewegung des Zurückkehrens ist im Layout selbst ablesbar. Das Alte wurde nicht einfach vor das N e u e mont ie r t in der Leserichtung von links nach rechts — d e m entspräche bloßes Fortschrit tsdenken. Das N e u e ist revolutio im buchstäblichen

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Die Masken von August Macke

Ein sonniger Tag, ein trüber Tag, ein Perserspeer, ein Weihgefäß, ein Heidenidol und ein Immortellenkranz, eine gotische Kirche und eine chinesische Dschunke, der Bug eines Piratenschiffes, das Wort Pirat und das Wort heilig, Dunkelheit, Nacht, Frühling, die Zimbeln und ihr Klang und das Schießen der Panzerschiffe, die ägyptische Sphinx und das Schönheitspflaster auf dem Bäckchen der Pariser Kokotte.

Das Lampenlicht bei Ibsen und Maeterlink, die Dorfstraßen- und Ruinenmalerei, die Mysterienspiele im Mittelalter und das Bange-

Bildnis eines Steinmetzen ( 1 3 , Jahrhundert)

Sinn; es steht links, verlangt so v o m Leser die R ü c k w e n d u n g seines Blicks gegen die gewohnte Pach tung der Geschichts­lektüre. Das N e u e ist Anfang.

D a ß das N e u e im Alten vorausgesagt ist, lehrt die Bibel­exegese, die in Personen u n d Szenen des Alten Testaments den Verweis auf Personen u n d Szenen im N e u e n Testament erkennt. Moses als Führer der J u d e n durch die Wüs t e deutet auf Christus als Führer der Menschhei t hin. Sarah n i m m t Maria vorweg, da sie mi t Isaak einen Sohn gebar, der, wie Christus, v o m Vater z u m Opfer erkoren wurde . Volks tüm­liche Bildstrategien des Mittelalters un te rmauer t en die ver­gleichende Bibellektüre in illustrierten Armenbibe ln , farbi­gen Glasfenstern u n d Freskenzyklen. Das Montageverfahren der Avantgarde erscheint deshalb so plausibel, weil es u n b e ­w u ß t die tief verwurzel te Tradi t ion der Auslegung von Geschichte in visuellen Typologien fortsetzt. D e r Blaue Reiter liest sich solchermaßen als Biblia pauperum, die die Ver­he ißung der M o d e r n e in einprägsamen Bildpendants von

Doppelse i te aus d e m Almanach Der Blaue Reiter m i t d e m Bildnis eines S te inmetzen , M a g d e b u r g e r D o m ( u m 1210) , u n d e iner T a n z ­maske aus Brasil ien

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Doppelse i te aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t Gaugu ins H o l z ­relief Pape Moe u n d e i n e m an t iken Relief, G o r g o als H e r r i n der T ie re , e t ruskisch-archaisch, 6. J h . v. C h r .

Altem u n d N e u e m B u n d , von Prophet ie u n d Erfüllung, ge ­genüberstellt .

De r Historismus hatte sich stilistisch an den kulturellen Hochb lü ten orientiert: d e m perikleischen Griechenland, der französischen Kathedralgotik, der florentinischen Renaissan­ce. Zwei Jahrzehnte vor der letzten Jahrhunder twende setzte ein Paradigmenwechsel ein; die hohe Mi t te schien ausgetre­ten, das kulturelle Interesse begann sich d e m zuzuwenden, was an den R ä n d e r n war — das archaisch Frühe u n d das über ­feinert Späte. Z u r gleichen Zeit , als Paul Gauguin Tahiti en t ­deckt, feiert mit der Archi tektur des Barock ein sogenannter Zerfallstil Auferstehung. Gauguin fährt 1887 erstmals nach Mar t in ique , 1888 erscheint Wölfflins Habilitationsschrift Renaissance und Barock. Im ersten Jahrzehnt des 20. J a h r h u n ­derts verstärkt sich diese Besetzung ehemaliger Randgebie te . Die europäische Volkskunst wird zugleich von den Kuns t ­historikern u n d den Künst lern entdeckt . Kandinskys R ü c k ­griff auf ein bayerisches Hinterglasbild erfolgt zur gleichen

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trags zu ändern. Im Gegenteil: es zeigte sich mir, daß ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar viel­leicht tiefer erfaßt [ 3 1 ] hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haf­ten geblieben wäre.Noch entschei­dender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, daß ich viele mei­ner Lieder, berauscht von dem An­fangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im gering­sten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im ge­ringsten zu erfassen, zu Ende ge­schrieben und erst nach Tagen dar­auf kam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht worden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang, alles er­riet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen mußte.

Bayerisches Glasbild

Zeit , als die Denkmalpfleger ein provinzielles Wallfahrts­kirchlein des Barock für schutzwürdig erklären. D e r D e n k ­malschutz u n d die Avantgarde mögen manifest ganz verschie­dene Ziele angestrebt haben: Die einen bewahren Tradit ion, die anderen transformieren sie. Verbunden sind beide j edoch im Geist der Lebensreform, die das Volkstümliche der H o c h ­kul tur vorzieht.

Der Blaue Reiter bietet eine Montage des volkstümlichen u n d des avantgardistischen Kunstausdrucks. De r Almanach stellt aktuelle Malerei neben Zeugnisse magischer Kulte, archaische Plastik der Antike neben Totemfiguren aus e t h n o ­logischen Sammlungen. Die Vielfalt soll veranschaulichen, daß die Welt des künstlerischen Willens keine N o r m e n kennt . Die schöpferische Energie ist Zeugungs - u n d Ver­schwendungsakt, der sich in unendl ichen Metamorphosen entäußert . Die innere Notwendigkei t des Bilderflusses, der energetische Klang in den Dingen zeigen sich da in ihrer Lau­terkeit, w o die Hül len der Zivilisation, der Artistik, der aka-

Doppelse i te aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e iner Ho lzp la ­stik v o n den Marquesas- Inse ln u n d e i n e m bayer ischen Glasbild, Mar ia mi t d e m Got t e s sohn

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demischen Gelehrsamkeit weggedroschen sind. Im Blauen Rei­ter wird der schöpferische Ke im mittels Montage herausge­schält. Die synthetisierende Kraft, die sich im kaleidoskopi­schen Bildreigen freisetzt, preßt die inhaltlichen Aspekte der dargestellten Gegenstände aus. Die brauchtümliche B e d e u ­tung eines Fetischs, eines Marienbilds, einer Märchenillustra­tion verblaßt. Zu rück bleiben abstrakte Formhül len. Die Bildregie des Almanachs verschweigt die Herkünf te des Dar ­gestellten; im M e d i u m der fotografischen Montage haben alle denselben Or t : das Buch. W i e in Wölfflins Grundbegriffen, sind auch im Blauen Reiter die Bildlegenden lakonisch, einige sogar falsch. Da steht Südborneo neben Markesasinseln, Russi­sches Volksblatt neben Antikes Relief. Inhaltlich unerklärt ge ­w i n n e n die dargestellten Dinge eine s tumme Realpräsenz in der Rep roduk t ion als reiner Form, in der sich alles verwandt wird: Was immer es sei, es scheint authentisch zu raunen v o m Lebensrätsel, da zu sein u n d nicht vielmehr nicht zu sein. Die Wel t des Geschaffenen erlebt sich - mit Andre Gide gespro­chen — im »ozeanischen Gefühl«. Ein jedes hängt mi t allem zusammen, der Ausdruck des Lebenswillens entzieht sich der begrifflichen Bestimmbarkeit . In seinem Text >Die Masken< hat August Macke das Montagepr inzip poetisch umgesetzt.

Ein sonniger Tag, ein trüber Tag, ein Perserspeer, ein Weihgefäß, ein Heidenidol und ein Immortellenkranz, eine gotische Kirche und eine chinesische Dschunke, der Bug eines Piratenschiffs, das Wort Pirat und das Wort heilig, Dunkelheit, Nacht, Frühling, die Zimbeln und ihr Klang und das Schießen der Panzerschiffe, die ägyptische Sphinx und das Schönheitspflaster auf dem Bäckchen der Pariser Kokotte.

Das Lampenlicht bei Ibsen und Maeterlinck, die Dorfstraßen- und Ruinenmalerei, die Mysterienspiele im Mittelalter und das Bangemachen bei Kindern, eine Landschaft von van Gogh und ein Stilleben von Cezanne, das Surren der Propeller und das Wiehern der Pferde, das Hurrageschrei eines Reiterangriffs und der Kriegsschmuck der Indianer, das Cello und die Glocke, die schrille Pfeife der Lokomotive und das Domartige des Buchenwaldes, Masken und Bühnen bei Japanern und Hellenen und das geheimnisvolle, dumpfe Trommeln des indischen Fakirs.

Gilt nicht das Leben mehr denn die Speise, und der Leib mehr denn die Kleidung./ Unfaßbare Ideen äußern sich in faßbaren Formen. Faßbar durch unsere Sinne als Stern, Donner, Blume, als Form. / Die Form ist uns Geheimnis, weil sie der Ausdruck von geheimnisvollen Kräften ist. Nur durch sie ahnen wir die geheimen Kräfte, den mnsichtbaren Gottc / Die Sinne sind uns die Brücke vom Unfaßbaren zum Faßbaren./ Schauen der Pflanzen und Tiere ist: Ihr Geheimnis fühlen. / Hören des Donners ist: sein Geheimnis fühlen. Die Sprache der Formen verstehen heißt: dem Geheimnis näher sein, leben.

Schaffen von Formen heißt: leben. Sind nicht Kinder Schaffende, die direkt aus dem Geheimnis ihrer Empfindung schöpfen, mehr als die Nachahmer griechischer Form? Sind nicht die Wilden Künstler, die ihre eigene Form haben, stark wie die Form des Donners?

Der Donner äußert sich, die Blume, jede Kraft äußert sich als Form. Auch der Mensch. Ein Etwas treibt auch ihn, Worte zu finden für Begriffe, Klares aus Unklarem, Bewußtes aus Unbewußtem. Das ist sein Leben, sein Schaffen.8 4

84 Macke in- Der Blaue Rei ter ^ e F ° r m e n s m d Manifestationen eines Weltwillens, der sich (zit. Anm. 81), S. 5 3 - 5 5 . im Gewitter, im Wachs tum der Pflanze, im Kunstwollen

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äußert. Kunst ist Emanat ion der kosmischen Lebenskraft. W i e der Schöpfergott sich nur soweit offenbart, als er seine Macht in seinen Geschöpfen sichtbar macht, ist die Kunst dea abs-condita: eine unsichtbare u n d unbenennbare Kraft, die im künstlerischen T u n sich zeigt. Mackes Text huldigt ihr in einer Litanei beschwörender Wor t e , die aufgereiht sind wie Korallen z u m Amulet t . Das W o r t entspringt demselben Impuls wie die Form; beide sind Gefäß der unsichtbaren Kraft, die sie entstehen macht u n d bewegt.

August Mackes O d e an das Kunstwollen klingt an Opfer­sprüche von Schamanen, an die Inbrunst eines glorreichen Rosenkranzes u n d nicht zuletzt an den Panlyrismus des H o ­henlieds: »Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön; deine Augen sind wie Tauben hinter de inem Schleier; dein Haar gleicht der Ziegenherde, die sich am Berg Gilead lagert. Deine Zähne gleichen einer Herde frischgeschorener Schafe, die von der Schwemme k o m m e n , die allzumal Zwi l ­linge tragen u n d deren keines unfruchtbar ist. De ine Lippen sind wie eine Purpurschnur , u n d dein M u n d ist lieblich; wie Granatäpfelhälften sind deine Wangen hinter de inem Schleier. Dein Hals gleicht d e m Davidsturm, z u m Arsenal gebaut, mi t tausend Schilden behängt, den Trophäen der Helden . De ine beiden Brüste gleichen zwei Rehkä lbchen , Gazellenzwillin­gen, die zwischen den Lilien weiden« (Höh . 4,1—6). Salomons Liebe zur Braut wird sichtbar durch Bilder einer N o m a d e n ­kultur im feiertäglichen Glanz. D e m Liebenden antwortet die All-Liebe u n d pralle Fruchtbarkeit der Geschöpfe als bejahen­der Spiegel des Begehrens, das so in i h m ist, wie u m ihn her. Der Dichter des Hohenl ieds versammelt die N a m e n der Dinge z u m allegorischen Fest des Lebens. Im säkularen Sinne besingt der Künstler des Blauen Reiters dasselbe bejahende Wollen, das er in sich ve rn immt u n d außer sich weiterklingen hör t im Weihegefäß, der Kokot tenwange, d e m sur rendem Propeller: als d e m Hohenl ied auf die N e u e Zeit . D e r eine, unsichtbare, aber fruchtspendende Got t des Alten Testaments hat sich z u m einen, unteilbaren Weltwillen der M o d e r n e gewandelt.

De r ästhetische Pantheismus der Klassischen M o d e r n e wurzelt in der Roman t ik . Lyrisch benenn t es Joseph von Eichendorff: »Schläft ein Lied in allen Dingen , / Die da t räu­m e n fort u n d fort / U n d die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort .« In allen Dingen schläft das eine Lied, der pneumatische Wille zur Schöpfung. Ein G r u n d ­klang bewegt das Kaleidoskop der erfahrbaren Welt . >Vibra-tion< gehört zu den Stichworten der Klassischen M o d e r n e .

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85 Sabanejew in: D e r Blaue Rei ter (zit. Anm. 81), S. 107-124.

86 von Har tmann in: Der Blaue Reiter (zit. Anm. 81), S. 88 -94 .

Ästhetische Erfahrung wird mit musikalischen Metaphern umschr ieben. Der Betrachter, Höre r u n d Leser sei Resonanz ­körper, der die Schwingungen der Kunst aufnimmt u n d dadurch Geist u n d Leib veredelt. Von den 19 Textbeiträgen des Blauen Reiters beziehen sich sechs auf musikalische T h e ­men . Das Buch klingt buchstäblich aus mi t Kandinskys Opernl ibre t to Der gelbe Klang u n d den Part i turen von Arnold Schönberg, Alban Berg, A n to n von W e b e r n zu drei Gedich­ten: Maeterlincks Herzgewächse, Alfred M o m b e r t s Glühender u n d Stefan Georges Ihr tratet zu dem herde.

Leonid Sabanejew macht in seinem Aufsatz über Skrjabin die musikalische Grundha l tung des Blauen Reiters deu t l ich . 8 5

Sinn der Kunst ist die Ekstase: das Heraustreten aus d e m Käfig des Ich, damit das Selbst sich mi t »den höheren Plänen« der N a t u r vermähle. Höchste Ekstase gewährt das Gesamt­kunstwerk, das sämtliche Sinne in Schwingungen versetzt. »Alle Künste , von denen jede eine en o rme Entwicklung erreicht hat, müssen, in e inem Werk vereinigt, die S t immung eines so titanischen Aufschwunges geben, daß i h m unbedingt eine richtige Ekstase, ein richtiges Sehen in höheren Plänen folgen m u ß . / Es sind aber nicht alle Künste in dieser Vereini­gung gleichberechtigt. Die Künste , die die unmit te lbar sich den Willensimpulsen un te rordnende Substanz als Material haben, d. h. die fähig sind, den Wil len unmit te lbar z u m Aus­druck zu br ingen — diese Künste werden dominieren (Musik, Wor t , plastische Bewegung).« Mi t der Vision eines synästhe-tischen, alle Sinne erfassenden, Gesamtkunstwerks sehnte sich die Avantgarde u n b e w u ß t nach d e m Tonfi lm, dessen techni­sche Möglichkeit sie sich u m 1912 j edoch noch nicht vorstel­len konnte .

In seinem Text >Über Anarchie in der Musik< setzt Thomas von H a r t m a n n die Verletzung des Regelkanons gleich mi t d e m Befolgen der »inneren S t imme« . 8 6 D ie anarchische Aus ­drucksweise folgt der »inneren Notwendigkei t«. Freiheit des Ausdrucks u n d innere Notwendigkei t sind also identisch. D e r Zufall ist eine Manifestation des »Lebensprinzips«. Das freie Gestalten gehorcht d e m Kunstwollen als e inem N i c h t -anders-Können. Im musikalischen Ausdruck m u ß alles besei­tigt werden, was den tiefen Drang des Willens h e m m t . H i n ­dernisse für das unverstellte Kunstwollen baut die rationale Vernunft auf, »die auf künstlerischem Gebiete leider nicht i m m e r kompetent ist«. Die Vernunft verwechselt das künst le­rische Prinzip der inneren Notwendigkei t mit den Gesetzen, welche die Gewohnhe i t schrieb. Die Vernunft gehör t zur Wel t als Vorstellung nach apollinischem M a ß , aus d e m die

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künstlerischen Regelwerke entstanden. D e r Künstler der Z u ­kunft aber stößt zur Welt als Wille vor, in d e m die innere Notwendigkei t wirksam ist. U m die Macht der vernunftregu­lierten Gewohnhe i t en zu brechen, m u ß , so schließt von H a r t ­mann, die Anarchie in die Kunst eingeführt werden.

Vernunftkritisch beginnt auch >Das Verhältnis z u m Text< 8 7

von Arnold Schönberg. Er zitiert Schopenhauer, der w i e ­de rum Leibniz' be rühmte Defini t ion der Musik als einer im Schlaf zählenden Mathemat ik abwandelt: »Der Komponis t offenbart das innerste Wesen der Welt u n d spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht ver­steht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge , von denen sie wachend keinen Begriff hat.« Musik ist reiner Selbstausdruck der Wel t als einer kl ingenden S u m m e von Kraft. Aber: »Es gibt relativ wenig Menschen , die imstande sind, rein musikalisch zu verstehen, was Mus ik zu sagen hat. Die A n n a h m e , ein Tonstück müsse Vorstellungen irgendwelcher Art erwecken, [...] ist so weit verbreitet, wie nur das Falsche u n d Banale verbreitet sein kann.« Es wunde re daher nicht, w e n n Kritiker am liebsten über Musik schrieben, die sich auf Texte beziehe. Schönberg hätte dasselbe über die Kunsthistoriker sagen können , die sich auf das inhaltliche Mot iv im Bild beschränken.

Das Erzählende in der Kunst ist aber nur krause O b e r ­fläche, die nicht in die Tiefen des Kunstwollens hinabreicht. Daher könne es, so Schönberg, bei der Ver tonung eines Tex­tes nicht da rum gehen, dessen Inhalt abzubilden.

Ich war vor ein paar Jahren tief beschämt, als ich entdeckte, daß ich bei einigen mir wohlbekannten Schubert-Liedern gar keine Ahnung davon hatte, was in dem zugrun­de liegenden Gedicht eigentlich vorgehe. Als ich aber dann die Gedichte gelesen hatte, stellte sich für mich heraus, daß ich dadurch für das Verständnis dieser Lieder gar nichts gewonnen hatte, da ich nicht im geringsten durch sie genötigt war, meine Auffassung des musikalischen Vortrags zu ändern. Im Gegenteil: es zeigte sich mir, daß ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfaßt hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre. Noch entscheidender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, daß ich viele mei­ner Lieder, berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im geringsten zu erfassen, zu Ende geschrieben und erst nach Tagen daraufkam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem größten Erstaunen her­ausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht worden bin, als wenn ich, gefuhrt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang, alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen mußte.

F o r m u n d Inhalt, Text, Bild u n d Klang, verlaufen in vorbe­st immter Ha rmon ie parallel zueinander, w e n n sie erzeugt sind aus der Einfühlung in die innere Notwendigkei t des Kuns t - g ? S c h ö n b e r g i n : D e r B l a u e R e i _ wollens. Diese Synästhesie offenbart sich also nur demjeni- ter (zit. Anm. 81), S. 6 0 - 7 5 .

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gen, d e m die Fo rm das leitende Prinzip bleibt, denn sie ist die unmit telbare Manifestation des Willens, während die inhalt­liche Aussage von der schöpfungshemmenden, regulierenden Vernunft gemacht wird.

Das Goetheanum: Metamorphosen eines Gedichts

88 Rudol f Steiner: Der Bauge­danke des G o e t h e a n u m (Dornach 1932), Stuttgart 1986, S. 13.

Die aktuellen Mentalkräfte des Kunstwollens vor d e m Ersten Weltkr ieg schienen sich in M ü n c h e n zu verdichten. Nich t nu r der Blaue Rei te r u n d Wölfflin, auch R u d o l f Steiner hatte die Stadt auserkoren — als Wirkungsstät te der Theosophie . Kandinsky u n d Jawlensky, anderen Künst lern voran, waren regelmäßige Höre r von Steiners Vorträgen. 1910 k a m es zur ersten Aufführung eines Myster ien-Dramas von Steiner, das in Kandinsky s O p e r Der gelbe Klang ein Echo findet.

W i e Richard Wagner, so plante auch R u d o l f Steiner zu­nächst in M ü n c h e n eine feste B ü h n e für sein Gesamtkunst ­werk. Beide verschlug es schließlich in die Provinz: Wagner nach Bayreuth, Steiner nach Dornach . 1913 trat Steiner als Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft zurück u n d gründete die Anthroposophische Gesellschaft; im gleichen Jahr erfolgte die Grundste inlegung für die Dornacher Mys te ­rien-Spielstätte. Das Richtfest wurde 1914 gefeiert, zwei Jahre später war das >Goetheanum< vollendet. D e r erste Bau bestand, bis auf den Betonsockel, aus Holz . Die W ä n d e waren in Fachwerk gezimmert , der bauplastische Schmuck u n d die Gewölbe der Kuppeln in Eiche geschnitzt. Die Arbeiten w u r ­den von Mitgl iedern der Theosophischen Gesellschaft b e ­sorgt: Freiwillige Enthusiasten aus vielen Ländern brachten mi t ten im Krieg einen Bau zustande, dessen zwei schieferge­deckte Kuppeln befremdlich aus den Kirschbaumhügeln der bäuerlichen Basellandschaft herausragten.

Als unermüdl icher Prediger hat R u d o l f Steiner versucht, seine architektonischen Ideen d e m Pub l ikum nahezubringen; Der Baugedanke des Goetheanum lautete ein Vortrag mi t Licht­bildern, gehalten am 29. Jun i 1921 in Bern . Es habe ihn die »innere Notwendigkeit« ergriffen, »durch andere Offen-barungs- u n d Mittei lungsmittel , als sie in den bloßen Gedan­ken u n d in den b loßen W o r t e n liegen, dasjenige vor die Seelen der Mi tmenschen heranzutragen, was mit dieser Ge i ­steswissenschaft gemeint ist .« 8 8 Steiner trat mit d e m Anspruch auf, Goethes Naturphi losophie in eine unmittelbare räumli­che Erfahrung zu übertragen. »Man wird n u n einen Bau >Goetheanum< nennen dürfen, der in seiner Archi tektonik

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und Plastik so entstanden ist, daß in seinen Fo rmen das Ein le ­ben in die Goethesche Metamorphosen-Anschauung den Versuch gewagt hat, zur Verwirkl ichung zu k o m m e n . « 8 9 Stei­ners aufgeschriebenen Vorträgen fehlt das Leben der charis­matischen R e d e , die Wor t e liegen auf d e m Papier wie erstor­bene Blätter, die ein W i n d über den W e g gewirbelt hat. Hinter der geschraubten R e d u n d a n z der Sätze entziffert sich dem uneingeweihten Leser die Botschaft nu r mühsam. Stei­ners Sprache bleibt Evokation; ihre Aufgabe ist, die Wahrhei t herbeizurufen, u m im Licht von deren Erscheinung zu ver­schwinden.

Anthroposophische Archi tektur erzieht z u m schweigenden >Einleben< in die Wahrhei t . Ihre Fo rmen sind nicht repräsen­tative Zeichen, die auf ein anderes, den geistigen Inhalt, die Bedeutung, auf ein Gemeintes hinzeigen. Steiners Ästhetik verneint denn auch die Aufspaltung der Kunst in F o r m u n d Inhalt mi t polemischen T ö n e n . Als »Intellektualismus« geißelt er das begriffslogische Denken , da es die unmittelbare W a h r ­heit mi t W ö r t e r n verstelle. Die m o d e r n e n Platoniker w e n d e n sich ab von der artistotelischen Systematik der Wissenschaft. Für Steiner - wie für Heidegger — entbirgt sich Wahrhei t mit unmittelbarer Plötzlichkeit als sichtbare. Das Goe theanum versteht sich als >Lichtung< der Natur , die sich im gebauten Andenken zeigt, ohne den U m w e g begrifflichen Herrschafts­denkens. Letzterem entspricht — nach Steiner — eine »stro­herne allegorische Kuns t« 9 0 : die Gedankenmalerei des Sym­bolismus, deren Formenwel t für ihn nichts als maskierte Begriffe darstellt. Er habe für das Goe theanum keinen Archi­tekten brauchen können , der i h m wohl eine antikisierende, gotisierende oder renaissancehafte Fassade entworfen hätte, womi t seine Geisteswissenschaft m e h r entstellt als erklärt worden wäre. »Ein j eder Baustil wäre ihr (der Geisteswissen­schaft) etwas Äußerliches gewesen, denn sie ist eben nicht bloße Theor ie , sie ist Leben auf allen Gebieten u n d konnte ihren Baustil selbst hervorbr ingen.« 9 1 Das Goe theanum ist parallel zum »organisch schaffenden Prinzip der Natur« gewachsen . 9 2 D e r anthroposophische Architekt u n d Künstler gestaltet gemäß der Wel t als Wille . Er gibt nicht bloß eine Vorstellung von der geschaffenen Na tu r als natura naturata, sondern er ist selber Teil der natura naturans, der schaffenden Natur . »Das Kunstschaffen (ist) nicht eine N a c h a h m u n g von irgend etwas schon Vorhandenem, sondern eine aus der menschlichen Seele entsprungene Fortsetzung des Wel tp ro ­zesses.« 9 3 De r Künstler selbst ist M e d i u m der kosmischen Energie: »Und dann übergibt man sich gewissermaßen den

89 Steiner (zit. Anm. 88), S. 11. 90 Steiner (zit. Anm. 88), S. 16. 91 Steiner (zit. Anm. 88), S. 18. 92 Steiner (zit. Anm. 88), S. 19. 93 Zit . nach: Christa Lichten-

stern: Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosen lehre Goethes . Von Philipp O t t o R u n g e bis Joseph Beuys, Weinhe im 1990, S. 78.

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94 Steiner (zit. A n m . 88), S. 29 -30 . 95 Steiner (zit. A n m . 88), S. 19. 96 Steiner (zit. A n m . 88), S. 16-17 .

schaffenden H ä n d e n der Natur , die m a n zuerst zu erlauschen versucht hat — nicht mi t abstraktem Denken , sondern mi t innerlicher Empf indung , die mi t Willensimpuls Anteil an d e m Schaffen der Na tu r erlauscht ha t .« 9 4 De r »Bauimpuls«, wie Steiner die Kraftquelle architektonischer Formgebung nennt , übersetzt das Riegische >Kunstwollen< in die esoteri­schen Bahnen der Anthroposophie .

De r Bau von Dornach ist, wie ein Lebewesen, gewachsener Organismus, dessen Glieder e inem inneren Lebensplan fol­gen. Dies zu verdeutlichen, griff sich der vortragende R u d o l f Steiner ans Ohrläppchen: »Alles ist so gedacht, daß jedes an d e m O r t e , w o es sich befindet, so ist, wie es sein m u ß . Sie brauchen ja nur z u m Beispiel an das Ohr läppchen an Ihrem eigenen Organismus zu denken. Dieses Ohr läppchen ist ein sehr kleines Organ . W e n n Sie den ganzen Organismus verste­hen, so werden Sie sich sagen: Das Ohr läppchen könnte nicht anders sein, als es ist; das Ohr läppchen kann nicht kleine Zehe sein, nicht rechter D a u m e n sein, sondern im Organis ­mus ist jedes an seinem Or t e , u n d jedes an seinem O r t e so, wie es aus diesem O r t e hervorgeht .« 9 5 Vehement weist Stei­ner den Vorwur f zurück, seine Kunst sei nu r Allegorie auf ein theoretisches Lehrgebäude. Das sei »Verleumdung«, ruft er aus. »Alles dasjenige, was dargestellt wird, ist in die künst ler i­sche F o r m übergeflossen, ist unmit te lbar empfunden.« Daher sei seine erklärende R e d e , der Vortrag mit Diapositiven, nu r ein Surrogat des unmit te lbaren Erlebens der Wahrhei t am Bau. »Wenn von Dornacher Kunst die R e d e ist, so wird zu­nächst verwiesen auf den ursprünglichen Quel l dessen, w o r ­aus Menschendasein u n d Weltendasein heraussprudelt. Was man in diesem ursprünglichen Quel l erlebt [ . . . ] , das kann man in Wor te kleiden, in Ideen formen, das kann man aber auch, ohne daß m a n diese Ideen allegorisch u n d symbolisch ausdrückt, unmit te lbar ausfließen lassen in Künstlerisches.« 9 6

Kunsterfahrung ist die schweigende Einfühlung in das selbst­verständlich aus sich wachsende »Urphänomen«.

Bevor uns das zuteil wird, m u ß allerdings alle Symbolik soweit verinnerlicht sein, daß wir deren Inhalt vergessen haben, w e n n sie uns als F o r m begegnet. R u d o l f Steiner landet e inen hermeneut ischen Zaubertr ick: Das Offenbarungs­w u n d e r tritt über die Falltür der E r inne rung auf, während wir v o m »Abrakadabra« des Zauberers abgelenkt sind. Das reine Sehen, das R u d o l f Steiner im Sinne der Klassischen M o d e r n e propagiert, entsteht im abziehenden Tarnnebel raunender R e d e . Die angebliche Selbsterklärung der F o r m k o m m t zustande, i ndem die semantischen Bezüge so weit

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I n n e n r a u m m o d e l l des ersten G o e t h e a n u m s , E n t w u r f v o n R u d o l f Steiner

verwischt werden, daß sie zwar noch geahnt, aber nicht m e h r mit Best immthei t nachgewiesen werden können . D e n n B e ­st immtheit tötet das Geheimnis . Das Eindeut ige in der Kunst fuhrt in die Banalität. Die hermeneut ische Strategie der Verschleifung besteht darin, Bild u n d Kontext so zu verschie­ben, daß beide nur noch als Interferenzphänomene wahrge­n o m m e n werden, die, vielsagend dunkel , ineinander nach­schwingen.

Es war nicht nu r kosmische Vibration, die den Bauimpuls des Goetheanums bes t immt hat. Z u m Teil lassen sich die Anregungen ganz schlicht auf Texte zurückfuhren. De r j unge R u d o l f Steiner war von 1890 bis 1897 am G o e t h e - u n d -Schiller-Archiv in Weimar tätig u n d war Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der sogenannten Sophien-Ausgabe. Das Goe theanum ist buchstäblich zu lesen als Denkma l für Goethes Naturwissenschaft. In seinem er-

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klärenden Baugedanken e rwähnt Steiner zwar einleitend Goethes Metamorphosenlehre , doch verschweigt er sie aus­gerechnet dort , w o er sie an seinen Kunstformen vorführen könnte . Steiner schweigt mit R ech t zur richtigen Zeit , u m nicht des Symbolismus überführt zu werden . D o c h wir tun es jetzt .

Die ganze Symbolik des ersten Goe theanums zu rekonstru­ieren, ist hier weder angestrebt noch möglich, da der Bau nu r noch durch Model le u n d Fotografien überliefert ist. Er bestand aus zwei sich durchdr ingenden R o t u n d e n , deren größere das Audi tor ium, die kleinere die B ü h n e faßte. Beide Raumzyl inder waren durch r ingsum verlaufende Säulen gegliedert - 12 im B ü h n e n r a u m , 14 im Audi tor ium. W i r b e ­schränken uns auf die Säulen des Audi tor iums, w o der sym­bolische Keim des Goe theanums liegt. Die 14 Stützglieder waren mi t einer j e siebenteiligen Ornamentfolge versehen, die sich zu beiden Seiten des Innenraums axialsymmetrisch wiederhol te . Die j e sieben Kapitelle stellten die Embleme der sieben damals bekannten Planeten dar — Pluto wurde erst 1930 entdeckt. D e m siebensphärigen Makrokosmos unseres Sonnensystems entspricht nach anthroposophischer Lehre der Mikrokosmos eines siebenfaltigen Menschen: aufsteigend v o m physischen Leib, d e m Ätherleib, d e m Astralleib u n d d e m menschlichen Ich, das w i e d e r u m in eine Empfindungsseele, eine Verstandesseele u n d eine Bewußtseinsseele unterteil t ist. Die Gestalt des Menschen u n d die O r d n u n g des Kosmos waren symbolisch verschränkt in der siebenjochigen Anlage des Zuschauerraums. Die paarige A n o r d n u n g der Säulen en t ­sprach d e m Leib, dessen Gliedergestalt ebenso paarig aufge­baut ist. De r Aufenthalt im Audi to r ium ließ den Eingeweih­ten, durch Kunst gesteigert, erleben, wie sein In-der-Welt-Sein beschaffen war.

De r Mensch als mikrokosmisches Ebenbild der H i m m e l s ­sphären ist ein Topos der antiken Naturphi losophie , der in gnostischen Lehren überliefert wurde , deren mode rne Aus­prägungen Theosophie u n d Anthroposophie sind. Die O r i ­ginalität des bauplastischen Programms liegt nicht so sehr in den Kapitellen als vielmehr in den sieben Säulenbasen. Hier ist die literarische Herkunf t des Bi ldprogramms buchstäblich abzulesen. Mi t d e m Goe theanum haben wir den seltenen Fall einer Architektur, die ein Gedicht nachbaute: Goethes Die Metamorphose der Pflanzen verlieh d e m Bauwerk seinen ideal­typischen Grundr iß . Wör t l ich zitiert ist das Gedicht an den Säulenbasen des Zuschauerraums — an j ene r tragenden Stelle, w o die Gemeinde der S t imme des Meisters lauschte:

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Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung / Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; / Viele Namen hörest du an, und immer verdränget / Mit barbari­schem Klang einer den andern im Ohr. / Alle Gestalten sind ähnlich, und keine glei­chet der andern; / Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, / Auf ein heiliges Riesel. Oh könnt ich dir, liebliche Freundin, / Überliefern sogleich glücklich das lösen­de Wort!

Goethe , der gegen Isaac N e w t o n u n d den unaufhaltsamen Vormarsch der empirischen Naturwissenschaft stritt, führte in diesem Lehrgedicht von 1798 die Aussöhnung von Poesie und exaktem Wissen vor. Es ist, in Anspielung auf Piatons Symposion, an die Geliebte gerichtet, denn nach der Lehre Diotimas ist der Eros der Tr ieb zur Weisheit . Luigi Galvanis De viribus electricitatis... war sieben Jahre zuvor erschienen. D e r darin beschriebene Versuch mit den zuckenden Froschschen­keln zwischen zwei verschiedenen Metallen, durch den Gal-vani den Nachweis tierischer Elektrizität zu erbringen glaub­te, war d e m Gestaltungstrieb der Metamorphosenlehre noch verwandt. D o c h schon 1800 erklärte Alessandro Volta die Entdeckung Galvanis korrekt — was den Gedanken an eine innere Einhei t von Elektrizität u n d Lebensstrom zunichte machte - u n d damit ebenso die von Wissenschaft, Poesie u n d Leben. Die Volta-Säule beendete den Zoozent r i smus im na­turwissenschaftlichen Denken . Im toten, kalten Metall steck­ten ungeheure Kräfte, die mit d e m Leben nichts zu tun hatten. Die asymptotisch auseinanderlaufenden Erkenntn is ­interessen von Wissenschaft u n d Kunst konnten den m o d e r ­nen Piatonismus allerdings nicht h indern , immer wieder auf eine Versöhnung zu setzen. De r Zoozent r i smus wird aus e inem Denken , das sich dem Leben verdankt, k a u m ganz wegzudenken sein. Die Vorstellung, daß das Weltall fast aus­schließlich unbelebt u n d unbelebbar ist, bleibt allenfalls ästhe­tisch zu genießender Schrecken einer Populat ion intelligenter Lebewesen, die den G r u n d eines äußerst seltenen, b laugrünen Luftmeers auf d e m Planeten Erde besiedelt.

In ihrer Hoffnung, Kunst , Leben u n d Wissenschaft wieder zusammenzuführen, blieb die Klassische M o d e r n e zoozen-trisch im Sinne Goethes. Die Anthroposophie gab dieser Zuversicht einen institutionellen O r t , der sich bis heute in der musischen Pädagogik der Waldorfschulen erhalten hat. Folgen wir der erotologischen Belehrung, wie aus d e m >Ge-wühl< der B lumen das >Gesetz< des U rp hä no m en s zu erken­nen sei:

Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, / Stufenweise geführt, bildet Blüten und Frucht.

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Säulenbasen i m A u d i t o r i u m des ersten

G o e t h e a n u m s

Basis der ersten Säule

D e r Leser betrachte die Basis der ersten Säule im Zuschauer­raum:

Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde / Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt, / Und der Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, / Gleich den zartesten Bau keimender Blätter empfiehlt. / Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild / Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,/ Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; / Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt, /

W i r sehen das Samengebilde am polyedrischen Stumpf der er­sten Säule achtmal wiederholt . Die gedrungene Herzform weist virtuell in drei Pachtungen: nach un ten zur Wurzel , nach oben z u m Licht und nach außen, in die Pachtung der Blatt­triebe.

Basis der zwei ten Säule

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Quület strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, / Und erhebt sich sogleich aus i r r umgebenden Nacht. / Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung; / Und w bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.

Die zweite Säule: Die drei Tr iebr ichtungen des herzförmigen Samens haben sich ausgeprägt. Nach un ten erscheint der Keim zur Wurze l gefächert, nach oben u n d außen z u m w u l ­stigen Blatt geformt.

Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet, / Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild. / Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich, / Ausgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt, / Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, / Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ. / Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung, / Die bei man­chem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt. / Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche, / Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.

Der Übergang von der zweiten zur dri t ten Säule vermittelt dem Betrachter das Erlebnis der Zell tei lung u n d Vervielfälti­gung der Blattgestalt, angeregt v o m Lebenstrieb.

Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung / An und lenket sie sanft m das Vollkommnere hin. / Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße, / Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke, / Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.

Der Blütenstengel wächst. Die Mäßigung des Triebs veran­schaulicht sich von der vierten Säule an durch Formen , die vom wulstig Quel lenden ins gratig Lineare übergehen.

Blattlos aber und schnell erhebt sich der zartere Stengel, / Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an. / Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne / Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin. / U m die Achse gedrängt, entscheidet der ber­gende Kelch sich, / Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.

Basis der dr i t ten Säule

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Säulenbasen i m A u d i t o r i u m des ersten

G o e t h a n u m s

Basis der v ier ten Säule

Die Basis der vierten Säule symbolisiert das Kelchblatt in e inem wellig umlaufenden Wulst . Darüber erhebt sich die U -förmige Blüte.

Also prangt die Natur in hoher, voller Entscheidung, / Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft. / Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume / Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt. / Aber die Herrlichkeit wird des neuen Schaffens Verkündung; / Ja, das farbige Blatt fühlet die göttliche Hand, / Und zusammen zieht es sich schnell; die zartesten Formen, / Zwiefach streben sie vor, sich zu vereinen bestimmt.

Die männl ichen Staubgefäße u n d die weiblichen Stempel werden im kantigen Filigran der fünften Säule sichtbar. Nach Goethe sind die ersten drei Stufen aufsteigend, in der vierten setzt ein Umkehrschub des Triebs zu einer absteigenden Ver­

Basis der fünften Säule

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Basis der sechsten Säule

W a n d l u n g ein. Die Bauplastik des Goe theanums vollzieht diese Bewegung getreulich nach. Die Abwärtsbewegung, an­gedeutet durch tropfenhafte Formen , die schon in der U -F o r m der Blüten anklingen, bleibt das St rukturmuster der letzten drei Pfeilerbasen.

Traulich stehen sie nun, die holden Paare, beisammen, / Zahlreich ordnen sie sich um den geweihten Altar. / Hymen schwebet herbei und herrliche Düfte, gewaltig, / Strömen süßen Geruch, alles belebend umher. / Nun vereinzelt schwellen sogleich unzählige Keime, / Hold in den Mutterschoß schwellender Früchte gehüllt.

Die Einsenkung der Frucht ist zu >erleben< im Prallwerden und Abwärtsgleiten der Tropfenformen auf der sechsten u n d siebten Säule.

Basis der s iebten Säule

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Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte; / Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an, / Daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlange / Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne sei.

Hin te r der unendl ich scheinenden Vielfalt entschlüsselt sich jetzt das einfache Verwandlungsgesetz. Jede Pflanze geht her ­vor aus der Metamorphose der Blattgestalt in den sieben Sta­dien ke imenden Auftriebs u n d fruchttragenden Abstiegs.

Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel, / Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt. / Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Geset­ze, / Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.

Durch die wandelbaren F o r m e n der Pflanzenwelt sieht die e rkennende Geliebte je tzt das unwandelbare >Urphänomen<: die Idee der Pflanze, wie sie der Schöpfer am dri t ten Tag en t ­worfen hat. So wie die Pflanzen aus d e m Blatt entstehen, be ruh t jedes Lebewesen auf e inem Baustein, der nach d e m Verwandlungsgesetz wechselnde Gestalt ann immt .

Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, / Uberall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug. / Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig, / Bildsam andre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!

Also ließe sich jedes Geschöpf zurückführen aufse in U r p h ä -n o m e n . Das Prinzip der Metamorphose gilt nicht nu r für körperliches, sondern auch für seelisch-geistiges Leben u n d Wachs tum.

O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft / Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß, / Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern ent­hüllte, / Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt. / Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten, / Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn! / Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe / Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, / Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun / Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.

Das Verwandlungsgesetz in der Pflanze ist nichts anderes als eine biologische Erscheinungsform liebender Erkenntnis . Derselbe Tr ieb , der eine B lume bildet, bewegt Seele u n d Geist. Die Gesetze der Botanik sind sichtbares Spiegelbild geistigen Lebens. Deswegen können wir uns in die sichtbare Welt >einleben<: Na tu r u n d Kunst leihen unseren Gefühlen ihre Gestalt. De r Parallelismus des Lebenstriebs, der in der Natur , in der Kunst u n d im Erkennen steckt, macht es m ö g ­lich, daß wir über materielle Prozesse ideelle Erkenntnisse gewinnen können . Aus Goethes Verwandlungslehre hat Stei-

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ner einen spirituellen Vitalismus abgeleitet, der sich wieder ­findet in den kunstpsychologischen Theor i en der >Einfuh-lung< u n d den avantgardistischen Auffassungen von Kunst als Fortsetzung kosmischer Schöpferkraft. In diesem Parallelis­mus von Na tu r u n d Geist fällt der Kunst die Mittlerrolle zu: Sie macht die Verwandtschaften durchsichtig. Goethes G e ­dicht erklärt ein botanisches Gesetz u n d ist zugleich kuns t ­volle Liebeserklärung, in der sich zeigt, daß alles Leben der­selben Liebeskraft entspringt. Erotologie ist Wissenschaft als Fortsetzung der Liebe in der e rkennenden Anschauung.

Also zitiert Steiners G o e t h e a n u m Goethes Gedicht an den t ragenden Säulen des Zuschauer raums. D ie äußere Gestalt bildet den Refrain auf die Idee der Verwandlungsfähigkeit alles Geschaffenen: von Pflanze, Mensch u n d Kosmos. Stei­ner verglich die höckrige Silhouette des ersten Goe theanums mi t der Gestalt einer N u ß . Die N u ß ist Anfang u n d E n d e der M e t a m o r p h o s e , Samen u n d Frucht zugleich. So verstan­den, symbolisierte das erste S tammhaus der Anth roposoph ie Keimzelle u n d Ern te einer Bewegung , die ihre geistige B o t ­schaft auf gebaut sah nach d e m Verwandlungsgesetz von Goethes Metamorphose der Pflanzen. Steiner selbst hätte diese kontextuel le Klarstellung zurückgewiesen, da sie der Äs the ­tik unmit te lbarer Einfühlung widerspricht . Lesen wir, wie er im Baugedanken die Diapositive zu den sieben Säulen erläu­tert:

Hier zeige ich aufeinanderfolgend die Sockelfiguren des großen Kuppelraums. Erster Sockel.

Jedes geht immer metamorphosisch hervor aus dem andren. Zweiter Sockel. Die Metamorphose schreitet vorwärts. Es ist immer so, wenn man sie durchfühlt:

Sie neigt sich wiederum nach abwärts, und neue Formen entstehen, weiten sich aus. Dritter Sockel.

Wieder komplizierter. Und nun beginnen mit den Sockelfiguren die Verein­fachungen, indem man zu dem Vollkommenen kommt. Vierter Sockel.

Weiteres Sockelmotiv. Es kann eben die Notwendigkeit der Fortentwicklung nur künstlerisch gefühlt, nicht ausspekuliert werden. Fünfter Sockel.

Wenn Sie sich das nun geändert denken, kommt dies heraus. Sechster Sockel. Diese siebente Sockelfigur ist verhältnismäßig wieder sehr einfach. 9 7

So also lautet Goethes Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen auf der Einfühlungsebene abstrakter Evidenz! Das >reine Sehen< mode rne r H e r m e n e u t i k beruh t auf den Bildungssedi­men ten , die wir im ästhetischen Vollzug d e m Gesehenen überblenden. D e r Meister, d e m es nicht an W o r t e n gebricht, schweigt dort , w o unser latentes Wissen aufgerufen ist, in den Fo rmen das U r p h ä n o m e n j ene r Inhalte >durchzufühlen<, die im kollektiven U m b e w u ß t e n als unscharfer Er inne rungs ­schatz aufgehoben sind. 97 Steiner (zit. Anm. 88), S. 4 1 .

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Heizhaus u n d G o e t h e a n u m , Aquarel l v o n H e r m a n n Linde

98 Nach Wolfgang Pehnt: R u ­dolf Steiner, Goetheanum Dornach, Berlin 1991, S. 38.

In der Silvesternacht 1922/23 brannte das Goe theanum bis auf die G r u n d m a u e r n ab. Gerüchte u m die Brandursache gin­gen u m , von denen sich keines genau bestätigen oder wider ­legen ließ. War es die Dorfbevölkerung gewesen, der die exo­tische Nachbarschaft ein D o r n im Auge war? O d e r waren es katholische Fanatiker, die — nicht z u m ersten Mal — eine Häresie mi t Feuer ausräucherten? Waren es deutsche Nazis? O d e r gar die Anthroposophen selber? Es hieß, Steiner habe das hölzerne U n g e t ü m selbst nicht m e h r gefallen. D e r Brand setzte einen neuen Bauimpuls frei. Das zweite Goe theanum wurde , gegen den Widers tand naturromantischer Sandalen­träger in den eigenen Re ihen , in a rmier tem Beton errichtet, e inem Baumaterial , von d e m sich damals nicht nu r der anthroposophische Formwille ewige Dauer versprach. Das 1924 begonnene zweite Goe theanum gehört — neben Erich Mendelsohns Eins te in turm in Potsdam von 1921 — zu den Hauptwerken expressionistischer Architektur. Mi t dieser S t römung war Steiner theoretisch verbunden über die Lek­türe von Paul Scheerbarts utopischem E n t w u r f Glasarchitektur (1914). Le Corbusier war beeindruckt , als er 1926 die Bau­stelle besuchte. N u r das Heizhaus gefiel i h m nicht: Es kam ihm »wie ein Kalbskotelett« vo r . 9 8

Hat d e m Durchschnittsschweizer das Goe theanum gefal­len? Es braucht nicht viel Einfühlungskraft, u m dies zu bezweifeln. Bei der Bekanntgabe des Bauvorhabens kam es zu landesweiten Protesten. Im Pressewald zwischen Bündner land u n d R o m a n d i e rauschte es heimatlich in bedrohlicher Weise. Von »geistiger Überfremdung« war die R e d e u n d von Ver-schandelung der Landschaft. Die Gegner kamen aus kathol i-

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sehen Kreisen, w o m a n den Anfängen einer m o d e r n e n Irr­lehre zu wehren gedachte, sowie aus Kreisen des H e i m a t ­schutzes, die an d e m Projekt das typisch Schweizerische ver­mißten . Im Nove mber 1924 wurde ein Akt ionskomi tee gegen den Goetheanumsbau< gegründet; es lancierte eine E i n ­gabe an den Bundesrat , den ausländischen Ketzerbau zu ver­h indern . M a n er innerte sich jetzt , daß auf diesem Hüge l bei Dornach eine entscheidende Schlacht stattgefunden hatte: 1499 war hier im Schwabenkrieg Kaiser Maximil ian von den Eidgenossen besiegt worden , die damit habsburgischen Machtansprüchen auf Schweizer Ter r i to r ium — für immer? — ein Ende bereiteten. Statt des Goe theanums sollte ein D e n k ­mal an die Schlacht bei Dornach den Hüge l bekrönen! Es kam nicht dazu. D e r Bundesrat lehnte die Eingabe ab unter Hinweis auf die liberalen Grundwer t e der Glaubensfreiheit u n d des Privateigentums. So bleibt in Dornach die Ironie der Geschichte, daß an der Stelle, w o einst ein österreichischer Kaiser geschlagen wurde , vier Jahrhunder te später ein öster­reichischer Glaubensstifter das Terrain zurückeroberte.

Steiner, er starb 1925, erlebte die Vollendung des zweiten Goe theanums 1928 nicht mehr . D o c h das Model l z u m Bau s tammt von seiner H a n d u n d richtet sich nach Goethes M e t a ­morphosenlehre . Datier t auf den 1. Januar 1924 ist eine Wandtafelskizze, die das Grundmot iv für das zweite Goethea­n u m zeigt: ein sphärisches Achteck, das als kappenförmiges Gebilde mit zwei vorspringenden Z ä h n e n unwillkürlich an einen Rückenwirbe l er innert . Was für die Flora das Blatt, ist, gemäß der Metamorphosenlehre Goethes, für die Fauna der Wirbe l — der Baustein für das >Urphänomen< der Wirbelt iere. Als Wissenschaftler gehört Goethe zu den Pionieren der ver-

Zwei te s G o e t h e a n u m , Wes tans ich t

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Zwischenk i e f e rknochen des Affen v o n v o r n u n d v o n u n t e n , T u s c h f e ­de rze i chnung , v o n d e m W e i m a r e r Z e i c h n e r W a i t z in Goe thes Auftrag angefertigt

99 1820 erstmals publiziert. Vgl. die Hamburger Ausgabe der Werke Goethes , Band XIII : Naturwissen­schaftliche Schriften, textkrit isch durchgesehen und komment ier t von Doro thea K u h n u n d R i k e W a n k ­müller, Nachwor t von Carl Friedrich von Weizsäcker, M ü n c h e n 1975, S. 184-196.

gleichenden Anatomie . Ausgehend von der These der h o m o ­logen Entwicklung des Knochenbaus bei Wirbel t ieren machte er eine Entdeckung, die er zwischen 1784 u n d 1786 nieder­schrieb: »Dem Menschen wie den Tieren ist ein Z w i ­schenknochen der oberen Kinnlade zuzuschreiben.« 9 9 Im ver­gleichenden Studium von Tier- u n d Menschenschädeln k a m Goethe zu d e m Schluß, daß der Urschädel aus sechs meta -morphos ier ten Rückenwirbe ln besteht. Eine Homolog ie zwi­schen Mensch u n d Tier anzunehmen war umstr i t ten, denn sie verführte zu denken, Got t habe die Krone der Schöpfung nicht als Solitär geschaffen. Der fehlende Zwischenkiefer­knochen über d e m G a u m e n war ein himmlisches Zeichen im Kampf gegen die ungeheuerl iche Vorstellung, daß der Mensch womögl ich v o m Affen abstamme. N u n , Goethe fand dieses Knochenstück u n d reihte sich damit un ter die Forscher der Evolut ionstheorie, die zwei Genera t ionen später von Charles Da rwin fortgesetzt wurde . Die knöcherne G a u m e n ­wölbung zwischen den Oberkiefern ist als >Os intermaxillare Goethei< in die Geschichte der vergleichenden Anatomie e in­gegangen.

Steiners zweites Goe theanum bildet das Stammhaus der Anthroposophie in Gestalt des Urschädels. In d e m dreige­schossigen Aufbau der Hauptfassade entspricht der Haup te in ­gang d e m M u n d , das Fenster im ersten Geschoß der Nase u n d das Oberl icht d e m Auge. Das Gebäude wird nach oben von einer gewölbten >Schädeldecke< abgeschlossen, die seitlich von zwei >Jochbeinen< gestützt ist. Bot das Audi to r ium des ersten Goetheanums ein Sinnbild des pflanzlichen Wachs­tums in den sieben Stadien der Verwandlung, so entspricht das des zweiten Baus der M u n d h ö h l e i m Urschädel, w o sich die anthroposophische Lehre vernehmbar macht. Steiners Rednerpu l t am Bühnen rand n i m m t demnach die Stelle des Halszäpfchens ein. Das Gewölbe über d e m Audi tor ium, w o sich die Zuhöre r bei den be rühmten Aufführungen von Faust II versammeln, ist das größte u n d vielleicht einzige architek­tonische Beispiel für den von Goethe entdeckten Z w i ­schenkieferknochen.

Symbolische Eindeutigkeit wird hier unerträglich. Es w u n ­dert nicht, daß Steiner auf eine Einfühlung in bedeutsamen Unterschwelligkeiten pochte , die sich hütet , ihre Kontexte preiszugeben. Die anthroposophische Formenwel t sollte sich in ungesagter Evidenz offenbaren. Gelegentliche Symbolver­weise Steiners gelten nu r als Eselsbrücken der Anschauung, die abzubrechen sind wie ein Lehrgerüst, w e n n das Gewölbe der Erkenntnis geschlagen ist. Die »Baugebärde« als verstei-

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nerte Medi ta t ion wird schweigend nachvollzogen. Die u n b e -kehrte Bevölkerung in der Nachbarschaft hielt sich allerdings nicht an die Regel . D e r Volksmund zieht das Erhabene gern ins Lächerliche u n d betrachtet das Geheimnis im grellen Licht des gesunden Menschenverstandes. Die Anthroposophen moch ten sich v o r n e h m ins hermeneut ische Schweigen hüllen, während die Basellandschäftler das Goe theanum schlicht »Affeschäädl« tauften.

Ästhetik der Esoterik. Kandinsky

Mit R u d o l f Steiner sind wir über die esoterische Falltür unvermit tel t in einen doppel ten Boden der M o d e r n e geraten. De r Schub des industriellen Fortschritts ging einher mi t der Ausbrei tung esoterischer Gesellschaften, die bestrebt waren, Wissenschaft u n d Glauben im gnostischen Sinn zu versöh­nen. Z u versöhnen war auch die weltweite Verbreitung des Fortschritts mit den kolonisierten Kul turen. Die Theosophie versprach, diesen Anspruch einzulösen: fashionable gerade in der angelsächsischen Welt , w o das Bürge r tum des British Empire die Verbundenhei t von Or i en t u n d Okz iden t in e inem indisch kostümier ten Neopla tonismus zelebrierte.

D e n aufgeklärten Kunsthistorikern mag es ein Ärgernis sein, daß die M o d e r n e nicht nu r Fortschritt , sondern auch Mythologie produzierte . Merkwürdigerweise sind es j ene , die sich gern auf die Dialektik der Aufklärung100 berufen, ohne die Konsequenz daraus zu ziehen — daß Aufklärung sich in der Tat mythologischer Arbeit verdankt. W e r die kul turhis tor i ­sche Bedeu tung der Geheimgesellschaften u n d esoterischen Bewegungen herunterspielt , verengt die M o d e r n e auf das rationalistische Wunschbi ld einer Epoche , die es nie gegeben hat. >Moderne< wird dann mi t j ene r >Aufklärung< gleichge­setzt, die Kant als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst­verschuldeten U n m ü n d i g k e i t « 1 0 1 definiert. Das aber ist nicht die M o d e r n e in ihrer historischen Realität , sondern in der programmatischen Selbstsetzung ihrer Vertreter, die — ein N i rgendwo im Ni rgendwann - mythische R e d e blieb. D e r aufgeklärte Historiker neigt dazu, diese mythische R e d e der M o d e r n e seiner geschichtlichen Analyse als ethisches Postulat voranzustellen; hier sei sie, umgekehr t , z u m Gegenstand der Analyse gemacht.

Die Auffassung, e inem höchst bedeutsamen, entscheiden­den W e n d e p u n k t der Menschhei t be izuwohnen , gehört z u m m o d e r n e n Lebensgefühl. Die M o d e r n e ist, kulturhistorisch

G r u n d r i ß des zwe i t en G o e t h e a n u m s

100 Theodor W . Adorno/Max Horkhe imer : Dialektik der Aufklä­rung. Philosophische Fragmente, A m ­sterdam 1947.

101 Immanuel Kant: Beantwor­tung der Frage Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, IV, 1784, S. 481-494 , Repr in t in: Was ist Auf­klärung? Beiträge aus den Berlinischen Monatsblättern, hg. v. Norber t H ins -ke, Darmstadt 1973.

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102 N a c h d e m theosophischen Standardwerk von Edouard Schure: Die großen Eingeweihten, Gehe im­lehren der Religionen (1889), mit ei­n e m Vorwor t von R u d o l f Steiner, Bern /München /Wien 1965. Marie von Sievers, die dieses theosophische Standardwerk 1907 ins Deutsche über­setzte, war Rudol f Steiners Gattin.

gesehen, P roduk t einer Mythologie , die von irdischer Er lö ­sung spricht. Dar in sind sich Freimaurer, Theosophen u n d Kommuni s t en einig. Vergleichbar sind auch die m o d e r n e n M e t h o d e n des Erlösungswerks, die auf einer Doppelstrategie von öffentlicher W i r k u n g u n d geheimen Ursachen beruhten . Tagsüber führte der Freimaurer seine Fabrik oder w o h n t e als G ö n n e r der Eröffnung eines kommuna len Spitals bei; nachts band er sich den Schurz u m u n d huldigte mi t seinen Brüdern im Geist der heiligen Isis. Die Anthroposophin stellte sich tagsüber in den Dienst der Schulreform; abends besuchte sie Kurse in Eury thmie . Der Kommuni s t bezog tagsüber im Par­lament die pragmatische Linie der Volksfront; nachts ging es ans Eingemachte: die korrekte Auslegung des D I A M A T u n d die Stellungskämpfe im Poli tbüro. Das m o d e r n e Erlösungs­werk wurde von einer Handvoll Erleuchteter unterirdisch vorbereitet, u m überirdisch der Menschhei t zu f rommen. Wühlarbei t für das Gute : Von der Loge bis zu Lenins Partei neuen Typs verstand sich E rneue rung als Wohl ta t im gehei­men . Das Konspirative gehört z u m messianischen Pathos der M o d e r n e .

Kunst war nach mode rne r Auffassung nu r der N e b e n ­schauplatz einer Erlösung, die, im geheimen vorbereitet, aufs Ganze ging. Auch die Avantgarde operierte mi t d e m doppel ­ten Boden . Der formale Fortschritt zur Abstraktion vollzog sich auf d e m G r u n d r i ß esoterischer Symbolik, die auf einen Heilszustand verwies. Das Volk war durch Kunst empfänglich zu machen für die guten Fo rmen einer neuen Zeit , deren innere Bedeu tung v o m Kreis der Artokraten priesterlich gehütet wurde . D e r gewöhnliche Betrachter sollte durch die ästhetische E inübung in die Abstraktion den latenten Symbo­lismus der Fo rmen verinnerlichen. Das kollektive U n b e w u ß t e sollte derart mit den Zeichen der Erlösung imprägniert wer ­den, daß sie in der kontemplativen Sichtbarkeit von selbst zu reden schienen. Die Kunst der Abstraktion verwandelt die Repräsentanz der Ze ichen in die Realpräsenz ihrer Sichtbar­keit. Parallel z u m ästhetischen Verfahren der Abstraktion ver­läuft das esoterische Verfahren der Medi ta t ion. Sie läßt in unmit telbarer Schau »erleben«, was eine Handvoll »großer E ingeweih te r« 1 0 2 den Menschen an verschlüsselter Weisheit hinterlassen hat.

Kandinskys Bibliothek, bewahrt von der Gabr ie le -Münter -Stiftung in M ü n c h e n , enthält mehrere Werke von R u d o l f Steiner. U m 1910 standen die >Neue Künstlervereinigung M ü n c h e n s aus der der >Der Blaue Reiter< hervorging, u n d die Theosophische Gesellschaft in so enger Beziehung, daß die

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M ü n c h n e r Künstlerszene aufgeschreckt war. So ist denn woh l auch j ene obskure Bemerkung Kandinskys in e inem Brief an Franz Marc als Abwiegelung zu verstehen, w e n n er schreibt, daß die Theosophen im geplanten Almanach Der Blaue Reiter »kurz u n d stark (wenn möglich statistisch) e rwähnt werden« so l l ten . 1 0 3 Die Herausgeber des Almanachs verzichteten, d e m Schwabinger Künstlerfrieden zuliebe, schließlich ganz auf einen Hinweis . Kandinsky beschränkte sich darauf, in seinem zeitgleich erschienenen Buch Über das Geistige in der Kunst die Theosophie als Kampfgefährtin gegen die materialistische Naturwissenschaft zu l o b e n . 1 0 4 Thomas von Har tmann , einer der Beiträger des Blauen Reiters u n d Komponis t des Gelben Klangs, war Theosoph . Zwei Schülerinnen der Phalanx, E m i Dresler u n d Maria Giesler, traten der anthroposophischen Bewegung bei. E m i Dresler beteiligte sich an der Bauplastik des ersten Goetheanums. Maria Giesler, ihr Ehemann , der Ingenieur Alexander Strakosch, u n d Kandinsky besuchten in Berlin R u d o l f Steiners Architektenhaus-Vorträge, in die er seine Erfahrungen mit d e m Bau des ersten Goe theanums ein­fließen ließ.

1922 übersiedelte Kandinsky nach Weimar u n d bildete dor t mit Paul Klee, Lyonel Feininger, Johannes It ten u n d Oskar Schlemmer die spirituelle Fraktion des Bauhauses. Angeregt von Klee, beschäftigte sich Kandinsky mi t Goethes Naturphi losophie u n d dessen Idee v o m U r p h ä n o m e n . So schließt sich der Kreis. Goethes »lösendes Wort«, wie es am bauplastischen P r o g r a m m des Goe theanums zu entziffern ist, deutet »auf ein geheimes Gesetz, auf ein heiliges Rätsel« -eine Wahrhei t , die ebenso offenbar wie verschlüsselt ist. Für Goethes Metamorphosenlehre gibt es aus anthroposophischer Sicht eine exoterische u n d eine esoterische Lesart. Exoterisch betrachtet, vermittelt sie die naturwissenschaftliche Theor ie von der homologen Entwicklung der Pflanze, esoterisch b e ­deutet sie Evolution; die B lume ist ein E m b l e m für die D e v o ­tion, in der die Selbstaufgabe, die höchste T u g e n d der T h e o ­sophie, z u m Ausdruck kommt . So wie die Pflanze sich über sieben Stadien verwandelt , soll sich der leibliche Mensch über die sieben Sphären z u m kosmischen Geistwesen erheben. Das bauplastische P rog ramm des Goe theanums ist botanischer Lehrpfad der Metamorphose u n d zugleich spirituelle Anle i ­tung zur evolutionären Selbstüberschreitung. Die exoterische Lesart k o m m t der laizistisch-bildungsbürgerlichen Auffassung entgegen, die esoterische ist für die Eingeweihten best immt. Beide Ebenen klingen in der Anschauung zusammen: als offenbares Rätsel .

103 Zit. nach: Der Blaue Rei ter (zit. A n m . 81), S. 261 .

104 Wassily Kandinsky: Übe r das Geistige in der Kunst, hg. v. Max Bill, Bern/Neuil ly-sur-Seme 1952, S. 41 ff.

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Piet M o n d r i a n , Evolution, T r i p t y c h o n , u m 1911

105 Schopenhauer (zit. A n m . 31), Bd. I, S. 155.

106 W o m ö g l i c h hat Mondr i an diese Stilbezeichnung von Steiners so­zialpädagogischem Begriff der >Plastik< abgeleitet. In der »sozialen Plastik« von Joseph Beuys lebt das W o r t weiter mit verwandten Bedeutungsfeldern: jener ästhetisch-ethischen Durchbi ldung der Gesellschaft, wie sie sowohl die anthro­posophische Lehre als auch Mondrians künstlerisches Sendungsbewußtse in beansprucht haben.

U n d wieder steht Schopenhauer als Ahnhe r r da: In der Kunsterfahrung verliere sich der Betrachter an den Gegen­stand, so daß man »also nicht meh r den Anschauenden von der Anschauung t rennen kann«. Die Einfühlung in das Werk führt zur ästhetischen Selbstverlorenheit; der Betrachter ver­geht in den F o r m e n der Kunst als »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntn i s« . 1 0 5 Schopen­hauer gehört nicht nu r zu den Begründern der m o d e r n e n Ästhetik: In der Auseinandersetzung mi t dem Buddhismus hat ihn auch die m o d e r n e Esoterik — unter U m g e h u n g seiner methodischen Zweifel — für sich beansprucht .

Devotion (1908) u n d Evolution (um 1911) heißen zwei Schlüsselwerke des spätsymbolistischen Mondr i an , der in der­selben Periode seine Blumenbi lder malte. Die welkenden Chrysan themen verbildlichen R u d o l f Steiners Ratschlag, vor sterbenden B l u m e n über das aufblühende Leben zu medi t ie ­ren. Die esoterische Bedeu tung bleibt als aufgehobene erhal­ten in den abstrakten Werken des Neoplas t iz i smus . 1 0 6 Ich kann das Gleichgewicht von Hor izonta len u n d Vertikalen im Sinne von Mondr ians eigener Kunst theor ie ein »Aufgehen des Individuellen im Universellen« n e n n e n u n d folge damit

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der exoterischen Auffassung der Kunstkri t ik; ich kann es ein »Hinausstehen in die Lichtung des Seins« n e n n e n u n d beschreite dabei den hermeneut ischen Holzweg Heideggers; ich kann es — ad u s u m he rme t i cum — als »Aufgehen im Brahma« sehen, dann verrate ich theosophische Initiation. Die D e u t u n g der Kunst bes t immt sich nach der Wahl der rhe ­torischen Mittel . Alle angetönten Stimmlagen m ü n d e n jedoch in dieselbe Fermate: die schweigend vollzogene Ver­senkung in eine Vision.

Eine eher pragmatische Doppelbödigkei t in Mondr ians Schaffen war es, daß er bis in die Spätzeit B l u m e n malte, weil sich dieses Sujet besser verkaufte. Im CEuvrekatalog sind sie, u m der Re inhe i t des abstrakten Weges willen, verheimlicht.

1908 ist ein wichtiges Jahr der Kunstgeschichte — das Z e r ­fallsdatum des Symbolismus. Die Kunst drängte v o m Symbol zur Evidenz, von der Figuration zur Abstraktion. D e r Ze i t ­geist ist pünktl ich: In diesem Jahr erschien die deutsche U b e r ­setzung der Thought-Forms (Gedankenformen) von Annie Besant u n d C . W. Leadbeater, ein populäres Standardwerk esoteri­scher Äs the t ik . 1 0 7 Gedankenformen sind Astral- u n d M e n ­talwolken, die - nu r für den theosophisch Initiierten sichtbar — von unserem Leib abstrahlen u n d also das spirituelle Leit­mot iv unserer Befindlichkeit veranschaulichen. Besant/Lead-beater präsentieren einen Formenkatalog der Triebe, Gefühle u n d Gedanken, die durch Medi ta t ion sichtbar werden . G e ­dankenformen sind übertragbar. Regelmäßige Ü b u n g e n ermöglichen es, mi t Gedankenformen Menschen telepathisch zu beeinflussen; ebenso bietet ein gut trainierter Astralleib Schutz vor bösartigen Gedankenformen von außen. Die bei Besant/Leadbeater abgebildeten Gedankenformen haben die Autoren selber erdacht und durch mediale Gedankenüber t ra ­gung an die Illustratoren weitergegeben. Annie Besant b e ­dankt sich in der Einlei tung bei den Personen, die sich als malende Med ien zur Verfügung gestellt h a b e n . 1 0 8

Kandinsky hat die Gedankenformen u m 1910 gelesen u n d deren Lehre in seinem Gemälde Dame in Moskau 1912 illu­striert. Es zeigt die zwei Ar ten von Gedankenformen, die den Leib des Menschen als unsichtbare Zwiebelschichten des Ge i ­stes einhüllen. Die graugrüne >Gesundheits-Aura< u m die D a m e bezeichnet den Astralleib: Er vermittelt uns die s inn­liche W i t t e r u n g einer Person, j e n e n unmit telbaren, ersten, untrügl ichen Eindruck, sich zu mögen oder sich nicht r iechen zu können . Strahlt der Astralleib von unserer Animalnatur ab, so ents t römt der Mental leib d e m Menschen als e inem fühlen­den u n d denkenden Geist. Die Dame in Moskau denkt rosa,

Piet M o n d r i a n , Sterbende Chrysantheme, u m 1907/08

107 Die Originalausgabe erschien 1901 . Das B u c h ist in einer T a ­schenbuchausgabe greifbar, verlegt von The Theosophical Publishing House, Whea ton , Ill./Madras/London 1986.

108 »To paint in earth's dull colors the forms clothed in the living light of other worlds is a hard and thankless task; so much the more grati-tude is due to those w h o have at tempt-ed it. They needed colored fire, and had only g round earths.« Besant/ Leadbeater (zit. Anm. 107), Vorwort .

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Wassily Kandinsky , Dame in Moskau, 1912

109 Kandinsky (zit. A n m . 104), S. 98.

während sie ihren Schoßhund auf d e m Boudoir t isch strei­chelt. Die Szene ist bedroht von e inem schwarzen Fleck am oberen Bildrand. Schwarz ist für Kandinsky das Tote u n d Abges to rbene , 1 0 9 im Einklang mit der anthroposophischen Pädagogik, die den Kindern v o m Malen mit Schwarz abrät. Gehör t die schwarze Gedankenform z u m Pferdegespann im Hintergrund? Eine Kette von Herrschaft u n d Knechtschaft wird hier gezeigt: De r Herr , der Kutscher, der Droschken­gaul, begleitet von e inem bellenden H u n d , dünsten offenbar j e n e dunkle Gegenwelt aus vor der D a m e mi t Schoßhund.

Mi t Goethe gesprochen, sind die Gedankenformen >Ur-phänomene< unseres Fühlens. Für das U r p h ä n o m e n gilt: Die F o r m sei zugleich ihr Inhalt; die Kunst sei zugleich ihre Wahrhei t ; Subjekt u n d Objekt der Betrachtung seien eins. Die Kunst soll — nach avantgardistischer Lehre — U r p h ä -n o m e n e bilden, denn Kunst sei das, was sie sagt, ihre Fo rmen bilden nicht ein Alphabet, nicht Hieroglyphen, die auf ein anderes, den geistigen Inhalt, die Bedeutung , auf ein G e m e i n ­tes hinzeigen. Kunst ist das Gemein te , die Erscheinung der Wahrhei t selber, so wie eine Gedankenform das Geistwesen eines Menschen ist. Die v o m Strukturalismus unterschiede­nen Pole des Bezeichnenden u n d des Bezeichneten fallen in

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eins. Die m o d e r n e F o r m bezeichnet nicht, sondern ist die raunende Manifestation ihres Wesens. In der Idee des U r p h ä -nomens k o m m t die Sehnsucht der Klassischen M o d e r n e nach der großen Totalität, nach der inneren Einhei t der äußerli­chen Vielfalt z u m Ausdruck. Parallelen zur Suche nach d e m U r p h ä n o m e n in der Kunst f inden sich etwa in den Theo r i en einer Ursprache oder im Postulat einer Weltformel, die alle physikalischen u n d chemischen Vorgänge enthalten soll.

De r erste Bau des Goe theanums war als plastisches U r p h ä ­n o m e n der anthroposophischen Lehre zu verstehen. In A n ­lehnung an Besant/Leadbeaters Theor i e der Gedankenformen hieß denn auch Steiners erklärender Vortrag Der Baugedanke des Goetheanum. Das ausgeführte Projekt war in der Tat ein mit Mit te ln der Baukunst materialisierter Gedanke. Ein b u n ­tes Gewölk aus den Primärfarben Gelb, Blau u n d R o t sowie der Mischfarbe G r ü n schmückte das Gewölbe des Audi tor i ­ums. Die Gedankenform, wie sie eine versammelte A n t h r o -posophengemeinde über ihren Köpfen absondert, war als Deckengemälde mittels irdischer Farbe fixiert worden .

Kandinsky trat auf, solch laienhafte Versuche als Künstler zu vervol lkommnen. Für ihn gab es, in aufsteigender Folge, drei Wege z u m Wissen: die doktrinäre Lehre, die Medi ta t ion u n d die ästhetische Evolution. Kandinsky suchte das System u n d die M e t h o d e n der Theosophie zu überbieten — mittels der Kunst als einer neuen ästhetischen Kirche, in der die eso­terischen Bestrebungen aufgehoben waren. Nochmals ein Blick auf Kandinskys Dame im Moskau: Gegenständlich b e ­trachtet, kann die schwarze Gedankenform am H i m m e l als Wolke gesehen werden, die die Sonne zu verdecken droht , nach esoterischer Lesart veranschaulicht sie den ewigen Kampf von Licht u n d Finsternis, O r m u z d u n d Ahr iman , wie die beiden göttlichen Kräfte im zoroastrischen Mythos ge­nannt werden. R u d o l f Steiner bezog sich auf das Gegensatz-

A n n i e Besan t /C . W . Leadbeater , Thought-Forms (Gedankenformen): U n b e s t i m m t e selbstlose L iebe /Aus ­b r e c h e n d e r Z o r n

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R u d o l f Steiner, Der Menschheits­repräsentant, A u s m a l u n g der k le inen K u p p e l i m ersten G o e t h e a n u m

paar u n d überblendete i h m eine exoterische Bedeutung . D e r Kampf zwischen O r m u z d u n d Ahr iman entspricht, ästhetisch gesehen, Goethes Farbenlehre, der zufolge Farbe aus d e m ewigen R i n g e n zwischen Sonne u n d Nacht , den »Leiden u n d Taten des Lichts« entsteht.

In Kandinskys Dame in Moskau werden die Gedankenfor­m e n noch gegenständlich geschildert: als mentale Bilder i m pikturalen Gemälde. Das Werk von 1912 steht gleichsam an der Schwelle von der Figuration zur Abstraktion. In den 20er Jahren, seiner sogenannten Kühlen Periode, gleicht sich K a n ­dinskys abstrakte Formenwel t j e n e n Gedankenformen an, die

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Miche lange lo , Die Erschaffung Adams, Deta i l des Deckenfreskos , 1508—12, Vat ikan, Sixtinische Kapelle

der Katalog von Besant/Leadbeater zeigt. Z u seinen geomet r i ­schen Hauptmot iven gehören der Kreis u n d das Dreieck, die Kandinsky im theosophischen Sinn mi t Logos u n d Devot ion konnotier t . Er vergleicht den Kontrast zwischen e inem spitz­winkligen Dreieck u n d e inem Kreis mi t den Figuren von Adam u n d Gottvater im Deckengewölbe der Sixtina: D e r erwachende Mensch streckt im Sinne der Devot ion den l in­ken A r m aus, umschreibbar mit e inem spitzen Dreieck, w ä h ­rend Gottvater, im Kreis der Engelsgloriole, d e m Geschöpf als schaffender Logos Leben e inf lößt . 1 1 0 Kandinsky wird auch das Deckengemälde im ersten Bau des Goetheanums gekannt haben, das Michelangelos Erschaffung Adams zitierte. Es befand sich an der Stirnseite über d e m Altar u n d zeigte den >Mensch-heitsrepräsentanten<, der mi t ausgestrecktem A r m den Finger Gottes berühr t . Gottvater war, wie in der Sixtina, umflor t von einer kreisförmig geblähten Toga. D e r Menschhei t s ­repräsentant t rug - diese maliziöse Bemerkung kann man sich k a u m verkneifen - die Züge R u d o l f Steiners. Das hohe Sen­dungsbewußtsein war denn auch der G r u n d , w a r u m der P r o ­phet sich selbständig machte . D e r Bruch mit der Theosoph i ­schen Gesellschaft im Jahr 1913 erfolgte nach e inem Streit u m die Reinkarna t ion des Messias. Helena Blavatsky u n d Annie Besant, die beiden Religionsstifterinnen, hat ten als geistige P rophe ten -Müt t e r e inen Heilsbringer zur Welt gebracht: J iddu Krishnamurt i , e inen damals 13jährigen indischen Kna ­ben, der die Menschhei t erlösen sollte. Steiner, Helena Bla-vatskys Sekretär, sah sich als P rophe t en -Mann übervorteil t ,

110 Sixten R i n g b o m : T h e Sounding Cosmos , A study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting, in: Acta Academiae Aboensis, Bd. 38, Nr . 2, Abo 1970.

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wandte sich ab u n d gründete die Anthroposophische Gesell­schaft. W i r haben darin den kuriosen Fall, daß eine folgenrei­che Geistesgemeinschaft aus männl ichem Gebärneid geschaf­fen wurde . Kr ishnamurt i ist 1986, hochbetagt, gestorben, nachdem er seinerseits den Erwar tungen seiner geistigen M ü t t e r entsagt u n d eine eigene Schule gegründet hatte. So sorgt der Spaltpilz der reinen Lehre dafür, daß das Werk der Welter lösung nicht zu rasch überhand n immt .

Atom + Psyche = Klang

W ä h r e n d die >Gedankenformen< nu r einfache Gefühle aus­drücken, macht die Kunst komplexe Emot ionen anschaulich. Kandinsky geht es dabei nicht u m persönliche Seelenzu-stände. Kunst hat für ihn mit Erkenntnis zu tun , nicht mit t r i ­vialen autobiographischen Enthül lungen; der Künstler ist nicht Privatperson, sondern Persona des Kosmos, durch die der innere Klang des Universums tönt . Seine Erweckung zur Abstraktion erlebte Kandinsky während einer Ausstellung in Moskau 1908: Er erkannte dort eines der Heuschober-Bilder

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von M o n e t - aber erst, nachdem er im Katalog den Titel des Gemäldes gelesen hatte. Z u dieser optischen Offenbarung kam die akustische: Richard Wagners Lohengrin, aufgeführt am Moskauer Hoftheater. Beide Erlebnisse erschütterten Kandinskys Welt als materielle Vorstellung. Das Gemälde u n d die O p e r bestanden aus derselben reinen Energie, die sich im farbigen Licht bzw. im Klang zeigt. Die Welt als immaterieller Wille war freigelegt. »Dieses Erleben der >geheimen Seele< der sämtlichen Dinge , die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den i n n e r e n Blick<. Dieser Blick geht durch die harte Hül le , durch die äußere >Form< zum Inneren der Dinge h indurch u n d läßt uns das innere >Pulsieren< der Dinge mi t unseren sämtlichen Sinnen aufnehmen.« 1 1 1 Kunst ist für Kandinsky ein Prozeß wie der Urknall , die Natura naturans, aus der das Weltall hervorgegangen ist. »Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand — durch Katastrophen, die aus d e m chaotischen Gebrüll der Ins t rumente z u m Schluß eine Sym­phonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung.« 1 1 2

Für den Avantgardisten schlössen sich Esoterik u n d exakte Wissenschaft nicht aus — im Gegenteil: Die neuesten Er ­kenntnisse der Atomphysik verliefen parallel z u m theosophi ­schen Lehrgebäude. Die anbrechende, neue Zei t gipfelte in einer Gnosis, in der nicht nu r die innere Identität aller Re l i ­gionen, sondern auch die Identität von Religion u n d N a t u r -

A m n c U c s . m t / C . W . Leadbeater , Thought-Forms (Gedankenformen): O u v e r t ü r e zu R i c h a r d W a g n e r s Meistersingern

l inks: Wassily Kandinsky , Landschaft mit Kirche I, 1913

111 Wassily Kandinsky: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. Max Bill, Bern 1963, S. 193.

112 Wassily Kandinsky: R ü c k ­blicke, Berlin 1913, S. XIX .

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A n n i e Besan t /C . W . Leadbeater , Thought-Forms (Gedankenformen):

Plötzl iche Angst

113 R u d o l f Steiner: Die Er ­kenntnis der Seele und des Geistes, 15 öffentliche Vorträge, gehalten zwi­schen dem 10. Oktober 1907 und dem 14. Mai 1908 in Berlin (Architekten­haus) und München , Dornach 1965, S. 29.

Wissenschaft offenbar wurde . Die Theosophen wandten sich stets entschieden gegen den Vorwur f des Obskurant ismus. Ihre Lehre war Wissenschaft: Exakte Naturbet rachtung u n d mystische Gottesschau bestätigten sich gegenseitig. T h e o s o ­phie verstand sich als rationales System. D e n szientifischen Anspruch un te rmauer ten etwa die Autoren der Gedankenfor­men, i ndem sie die meditativen Erlebnisse in ihrer Dauer u n d Ausdehnung als experimentell meßbare Geis tphänomene beschrieben. Rutherfords Kernstruktur der Atome, 1897 ver­öffentlicht, u n d die gleichzeitige En tdeckung radioaktiver Strahlung w u r d e n von der Theosophie hymnisch begrüßt . Die Ersetzung von Mater ie durch Kraft war ganz in ih rem Sinn. Die Atomtheor ie bestätigte Edouard Schures Idee von der »Weltseele«; die Röntgenst rahlen waren die physikali­schen Parallelphänomene zu den theosophischen Gedanken­formen. Für Helena Blavatsky war Elektrizität eine Emana ­t ion des »Life of the Universe«. R u d o l f Steiner erkannte in der Atomtheor ie , »wie j ede materialistische Anschauung vor d e m Fortschritt der Naturwissenschaft in Nichts zerfällt, wie sich der phantastische Begriff der Mater ie durch die neuen Forschungen in Duns t u n d Nebe l auflöst .« 1 1 3 Kandinsky hat diesen Satz gehört , da er im W i n t e r 1908/09 Steiners Vor­trägen im Berliner Architektenhaus be iwohnte . Seine Kunst stellte sich neben die großen Entdeckungen der Atomphysik, in der er dieselbe Abstraktion am Werk sah. »Hier f inden sich auch professionelle Gelehrte , die die Mater ie wieder u n d w i e ­der prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, u n d die endlich die Mater ie , auf welcher noch gestern alles ruh te u n d

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das ganze Weltall gestützt wurde , in Zweifel stellen. Die Theor ie der Elektronen, d. h. der bewegten Elektrizität, die die Mater ie vollständig ersetzen soll, findet m o m e n t a n k ü h n e Konst ruktoren, die hier u n d da über die Grenzen der Vorsicht gehen .« 1 1 4

In der Gedankenwelt der Avantgarde zu Beginn des Jahr ­hunder ts sind Schopenhauers Philosophie, Helena Blavatskys Geistbegriff u n d Mar ie Curies Strahlentheorie ineinander verschmolzen. Die m o d e r n e Kunst , so wird oft gesagt, habe in ih rem Antimaterialismus die Naturwissenschaft zu­rückgewiesen. Gegen diese zu pauschale Sichtweise gilt es zu be tonen, daß die wissenschaftliche Forschung, die auf I m m a -terialität zielte, von den Künst lern begrüßt wurde als eine Bestätigung ihres Willens zur Abstraktion. Die spirituelle Physik begreift die Mater ie als eine Verdickung des GeistfTui-dums , die Empf indung körperlicher Dichte ist somit pure Sinnestäuschung: die harte Pdnde des Wahns , die in sich zer­fällt, w e n n sie d e m Teleskop, d e m Mikroskop oder d e m künstlerischen Blick ausgesetzt wird. Die Welt löst sich auf in Pro tonen , Elekt ronen u n d N e u t r o n e n , die w i e d e r u m nu r ein Anschauungsmodel l darstellen für die Existenz unsichtbarer Kraftströme. »Wenn wir wirklich dahinterschauen, was finden wir da? — Geist! Farbe verhält sich zu Geist wie Eis zu Wasser. T o n verhält sich zu Geist wie Eis zu Wasser. Statt j ene r phan ­tastischen Welt von durcheinanderwirbelnden A t o m e n findet der wahre Denke r u n d Geistforscher hinter dem, was er sieht u n d hör t , geistige Wirklichkeit , so daß die Frage nach d e m Wesen der Mater ie allen Sinn verl iert .« 1 1 5

N e b e n der Atomphysik als der Lehre von der unbelebten Welt u n d der Theosophie als der Lehre von der Geistnatur Gottes bildete die Psychologie als Lehre v o m Leben der Seele die verbindende Seite eines Systems, das Kandinsky »geistiges Dreieck« nannte . Die Hypnose-Exper imente des französi­schen Neuro logen Jean Mar t in Charcot am Pariser >Hospice de la Salpetriere< im letzten Dri t tel des 19. Jahrhunder ts stell­ten die naturwissenschaftliche Vorstufe j ene r Geisterbeschwö­rungen dar, die u m die Jahrhunder twende salonfähig wurden . Die Rol len blieben gleich, nur die Bezeichnungen änder ten sich: Aus Nervenärz ten w u r d e n Hellseher, aus der Hyster ike­rin das lallende M e d i u m . Die Psychiatrie war gleichsam die positivistische Larve, aus der der Spiritismus schlüpfen sollte, genährt von der Lebensphilosophie. Mi t Spiritismus trösteten sich Forscher u n d Literaten über den Verlust der Metaphysik hinweg, die sie selber durch wissenschaftliche s ^ Kandinsky (zit. A n m . 104)

Aufklärung hat ten entzaubern helfen. M a n glaubte an geistige 115 Steiner (zit. Anm. 113), S. 70

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116 Siehe dazu Rudo l f Krauss: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Fotografie bei best immten paranormalen P h ä n o m e n e n - ein historischer Abriß, Marburg 1992.

Erscheinungen parallel zur Natur , an eine Welt der »paranor­malen Phänomene«, die dereinst mi t exakten M e t h o d e n erklärt werden könnten . Sir Wil l iam Crookes , Präsident der Royal Society, setzte als Strahlungsphysiker sein wissenschaft­liches Prestige ein zur Unters tü tzung des Med iums Florence Cook . Charles P i che t , Professor für Physiologie u n d N o b e l ­preisträger 1913, untersuchte die berühmtes ten Med ien als Arzt. Z u den Te i lnehmern spiritistischer Sitzungen gehör ten auch Marie u n d Pierre Cur ie , die 1903 u n d 1911 den N o b e l ­preis für die En tdeckung der Radiumst rahlen verliehen b e ­kamen.

Die Kräfte der Seele verhielten sich nach zeitgenössischer Auffassung wie Elektrizität oder die Teilchenstrahlung: G e ­danken pflanzten sich demnach als immaterielle Ströme im R a u m fort. Sie waren nicht nu r von Seele zu Seele über t rag­bar wie die Gedankenformen, sondern als S t rahlenphänome­ne auch in der Fotografie festzuhalten. Die ersten Fotos von Röntgenst rahlen 1895 u n d die Spuren radioaktiver Strahlung von Uran auf l ichtempfindlichen Platten nach e inem Exper i ­m e n t von Anto ine H e n r i Becquerel 1896 führten zu der Auf­fassung, daß auch psychische Strahlung fotografisch d o k u ­mentierbar sein müß te . >Transzendentalfotografie< war der umfassende Begriff für die Ablichtung unsichtbarer, paranor­maler P h ä n o m e n e wie die »Lebensstrahlung« von Menschen , Tieren u n d Pflanzen, spiritistisch herbeigerufene Geister Ver­storbener, Med ien in Trance be im Auswürgen des Ektoplas-mas. Das Materialisieren, Messen u n d Sichtbarmachen von unsichtbaren P h ä n o m e n e n genoß große Popularität. E in ­schlägige Fotozeitschriften, damals die neueste drucktechni ­sche Errungenschaft auf d e m Medienmark t , machten mi t >Geisterfotografien< gute Geschäfte. Bei den paranormalen Erscheinungen kam der Fotografie die Rol le der visuellen Kronzeugenschaft zu; bis zur Ablösung durch den Bildschirm des Fernsehers in den 50er Jahren galt sie als Lakmusprobe für Wirklichkeit . Wei t unbestechlicher als das menschliche Auge, das sich nur zu leicht hinters Licht führen ließ, machte die mediumistische Fotografie das höhere Paradox sinnlich er­fahrbar: die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Ein geist ig-imma­terieller Vorgang war auf der Fotoplatte überlistet, chemisch gebannt u n d d e m flüchtigen Augenblick z u m Trotz ver­ewig t . 1 1 6

Das neue Universitätsfach Psychologie war ein Nistplatz für spekulative Theor ien . N e b e n nüchtern-positivistischen W i s ­senschaftlern alter Schule trafen sich Vitalisten, Hypnot iseure u n d Spiritisten in Vereinigungen wie der >Society for Psychi-

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Hippoly te Baraduc , Ikonographie , en ts tanden w ä h r e n d der Prozession vor der Mar iens ta tue , Lourdes , vor 1909

cal Research< in London oder d e m >Laboratoire de Physiolo­gie des Sensations< in Paris. Hier ist Dr . Hippolyte Baraduc, ein rumänischer Arzt, anzusiedeln, der auf experimenteller Basis eine »Ikonographie des Unsichtbaren« entwickelte. Besant/Leadbeater bezeichnen Baraduc in den Gedankenformen als wissenschaftlichen Gewährsmann theosophischen D e n ­kens; sie begreifen seine Theor ie als »link between clairvoyant and physical scientific investigations«. 1 1 7 Baraduc s t immte mit Schopenhauers Auffassung überein, wonach der Wille an sich nicht erkennbar ist, u n d er ging davon aus, daß der Wille sich nur indirekt über chemische u n d physikalische Erscheinungs­formen manifestiere. Baraduc sah alle Kräfte in der Na tu r — das Leben, die Elektrizität, die Strahlung, die Schwerkraft — als meßbare Emanat ionen der »äme du monde«, einer kosmi­schen Lebenskraft. Diese »force vitale« beschrieb er als »de l intel l igence en m o u v e m e n t concretant de la matiere«. D e n Beweis für diese intelligente, immaterielle Energie, den Got t des Vitalismus, lieferten Baraduc wissenschaftliche Exper i ­men te mi t eigens dafür konstruierten Apparaten. Im Geist­kosmos war der Mensch nichts anderes als ein Verdichtungs­p h ä n o m e n der Weltseele. In seinem 1896 erschienenen Buch L'iconographie de Vinvisibleßuidique erbringt Baraduc den N a c h - m B e s a n t / L e a d b e a t e r ( z i t A m r L

weis unserer Seele mi t fotografischen Mit te ln , den sogenann- 107), S. 4.

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ten Ikonographien . 1 1 8 Sie entstanden durch direktes Auflegen der Fotoplatte auf die Testperson in der D u n k e l k a m m e r oder bei Infrarotlicht. 1 1 9 Im Fixierbad kam dann die »psychicone« z u m Vorschein: gleichsam die von der Engelshand der Fo to ­chemie gemalte Ikone der Seele. Kandinsky kannte Baraducs Versuche aus einer Publikat ion in der okkultistischen Ze i t ­schrift >Die übersinnliche Welt<. 1 2 0

N e b e n der fotografischen entwickelte Baraduc auch eine physikalische Versuchsanordnung mit d e m >Biometer<. Z u r Ermi t t lung der »formule du temperament vitale« seiner Test­personen ließ er diese beide Hände auf den Apparat auflegen. De r Ausschlag der Zeiger machte j ene Kräfte sichtbar, die von den H ä n d e n auf den Seelenmesser einwirkten. Hier vereinig­ten sich wissenschaftlicher Anspruch u n d Scharlatanerie. Nach Baraducs Lehre steht die rechte Seite unseres fluidi­schen Seelenkörpers (»äme ou corps fluidique vital«) in Ver­b indung mi t d e m kosmischen Leben u n d drückt unsere phy­sische Vitalität aus; die linke Seite steht mi t d e m Geist in Verbindung, der psychischen Vitalität. D ie rechte H a n d zieht das kosmische Leben an, die linke stößt es ab. Aus d e m Anta ­gonismus von rechter Körperseite u n d linker Geistseite in uns entstehen sieben Manifestationen der Seele, die Baraduc als >sieben Lichter der Seele< bezeichnet. Baraducs experimentelle Verfahren führten in eine Zahlenmystik, der wir schon bei Steiner begegnet sind. D e r brauchte keinen Biometer , u m zu ähnlichen Ergebnissen zu k o m m e n . Das wissenschaftliche E x ­per iment bestätigt den Glauben, der in der Versuchsanord­n u n g wirksam ist.

Spiritueller Faschismus

118 Hippolyte Baraduc: L'äme humaine , ses mouvements , ses lumie-res, et l ' iconographie de Finvisible flui­dique, Paris 1896; Zitat S. 19.

119 Siehe dazu Art of the Invi-sible, Ausstellungskatalog, Bede Gal-lery, Springwell Park, Tex t von Alf Corlett , South Shields 1977, S. 6 8 - 7 3 .

120 J. Peter : T ranscenden ta l -Photographie, in: Die übersinnliche Welt , Monatsschrift für okkultistische Forschung, Organ der wissenschaftli­chen Vereinigung Sphinx in Berlin, XVI/1908, N r n . 1-3.

>TierSchicksale< oder der Künstlerwille zur Macht

Nach Hippolyte Baraduc ist die kosmische Lebenskraft eine >intelligente< Energie. Im Umkreis von Theosophie u n d okkulter Wissenschaft wird d e m Weltwil len ein göttlicher Charakter zugesprochen, der auf das vernünftige Ziel der Menschheitserlösung gerichtet ist. Diese Zuversicht wider ­spricht j edoch grundlegend der »Welt als Wille u n d Vorstel­lung«. U m den Unterschied zu veranschaulichen, sei Baraducs Versuchen mit d e m Biometer ein Maschinenexper iment nach Schopenhauer gegenübergestellt:

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Denken wir uns [...] eine nach Gesetzen der Mechanik konstruierte Maschine. Eiserne Gewichte geben durch ihre Schwere den Anfang der Bewegung; kupferne Räder widerstehn durch ihre Starrheit, stoßen und heben einander und die Hebel vermöge ihrer Undurchdringlichkeit u. s. f. Hier sind Schwere, Starrheit, Undurchdringlichkeit ursprüngliche, unerklärte Kräfte: bloß die Bedingungen, unter denen, und die Art und Weise, wie sie sich äußern, hervortreten, bestimmte Materie, Zeit und Ort beherr­schen, gibt die Mechanik an. Es kann jetzt etwan [sie] ein starker Magnet auf das Eisen der Gewichte wirken, die Schwere überwältigen: die Bewegung der Maschine stockt und die Materie ist sofort der Schauplatz einer ganz andern Naturkraft, von der die ätio­logische Erklärung ebenfalls nichts weiter, als die Bedingungen ihres Eintritts angibt, des Magnetismus. Oder aber es werden die kupfernen Scheiben jener Maschine auf Zinkplatten gelegt, gesäuerte Feuchtigkeit dazwischengeleitet: sogleich ist die selbe Materie der Maschine einer andern ursprünglichen Kraft, dem Galvanismus anheimge­fallen [...] Jetzt lassen wir die Temperatur wachsen, reinen Sauerstoff dazutreten: die ganze Maschine verbrennt: d. h. abermals hat eine gänzlich verschiedene Naturkraft, der Chemismus, zu dieser Zeit, an diesem Ort, unweigerlich Anspruch an eine Materie, und offenbart sich an ihr als Idee, als bestimmte Stufe der Objektivation des Willens. -Der dadurch entstandene Metallkalk verbinde sich nun mit einer Säure: ein Salz ent­steht, Krystalle schießen an: sie sind die Erscheinungen einer andern Idee, die selbst wieder ganz unergründlich ist [...J Die Krystalle verwittern, vermischen sich mit andern Stoffen, eine Vegetation erhebt sich aus ihnen: eine neue Willenserscheinung: — und so ließe sich ins Unendliche die nämliche beharrende Materie verfolgen und zusehn, wie bald diese, bald jene Naturkraft ein Recht auf sie gewinnt und es unaus­bleiblich ergreift, um hervorzutreten und ihr Wesen zu offenbaren. 1 2 1

M a n n e h m e ein U h r w e r k , irritiere das Getriebe mit e inem Magneten , setze es unter Strom, verbrenne es u n d lasse das Metall in Säuren verrotten, bis sich H u m u s bildet u n d Pflan­zen sprießen — Schopenhauers Exper iment ist 150 Jahre vor Fluxus ausgedacht worden u n d n i m m t den Grundsatz »Stop making sense!« vorweg. Die Vorgänge in der Natur , die uns zweckmäßig erscheinen, sind reine >Gelegenheitsursachen<, die zweckfrei von stärkeren Ursachen wieder vernichtet we r ­den können . Gewiß kann der Mensch die Tatsache, daß in der physischen Welt Schwerkraft u n d R e i b u n g herrschen, für den Bau eines Uhrwerks nutzen. Unbegründbar ist aber die A n n a h m e , Got t habe d e m Kosmos die Eigenschaften von Schwerkraft u n d R e i b u n g beigegeben, damit einst solch ein Gerät i m Dienst der Pünktl ichkeit erfunden werden könne . Achtlos donne rn die Naturgewal ten über das Leben u n d die zufälligen Zwecksetzungen hinweg. »Wenn wir den gewalti­gen, unaufhaltsamen Drang sehen, mi t d e m die Gewässer der Tiefe zueilen, die Beharrlichkeit, mit welcher der Magnet sich immer wieder z u m Nordpo l wendet , die Sehnsucht, mi t der das Eisen zu i h m fliegt, die Heftigkeit, mi t welcher die Pole der Electricität zur Wiedervere in igung streben, u n d welche, gerade wie die der menschlichen Wünsche , durch Hindern i s ­se gesteigert w i r d « , 1 2 2 so erahnen wir an den meßbaren Kräf­ten der Na tu r das Wesen des Weltwillens: Blind, jenseits von Zwecken will der Wille nichts, als i m m e r u n d unersättlich zu wollen. U n s ist das zutiefst vertraut, da in uns etwas pocht , das in derselben unmäßigen Weise immerzu stößt u n d drängt.

121 Schopenhauer (zit. Anm. 31), Bd. I, S. 184-185 , S. 155.

122 Schopenhauer (zit. Anm. 31), Bd. I, S. 163-164.

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Schopenhauers >Wille< springt aus der Bahn einer intelli­genten >Weltseele<. R u d o l f Steiners Lebenskraft, die nach d e m Gesetz der Metamorphose durch die Gestalten aller Dinge waltet, wird von göttlicher Anziehung gelenkt. »Die heilige Liebe strebt zur höchsten Frucht gleicher Ges innungen auf«, schreibt Goethe — ein Satz, den der Bau des Goe theanums vor Augen gefuhrt hat. Durch die aufblühende Pflanze, durch das Menschenpaar, das gemeinsam aufstrebend »die höhere Welt« findet, strömt die gleiche Sehnsucht aller Geschöpfe nach ih rem Schöpfer, der j ene liebend aufnehmen u n d erlösen wird. Michelangelo als Künstler-Marsyas hat dieses Ziel in der Sixtina noch mit der Rhe to r i k von Human i smus u n d christ­licher Lehre ausgedrückt. Die Erlösungstheorien be ruhen auf den A n n a h m e n , daß der Mensch die Krone der Schöpfung sei u n d das Leben den höchsten Wer t im Kosmos darstelle. D e r okkul te , theosophische Weltwille ist ein Abkömml ing mit te l ­alterlicher Glaubenshoffnung und neuzeitlicher Zuversicht der Philosophie von Descartes bis Hegel: die Welt sei ver­nünftig; die Naturgesetze widerspiegelten die Gesetze der Vernunft u n d s tünden im Einklang mi t den vernünftigen Bedürfnissen des Menschen . Dami t räumt Schopenhauer auf. Mi t e inem Schlag trifft er dabei nicht nu r das an thropozent r i ­sche Denken , sondern den Zoozent r i smus im D e n k e n über ­haupt. Leben ist kein herausragender Wer t an sich. Daß b e ­s t immte physikalische u n d chemische Verhältnisse Fo rmen des Lebens auf der Erde begünstigt haben, ist Zufall. Zufällig ist unser Planet wohl temper ier t u n d mi t einer Atmosphäre versehen, die einen Wil len z u m Leben begünstigen. Kleine Verschiebungen in der Gravitation, in der chemischen M i ­schung des Luftmeers, u n d die Erde wird Wüs te . W i r w ü r d e n dies eine Katastrophe nennen . D o c h Katastrophen gibt es nu r in der Vorstellungswelt des Lebens. Für den Wil len an sich ist das Leben nur eine unter vielen anderen, weit stärkeren Zufallsäußerungen, deren Ü b e r m a c h t gerade darin besteht, keinen Zweck zu verfolgen. Das Leben, das sich sehr e m p ­findlichen Gleichgewichten von Ursachen u n d W i r k u n g e n verdankt, bietet ein sehr schwaches Gefäß u n d hält auf Dauer e inem Wil len nicht stand, der nur vor sich hinstürzen will wie ein Komet durch ein totes, leeres All.

M a n denke sich, sagt Spinoza, einen Stein, der zu B e w u ß t ­sein k o m m t , während er in die Luft geworfen wird: Er würde meinen , er fliege aus e igenem Antr ieb . So steht es mi t uns . Die Illusion, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, schaffen wir uns über die Welt als Vorstellung, die nach d e m Satz v o m G r u n d konstruiert ist: d e m Prinzip der Kausalität. W i r o rd-

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nen das Chaos der Kräfte, die uns umtre iben, zu e inem System von Ursache u n d Wi rkung , von d e m wir annehmen , daß es uns erhält u n d nützt . In der Vorstellung des lebenden Individuums zündet sich der blinde Wille ein Licht a n . 1 2 3 Ich zweige die mir mitgeteilte Energie v o m Weltwillen ab für einen sinnvollen Lebensentwurf. N i e werde ich dor t a n k o m ­men , woh in meine Vorstellung zielt. Ich bleibe ein Spielball des Willens an sich. Objektiviert sich der Wille in den indivi­duellen Gestalten der Natur , n i m m t er verschiedene P a c h t u n ­gen an, die sich durchkreuzen. D e r Wil le tritt in seine >Selbst-entzweiung<. Ich will, z u m Beispiel, eine Skitour machen u n d spiele sportlich mi t den Gesetzen der Schwerkraft. Derselben Kraft gehorcht die Lawine; der stärkere Wille hebt den schwächeren auf. D o c h selbst eine so schwache Objekt ivie­rung des Willens wie das Leben zeigt seine Abkunft v o m grundlosen Wil len. Unsere Sinnenreize erleben »keine ihrer W i r k u n g angemessene Gegenwi rkung« . 1 2 4 Unser Appeti t ist größer u n d grausamer als jedes erzielbare Gefühl der Sätti­gung. Die natürlichen Zyklen des Lebens be ruhen auf enor ­m e n Streuverlusten. Eine U n m e n g e von Pollenstaub ist no t ­wendig, damit vielleicht ein neuer B a u m wachsen wird. Ein Nebenproduk t dessen, was Goethe mit seinen Versen »Hymen schwebet herbei, u n d herrliche Düfte, gewaltig, / S t römen süßen Geruch, alles belebend umher« feiert, ist der Heuschnupfen, der in der sinnvollen Vorstellung botanischer Fortpflanzung nicht vorgesehen ist. So zeigt sich der Wille selbst in den zartesten Fo rmen des Lebens als zweckfrei zeu­gende u n d vernichtende Gewalt.

Die Ur idee des Wil lens ist die Zentrifugalkraft, deren erste Verwirkl ichung der Urknal l war, aus d e m das Weltall hervorging. Im Gegensatz aber zu Laplace u n d Kant , die aus diesem Ereignis e inen geordneten Kosmos von Sternen en t ­stehen ließen — ein Abbild der Vernunft i m Maßstab des best i rnten H imme l s —, ist das Schopenhauersche All ein Chaos von pulsenden Quasaren, explodierenden Sonnen u n d Meteor i tengeschwadern . W i r k ö n n e n alle Erscheinungen der physischen Welt auf den Urknal l zurückführen, doch für den Urknal l selbst gibt es keine Erklärung. Er ist das Grundlose , auf d e m alles empirisch Begründbare sich abspielt. In diesem Sinne k o m m t der Urknal l d e m Wil len an sich am nächsten, von d e m Schopenhauer behauptet , er sei nicht erkennbar, da er d e m Satz v o m G r u n d nicht un terworfen ist. Unser D e n k e n aber ist kausal, nach d e m Satz v o m G r u n d aufge­baut. Jeder Gedanke v o m Wil len ist i m m e r schon eine Vor­stellung.

123 Schopenhauer (zit. Anm. 31), Bd. I, S. 202.

124 Schopenhauer (zit. Anm. 31), Bd. I, S. 160.

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A n dieser Stelle wird Schopenhauers D e n k e n von der nachfolgenden Generat ion abgeholt; Nietzsche machte den Anfang. Ein Haarr iß teilt die m o d e r n e Konzept ion des W i l ­lens in einen spirituellen Erlöserwillen u n d einen nihilisti­schen Wil len jenseits ethischer Vorstellungen. Die erste Ü b e r z e u g u n g verbleibt i m neuzeitl ichen Kosmos, der u m den Menschen kreist, u n d äußert sich in den messianischen Zielen von Aufklärung, Theosophie u n d Kunstherrschaft; dafür steht Kandinsky. Die zweite Übe rzeugung verwirft vernünftige Ziele, da sie der Wel t der Vorstellung ents tammen, u n d bejaht e inen Wil len, der alles zermalmt, was sich in den W e g stellt u n d in seinem Sturm die wenigen mitreißt , die es verstehen, i h m rittlings aufzusitzen nach der Lehre Zarathustras. Hier, obenauf, reitet Franz Marc mit .

»Mit Schopenhauer geredet, b e k o m m t heute die Welt als Wille vor der Wel t als Vorstellung Ge l tung .« 1 2 5 Die Welt als Vorstellung sei zu zerbrechen, damit die Wel t als Wille z u m Vorschein k o m m e n könne . Die Kunst der Zukunf t ahme nicht m e h r den Kosmos geschaffener N a t u r nach, sondern den Schöpfungsakt des Chaos . Der Künstler schaffe, den N a ­turkräften gleich, ebenso stark u n d ohne Rücksicht auf das Schwache. Das sind Grundgedanken aus Franz Marcs Kuns t ­theorie , die unter d e m Titel WO Aphorismen als pos thumes Vermächtnis herausgegeben wurden . Als M o t t o ist ihnen ein Satz aus Nietzsches Zarathustra vorangestellt: »Und Seligkeit m u ß es Euch dünken , Eure H a n d auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs.« Unüberhörbar macht sich im apho ­ristischen Stil der Einfluß Nietzsches auf d e m Gipfel der Fröh­lichen Wissenschaft bemerkbar. Franz Marc hat seinem phi loso­phischen Vorbild nachgeeifert bis in die N u m e r i e r u n g der Gedankenbrocken. Lesen wir den 95 . Aphor ismus:

Ich hatte dieses Gesicht: Ich ging zwischen den Dingen umher und die ich ansah, die verwandelten sich und zeigten ihre Unseligkeit und flohen aus ihrem unwahren Sein. Ein Baum, den ich ansah, begann qualvoll zu seufzen und brach auseinander; seine grü­nen Blätter flatterten singend durch den blauen Himmel davon; und wo der Baum gewesen war, stand mit Worten in den Sand geschrieben: Wer mich erlöst hat vom har­ten Baum-sein, der suche meine Seele nicht im Kern des Apfels, auch nicht im Willen zur Gestalt, sondern allein in der Not des Baum-seins, im Leid und Zwang zur Mißgestalt. Der Künstler soll nicht das Lob unsres häßlichen Seins singen, sondern unsern Dryadenwillen zum Anders-sein. Daß wir Euch Saft und Holz und Form schei­nen, ist unser Verhängnis.

Wer uns kennte! Das ist das Lied vom Leid des Baumes! 1 2 6

Franz Marcs Absage an den »Willen zur Gestalt« ist eine A b ­sage an die organische Metamorphosenlehre , wie sie R u d o l f

125 Franz Marc: Schriften, hg. v. 0 • ^ . j • i ^ ^ i i i T -Klaus Lankhek, Köln 1978, S. 108 Steiner vertritt , denn in der >Gestalt< erscheinen der F o r m -

126 Marc (zit. A n m . 125), S. 210. wille u n d der Stoff mite inander vereint. Für Marc j edoch ist

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der Stoff, die äußere Natur , nu r Schein, der durchstoßen wer ­den m u ß : »Die Na tu r ist häßlich u n d unselig, ein bitteres Gefängnis des Geis tes .« 1 2 7 Merkwürd ig ist, daß ausgerechnet Marc , der innerhalb des >Blauen Reiters< auf der Seite der »Großen Realistik«, des gegenständlichen Motivs bleibt, die Gestaltlehre ablehnt, während Kandinsky, der »Große A b ­strakte«, theosophisch treu, ihr verpflichtet bleibt.

Goethes Metamorphosenlehre stilisiert die Dinge in der Na tu r zu >Urphänomenen<, die ein intelligenter, gütiger Weltgeist unermüdl ich schafft. Von der H ö h e eines Willens jenseits der Moral gesehen, bleibt dies naturf rommer Trug . »Man hängt nicht m e h r am Naturbi lde, sondern vernichtet es, u m die mächtigen Gesetze, die hinter d e m schönen Scheine walten, zu ze igen .« 1 2 8 Auffallend ist die Ähnlichkeit mit M o n ­drians Formul ierung, die Kunst vernichte den Gegenstand, sofern er »Ding« sei — ein Gedanke, der sich in Heideggers H e r m e n e u t i k vertieft findet.129 Mi t Mondr i an verbindet Marc auch das Urtei l von der »Mißgestalt« der Bäume. D e n Anblick von wi r r em Laubwerk nicht ausstehen zu können , war ein B o n m o t der provokanten Art , das auf die zartbesai­tete, innige Na tu rve rehrung im Geist des Vegetarismus zielte. D e r Schopenhauersche Wil le fand sein Symbol nicht im schönen Kreislauf pflanzlichen Wachstums, sondern im frei schweifenden Tier. Marcs Pferde, die R e h e u n d besonders der Tiger (1912) haben ihre Ar tverwandten in Nietzsches »Bestie«. Marc verkündet denn auch eine »Animalisierung der Kuns t« , 1 3 0 die sich einfühlt in den Wil len des instinkthaften, dionysischen Lebenstriebs, ungebändigt v o m apollinischen Prinzip der Individuation. M o n d r i a n bleibt theosophisch, w e n n er die Verschmelzung mit d e m rationalen Gleichge­wicht des Kosmos sucht; Marc will im animalischen Wel twi l ­len aufgehen. Nich t die lichte, kalte Klarheit der Kompos i t io ­nen Mondr ians herrscht in der Ideenwelt von Marc; hier riecht es streng wie im Raubt ierhaus .

»Wir zerlegen heute die keusche, spröde, immer täuschende Na tu r u n d fügen sie nach unserm Wil len wieder zusammen. W i r blicken durch die Materie u n d der Tag wird nicht ferne sein, an d e m wir durch ihre Schwingungsmasse hindurchgrei­fen werden wie durch Luft. Stoff ist etwas, das der Mensch höchstens noch duldet, aber nicht anerkennt .« 1 3 1 Ein G e ­mälde, das die Absichten Marcs programmatisch umsetzt, ist Tierschicksale (Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern). Der Titel fügt uns das Puzzle aus zackigen Farbflecken z u m Blick auf eine Lichtung im Unterholz zusammen. De r Wille wird gezeigt i m Augenblick einer >Selbstentzweiung<, w o sich

127 Marc (zit. Anm. 125), S. 212. 128 Marc (zit. Anm. 125), S. 108. 129 Siehe dazu den Abschnitt :

Das Zeug mit den Bauernschuhen. Heidegger bezieht sich in seiner Logik-Vorlesung im W i n t e r 1925/26 auf Franz Marcs Gemälde Tierschicksale, das er in der Kunsthalle Basel gesehen haben konnte . Das Bild zeige nicht ein bestimmtes R e h in einem best immten Wald, sondern das »Im-Wald-sein« und das »Tiersein« des Rehs . Siehe O t t o Pöggeler: Heidegger u n d die Kunst, in: Christoph Jamme/ Karsten Harries (Hg.) : Mar t in Heidegger , Kunst - Politik - Technik, M ü n c h e n 1992, S. 70 f.

130 Zit. nach Roland Bothner: Das zweite Gesicht des Willens - Franz Marc, in: O meine Zeit! So namenlos zerrissen . . . Z u r Weltsicht des E x ­pressionismus, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bielefeld, 1986, S. 63.

131 Marc (zit. Anm. 125), S. 199, 47. Aphorismus.

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132 Bothner (zit. Anm. 130), S. 70; siehe dazu den Abschnitt Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist von Raffaels Transßguration.

133 Bothner (zit. Anm. 130), S. 70.

in den Gestalten der Na tu r die Kräfte durchkreuzen. Ein Blitz schlägt ein. Da ist ein Baum, der aufblühen will u n d getroffen niederkracht. Da ist ein R e h , das sich aufbäumt, doch die stär­kere Naturgewalt bricht seinen Lebenwillen. Der Wille des Gewitters setzt sich gegen den Wil len zu leben durch. Die immaterielle Kraft des Blitzes, malerisch umgesetzt in ein Geschwader von diagonalen Linien, die rechts oben im Bild­raum einfallen, durchschießt das Gegenständliche an Pflanzen u n d Tieren. N o c h ist es zu entziffern als j ene r Stoff, den der Künstler zwar duldet, aber nicht m e h r als geschlossenes Naturgebilde anerkennt . Die Kraftfelder vernichten die plasti­sche Gestalt. De r Unter t i te l deutet es an: Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern. Die Lebewesen scheinen von gläser­ner Durchsichtigkeit, freigelegt bis auf die pulsierenden Bah­nen der Lebenssäfte, die zugleich durchschossen sind von der tö tenden Kraft der Elektrizität. Die Zerlegung der Figuren in ein Craquelet aus Farbsplittern n i m m t Anleihen be im Kubis­mus , der zugleich unter Strom gesetzt wird. Die Figurenfrag­mente ordnen sich gleichsam wie Metallspäne im unsichtba­ren Magnetfeld des Weltwillens.

Die kosmischen Kräfte sind aus d e m Käfig der heilsbrin­genden Theosophie ausgebrochen. D e r Wille wird gefeiert als Manifestation des entfesselten Fortschritts. In R u ß l a n d u n d Italien macht das künstlerische Verfahren Kunstgeschichte als Kubo-Futur i smus . Was Franz Marc noch im Wald ansiedelt, verwandelt sich unter den Pinseln von Carrä, Boccioni u n d Severini zu Szenen, durchdröhnt v o m Straßenlärm u n d G e ­schützdonner des Krieges. Uberzeugend ist Ro land Bothners Versuch, Marcs Tierschicksale als ein »Palimpsest« zu Raffaels Transßguration im Geist von Nietzsches D e u t u n g zu ver­s t e h e n . 1 3 2 Bo thner bemerkt , Marc habe sich auf die dionysisch dunkle , untere Hälfte von Raffaels Gemälde beschränkt. Folgerichtig fehlt eine obere Sphäre, die der Darstellung Jesu auf d e m Berg Tabor entspräche: eine bewußte »Aussparung des erlösenden Mot ivs« . 1 3 3 Nach Nietzsches Lesart, die Marc gewiß kannte , gehör t die Lichtgestalt Gottes zur Wel t der Vorstellung, die der Künstler durchbrechen m u ß . Marc setzt sein R e h derselben unausweichlichen Macht des Willens aus, die — durch Nietzsches Lesebrille — auch Raffaels m o n d s ü c h ­tigen Knaben ergriffen hat. In der Tat könnte Marcs K o m p o ­sition entstanden sein nach Hoelzels M e t h o d e der Analyse alter Meister, die v o m gegenständlichen Gemälde ausgehend den formalen Aufbau abstrahiert. Die Gebärden des H i n - u n d Herzeigens in Raffaels Figurengruppe finden sich demnach bei Marc in ein diagonales Liniengeflecht übersetzt. In der

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Gestalt des R e h s sieht Bo thner das mode rne Pendant zu Raffaels dominierender Magdalena in der Bildmitte . D o c h was als kompositorische Parallele naheliegt, entspricht m o t i ­visch nicht den Absichten Marcs. Die Frauenfigur versinn­bildlicht ein Mit leiden, das Marc vehement aus der Kunst ver­bannt wissen wollte. Mi t Nietzsche wende t er sich gegen Schopenhauers These v o m Mitleid mi t der Kreatur als h ö c h ­stem Geisteszustand in Verneinung des Willens. »Wir wollen nicht mitleiden, sondern umschaffen, anderes schaffen«, 1 3 4 rief der Künstler aus. Höchster Zus tand war für ihn die Bejahung des Willens, der sich in einen »Sieg des Wissens über die Vor­stellung« w a n d e l t . 1 3 5 De r Sieg gehörte d e m Wil len zur Macht .

Es ist das Geheimnis der Schaffenden (wie der Natur, dem Symbol der Schaffenden), gerade den Widersinn, das Spröde und Böse zu ihrem Werke zu gebrauchen.

Nietzsche's Lehre, daß alles Große >trotzalledem< geschieht, ist das Evangelium der Schaffenden.

Unsre Herzen zittern in dieser Kriegsstunde, nicht vor der Gefährlichkeit der Krise, sondern vor Freude, die böse, dunkle Stunde Europa's erlebt zu haben.

Das Ausfallsthor der Tha t . 1 3 6

Schon stand der Maler un ter Waffen.

Franz M a r c , Tierschicksale, 1913

134 Marc (zit. Anm. 125), S. 213. 135 Marc (zit. Anm. 125), S. 197. 136 Marc (zit. Anm. 125), 203 f.,

63. Aphorismus.

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Krieg als Fortsetzung der Kunst

137 Franz Marc: Briefe aus dem Felde, S. 139. Roland Mön ig hat Marcs Äußerungen zu Krieg und Kunst einer kritischen Analyse unterzogen in: »... mit pochendem Herzen am Anfang der Dinge . . .«, Franz Marcs >Skizzenbuch aus dem Felde<, in: Franz Marc, Kräfte der Natur , Werke 1912-1915, Aus­stellungskatalog, hg. v. Erich Franz, Ostfildern 1993.

138 Zit. nach M ö n i g (zit. Anm. 137), S. 239.

139 Vgl. dazu: Der Blaue Rei ter (zit. A n m . 81), S. 263 .

E r s t e h e »mi t p o c h e n d e m H e r z e n a m A n f a n g d e r D i n g e « , s c h r e i b t M a r c i n se in Skizzenbuch aus dem Felde, e n t s t a n d e n a n d e r W e s t f r o n t z w i s c h e n M ä r z u n d J u n i 1 9 1 5 . 1 3 7 A u s d e n B r i e ­fen d e s K ü n s t l e r s s p r i c h t e i n M y s t i k e r i n U n i f o r m , d e r i m S c h ü t z e n g r a b e n d e n W e l t g e i s t d e r E r n e u e r u n g d o n n e r n h ö r t . D i e A p o k a l y p s e d e r K u n s t , d i e d e r >Blaue R e i t e n v e r k ü n d e t e , w a r j e t z t in s L e b e n g e t r e t e n . M a r c sah d i e P r o p h e t i e n d e r A v a n t g a r d e bes t ä t i g t ; e r e m p f a n d k e i n e n W i d e r s i n n , w ä h r e n d d e r G e f e c h t s p a u s e n z u z e i c h n e n : K u n s t u n d K r i e g e n t s t r ö m ­t e n d e m e i n e n s c h ö p f e r i s c h e n W e l t w i l l e n . W i e se in R e h i m G e w i t t e r s t u r m , füh l t e e r s ich i m G e s c h ü t z l ä r m e ins m i t d e m S c h w u n g des U n i v e r s u m s . Als i h m d i e F e l d p o s t i m M ä r z 1915 e i n e K a r t e m i t d e m M o t i v d e r Tierschicksale zu s t e l l t e , m a c h t e i h n d i e K l a r h e i t e r s c h a u e r n , m i t d e r se in G e m ä l d e »e ine V o r a h n u n g d ieses Kr i eges« v o r w e g g e n o m m e n h a t t e . 1 3 8

D a ß er , ä h n l i c h w i e se in R e h v o m B l i t z , v o n e i n e r K u g e l ge t ro f f en w e r d e n w ü r d e — a m 4 . M ä r z 1916 i n V e r d u n — n a h m e r als Sch icksa l h i n : i n d e r m y s t i s c h e n U n i o n m i t d e m W e l t w i l l e n g a b es k e i n e n T o d .

S p i r i t u e l l e r E r l ö s e r w i l l e u n d n ih i l i s t i s che r W i l l e j e n s e i t s v o n Z w e c k e n s i n d z w e i w i d e r s p r ü c h l i c h e m o d e r n e H a l t u n ­g e n , d i e s ich i n d e n K ö p f e n i h r e r V e r t r e t e r a l l e rd ings n i c h t i m m e r k l a r u n t e r s c h i e d e n . Fa ta l ist d i e V e r m i s c h u n g . W i r d v o m E r l ö s e r w i l l e n n u r das S e n d u n g s b e w u ß t s e i n u n d v o m N i h i l i s m u s n u r das G e s e t z d e r S t ä r k e k u r z g e s c h l o s s e n , e n t ­s t e h t d e r sp i r i t ue l l e F a s c h i s m u s : d e r W i l l e z u r M a c h t als S e l b s t z w e c k . I n M a r c s D e n k e n ze ig t s ich d i e M o d e r n e i m S ü n d e n f a l l , w o für d e n G l a u b e n a n d i e I d e n t i t ä t v o n K u n s t u n d L e b e n a u c h das M i t t e l d e s K r i e g s g e r e c h t f e r t i g t w i r d .

D e r T h e o s o p h i n K a n d i n s k y k o n n t e M a r c s K r i e g s b e g e i ­s t e r u n g n i c h t t e i l e n . G e t e i l t h a t e r abe r , z u m i n d e s t i n d e r G r ü n d u n g s p h a s e des >Blauen Rei te rs< , d i e m a r t i a l i s c h e M e t a -p h o r i k d e r A v a n t g a r d e . S o m u ß d e n n a u c h j e n e b e r ü h m t e U r s p r u n g s l e g e n d e d e s N a m e n s >Der B l a u e R e i t e n als V e r ­

s u c h e i n e r n a c h t r ä g l i c h e n A b w i e g e l u n g v e r s t a n d e n w e r d e n : » . . . b e i d e l i e b t e n w i r B l a u , M a r c — P f e r d e , i ch — R e i t e r « , b e g r ü n d e t e K a n d i n s k y d i e N a m e n s g e b u n g später . D a ß d e r N a m e 1911 a m Kaf fee t i sch i n d e r S i n d e l s d o r f e r G a r t e n l a u b e d e r M a r c s e r f u n d e n w o r d e n sei , w i e es K a n d i n s k y s c h i l d e r t e , ist e i n e idy l l i sche U n t e r t r e i b u n g . 1 3 9 D e n n b e r e i t s 1 9 0 3 h a t t e K a n d i n s k y , n o c h i n s p ä t i m p r e s s i o n i s t i s c h e r M a n i e r , e i n e n Blauen Reiter g e m a l t , d e r v o m W a l d r a n d i n d i e L i c h t u n g p r e s c h t : d e r M e l d e l ä u f e r d e r A v a n t g a r d e b r i c h t aus d e m

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G e h ö l z des 19 . J a h r h u n d e r t s i n das L i c h t d e r N e u e n Z e i t , Der Blaue Reiter, Front ispiz u n d w ä h r e n d a m H i m m e l d i e W o l k e n a b z i e h e n . D a s W o r t Titelsei te des Almanachs >Avantgarde< h a t d e n m i l i t ä r i s c h e n U n t e r t o n d e r >Vorhut< e i ­n e r A r m e e , d i e i m B e g r i f f ist, s ich v e r h e i ß e n e s L a n d z u u n ­t e r w e r f e n .

E i n g u t e s D u t z e n d K r i e g e r f i g u r e n ist i m A l m a n a c h Der Blaue Reiter a b g e b i l d e t . U n t e r i h n e n r e i t e n G o t t e s s t r e i t e r , a l l en v o r a n d e r h e i l i g e M a r t i n . E r e r s c h e i n t a u f d e m F r o n t i ­spiz: Bayerisches Spiegelbild St. Martin. D e n b e r i t t e n e n M a n t e l ­s p e n d e r k o m m e n t i e r t e i n H o l z s c h n i t t - E m b l e m u n t e r d e r T i t e l e i — e i n S t e r n d e r E r l ö s u n g , d e r a u f d i e G e b u r t de s M e s ­sias v e r w e i s t . D e r B l a u e R e i t e r ist e i n S o l d a t , d e r i m Z e i c h e n d e s H e i l s v e r s c h e n k t . >Geistige G ü t e n l a u t e t d e r e r s t e B e i t r a g v o n F r a n z M a r c ; e r h a n d e l t v o n d e r S c h w i e r i g k e i t , d i e M e n ­s c h e n z u b e g l ü c k e n . »Es ist m e r k w ü r d i g , w i e ge i s t ige G ü t e r v o n d e n M e n s c h e n so v o l l k o m m e n a n d e r s g e w e r t e t w e r d e n als m a t e r i e l l e . E r o b e r t z. B . j e m a n d s e i n e m V a t e r l a n d e e i n e n e u e K o l o n i e , so j u b e l t i h m das g a n z e L a n d e n t g e g e n . M a n

181

Gabriele M u n t e r , Stilleben mit heiligem Georg, 1911

140 Marc in: Der Blaue Reiter (zit. Anm. 81), S. 2 1 .

141 Marc in: Der Blaue Rei ter (zit. A n m . 81), S. 24.

b e s i n n t s ich k e i n e n T a g , d i e K o l o n i e i n B e s i t z z u n e h m e n . M i t g l e i c h e m J u b e l w e r d e n t e c h n i s c h e E r r u n g e n s c h a f t e n b e ­g r ü ß t . K o m m t a b e r j e m a n d a u f d e n G e d a n k e n , s e i n e m V a t e r ­l a n d e e i n n e u e s r e inge i s t i ge s G u t z u s c h e n k e n , so w e i s t m a n d ieses fast j e d e r z e i t m i t Z o r n u n d A u f r e g u n g z u r ü c k , v e r d ä c h ­t ig t se in G e s c h e n k u n d s u c h t es a u f j e d e W e i s e aus d e r W e l t z u schaffen; w ä r e es e r l a u b t , w ü r d e m a n d e n G e b e r n o c h h e u ­te für s e ine G a b e v e r b r e n n e n . « 1 4 0 D e r B l a u e R e i t e r g l e i c h t d e m S e h e n d e n i n d e r H ö h l e , v o n d e m P i a t o n sagt, d i e i m S c h a t t e n g l a u b e n G e f a n g e n e n w ü r d e n i h n t ö t e n , w e n n sie n u r k ö n n t e n . D o c h : » D e r G e i s t b r i c h t B u r g e n « , s ch l i eß t d e r e n t ­t ä u s c h t e S p e n d e r . 1 4 1 D e r a n k l a g e n d e T o n des U n v e r s t a n d e n e n schlägt u m i n k ä m p f e r i s c h e S e l b s t g e w i ß h e i t — das z w e i t e G e ­s ich t de s Z u k u n f t s s o l d a t e n . W a s t u t d e r H e i l i g e , w e n n d e r B e t t l e r , d ieses zaghaf t a n b r e c h e n d e 2 0 . J a h r h u n d e r t , z u b l ö d ist, d i e ge i s t ige G a b e a n z u n e h m e n ? D a n n v e r w a n d e l t s ich d e r B l a u e R e i t e r v o m M a n t e l s p e n d e r z u m D r a c h e n t ö t e r ! D a s M o t i v d e s h e i l i g e n G e o r g t r i t t d r e i m a l i m A l m a n a c h auf, w i e ­d e r g e g e b e n n a c h V o l k s b l ä t t e r n aus d e m E l s a ß u n d aus R u ß ­l a n d , v o n w o K a n d i n s k y d i e t iefe V e r e h r u n g für d i e s e n H e i l i ­g e n m i t i n d e n W e s t e n g e n o m m e n h a t t e . G a b r i e l e M ü n t e r s Stilleben mit heiligem Georg v o n 1 9 1 1 , das i m Blauen Reiter a b g e ­d r u c k t ist, ze ig t e i n e n H e r r g o t t s w i n k e l m i t v o l k s t ü m l i c h e n N i p p s a c h e n u n d D e v o t i o n a l i e n . L i n k s o b e n e r s c h e i n t — e i n B i l d i m B i l d — d i e l e u c h t e n d e I k o n e d e s b e r i t t e n e n D r a c h e n -t ö t e r s , d i e i n d i e s e n a b g e d u n k e l t e n B i l d r a u m als s t r a h l e n d e V i s i o n e i n L o c h schlägt . S i e h e , i ch k o m m e u n d t ö t e d e n D r a -

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c h e n n a m e n s M a t e r i a l i s m u s , das G e w ü r m d e r a l t e n W e l t m i t i h r e n v e r k o m m e n e n T r a d i t i o n e n !

D e r B l a u e R e i t e r ist S p e n d e r u n d K ä m p f e r , he i l i ge r M a r t i n u n d he i l i ge r G e o r g i n e i n e r Ges ta l t . D i e A v a n t g a r d e t r i t t a u f m i t G ü t e u n d Z o r n , w i e J e s u s , d e r s ich h i n g i b t a n d i e r e u i g e n S ü n d e r , a b e r d i e W e c h s l e r i m T e m p e l m i t P r ü g e l n v e r t r e i b t . D i e U m s c h l a g e n t w ü r f e für d e n A l m a n a c h z e i g e n e i n e n B e r i t ­t e n e n a u f e i n e m sich a u f b ä u m e n d e n Pfe rd , u n t e r i h m a b s t r a k t e F o r m k n ä u e l , d i e z w i s c h e n B e t t l e r u n d D r a c h e s c h w a n k e n : O p f e r d e r r ä c h e n d e n L a n z e u n d E m p f ä n g e r d e r M a n t e l s p e n d e m i t d e m S c h w e r t . Z u d e n c h r i s t l i c h e n G o t t e s s t r e i t e r n gesel l t s ich i n d e r M o t i v w e l t K a n d i n s k y s d e r R ä u b e r h a u p t m a n n S t e n k a R a s i n . S y m b o l i s t i s c h e r A r c h e t y p ist das B i l d Wolgalied v o n 1 9 0 6 . Z u s e h e n s ind d i e Schiffe R a s i n s u n d s e ine r G e ­f ä h r t e n , i m Begriff , d i e l a n g e n R u d e r s t a n g e n z u m pa ra l l e l en G l e i c h s c h l a g zu r i c h t e n . R a s i n u n t e r n a h m m i t l a n d l o s e n K o s a ­k e n R a u b z ü g e e n t l a n g d e r t ü r k i s c h e n u n d p e r s i s c h e n K ü s t e des K a s p i s c h e n M e e r s ; d i e B e u t e te i l te e r m i t d e n A r m e n . N a c h e i n e r m i ß l u n g e n e n B e s e t z u n g v o n S t ä d t e n a n D o n u n d W o l g a m i t s e ine r R ä u b e r a r m e e w u r d e R a s i n 1671 i n M o s k a u h i n g e r i c h t e t .

P l ü n d e r n u m z u v e r t e i l e n e n t s p r i c h t d e m R a u b r i t t e r e t h o s d e s Blauen Reiters. A l s v i e l b e i n i g e S p i n n e n f o r m e n — L i n i e n , d i e v o n e i n e m D - f ö r m i g e n Z e i c h e n a b s t r a h l e n — r u d e r n d u r c h K a n d i n s k y s K o m p o s i t i o n e n d e r f r ü h e n 1 9 1 0 e r J a h r e R a s i n s Schiffe, u n t e r w e g s m i t d e n S i e d l e r n d e r Z u k u n f t . V e r g l e i c h b a r d e m e s o t e r i s c h e n V e r f a h r e n d e r A b s t r a k t i o n i m W e r k v o n R u d o l f S t e i n e r , e r s c h e i n t i m Blauen Reiter d i e r e p r ä s e n t a t i v e S c h i c h t d e r F i g u r e n e i n g e k o c h t z u m k r y p t o -g r a m m a t i s c h e n K ü r z e l : z u r H i e r o g l y p h e , b e d e u t s a m für d e n E i n g e w e i h t e n , rä tse lhaf t u n d s p r ö d für d e n U n w i s s e n d e n , w i e d i e Z e i c h e n d e r v e r f o l g t e n C h r i s t e n a n d e n M a u e r n d e r K a t a ­k o m b e n .

E i n J a h r n a c h E r s c h e i n e n des A l m a n a c h s , 1 9 1 3 , t r u g e n s ich d i e K ü n s t l e r g r u p p e u n d d e r V e r l e g e r R e i n h a r d P i p e r m i t d e m P r o j e k t e i n e r i l l u s t r i e r t e n B i b e l , d i e d e n T i t e l Blaue-Reiter-Ausgabe t r a g e n so l l te . W ä h r e n d d e r A r b e i t a m A l m a n a c h w a r d i e se I d e e , d i e d e r K r i e g v e r s c h ü t t e t h a t , s i ch tba r h e r a n g e r e i f t . K a n d i n s k y h a t das L i b r e t t o v o n Der gelbe Klang d e n n a u c h m i t z w e i B i b e l i l l u s t r a t i o n e n aus d e m 1 5 . J a h r h u n d e r t v e r s e h e n . D i e e i n e s t a m m t aus d e r N ü r n b e r g e r B i b e l v o n 1 4 8 3 u n d v e r ­b i l d l i c h t B a b y l o n als G r o ß s t a d t u n d H u r e d e r K ö n i g e . Sie r e i ­t e t das s i e b e n k ö p f i g e U n g e h e u e r , d e s s e n W i e d e r k u n f t das L e t z t e G e f e c h t z w i s c h e n d e n H e r r s c h e r n des B ö s e n u n d d e m L a m m G o t t e s e i n l e i t e n w i r d . D i e A v a n t g a r d e v e r s t e h t s ich als

Wassily Kandinsky , Endgül t ige r U m s c h l a g e n t w u r f für den A l m a n a c h Der Blaue Reiter, 1911

183

Des Himmels Bewegung . . . Und Schmelzen.. . der Steine . . .

Nach oben hoch wachsend unsichtbarer . . . W a l l . . . «

Hohe Stimmen:

»Tränen und Lachen . . . Bei Fluchen Gebete . . .

Der Einigung Freude und schwärzeste Schlachten.«

Alle:

»Finsteres Licht bei dem . . . sonnigsten . . . Tag

(schnell und plötzlich abhauend).

Grell leuchtender Schatten bei dunkelster Nacht!!«

Das Licht verschwindet. Es wird plötzlich dunkel. Längere

Pause. Dann Introduktion im Orchester. [ 120]

Einleitung

Im Orchester einige unbestimmte Akkorde.

Vorhang.

Auf der Bühne dunkelblaue Dämmerung, die erst weißlich ist

und später intensiv dunkelblau wird. Nach einer Zeit wird in der

Mitte ein kleines Licht sichtbar, welches mit der Vertiefung der

Farbe heller wird. Nach einer Zeit Orchestermusik. Pause.

Hinter der Bühne wird ein Chor hörbar, welcher so eingerichtet

werden muß, daß die Quelle des Gesanges nicht zu erkennen ist.

Hauptsächlich sind die Baßstimmen zu hören. Das Singen ist gleich­

mäßig, ohne Temperament, mit Unterbrechungen, die durch

Punkte bezeichnet sind. [ 1 1 9 ]

Erst tiefe Stimmen:

»Steinharte Träume . . . Und sprechende Felsen . . .

Schollen mit Rätseln erfüllender F r a g e n . . .

2 1 3 2 1 2

Doppelse i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e iner A b b i l d u n g aus der Lübecke r Bibel , Lübeck 1494 , D i e J u d e n m i t der Bundes lade an d e n M a u e r n Je r ichos

142 James Billington hat Kan-dinskys Rei te r mi t der Apokalypse in Verbindung gebracht. Siehe James Billington: T h e Icon and the Axe, An Interpretat ive His tory of Russ ian Cul ture , London 1966.

V o r t r u p p d ieses T r e f f e n s . >Der B l a u e Rei te r< g e h ö r t z u d e n v i e r A p o k a l y p t i s c h e n R e i t e r n , d i e a u f t r e t e n , w ä h r e n d das L a m m d i e e r s t e n v i e r S iege l b r i c h t ( Joh . Off. 6,1—8). D i e J o h a n n e s - A p o k a l y p s e g e h ö r t z u d e n H a u p t q u e l l e n d e s S y m ­b o l i s m u s , v o n d e m d i e K ü n s t l e r d e r A b s t r a k t i o n n o c h vö l l ig d u r c h t r ä n k t s i n d . 1 4 2

D e n o p t i s c h e n A u f t a k t z u Der gelbe Klang b i l d e t e i n e I l l u s t r a t i o n aus d e r L ü b e c k e r B i b e l v o n 1 4 9 4 : Sie ze ig t d i e J u d e n m i t d e r B u n d e s l a d e b e i d e r E i n n a h m e d e r S t a d t J e r i c h o (Jos. 6 ) . A m s i e b t e n T a g d e r B e l a g e r u n g fal len d i e M a u e r n d e r S t a d t u n t e r d e m — g e l b e n ? — K l a n g d e r T r o m p e t e n . D i e Z e r ­s t ö r u n g als n e g a t i v e S c h ö p f u n g w ä h r t e b e n s o l a n g w i e G o t t e s A r b e i t i n d e r G e n e s i s . A n das V e r s p r e c h e n d e r W e l t e r n e u e ­r u n g ist d i e Z e r s t ö r u n g d e s A l t e n g e k n ü p f t . D i e Se i t e de s g ü t i g s c h e n k e n d e n Z u k u n f t s s o l d a t e n e n t h ü l l t s ich ers t , n a c h ­d e m e r als a p o k a l y p t i s c h e r D r a c h e n t ö t e r se in W e r k v o l l b r a c h t h a t . I m E i n k l a n g m i t d e r T h e o s o p h i e u n d d e r t h e o r e t i s c h e n P h y s i k sah sich d e r B l a u e R e i t e r als V o r k ä m p f e r e i n e r n e u e n

184

Französisch (19. Jahrh.)

Deutsch ( 1 5 . Jahrh.)

Bild 1

(Rechts und links vom Zuschauer.)

Die Bühne muß hier möglichst tief sein. Ganz weit hinten ein brei­

ter grüner Hügel. Hinter dem Hügel glatter, matter, blauer, ziem­

lich tieffarbiger Vorhang.

Bald beginnt die Musik, erst in hohen Lagen. Dann unmittelbar

und schnell zu unteren übergehend. Z u r selben Zeit wird der

Hintergrund dunkelblau (mit der Musik gleichzeitig) und be­

kommt schwarze breite Ränder (wie im Bild). Hinter der Bühne

wird ein Chor ohne Worte hörbar, welcher ohne Gefühl klingt,

ganz hölzern und mechanisch. Nach dem Schluß des Chorgesanges

allgemeine Pause: keine Bewegung, kein Klang. Dann Dunkelheit.

Später wird dieselbe Szene beleuchtet. Von rechts nach links

werden fünf grellgelbe Riesen (möglichst große) herausgeschoben

(es ist wie ein Schweben direkt über dem Boden).

Sie bleiben ganz hinten nebeneinander stehen - mit teils hoch-

2 1 5

Z e i t , d i e d e n M a t e r i a l i s m u s ü b e r w i n d e t . , »Das Z e r f a l l e n d e s A t o m s w a r i n m e i n e r See le d e m Ze r f a l l d e r g a n z e n W e l t g l e i ch . P l ö t z l i c h f i e l en d i e d i c k s t e n M a u e r n . Al les w u r d e u n ­s icher , w a c k e l i g , w e i c h . I c h h ä t t e m i c h n i c h t g e w u n d e r t , w e n n e i n S t e i n v o r m i r i n d e r Luf t g e s c h m o l z e n u n d u n s i c h t ­b a r g e w o r d e n w ä r e . « 1 4 3 D i e K u n s t d e r A v a n t g a r d e so l l t e , w i e d i e T r o m p e t e n v o n J e r i c h o , d i e M a u e r n des M a t e r i a l i s m u s z u m E i n s t u r z b r i n g e n . D e r a l t e n W e l t w ü r d e dasse lbe w i d e r ­f a h r e n w i e d e r k a n a a n i t i s c h e n S t ad t . K a n d i n s k y , d e r A v a n t ­gard i s t , v e r s t a n d s ich als V o r b l ä s e r de s U n t e r g a n g s u n d d e s G e r i c h t s . D a s M o t i v d e r K r u m m h ö r n e r — T r o m p e t e n v o n J e ­r i c h o u n d z u g l e i c h P o s a u n e n d e r A p o k a l y p s e - b i l d e t , w i e das s ich a u f b ä u m e n d e P fe rd , w i e d i e R u d e r s c h i f f e S t e n k a R a s i n s , e i n e k r a k e l i g h i n g e z e i c h n e t e , k a l l i g r a p h i s c h e G e h e i m b o t ­schaft als R e f r a i n v o n W e l t u n t e r g a n g u n d W e l t e r n e u e r u n g i m G e i s t d e r A b s t r a k t i o n .

W e r n i c h t b e r e i t s t e h t für d i e S e g n u n g e n d e r A v a n t g a r d e , d e r w i r d l ee r a u s g e h e n - w i e d i e t ö r i c h t e n J u n g f r a u e n , d i e d i e

Doppelse i te aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e iner L i thogra­ph ie , französisch (?), 19. J h . , u n d einer A b b i l d u n g aus der N ü r n b e r g e r Bibel , 1 4 8 3 , D i e babylonische H u r e

143 S. X .

Kandinsky (zit. A n m . 112),

185

Doppelse i te aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e iner j a p a n i ­schen Fede rze i chnung u n d der Skulp tur Törichte Jungfrau v o n der Paradiespforte des M a g d e b u r g e r D o m s , u m 1240-50

144 Der Blaue Rei ter (zit. Anm. 81), S. 182.

145 Der Blaue Rei ter (zit. A n m . 81), S. 68 -69 .

A n k u n f t de s e r w a r t e t e n B r ä u t i g a m s v e r p a s s e n , da das Ö l i h r e r L a m p e n n i c h t a u s r e i c h t . D i e S k u l p t u r e i n e r d e r t ö r i c h t e n J u n g f r a u e n a n d e r P a r a d i e s p f o r t e des M a g d e b u r g e r D o m s ist als v i sue l l e r K o m m e n t a r a m E n d e v o n K a n d i n s k y s B e i t r a g > Ü b e r d i e Formfrage< a b g e b i l d e t . E i n E c h o a u f d i e k r ä h e n -f i ißig u m k n i t t e r t e n A u g e n d e r T r a u e r n d e n b i l d e t d i e > k r ä h e n -fiißige< S c h l u ß v i g n e t t e . 1 4 4 Sie k a n n g e l e s e n w e r d e n als H i e r o ­g l y p h e für e i n R ä u b e r s c h i f f R a s i n s , das d i e B r ä u t i g a m e d e r k l u g e n J u n g f r a u e n t r äg t , d i e d e n Z u k u n f t s s o l d a t e n i n u m s i c h t i g e r E r w a r t u n g i h r e O l l a m p e n ins F e n s t e r ges te l l t h a b e n .

Der Blaue Reiter ist , w i e s c h o n e r w ä h n t , e i n e B ib l i a p a u p e -r u m des M o d e r n i s m u s . B i b l i s c h e u n d h i s t o r i s c h e E r e i g n i s s e s i n d P r o p h e t i e n , d i e s ich i n d e r M o d e r n e e r fü l l en . B e i s p i e l ­haft für das D e n k e n i n t y p o l o g i s c h e n P e n d a n t s ist d i e G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n D e l a u n a y s Eiffelturm u n d E l G r e c o s Heiligem Johannes d. T. a u f e i n e r D o p p e l s e i t e . 1 4 5 D e r B l i c k d e r A b s t r a k t i o n e r k e n n t i m T ä u f e r u n d i m T u r m e i n e ge i s t ige

186

E! Greco; St. Johannes

E n t s p r e c h u n g : B e i d e s t e h e n — a m J o r d a n d e r e i n e , d e r a n d e r e

a n d e r S e i n e — für d e n A n b r u c h e i n e r N e u e n Z e i t . W ä h r e n d

das v o n J o h a n n e s v e r k ü n d e t e R e i c h d e s C h r i s t e n t u m s j e t z t z u

E n d e g e h t , b r i c h t u n t e r d e m Z e i c h e n des E i f f e l t u r m s das M i l l ­

e n n i u m d e r M o d e r n e a n . F r a n z M a r c s ch re ib t :

Doppelse i te aus d e m Almanach Der Blaue Reiter m i t Delaunays Eiffelturm, 1 9 1 0 / 1 1 , u n d El Grecos Heiligem Johannes d. T.

Die Menschheit durchjagte förmlich das letzte Stadium einer tausendjährigen Zeit, die ihren Anfang nahm nach dem Zusammenbruch der großen, antiken Welt. Damals leg­ten die >Primitiven< den ersten Grund für eine lange, neue Kunstentwicklung, und die ersten Märtyrer starben für das neue christliche Ideal.

Heute ist in Kunst und Religion diese lange Entwicklung durchlaufen. Aber noch liegt das weite Land voll Trümmer, voll alter Vorstellungen und Formen, die nicht wei­chen wollen, obwohl sie der Vergangenheit gehören. Die alten Ideen und Schöpfungen leben ein Scheinleben fort, und man steht ratlos vor der Herkulesarbeit, wie man sie vertreiben und freie Bahn schaffen soll für das Neue, das schon wartet. 1 4 6

D i e A v a n t g a r d e ist e i n H e e r v o n n e u e n G l a u b e n s s t i f t e r n , w i e

J o h a n n e s d e r T ä u f e r e i n e r w a r . Fe l ix T h ü r l e m a n n h a t e i n e

v e r b l ü f f e n d e Para l le le z u d e r B i l d m o n t a g e v o n D e l a u n a y u n d

E l G r e c o e n t d e c k t i n G u i l l a u m e A p o l l i n a i r e s G e d i c h t Zone

v o n 1912 : 146 Marc in: Der Blaue Rei ter

(zit. Anm. 81), S. 3 3 - 3 4 .

187

147 O Eiffelturm Hir t die Herde der Brücken blökt heute morgen / D u hast es satt zu leben im griechischen und römischen Alter tum / Sogar die Automobile sehn hier veraltet aus / Die Religion nur ist neu geblieben / die Religion / Ist einfach geblieben wie die Flughafen-Hangars [...] Deutsch von Gerd Henninger , zit. nach: Thür le -mann (zit. A n m . 82), S. 220.

148 Marc in: Der Blaue Rei ter (zit. A n m . 81), S. 3 4 - 3 6 .

Bergere 6 tour Eiffel le troupeau des ponts bele ce matin / Tu en as assez de vivre dans Fantiquite grecque et romaine / Ici meme les automobiles ont l'air d'etre anciennes / La religion seule est restee toute neuve la religion / Est restee simple comme les hangars de Port-Avion[. . . ] 1 4 7

D a s G o t t e s l a m m , das E l G r e c o , n a c h b i l d k ü n s t l e r i s c h e r G e ­p f l o g e n h e i t , z u F ü ß e n J o h a n n e s des T ä u f e r s g e m a l t h a t , i n s p i ­r i e r t e A p o l l i n a i r e o f f enba r z u d e m d i c h t e r i s c h e n Einfa l l , i n d e r F i g u r des T ä u f e r s e i n e n H i r t e n u n d i n d e m H i r t e n d e n Eif fe l ­t u r m z u s e h e n , d e r ü b e r Pa r i s als e i n e r H e r d e w a c h t . D i e freie A s s o z i a t i o n d e r M o d e r n e k ü m m e r t s ich n i c h t z u s e h r u m i k o -n o g r a p h i s c h e G e n a u i g k e i t . D a ß A p o l l i n a i r e s ich v o m Blauen Reiter a n r e g e n l i e ß , b e s t ä r k t >die R e l i g i o m , das z e n t r a l e S t i c h ­w o r t i n d e m G e d i c h t . »E ine n e u e R e l i g i o n « v e r k ü n d e t a u c h F r a n z M a r c i n s e i n e m Aufsa t z >Zwei B i l d e n . E s k l i n g t w i e e i n e P a r a p h r a s e a u f j e n e n b e r ü h m t e n e r s t e n Sa tz i m K o m m u ­n i s t i s c h e n M a n i f e s t — »ein G e s p e n s t g e h t u m i n E u r o p a — das G e s p e n s t de s K o m m u n i s m u s « —, w e n n M a r c feststellt , d a ß »e ine n e u e R e l i g i o n i m L a n d e u m g e h t , d i e n o c h k e i n e n R u f e r h a t , v o n n i e m a n d e r k a n n t . R e l i g i o n e n s t e r b e n l a n g s a m . D e r K u n s t s t i l abe r , d e r u n v e r ä u ß e r l i c h e B e s i t z d e r a l t e n Z e i t , b r a c h i n d e r M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s k a t a s t r o p h a l z u s a m m e n . E s g i b t k e i n e n Stil m e h r . [. . .] D i e s e s B u c h soll i h r B r e n n p u n k t w e r d e n , b is d i e M o r g e n r ö t e k o m m t u n d m i t i h r e m n a t ü r l i ­c h e n L i c h t e d i e s e n W e r k e n das g e s p e n s t i s c h e A n s e h e n n i m m t , i n d e m sie d e r h e u t i g e n W e l t n o c h e r s c h e i n e n . W a s h e u t e g e s p e n s t i s c h s che in t , w i r d m o r g e n n a t ü r l i c h s e i n . « 1 4 8

E i n G e s p e n s t g i n g u m i n E u r o p a — das G e s p e n s t d e r A v a n t ­g a r d e . I h r e B o t s c h a f t w a r e i n e n e u e R e l i g i o n , d i e d i e M e n s c h h e i t w i e d e r a n d e n s c h ö p f e r i s c h e n U r s p r u n g d e r K u l ­t u r f u h r e n w ü r d e . D i e G e s c h i c h t e u n d i h r e m a t e r i e l l e n E r ­g e b n i s s e , d i e se r Z u s t a n d d e r >Seinsvergessenhei t<, m i t H e i ­d e g g e r g e s p r o c h e n , m u ß t e be se i t i g t w e r d e n . S e i n s v e r g e s s e n w a r , i m G e d i c h t A p o l l i n a i r e s , d i e v e r l e b t e S t a d t Pa r i s , d i e d i e V e r g a n g e n h e i t w i e d e r k ä u t e , w i e d i e Schafe i m S c h a t t e n des E i f f e l t u r m s . D i e G e s c h i c h t e t r e n n t e d e n M y t h o s u n d d e n g r o ß e n M o r g e n d e r M o d e r n e v o n e i n a n d e r ; i h r B e h a r r e n l i eß das E r l ö s u n g s w e r k für d i e v e r b l e n d e t e n A u g e n g e s p e n s t i s c h e r s c h e i n e n . D a s N e u e w a r A n f a n g — so w i e d e r E i f f e l t u r m , d e r H a n g a r u n d d i e R e l i g i o n v o n d e r s e l b e n u r s p r ü n g l i c h e n S c h l i c h t h e i t z e u g t e n . E i n e o p t i s c h e V o r w e g n a h m e d e r R e v o ­l u t i o n , d e r U m k e h r z u m A n f a n g , b i e t e t Der Blaue Reiter s e i ­n e m L e s e r i m L a y o u t , das e i n e b u c h s t ä b l i c h e >re-volutio< des B l i cks f o r d e r t . D e r E i f f e l t u r m , Fana l d e r m o d e r n e n E r f ü l l u n g , s t e h t a m A n f a n g d e r L e s e r i c h t u n g , v o r E l G r e c o s T ä u f e r , s e i ­n e m P r o p h e t e n .

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D a s E r l ö s u n g s w e r k d e r M o d e r n e w a r g n o s t i s c h a n g e l e g t : E i n e V o r h u t v o n G e i s t m e n s c h e n , >Pneuma t ike rn< , e r w a r t e t e d i e G ö t t e r d ä m m e r u n g u n d d i e H e i m k e h r i n das E w i g e F e u e r i n m i t t e n e i n e r v ö l l i g v e r k o m m e n e n W e l t . L e i t m o t i v d e r G n o s i s is t d i e A b s p a l t u n g d e s W e l t b a u m e i s t e r s , d e s D e m i u r g e n , v o m U r v a t e r , d e m D e u s a b s c o n d i t u s . A u s d e s s e n g ö t t l i c h e m P l e r o m a s o n d e r t s ich d e r Ä o n d e r S o p h i a ab i n e i n e m ü b e r h e b l i c h e n A k t des Z u - v i e l - w i s s e n - W o l l e n s : d e r ge fa l l ene M o r g e n s t e r n b e i Jesaja (14 ,12 ) , d e r P r o m e t h e u s d e r G r i e c h e n , d e r v e r f l u c h t e J a l d a b a o t h d e r f r ü h c h r i s t l i c h e n G n o s t i k e r . Als Luz i f e r e n t r i n n t e r d e m e w i g e n F e u e r des P l e r o m a u n d schafft s t a r re M a t e r i e — w a s n a c h d e r s p i r i t u e l l e n P h y s i k d e r M o d e r n e d e m P r o z e ß d e r V e r d i c h t u n g u n d E r k a l t u n g k o s m i s c h e r Kraf t e n t s p r i c h t . W ä h r e n d d e r h ö c h s t e G o t t u n d das N i c h t s , n a c h m y s t i s c h e r A u f f a s s u n g , z u s a m m e n ­fal len, b e s t e h t d e r S ü n d e n f a l l de s D e m i u r g e n i n d e r U m ­f o r m u n g des e w i g e n N i c h t s i n E t w a s . D e n n o c h t r a g e n d e r S c h ö p f e r u n d d i e S c h ö p f u n g d i e S e h n s u c h t n a c h e i n e r R ü c k k e h r i n s ich. S c h o n i m W o r t >Luzifer<, L i c h t b r i n g e r , ist d i e g ö t t l i c h e H e r k u n f t de s G e f a l l e n e n i m p l i z i e r t . D a s F e u e r , das P r o m e t h e u s d e n S t e r b l i c h e n g e g e n d e n W i l l e n d e r G ö t t e r a u f d i e E r d e g e b r a c h t h a t , s t a m m t v o m O l y m p . A u s d e m s e l b e n L i c h t ist d e r F u n k e d e r P n e u m a t i k e r , d e s s e n W ä r m e i n d e n H e r z e n w e i t e r g l ü h t als H o f f n u n g , m i t d e m P l e r o m a e in s t w i e ­d e r z u v e r s c h m e l z e n .

D o c h b e v o r es s o w e i t k o m m e n w ü r d e , s t a n d e i n E n d k a m p f b e v o r z w i s c h e n d e m E w i g e n G o t t u n d d e n a b g e f a l l e n e n Kräf ­t e n , d i e i n d e r frevelhaft g e s c h a f f e n e n W e l t w i r k s a m w a r e n . E i n l e t z tes G e f e c h t , e i n e a p o k a l y p t i s c h e R e i n i g u n g , e i n K r i e g ! I n d e n b r ü l l e n d e n B l i t z e n , d i e d e n n ä c h t l i c h e n H o r i z o n t ü b e r V e r d u n auf r i ssen , m o c h t e F r a n z M a r c d e n W i d e r s c h e i n des P l e r o m a e r k a n n t h a b e n , das e r als a v a n t g a r d i s t i s c h e n F u n k e n i n s ich g l i m m e n füh l t e . E i n G e s u n d b r u n n e n w a r d i e s e r K r i e g o d e r besse r : e i n e g r o ß e K r a f t m ü h l e , d i e d i e e r d h a f t e , s c h ä b i g e Se i t e d i e se r W e l t j e t z t z u G e i s t z e r s t a m p f t e . I n M a r c s B r i e f e n b e b t d i e n a r z i ß t i s c h e W u t ü b e r d i e U n z u l ä n g l i c h k e i t d e r n a t ü r l i c h e n S c h ö p f u n g . Sie soll z e r s c h l a g e n w e r d e n : » B ä u m e , B l u m e n , E r d e , alles z e ig t e m i r m i t j e d e m J a h r m e h r h ä ß l i c h e , g e f ü h l s w i d r i g e S e i t e n , b i s m i r e r s t j e t z t p l ö t z l i c h d i e H ä ß l i c h k e i t d e r N a t u r , i h r e U n r e i n h e i t vo l l z u m B e w u ß t s e i n k a m . V i e l l e i c h t h a t u n s e r e u r o p ä i s c h e s A u g e d i e W e l t ve rg i f te t u . e n t s t e l l t ; d e s w e g e n t r ä u m e i c h j a v o n e i n e m n e u e n E u r o p a . « 1 4 9 D i e E r n e u e r u n g - n i c h t n u r d e r K u n s t , s o n d e r n , i - • i J I I i i T i - - I i ^ - i j. 149 Franz Marc: Briefe aus dem

des p o l i t i s c h e n u n d k u l t u r e l l e n L e b e n s ü b e r h a u p t - f ü h r t e F e i d e , hg. v. Klaus Lankhei t /Uwe Stef-d u r c h d i e R o ß k u r d e s >Weltkriegs<, d e s s e n N a m e , g n o s t i s c h fen, M ü n c h e n 1982, S. 65.

189

150 Marc (zit. A n m . 125), S. 197, 4 1 . Aphorismus.

151 Marc (zit. A n m . 125), S.193, 26. Aphorismus.

152 Marc (zit. A n m . 125), S. 173. 153 Marc (zit. A n m . 125), S. 171. 154 Marc (zit. A n m . 125), S. 169. 155 Marc (zit. A n m . 125), S. 170. 156 Marc (zit. A n m . 125), S. 171.

v e r s t a n d e n , a n d e n m e t a p h y s i s c h e n S i n n d e r V e r n i c h t u n g r ü h r t .

D e r K r i e g , s t a n d z u ho f f en , w ü r d e d i e W e l t als V o r s t e l l u n g z e r t r ü m m e r n , d e n S c h l e i e r d e r M a j a z e r r e i ß e n , d e n das a l te , ma t e r i a l i s t i s che W e l t b i l d g e w o b e n h a t t e . D e r K r i e g w a r e i n e E m a n a t i o n d e r W e l t als W i l l e i n s e i n e r z w e c k f r e i e n , e r h a b e n e n G e w a l t u n d , w i e d e r U r k n a l l , o h n e k l e i n l i c h e R ü c k s i c h t e n a u f V e r l u s t e . »Die U m w e r t u n g v o n N i e t z s c h e s W i l l e n z u r M a c h t i n das W i s s e n u m d i e M a c h t , — n a c h l a n g e n K r i e g e n , d i e w i r u n ­t e r N i e t z s c h e s F a h n e n k ä m p f e n u n d n o c h k ä m p f e n w e r d e n —, das w i r d u n s e r G l a u b e , u n s r e Z e i t , d i e Z e i t E u r o p a s s e i n . « 1 5 0

N i e t z s c h e e r s c h e i n t M a r c als P i o n i e r de s W e l t k r i e g s : E r h a b e »seine g e w a l t i g e M i n e ge leg t , d e n G e d a n k e n v o m W i l l e n z u r M a c h t . Sie z ü n d e t e f u r c h t b a r i m g r o ß e n K r i e g e . « 1 5 1 D e n K r i e g s m ü d e n s c h r i e b M a r c t r o t z i g e n t g e g e n : » U n s h a t d e r g r o ß e K r i e g e r f r i sch t u n d b e f r e i t . « 1 5 2 D e r Sa tz s t a m m t aus e i n e m P a m p h l e t , g e s c h r i e b e n i m Fe ld , v o n d e s s e n P u b l i k a t i o n M a r c s F r a u ab r i e t : U n t e r d e m T i t e l >Der h o h e Typus< ist N i e t z s c h e s M o t i v des H e r r e n m e n s c h e n aufgegr i f fen . M a r c v e r t r i t t h i e r das p l a t o n i s c h e K o n z e p t d e r S t a a t s f u h r u n g d u r c h B i l d u n g s e l i t e n m i t z y n i s c h e r K l a r h e i t . D a s w a h r e G e s i c h t des K r i e g e s m ü s s e d e r M a s s e v e r b o r g e n w e r d e n : »Je g r ö ß e r e i n E r e i g n i s ist, w i e d i e se r g r ö ß t e al ler K r i e g e , u m so r i e s ige r ist d i e F o l i e , d i e d i e M e n g e b r a u c h t , u m sich i n das E r e i g n i s z u f ü g e n , u n d u m so h e i m l i c h e r u n d ge i s t ige r ist se in i n n e r e s Z i e l . « 1 5 3

D e r d u r c h s c h n i t t l i c h e S o l d a t b r a u c h e h e r z h a f t e M a r s c h m u s i k u n d p a t r i o t i s c h e R e d e n . N u r d i e E i n g e w e i h t e n k ö n n t e n d e n e r h a b e n e n N i h i l i s m u s e r t r a g e n , d e r s ich i n d e r W u c h t des K r i e g s w e r k s o f f enba re . E i n e S c h l a c h t sei d i e N a t u r , d i e »n ich t k a u f m ä n n i s c h , s o n d e r n s c h ö p f e r i s c h « 1 5 4 r e c h n e ; d e r K r i e g r ü h r e »wie e i n Z a u b e r e r alles S c h l u m m e r n d e , U n g e s a g t e , auf; e r w i r d z u m M a ß al ler D i n g e ; j e d e s D i n g u n d j e d e r G e d a n k e b e k o m m t d u r c h i h n d i e G r ö ß e o d e r K l e i n h e i t , d i e e r v e r d i e n t . J e t z t ist d i e S t u n d e , i n d e r alle W e r t e n e u g e m e s s e n w e r d e n , u n d d i e G e d a n k e n i h r e n e u e , freie F o r m b e k o m m e n . « 1 5 5 K r i e g sei d i e F o r t s e t z u n g k ü n s t l e r i s c h e r S c h ö p f u n g m i t d e r Waf fe , d o c h m i t d i e s e m »tiefen W i l l e n s s i n n « des K r i e g e s d ü r f e d i e M a s s e n a t ü r l i c h n i c h t k o n f r o n t i e r t w e r d e n ; sie b r a u c h e d e n » D e c k b e g r i f f des N u t z e n s « , 1 5 6 d a m i t sie m i t m a r s c h i e r e . D e r K r e i s d e r W i s s e n d e n m ü s s e e n g b e g r e n z t b l e i b e n , d a m i t das W e r k d e r Z u k u n f t s s t i f t u n g g e l i n g e . » D i e M e n g e soll n i c h t a h n e n , w e l c h e m Z i e l e d i e e x a k t e n W i s s e n s c h a f t e n z u s t e u e r n ; d a ß sie t ö t l i ch [sie] s i n d a l l e m , w a s i h r h e u t e n o c h he i l i g u n d b e k a n n t u n d n ö t i g ist. D a s W i s s e n , das u n s j e d e n T a g u m W ü s t e n s t r e c k e n v o r w ä r t s r e i ß t , das alles au f lös t , w a s e h e d e m

190

fest w a r , ist e i n ge f äh r l i ches G e h e i m n i s d e r W e n i g e n . « 1 5 7 N u r w e r d e r » T y p u s v o l l e n d u n g « z u s t r e b e , e r t r a g e d e n m e t a p h y s i ­s c h e n N i h i l i s m u s des K r i e g e s . H e r r s c h e r ü b e r das n e u e E u r o p a w e r d e » N i e t z s c h e s H e r r e n m e n s c h « se in . M a r c w a r d a v o n ü b e r ­z e u g t , w e n n e r i m S c h ü t z e n g r a b e n v o m » g e h e i m e n E u r o p a « t r ä u m t e , d a ß d i e V o r h e r r s c h a f t d e n D e u t s c h e n g e b ü h r t e . »Bis d a h i n w i r d K r i e g se in u n d soll K r i e g se in u n d d a r f k e i n F r i e d e ü b e r u n s D e u t s c h e k o m m e n ; d e n n w i r h a l t e n das Sch icksa l E u r o p a s i n d e r H a n d u n d w e r d e n es n i c h t g e o g r a p h i s c h u n d m i t H a n d e l s v e r t r ä g e n u n d F r i e d e n s s c h l ü s s e n e n t s c h e i d e n , s o n ­d e r n n u r i m G e i s t e s k a m p f , d e r n i c h t w e n i g e r u n e r b i t t l i c h v o r u n s s t e h t w i e e in s t d e r b l u t i g e K r i e g , d e r ü b e r d e m e n t s e t z t e n E u r o p a l a n g s a m t ag t e [ . . . ] . M ö g e D e u t s c h l a n d , u m E u r o p a s w i l l e n , für i h n e b e n s o g e r ü s t e t se in w i e für d e n a n d e r n K r i e g . « 1 5 8 D e n G e i s t e s k a m p f d e r A v a n t g a r d e u n d d e n K r i e g d e r N a t i o n e n u m d i e W e l t h e g e m o n i e sah F r a n z M a r c als n o t ­w e n d i g e E r s c h e i n u n g s f o r m e n d e s s e l b e n W i l l e n s z u r E r ­n e u e r u n g . Z u e r s t m u ß t e d e r K r i e g m i l i t ä r i s c h g e w o n n e n w e r ­d e n , b e v o r d e r b e f r i e d e t e n M e n s c h h e i t d i e g e i s t i g e n G ü t e r d e r A v a n t g a r d e g e s c h e n k t w e r d e n k o n n t e n . D i e K r i e g s e r f a h r u n g w ü r d e sie für d i e k ü n s t l e r i s c h e n B o t s c h a f t e n d e r Z u k u n f t r e i f g e m a c h t h a b e n . »Aus d e m W i l l e n z u r M a c h t w i r d d e r W i l l e z u r F o r m e n t s p r i n g e n . « 1 5 9

D e r m o d e r n e T o p o s e i n e r I d e n t i t ä t v o n K u n s t u n d L e b e n , S c h o p e n h a u e r s I d e e v o m z w e c k f r e i e n W i l l e n , s o w i e N i e t z ­sches a m o r a l i s c h e r W i l l e z u r M a c h t g e h e n b e i F r a n z M a r c — s t e l l v e r t r e t e n d für v i e l e I n t e l l e k t u e l l e s e i n e r Z e i t — d i e e x ­p lo s ive G ä r v e r b i n d u n g d e s s p i r i t u e l l e n F a s c h i s m u s e i n . D i e z u l e t z t z i t i e r t e n G e d a n k e n e n t s t a m m e n M a r c s Schr i f t Das ge­heime Europa, e n t s t a n d e n i m e r s t e n K r i e g s m o n a t N o v e m b e r 1914 u n d p u b l i z i e r t i n d e r S o l d a t e n z e i t s c h r i f t >Das F o r u m < i m M ä r z 1 9 1 5 . T r a g i k o m i s c h d a r i n M a r c s S e i t e n h i e b a u f H e n r i B e r g s o n , d e n e r b e s c h i m p f t e , w e i l j e n e r d i e D e u t s c h e n als B a r b a r e n b e z e i c h n e t h a t t e . I m E r s t e n W e l t k r i e g s c h e i n t d e r u n t e i l b a r e e l an v i t a l — w e n i g s t e n s i n d e n K ö p f e n s e i n e r V e r ­t r e t e r — i n d e n Z u s t a n d d e r n a t i o n a l i s t i s c h e n S e l b s t e n t z w e i u n g g e t r e t e n z u se in .

D a s A m t R o s e n b e r g e r w i e s s ich n o c h n i c h t r e i f für d e n m e t a p h y s i s c h e n N i h i l i s m u s e i n e s F r a n z M a r c , w e n n es d e s s e n B i l d e r b e i d e r M ü n c h n e r S c h a n d - A u s s t e l l u n g v o n 1 9 3 7 u n t e r d i e >Enta r t e t e Kunst< r e i h t e . D e r b i e d e r e , s p i e ß i g e N a z i g e ­h ö r t e z u d e n e n , d i e — m i t M a r c g e s p r o c h e n — P o l i t i k u n t e r d e m >Deckbeg r i f f de s N u t z e n s < v e r s t a n d e n . I h n e n w a r d i e 1 5 7 Marc (zit. A n m . 125), S. 172.

A b g r ü n d i g k e i t d e s s p i r i t u e l l e n F a s c h i s m u s v e r s c h l o s s e n . 1 5 9

E i n i g e V e t e r a n e n b e s c h w e r t e n s ich b e i G ö r i n g , i h r e n K r i e g s - 26. Aph<

158 Marc (zit. A n m . 125), S. 166. 159 Marc (zit. A n m . 125), S. 193,

torismus.

191

k a m e r a d e n als e n t a r t e t a b g e s t e m p e l t z u s e h e n . I n W ü r d i g u n g e i n e s für das V a t e r l a n d G e f a l l e n e n , e i n e s P r o p h e t e n g l o r r e i c h e r K r i e g e für D e u t s c h - E u r o p a , w u r d e n d i e B i l d e r i m H a u s d e r K u n s t v o m P r a n g e r e n t f e r n t .

Le Corbusiers Diktat

160 Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, Berlin/Frankfurt a. M. /Wien 1963, S. 207.

161 Le Corbusier (zit. Anm. 160). 162 Le Corbusier (zit. Anm. 160),

S. 77. 163 Le Corbusier (zit. Anm. 160),

S. 34.

E i n K ü n s t l e r , d e r — n a c h F r a n z M a r c s W o r t — d e n > H o h e n Typus< d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e v i e l l e i ch t a m r e i n s t e n v e r k ö r ­p e r t e u n d d e s s e n W i r k e n u n b e s c h a d e t d u r c h d e n F a s c h i s m u s z u r N a c h k r i e g s z e i t f ü h r t e , ist L e C o r b u s i e r . Be i sp i e lha f t v e r ­t r i t t e r d e n k u l t u r p o l i t i s c h e n P i a t o n i s m u s d e r M o d e r n e . D e r K ü n s t l e r ist , w i e d e r P h i l o s o p h i n P i a t o n s S taa t , E i n g e w e i h t e r i n e i n e m k l e i n e n S t a b u m e i n e n a u f g e k l ä r t e n M a c h t h a b e r ; d i e se E l i t e w e i ß a m b e s t e n , w a s g u t ist für das V o l k . » D e r u n g e ­h e u r e i n d u s t r i e l l e A u f s c h w u n g u n s e r e r Z e i t h a t e i n e b e s o n d e ­re Klasse ge i s t ig W i r k e n d e r h e r v o r g e b r a c h t , d i e so bescha f f en ist , d a ß sie z u r t r e i b e n d e n soz ia l en S c h i c h t g e w o r d e n s i n d « . 1 6 0

D i e t e c h n i s c h e K r e a t i v i t ä t d e r I n g e n i e u r e , d i e l og i s t i s che I n t e l l i g e n z d e r M a n a g e r m a c h e n d i e M o d e r n e : »Sie e n t w e r f e n B r ü c k e n , Schiffe u n d F l u g z e u g e , sie e r f i n d e n M o t o r e n u n d T u r b i n e n . E i n i g e s i n d B a u f ü h r e r , a n d e r e s t e u e r n das K a p i t a l u n d v e r w a l t e n e s . « 1 6 1 F ü r d i e se » A u s l e s e m e n s c h e n « , d i e s ich »in j e n e r m ä n n l i c h e n S p h ä r e b e w e g e n « , 1 6 2 schafft L e C o r b u s i e r d i e p a s s e n d e n R ä u m e . I n d e n I n t e r i e u r s h e r r s c h t d i e A t m o s p h ä r e ge i s t i ge r S o m m e r f r i s c h e . E s r i e c h t n a c h a k t i v e r F re i ze i t : E i n B u c h l ieg t n e b e n d e r C o r b u s i e r - L i e g e , a u f d e m T i s c h s t e h t v i e l l e i c h t e i n e Tasse Kaffee o d e r e i n e S o d a f l a s c h e . D i e M ö b e l s i n d a n g e o r d n e t v o n B e n u t z e r n , d i e s ich des f u n k t i o n e l l e n L u x u s i n g e p f l e g t e r Läss igke i t b e d i e n e n ; d e r H a u s h e r r ist v i e l ­l e i c h t g e r a d e b e i m S o n n e n b a d e n a u f d e r D a c h t e r r a s s e . » D e r s c h ö p f e r i s c h e M e n s c h , d e r M e n s c h d e r T a t u n d des D e n k e n s , d e r E l i t e m e n s c h « v e r l a n g e »nach e i n e m h e i t e r e n u n d a b g e ­s c h l o s s e n e n R a u m , u m sich i n R u h e i n s e i n e A r b e i t v e r s e n k e n z u k ö n n e n ; d i e L ö s u n g d ieses P r o b l e m s ist für d i e G e s u n d h e i t d e r E l i t e u n e r l ä ß l i c h . « 1 6 3

D i e M e n s c h e n d e r M o d e r n e l e b e n w i e a u f e i n e m O z e a n d a m p f e r , m i t p h i l o s o p h i s c h e r L e k t ü r e u n d S p o r t b e ­schäft igt , u n t e r w e g s i n d i e Z u k u n f t , j e d e r u n d j e d e h a t e i n e E i n z e l k a b i n e . K a s u a l e B e g e g n u n g e n f i n d e n a u f d e m D e c k stat t . I m G e g e n s a t z e t w a z u d e n s o w j e t i s c h e n K o n s t r u k t i v i s t e n h a t s ich L e C o r b u s i e r w e n i g v o n d e r F a b r i k , d e r W e l t d e r P r o ­d u k t i o n , a n r e g e n lassen. I h n b e g e i s t e r t e das A m b i e n t e des g e h o b e n e n K o n s u m s , des g e s c h m a c k v o l l e n Acces so i r e s . S e i n e

192

M o d e r n e ist d a u e r n d a u f R e i s e n : »Die K l e i d u n g , d e n Fü l le r , d i e R a s i e r k l i n g e , d ie S c h r e i b m a s c h i n e , das T e l e f o n [ . . . ] , d i e >Innovat ion<-Koffer , d e n G i l e t t e - R a s i e r a p p a r a t u n d d i e e n g l i ­sche Pfeife, d e n M e l o n e n h u t , d i e L i m o u s i n e , d e n O z e a n ­d a m p f e r , das F l u g z e u g « . 1 6 4 D e r m o d e r n e M e n s c h , d a u e r n d u n t e r w e g s , w i r k t d e n n o c h e n t s p a n n t u n d gep f l eg t , l äß t h i n t e r s e i n e m f e d e r n d e n G a n g e i n e n d e z e n t e n H a u c h v o n T a b a k d u f t u n d E a u d e T o i l e t t e z u r ü c k : O l f a k t o r i s c h e s Z e i c h e n , d a ß s ich v o r a n s t ü r m e n d e D y n a m i k d u r c h a u s m i t g e p f l e g t e r E l e g a n z paa r t . W i e sagt d o c h M a r i n e t t i : » H y g i e n e , V e r g n ü g e n u n d K a m p f « s ind d ie d r e i G r u n d s ä t z e des F u t u r i s t e n .

L e C o r b u s i e r g l a u b t e a n e i n e n e u e W e l t o r d n u n g , d i e d u r c h e i n e n e u e A r c h i t e k t u r h e r z u s t e l l e n w a r . F ü r d i e soz i a l en P r o b l e m e h a t t e e r t e c h n o k r a t i s c h e L ö s u n g e n b e r e i t . D i e E n t f r e m d u n g i m I n d u s t r i e z e i t a l t e r e r k l ä r t e e r d a m i t , d a ß d e r M e n s c h s ich i n z w e i S p h ä r e n b e w e g t e : »Einerse i t s l e b t e r i n e i n e r W e l t , d i e s ich s te t ig , l og i s ch u n d k l a r e n t w i c k e l t e u n d m i t L a u t e r k e i t n ü t z l i c h e u n d b r a u c h b a r e D i n g e h e r v o r b r i n g t , u n d a n d e r e r s e i t s d e m a l t e n f e i n d s e l i g e n R a h m e n « 1 6 5 — d i e B ü r g e r i m K i t s c h z w i s c h e n G r ü n d e r z e i t u n d J u g e n d s t i l , d i e A r b e i t e r i m H e i m w e h n a c h i h r e r l ä n d l i c h e n H e r k u n f t . D i e K l u f t w a r z u ü b e r b r ü c k e n , i n d e m d i e P r i v a t s p h ä r e z u r ä s t h e t i s c h e n V o r b e r e i t u n g a u f d i e W e l t d e r P r o d u k t i o n u m g e b a u t w u r d e . N i c h t n u r w ä h r e n d d e r A r b e i t , s o n d e r n 2 4 S t u n d e n l a n g so l l ­t e d e r M e n s c h d e r k ü h l e n S c h ö n h e i t s e i n e r W e r k z e u g e a u s g e ­setz t b l e i b e n ; d a m i t e n t w ö h n t e i h n d e r A r c h i t e k t v o n d e r M u t t e r b r u s t de s K i t s c h e s u n d d e r S e n t i m e n t a l i t ä t . » B a u k u n s t o d e r R e v o l u t i o n . D i e R e v o l u t i o n l äß t s ich v e r m e i d e n . « 1 6 6 Z u v e r b e s s e r n w a r d i e m o d e r n e Gese l l schaf t n i c h t d u r c h sozia le G e r e c h t i g k e i t , s o n d e r n d u r c h d i e S t e i g e r u n g t e c h n i s c h e r E f f i ­z i e n z . W e n n d i e g r o ß e M a s c h i n e ers t r e i b u n g s l o s l au fen w ü r ­d e , e r g ä b e s ich alles a n d e r e v o n selbst .

D e n g r ö ß t e n E i n f l u ß h a t t e n L e C o r b u s i e r s T h e o r i e n a u f d e n S t ä d t e b a u d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s . 1 9 2 5 e r s c h i e n Urbanisme, e i n e K a m p f s c h r i f t i n d e r »Sprache d e s D e k r e t s , j a d e s T a g e s ­b e f e h l s « . 1 6 7 A l s o s p r a c h d e r P r o p h e t u n d V o l l s t r e c k e r d e r K l a s ­s i s c h e n M o d e r n e :

Die Stadt ist ein Arbeitswerkzeug. Die Städte erfüllen diese Funktion in der Regel nicht mehr. Sie sind nicht effektiv:

Sie bedienen sich des Körpers, dem Geist aber stellen sie sich entgegen. Die Unordnung, die sich in ihnen vervielfacht, ist anstößig, ihre Entartung verletzt

unsere Selbstachtung und kränkt unsere Würde. Sie sind des Zeitalters nicht würdig: Sie sind unser nicht würdig.

Eine Stadt! Das ist die Besitznahme der Natur durch den Menschen. Das ist ein Akt des

Menschen gegen die Natur, ein menschlicher Organismus des Schutzes und der Arbeit. Das ist eine Schöpfung. 1 6 8

164 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S. 80.

165 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S .215 .

166 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S .215 .

167 Norber t Huse: Le Corbusier in Selbstzeugnissen und Bi lddoku­menten , Re inbek 1976, S. 56.

168 Le Corbusier : Urban i sme , Paris 1925, S. 5.

193

169 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S. 6.

170 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S. 78.

171 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S. 267.

172 Le Corbusier: Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Berlin/ Frankfurt a. M. /Wien 1964, S. 184.

D e r S t ä d t e b a u d e r M o d e r n e h a t t e d i e >Entar tungen< d e r G e ­s c h i c h t e a u s z u m e r z e n . L e C o r b u s i e r s V o l l k o m m e n h e i t s i d e a l d u l d e t k e i n e h i s t o r i s c h g e w a c h s e n e n H a l b h e i t e n u n d M i ß g e b u r t e n . »Par is , R o m , S t a m b u l . . . I h r B a u folgt d e m W e g d e s E s e l s « . 1 6 9 F o r t m i t d e n s t i n k e n d e n G a s s e n u n d sch ie fen H ä u s e r n i m S t a d t z e n t r u m ! » D i e F ä u l n i s d e r a l t e n S t ä d t e u n d d i e I n t e n s i t ä t d e r m o d e r n e n A r b e i t e n t n e r v e n d i e M e n s c h e n u n d m a c h e n sie k r a n k « . 1 7 0 D e n » W i r r w a r « , d i e » K a k o p h o n i e « , »die G e s i c h t e r u n d d i e B e g i e r d e n « w o l l t e L e C o r b u s i e r b e ­z w i n g e n d u r c h k l a r e , g r o ß e O r d n u n g e n . D e r m o d e r n e S t ä d t e b a u s ä u b e r t e d i e A r c h i t e k t u r v o n i h r e r G e b u n d e n h e i t a n d e n K r e i s l a u f de s n a t ü r l i c h e n Verfal ls . D i e b i s h e r a m B o d e n k r i e c h e n d e S t a d t r i c h t e t e s ich auf, w o b e i »das g a n z e G e ­w i m m e l , das b i s h e r w i e a u s g e t r o c k n e t e r S c h o r f a m B o d e n h ä n g e n b l e i b t , e n t f e r n t , a b g e k r a t z t u n d d u r c h r e i n e G l a s ­kr i s ta l l e e r se tz t w i r d « . 1 7 1

L e C o r b u s i e r s P r o j e k t d e r V i l l e C o n t e m p o r a i n e < aus d e m J a h r 1 9 2 2 b e s t e h t aus e i n e m Spa l ie r v o n 2 0 0 M e t e r h o h e n T ü r m e n , d i e i n g r o ß z ü g i g e n G r ü n a n l a g e n s t e h e n . W a s d e r A r c h i t e k t d u r c h d i e H ö h e e in sp i e l t , k a n n e r a u f d e m B o d e n a u s g e b e n : » Ü b e r a l l r i n g s u m w e i t e g r ü n e F l ä c h e n . G e s u n d e Luf t , fast g a r k e i n L ä r m [ . . . ] . D u r c h das G e ä s t d e r B ä u m e , d u r c h d i e s c h ö n e n A r a b e s k e n d e s L a u b w e r k s , s e h e n Sie i n g r o ß e n A b s t ä n d e n v o n e i n a n d e r r i e s ige K r i s t a l l m a s s e n auf­r a g e n — h ö h e r als i r g e n d e i n G e b ä u d e d e r W e l t « . 1 7 2 N a t u r i n d e r S t a d t ist d i e F o r t s e t z u n g d e r A r c h i t e k t u r m i t d e n M i t t e l n d e r G ä r t n e r e i . D i e s c h ö n e K e h r s e i t e d e r U n t e r w e r f u n g ist d i e I d e a l i s i e r u n g d e r >Natur<: z u m S c h m u c k m e n s c h l i c h e r S c h ö p ­f u n g , als l y r i s c h e r K o n t r a s t z u r P r o s a d e r K o n s t r u k t i o n — u n d als L ä r m s c h i l d z u r S t r a ß e .

L e C o r b u s i e r s H a u p t a u g e n m e r k l ieg t a u f d e m V e r k e h r . D i e W o l k e n k r a t z e r k ä m m e d i e n e n als d i s z i p l i n i e r e n d e r R e c h e n d e r A r b e i t s s t r ö m e , d i e S t r a ß e n als A u f m a r s c h a c h s e n d e r P r o d u k t i o n . D e r G r u n d r i ß d e r V i l l e C o n t e m p o r a i n e < g l e i c h t e i n e m g i g a n t i s c h e n C h i p , d i e M e n s c h e n m a s s e n p u l s i e r e n — g l e i c h s a m h o c h a k t i v i o n i s i e r t — d u r c h e l e k t r o n i s c h e F u n k ­t i o n s k a n ä l e . I n d e r m o b i l i s i e r t e n S t a d t ist Ö f f e n t l i c h k e i t a b g e ­schafft. L e C o r b u s i e r s s t ä d t e b a u l i c h e E n t w ü r f e d e r 2 0 e r u n d 3 0 e r J a h r e e n t h a l t e n k e i n e H i n w e i s e a u f k o m m u n a l e B a u t e n . E s g i b t n u r B ü r o - u n d W o h n t ü r m e : D i e P r i v a t i s i e r u n g d e r S t a d t ist v o l l z o g e n . W a s d e n S i e d l u n g s k ö r p e r a l le in z u s a m ­m e n h ä l t , ist das N e r v e n s y s t e m d e r S t r a ß e . E i n H i r n h a t d i e S t a d t k e i n e s . D i e G r u n d s ä t z e d e r V i l l e C o n t e m p o r a i n e < s i n d i n L e C o r b u s i e r s >Plan Voisin< (1925) e i n g e f l o s s e n , e i n V o r ­sch lag z u m A b b r u c h u n d N e u b a u v o n Pa r i s . I n d e s s e n g e -

194

195

Le Corbus ie r , Plan Voisin de Paris, 1925

173 Le Corbusier: GEuvres com-pletes, Bd. 1, 1 9 1 0 - 1 9 2 9 , Zür i ch 1964, S. 121.

174 Le Corbusier (zit. Anm. 160), S. 224.

p l a n t e m Z e n t r u m s t e h t n i c h t e t w a e i n M a r k t , w o M e n s c h e n z u s a m m e n s t r ö m e n , s o n d e r n e i n e r i e s ige M e n s c h e n s c h l e u d e r : e i n e R a m p e als U m s t e i g e p l a t z v o n d e r A u t o b a h n i n s F l u g z e u g . Pa r i s ist u m g e b a u t z u r Z e n t r i f u g e e i n e r M e n s c h h e i t a u f d e r D u r c h r e i s e . »Es ist N a c h t . W i e e i n M e t e o r e n s c h w a r m i n d e n S o m m e r - Ä q u i n o k t i e n z e i c h n e n d i e A u t o s F e u e r ­z e i c h e n d i e A u t o s t r a ß e e n t l a n g . Z w e i h u n d e r t M e t e r d a r ü b e r , a u f d e n D a c h g ä r t e n d e r W o l k e n k r a t z e r [ . . . ] , b r e i t e t das e l e k ­t r i s c h e L i c h t r u h i g e F r e u d e aus . D i e N a c h t d a r ü b e r . B e q u e m e S t ü h l e , M e n s c h e n , d i e s ich u n t e r h a l t e n , O r c h e s t e r , T a n z b a r s , R u h e . [. . .] M a n h ö r t d e n f e r n e n L ä r m d e r Q u a r t i e r e v o n Pa r i s , d i e u n t e r i h r e r a l t e n K r u s t e g e b l i e b e n s i n d « . 1 7 3 L e C o r ­b u s i e r s p l a n e r i s c h e r B l i c k ist ä s the t i s ch zweck f r e i . E r sah d i e S t ä d t e , d i e e r b a u e n w o l l t e , g l e i c h s a m v o m D e c k e i n e s L u x u s l i n e r s aus , d e r e b e n d i e A n k e r l i c h t e t . 1 7 4 D e r u n h e i m a t ­l i che S c h w e i z e r i n d e r R o l l e des s t ä d t e b a u l i c h e n K o l o n i s t e n :

196

ü b e r R i o d e J a n e i r o , B u e n o s A i r e s , A l g i e r s chwe i f t e das W o h l g e f a l l e n des s c h ö p f e r i s c h e n D i k t a t o r s . E s ist d e r B l i c k d e r E l i t e , d e r S t a n d p u n k t , a u f d e n s i c h L e C o r b u s i e r als K ö n i g s a r c h i t e k t se lbe r ges te l l t h a t . E r z ä h l t e s ich n i c h t z u d e n M e n s c h e n , d i e s e i n e S t ä d t e s ch l i eß l i ch a u c h d a u e r n d b e w o h ­n e n m ü s s e n , d i e u m 8 U h r 15 ins B ü r o g e h e n , a m A b e n d w i e ­d e r h e i m , z u r F a m i l i e , d ies j e d e n W e r k t a g . L e C o r b u s i e r s T e x t e b e s c h r e i b e n d i e S t a d t e r f a h r u n g e i n e s R e i s e n d e n , d e r b e i m A b h e b e n des F l u g z e u g s das f l a c k e r n d e L i c h t e r m e e r u n t e r s ich als U n b e t e i l i g t e r g e n i e ß e n k a n n .

Sch le i e rha f t b l e i b t , w a s e t w a a m >Plan Voisin< n o c h n a c h b a r ­schaf t l ich g e w e s e n w ä r e , h ä t t e m a n das Pa r i s d e r S t r a ß e n c a f e s , d e r L a d e n g e s c h ä f t e , d e r v e r t r a u t e n G e r ä u s c h e u n d G e r ü c h e a u s r a d i e r t . N u r e i n i g e w i c h t i g e M o n u m e n t e so l l t en e r h a l t e n b l e i b e n : so d i e L o u v r e k o l o n n a d e , w e i l sie d i e se lbe S p r a c h e p r o z e s s i e r e n d e r M a c h t sp r i ch t ; a u c h C l a u d e P e r r a u l t h a t t e sie n a c h A b b r u c h e i n e s S t ad tv i e r t e l s e r r i c h t e t . W a s a b e r a u f d e m K ö n i g s w e g d e r g r o ß e n O r d n u n g z u k l e i n s c h i e n u n d z u q u e r lag, w a r w e g z u f e g e n . I n d e r C h a r t a v o n A t h e n 1 9 2 9 w u r d e n L e C o r b u s i e r s S t a d t m o d e l l e z u r L e i t l i n i e d e s m o d e r n e n S t ä d t e b a u s . D i e d a m a l s a n w e s e n d e n A r c h i t e k t e n f a n d e n es u n ­n ö t i g , z u m T h e m a e t w a a u c h P s y c h o l o g e n , P o l i t i k e r o d e r S o z i o l o g e n z u b e f r a g e n , g e s c h w e i g e d e n n sch l i ch t d i e E r ­f a h r u n g v o n S t a d t b e w o h n e r n z u b e r ü c k s i c h t i g e n : » D e r A r c h i ­t e k t h a t d e n Sch lüsse l z u all d e m i n d e r H a n d . « 1 7 5

L e C o r b u s i e r i d e n t i f i z i e r t e s ich n i c h t m i t s e i n e n K o l l e g e n , d e n A r c h i t e k t e n , s o n d e r n t r ä u m t e s ich d i r e k t i n d i e R o l l e d e s b a r o c k e n A u t o k r a t e n . S e i n e V o r b i l d e r w a r e n R i c h e l i e u , C o l b e r t , L o u i s X I V . U n t e r d e n A r c h i t e k t e n i m p o n i e r t e i h m allenfalls n o c h B a r o n H a u s s m a n n , d e r m i t d e m S y s t e m d e r B o u l e v a r d s d i e e r s t e n S c h n e i s e n d e r M o d e r n e d u r c h Pa r i s g e s c h l a g e n h a t t e . S e i n e p e r s ö n l i c h e n V o r b i l d e r t e i l t L e C o r b u s i e r m i t d e n e n O s w a l d S p e n g l e r s . D e m M o d e r n i s t e n u n d d e m R e a k t i o n ä r b e l i e b t e es g l e i c h e r m a ß e n , d i e u n g e h e u ­e r l i c h s t e n T h e s e n u n d P r o g n o s e n a u f z u s t e l l e n . S e i e n es B i l a n z e n , s e i en es S c h l a c h t e n - o h n e m i t d e r W i m p e r z u z u c k e n , g e h e n G e w i n n u n d Ver lus t i h r e r S p e k u l a t i o n e n i m m e r g l e i c h i n d ie M i l l i o n e n . A n a l y s e n o d e r ga r B e w e i s e w e r d e n n i c h t ge l iefer t . D i s k u s s i o n e n h e m m e n d e n G e s c h ä f t s g a n g . D a r i n v e r r ä t s i ch d i e Z e i t v e r f a l l e n h e i t d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e m i t d e r P o l i t i k d e r G e w a l t i m 2 0 . J a h r h u n d e r t .

1 9 4 0 , n a c h d e r B e s e t z u n g v o n Par i s d u r c h d i e D e u t s c h e n , t r e n n t e s ich L e C o r b u s i e r v o n s e i n e m V e t t e r P i e r r e J e a n n e r e t ,

m i t d e m e r seit 1917 e i n A r c h i t e k t u r b ü r o g e f ü h r t h a t t e . I h r e 1 75 Die >Charte d'Athenes< R e i n -D i f f e r e n z e n w a r e n a u c h p o l i t i s c h e r N a t u r . P i e r r e t a u c h t e i n bek 1962, S. 128.

197

d e r R e s i s t a n c e u n t e r ; L e C o r b u s i e r a r b e i t e t e für V i c h y . E r f ü h r t e G e s p r ä c h e ü b e r A r c h i t e k t u r m i t M a r s c h a l l P h i l i p p e P e t a i n , w ä h r e n d s e i n e M o d u l o r t h e o r i e e n t s t a n d — e i n H i n w e i s dafür , d a ß v o n g u t e r F o r m n i c h t a u f e i n e g u t e , l i n k e G e ­s i n n u n g z u s c h l i e ß e n ist .

Mussolinis Spitzhacke

176 Stenografisches Pro tokol l , veröffentlicht in: Quadrante 13/1934; zit. nach: Ueli Pfammatter: Moderne und Macht , >Razionalismo<: Italieni­sche Architektur 1927-1942 , Braun­schweig/Wiesbaden 1990, S. 108 (= Bauwelt Fundamente 85).

I m F r ü h j a h r 1 9 3 4 h i e l t L e C o r b u s i e r e i n e n V o r t r a g i n R o m , z u d e n i h n d i e H e r a u s g e b e r d e r i t a l i e n i s c h e n Z e i t s c h r i f t >Quadran te< e i n g e l a d e n h a t t e n . E s e n t s p r a c h w e n i g e r d e n F a k t e n als d e r C a p t a t i o b e n e v o l e n t i a e , w e n n d e r A r c h i t e k t u r ­p a p s t R o m als »pos te d e c o m m a n d e m e n t « m o d e r n e r A r c h i ­t e k t u r b e z e i c h n e t e - d i e E w i g e S t a d t sei d e r U r s p r u n g g r i e ­c h i s c h - l a t e i n i s c h e r G e i s t e s k r a f t g e b l i e b e n , a u c h w e n n sie m a n c h m a l ü b e r J a h r h u n d e r t e z u sch la fen s c h e i n e . K e r n ­g e d a n k e d e s V o r t r a g s w a r d i e E n g f ü h r u n g v o n A r c h i t e k t u r u n d P o l i t i k . D i e i t a l i e n i s c h e n K o l l e g e n w u r d e n a u f g e r u f e n , i h r e P l ä n e i n d i r e k t e r Z u s a m m e n a r b e i t m i t d e m p o l i t i s c h e n F ü h r e r z u v e r w i r k l i c h e n : » A r c h i t e k t u r u n d S t ä d t e p l a n u n g , d i e e r fü l l t ist v o n G r ö ß e u n d M i l d e für das m e n s c h l i c h e H e r z , « w e r d e d e r W e g n u r g e e b n e t » d u r c h das w u n d e r b a r e Z e i c h e n d e r E n t s c h e i d u n g u n d d e r T a t , d i e e i n z i g d u r c h d i e A u t o r i ­tä t v o l l b r a c h t w e r d e n k a n n - d ie A u t o r i t ä t , d iese v ä t e r l i c h e K r a f t ! « 1 7 6 L e C o r b u s i e r p f l e g t e se in D i k t a t m i t e i n e m T r e ­m o l o v o r z u t r a g e n , das z u r R h e t o r i k d e r M o d e r n e g e h ö r t . D a ß u n s d ieses P a t h o s h e u t e >sa lbungsvo l l v o r k o m m t , ze ig t , d a ß w i r e i n e M e n t a l i t ä t s s c h w e l l e g e m ü t s m ä ß i g ü b e r s c h r i t t e n h a b e n , a u c h w e n n u n s d e r e n s i c h t b a r e F o r m e n n o c h z e i t ­g e m ä ß e r s c h e i n e n .

D e r j u n g e n G e n e r a t i o n v o n d a m a l s h a t t e L e C o r b u s i e r aus d e m H e r z e n g e s p r o c h e n . D i e > G r u p p o 7<, e i n e C o m a s k e r A r c h i t e k t e n g r u p p e , z u d e r L u i g i F i g i n i , G u i d o F r e t t e , S e b a s t i a n o L a r c o , A d a l b e r t o L i b e r a , G i n o P o l l i n i , C a r l o E n r i c o R a v a u n d G i u s e p p e T e r r a g n i g e h ö r t e n — w a s t a t e n sie a n d e r e s , als d i e A u f m e r k s a m k e i t de s D u c e z u u m w e r b e n ? I h r e M a n i f e s t e fü r e i n e » A r c h i t e t t u r a R a z i o n a l e « e r s c h i e n e n 1 9 2 6 / 2 7 i n d e r Z e i t s c h r i f t >La R a s s e g n a Italiana< u n d w a r e n e i g e n t l i c h für M u s s o l i n i g e s c h r i e b e n . B a u e n is t e i n e K ö n i g s d i s z i p l i n ; seit V i t r u v , d e s s e n Zehn Bücher s ich i n d i r e k ­t e r R e d e a n K a i s e r A u g u s t u s r i c h t e n , h a t das A r c h i t e k t u r ­t r a k t a t zua l l e re r s t e i n e n e i n z i g e n L e s e r i m A u g e : d e n H e r r ­s c h e r als o b e r s t e n B a u h e r r n . D i e V e r t r e t e r de s R a z i o n a l i s m o b e h e r z i g t e n d e n m a c c h i a v e l l i s t i s c h e n S t a n d p u n k t L e C o r b u -

198

Mussol in is erster P icke lh ieb z u m A b b r u c h des W o h n q u a r t i e r s für die Via de l l ' Impero

siers: » B a u k u n s t o d e r R e v o l u t i o n . D i e R e v o l u t i o n l äß t s ich v e r m e i d e n . « D i e > G r u p p o 7< v e r l a n g t e v o n d e r A v a n t g a r d e e i n e ä s t h e t i s c h e R e t o u r ä l ' o r d r e , d i e m i t e i n e m »Verzicht a u f I n d i v i d u a l i s m u s « b e g i n n e n sol l te , »mi t d e m Z i e l , das g e f ä h r ­l i che C h a o s d e r I d e e n , T e n d e n z e n u n d St i le e i n z u d ä m m e n . « F u t u r i s m u s u n d K u b i s m u s h ä t t e n z w a r e i n i g e s e r r e i c h t , »aber sie h a b e n das P u b l i k u m v o r d e n K o p f g e s t o ß e n u n d d i e j e n i g e n e n t t ä u s c h t , d i e aus d i e s e r R i c h t u n g g r o ß e E r g e b n i s s e e rhoff ­t e n . « 1 7 7 17 J a h r e n a c h d e m e r s t e n F u t u r i s t i s c h e n M a n i f e s t v o n 1 9 0 9 »ver fo lgen d i e J u n g e n g ä n z l i c h a n d e r e W e g e : W i r alle s p ü r e n das u n a b w e i s b a r e B e d ü r f n i s n a c h K l a r h e i t , n a c h e i n e r N e u d e u t u n g , n a c h O r d n u n g . « 1 7 8

W i e r e c h t h a t das z w e i t e , m i t >Die A u s l ä n d e n b e t i t e l t e M a n i f e s t d e r F u t u r i s t e n : » D e r g r ö ß t e F e h l e r b e s t a n d d a r i n , i h n (Le C o r b u s i e r ) als e i n e A r t F u t u r i s t e n z u b e h a n d e l n , w ä h r e n d e r d o c h i m G r u n d e e i n T r a d i t i o n a l i s t i s t . « 1 7 9 I n fasch is t i scher V e r e i n n a h m u n g g e h e n b e i d e Begr i f f e i n e i n a n d e r ü b e r : D e r F u t u r i s m u s e r n e u e r t d i e a u t o r i t ä r e T r a d i t i o n , i n d e m e r r e s p e k t l o s d i e a l t e n U m g a n g s f o r m e n d e r A u t o r i t ä t ve r l e t z t . B e r t o l u c c i h a t i n s e i n e m F i l m e p o s Novecento das W e s e n f u t u r i ­s t i scher T a k t i k - j e n e r >Ästhet ik des Faustschlags< - m i t l a k o n i ­s c h e r Schro f fhe i t i n S z e n e gese tz t : D e r S o h n v e r p a ß t d e m V a t e r e i n e O h r f e i g e . E r h a t es sat t , d e m A l t e n m i t d e m h o c h ­a u f g e r i c h t e t e n S c h n u r r b a r t , Stil V i t t o r i o E m a n u e l e , g e h o r s a m z u z u h ö r e n . D i e a u t o r i t ä r e n P a t h o s f o r m e l n d e r n e u e n G e n e r a t i o n s ind : S c h w a r z h e m d s ta t t W e s t e u n d Z w e i r e i h e r , Stiefel s ta t t G a m a s c h e n , R e i t p e i t s c h e s ta t t M a h a g o n i s t o c k . H i n t e r d e n P a r o l e n v o m » B r a n d d e r B i b l i o t h e k e n « u n d d e m » S t u r m a u f d i e M u s e e n « k e h r t d i e a l te O r d n u n g w i e d e r e i n ,

177 Gruppo 7, zit. nach: Pfam-matter (zit. A n m . 176), S. 186.

178 Gruppo 7, zit. nach: Pfam-matter (zit. A n m . 176), S. 166.

179 Zit. nach: Pfammatter (zit. Anm. 176), S. 177.

199

180 Zit. nach: Pfammatter (zit. A n m . 176), S. 29.

181 Nach einem Begriff von Su­sanne von Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus in Italien von 1922-1943 , Frankfurt a. M . 1979.

n u r s c h l a n k e r , u n m i t t e l b a r e r , m o d e r n e r . N a c h T o m m a s o M a r i n e t t i , d e m f r ü h e n K a m p f g e f ä h r t e n M u s s o l i n i s , g i l t : » F a s c h i s m u s ist d i e K u n s t d e s F u t u r i s m u s « . 1 8 0 D a m i t fällt a u c h d e r W i d e r s p r u c h z w i s c h e n d e m F u t u r i s m u s v o n 1 9 0 9 u n d d e r j u n g e n G e n e r a t i o n z u r Z e i t de s > Z w e i t e n F u t u r i s m u s < 1 8 1 i n s ich z u s a m m e n . W a s i n d e n f r ü h e n M a n i f e s t e n p r o p h e z e i t w a r , g i n g m i t d e m M a r s c h a u f R o m i n E r f ü l l u n g : d i e A r t o c r a z i a , d e r m o d e r n i s t i s c h e H e r r s c h a f t s p a k t v o n K u n s t u n d M a c h t . A m 2 8 . O k t o b e r 1 9 2 2 z o g e n M a r i n e t t i u n d M u s s o l i n i , das S p r a c h r o h r d e r A v a n t g a r d e u n d d e r V o l k s f ü h r e r , Se i t e a n Se i t e i n d e r H a u p t s t a d t e i n .

I m G e g e n s a t z z u S ta l in u n d H i t l e r h a t M u s s o l i n i s ich i n d i e P o s i t i o n s k ä m p f e d e r A v a n t g a r d e n i c h t e i n g e m i s c h t . A u f d e n c ä s a r i s c h e n G r u n d s a t z des >divide e t impera!< b a u e n d , w a r es k e i n e r d e r s taa t s loya len R i c h t u n g e n d e r K u n s t b e n o m m e n , A u s d r u c k faschis t i scher K u l t u r z u se in . U n d d i e s e n A n s p r u c h h a t t e n al le; es g ib t i n I t a l i en k e i n e A v a n t g a r d e i m E x i l , w a s d i e U n t e r s u c h u n g ü b e r das V e r h ä l t n i s v o n M o d e r n e u n d F a s c h i s m u s z w a r e r l e i c h t e r t , d o c h das h e r k ö m m l i c h e k u n s t h i ­s t o r i s c h e E t h o s i n S c h w i e r i g k e i t e n b r i n g t . W i e m o d e r n u n d s c h ö n ist d o c h T e r r a g n i s C a s a de l Fasc io i n C o m o , a b e r d a r f F a s c h i s m u s s c h ö n se in u n d >modern< h e i ß e n ? — D i e K u n s t ­k r i t i k h a t d i e ä s t h e t i s c h e n G r u n d s ä t z e d e r K l a s s i s c h e n M o ­d e r n e v e r i n n e r l i c h t , w e n n sie m e i n t , F o r m u n d I n h a l t n i c h t v o n e i n a n d e r t r e n n e n z u d ü r f e n .

H i n t e r d e n S t i l d e b a t t e n d e r K ü n s t l e r s t a n d e n d i e I n t e r e s s e n b e i m V e r t e i l u n g s k a m p f d e r S taa t sauf t räge . N e b e n d e m M a i ­l ä n d e r >Novecen to< - Kre i s u m D e C h i r i c o u n d M u z i o , d e n F u t u r i s t e n v o n T u r i n u n d d e r C o m a s k e r > G r u p p o 7< u m T e r r a g n i u n d L i n g e r i s c h w a n g s ich s ch l i eß l i ch d i e S c u o l a R o m a n a auf. Straff g e f ü h r t w u r d e sie v o n M a r c e l l o P i a c e n t i n i , d e r i m I t a l i en M u s s o l i n i s e i n e d o m i n i e r e n d e R o l l e sp ie l t e , w i e Al f red S p e e r i m H i t l e r - D e u t s c h l a n d . E r w a r d e r K ö n i g s ­a r c h i t e k t , d e r i m N a m e n des D u c e d e n S t i l p l u r a l i s m u s h i e r a r ­c h i s c h g l i e d e r t e : E s g a b d i e A r c h i t e k t u r >in U n t e r h o s e n < — das w a r d i e m o d e r n e , b i l l ige B a u w e i s e , g a n z i n O r d n u n g für das V o l k . E s f i n d e n s ich d e n n a u c h d i e s c h ö n s t e n B a u t e n des R a z i o n a l i s m o i n d e r P r o v i n z , i n d e n A u ß e n b e z i r k e n d e r M e t r o p o l e n u n d i n d e n P l a n s t ä d t e n d e r p o n t i n i s c h e n S ü m p f e . D o c h da , w o d e r S taa t auf t ra t , w a r d i e z w e i t e O r d n u n g g ü l ­t ig , d i e A r c h i t e k t u r >im A b e n d a n z u g < : d e r a b s t r a h i e r e n d e K l a s ­s i z i s m u s für D e n k m ä l e r u n d M i n i s t e r i a l g e b ä u d e , für d i e W e l t a u s s t e l l u n g u n d d i e U n i v e r s i t ä t . D i e B e s c h r ä n k u n g a u f >italienische< M a t e r i a l i e n w i e T r a v e r t i n , T u f f u n d M a r m o r e n t s p r a c h z w a r e i n e r k ü n s t l e r i s c h e n E n t s c h e i d u n g , w a r a b e r

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z u g l e i c h ä s t h e t i s c h e r R e f l e x w i r t s c h a f t l i c h e r I so l a t i on : d i e E i n s c h r ä n k u n g d e r S t a h l i m p o r t e aus d e m A u s l a n d .

D i e Klass i sche M o d e r n e v e r t r i t t d e n G r u n d s a t z d e r I d e n ­t i t ä t v o n F o r m u n d I n h a l t ; d a r a u s folgt , d a ß sozia le P r o b l e m e ä s t h e t i s c h z u l ö s e n se i en . S p i n o z a s Ethica, ordine geometrico demonstrata w u r d e ü b e r s e t z t i n e i n e B a u k u n s t als K o r s e t t g e g e n U n r e g e l m ä ß i g k e i t e n i m O r g a n i s m u s d e r Gese l l schaf t . D e r M e n s c h w ü r d e s ich b e s s e r n a n g e s i c h t s d e r e r h a b e n e n O r d ­n u n g e n , m i t d e n e n i h n d i e F o r m s t i f t e r d e r M o d e r n e z u b e ­s c h e n k e n g e d a c h t e n . A r b e i t s l o s i g k e i t , W o h n u n g s n o t , Ü b e r b e ­v ö l k e r u n g l ö s t e n s ich i n d e r S t a d t d e r Z u k u n f t d a n k e i n e r v o l l ­k o m m e n e n A r c h i t e k t u r . »Was L e C o r b u s i e r n i c h t v e r g ö n n t w a r , n ä m l i c h d i e > k r u m m e n W e g e d e r Esel< z u e l i m i n i e r e n u n d aus Pa r i s e i n m o d e r n e s M u s t e r ä la C h a n d i g a r h z u m a c h e n , ist i n d e n z w a n z i g e r u n d d r e i ß i g e r J a h r e n i n i t a l i e n i s c h e n S t ä d t e n , w e n n a u c h i m k l e i n e r e n M a ß s t a b , v e r w i r k l i c h t w o r d e n . « 1 8 2

M u s s o l i n i h a t d e n m o d e r n e n T h e o r i e n d e s U r b a n i s m u s g r ö ß t e A u f m e r k s a m k e i t g e s c h e n k t . S e i n H a u p t i n t e r e s s e gal t d a b e i d e r U m w a n d l u n g d e r S t a d t R o m i n d i e K a p i t a l e de s F a s c h i s m u s , d e r z u g l e i c h d i e W i e d e r h e r s t e l l u n g des r ö m i s c h e n C a p u t m u n d i e n t s p r a c h .

E i n h a l b e s J a h r v o r d e m M a r s c h a u f R o m s c h r i e b M u s s o l i n i : » R o m a e il n o s t r o p u n t o d i p a r t e n z a e d i r i f e r i -m e n t o , e il n o s t r o s i m b o l o , o se si v u o l e , il n o s t r o M i t o . N o i s o g n i a m o T h a l i a r o m a n a , c i o e saggia e fo r t e , d i s c i p l i n a t a e i m p e r i a l e . M o l t o d i q u e l c h e fu l o s p i r i t o i m m o r t a l e d i R o m a r i s o r g e n e l F a s c i s m o : r o m a n o e il n o s t r o o r g o g l i o e il n o s t r o c o r a g g i o : >civis r o m a n u s s u m < . « 1 8 3 D e r m o d e r n e T o p o s v o n d e r Z u k u n f t als e i n e m » Z u r ü c k z u m A n f a n g u n d z u m G r u n d d e r D i n g e ! « w i r d n i r g e n d s so a n s c h a u l i c h w i e i n d e m e n g e n Z u s a m m e n h a n g v o n S t ä d t e b a u u n d A r c h ä o l o g i e i m i t a l i e n i ­s c h e n F a s c h i s m u s . D i e v e r k e h r s t e c h n i s c h e E r n e u e r u n g d e r H a u p t s t a d t g i n g e i n h e r m i t g e w a l t s a m e n G r a b u n g s k a m p a g ­n e n a u f d e r S u c h e n a c h d e m r ö m i s c h e n U r s p r u n g . I n d e r Ä r a M u s s o l i n i v o l l z o g s ich R o m s E w i g e W i e d e r k e h r . A u s z u ­l ö s c h e n w a r d a b e i d i e G e s c h i c h t e z w i s c h e n A n t i k e u n d J e t z t . S o w i e das S e i n b e i H e i d e g g e r v o n d e r s c h o l a s t i s c h e n P h i ­l o s o p h i e , so w a r das R ö m e r t u m v o n Z u f a l l s p r o d u k t e n h i s t o ­r i s c h e r S e i n s v e r g e s s e n h e i t ve r s t e l l t . D i e U r b a n e n A b l a g e ­r u n g e n , Z e u g e n e i n e r s c h ä b i g e n A l l t a g s g e s c h i c h t e , w u c h e r t e n seit d e m M i t t e l a l t e r ü b e r d e n e r s t o r b e n e n K o r a l l e n r i f f e n d e r a n t i k e n R u i n e n . H i e r se t z t e d i e A r c h ä o l o g i e an : als f u t u r i s t i ­s che A k t i o n m i t d e m B r e c h e i s e n .

I m J u l i 1 9 2 3 w u r d e e i n e K o m m i s s i o n e i n b e r u f e n m i t d e r A u f g a b e , d e n >piano regolare<, d e n B e b a u u n g s p l a n R o m s aus

182 Pfammatter (zit. A n m . 176), S. 29.

183 »Rom ist unser Ausgangs­punkt und Ziel, ist unser Symbol oder, wenn man will, unser Mythos. W i r träumen von einem römischen Italien, weise und stark, diszipliniert und im­perial. Vieles, worin der unsterbliche Geist R o m s bestand, ersteht wieder im Faschismus: Römisch ist unser Stolz und unser Mut : >Civis romanus sum<.« Benito Mussolini: Passato e aweni re , in: Popolo d'Italia, 2 1 . April 1922, zit. nach: Margrit Estermann-Juchler: Faschistische Staatsbaukunst. Z u r ideo­logischen Funkt ion der öffentlichen Architektur im faschistischen Italien, Wien /Köln 1982, S. 51 (Übers, v. Verf.).

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d e m J a h r e 1 9 0 9 , z u r e v i d i e r e n . D i e 1 9 2 6 ers te l l te > Var ian te generale< s c h l u g vo r , d i e S e k u n d ä r b e b a u u n g u m das A u g u s t u s -M a u s o l e u m z u b e s e i t i g e n u n d d i e a r c h ä o l o g i s c h e G r o ß z o n e u m das F o r u m R o m a n u m , d i e n a c h m a l i g e n K a i s e r f o r e n , f re i ­z u l e g e n . Al les , w a s s ich u m das A u g u s t e u m , das M a r c e l l u s -T h e a t e r , das K a p i t o l u n d das P a n t h e o n h e r u m r a n k t e »nei secol i de l la d e c a d e n z a , d e v e s c o m p a r i r e « . D i e U r b a n e n F o r m e n des W e i t e r l e b e n s i n d e n N i s c h e n d e r r ö m i s c h e n R u i n e n g a l t e n als » c o s t r u z i o n i p a r a s i t a r i e « . 1 8 4 M u s s o l i n i m a c h t e s ich d i e V o r s c h l ä g e sofor t z u e i g e n u n d g a b d e n B e f e h l , d i e m i n d e r ­w e r t i g e n W o h n q u a r t i e r e b e i d e n G r a b u n g s f e l d e r n a b z u r e i ß e n . D i e H a l t u n g s t a n d g a n z i m E i n k l a n g m i t L e C o r b u s i e r s b e r ü h m t e m D i k t u m v o m » G a n g d e r Ese l« , d e r a n d e m G a s s e n g e w i r r a l te r S t ä d t e n o c h a b z u l e s e n sei . D e r S c h o r f d e r V e r g a n g e n h e i t w a r a b z u k r a t z e n u n d d u r c h k r i s t a l l s c h a r f g e s c h n i t t e n e S t r a ß e n z ü g e z u e r s e t z e n , i n A n w e n d u n g v o n M u s s o l i n i s ä s t h e t o p o l i t i s c h e m G r u n d s a t z : »Ii F a s c i s m o h u n a casa d i v e t r o (de r F a s c h i s m u s ist e i n Glashaus ) .« V o n d e n l e i ­t e n d e n A r c h ä o l o g e n , A n t o n i o M u n o z u n d C o r r a d o R i c c i , w u r d e n d i e se r ü c k s i c h t s l o s e n F r e i l e g u n g e n s e lb s tve r s t änd l i ch b e g r ü ß t . I m E i n k l a n g m i t d e n B e d ü r f n i s s e n des D u c e schür f ­t e n sie n a c h d e r k a i s e r z e i t l i c h e n A n t i k e . I m V o r d e r g r u n d s t a n d d i e F r e i l e g u n g a n s e h n l i c h e r So l i t ä r e — w a s n i c h t n u r d i e Z e r s t ö r u n g v o n W o h n r a u m , s o n d e r n a u c h d i e Z e r s t ö r u n g v o n G r a b u n g s f u n d e n b e d e u t e t e , d i e n i c h t d e m In t e r e s s e i m p e r i a l e r S e l b s t d a r s t e l l u n g e n t s p r a c h e n .

D i e e r s t e n G r a b u n g s k a m p a g n e n f a n d e n 1923—1924 a u f d e m F o r u m B o a r i u m s ta t t m i t d e r R e s t a u r a t i o n des P o r t u n u s -T e m p e l s , d e n m a n d a m a l s als d e r F o r t u n a V i r i l e g e w e i h t a n s a h . D e r e c k i g e , >männliche< P s e u d o p e r i p t e r o s h a t t e se in >weibl i -ches< P e n d a n t i m k r e i s r u n d e n V e s t a - T e m p e l . D i e b e r ü h m t e B o c c a de l la V e r i t ä i n d e r N a c h b a r s c h a f t s c h w i e g d a z u : b e i d e Z u s c h r e i b u n g e n s i n d falsch, a b e r sie p a ß t e n g u t z u m A u f t a k t e i n e r N e u o r d n u n g d e r S t a d t g e s c h i c h t e . D e m E w i g m ä n n ­l i c h e n u n d d e m E w i g w e i b l i c h e n w e i h t e d e r F a s c h i s m u s z w e i a n t i k e T e m p e l , d e n h i e r l e b e n d e n F a m i l i e n w u r d e a n d i e s e r S te l le g ü n s t i g e r W o h n r a u m e n t z o g e n . 1 9 2 4 b e g a n n m a n m i t d e n H a u s a b b r ü c h e n für d i e e r w e i t e r t e n A u s g r a b u n g e n des T r a j a n s - u n d A u g u s t u s - F o r u m s s o w i e d i e A u s h e b u n g e n des C ä s a r - u n d N e r v a - F o r u m s ; sie w a r e n 1 9 3 2 a b g e s c h l o s s e n . D a s M a r c e l l u s - T h e a t e r u n d d e r K a p i t o l i n i s c h e H ü g e l w u r d e n v o n d e r K r ä t z e ä r m l i c h e r V o l k s q u a r t i e r e >befreit<.

D i e g r ö ß t e k o n z e r t i e r t e A k t i o n z w i s c h e n S t ä d t e b a u u n d 184 Z k . nach: Estermann-Juchler A r c h ä o l o g i e b i l d e t e d i e Z o n e z w i s c h e n d e m K a p i t o l , d e r

(zit. Anm. 183), S. 5 1 . P i azza V e n e z i a u n d d e m C e l i o - Q u a r t i e r . E i n e b e g r a d i g t e

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V e r b i n d u n g s s t r a ß e z w i s c h e n d e r s ü d l i c h e n I n n e n s t a d t u n d d e m K o l o s s e u m w a r s c h o n i m B e b a u u n g s p l a n 1 9 0 9 v o r g e s e ­h e n , j e d o c h b e i g r ö ß e r e r S c h o n u n g d e r b e s t e h e n d e n W o h n ­s u b s t a n z . D i e n e u e B a u l i n i e w u r d e 1 9 3 0 b e s c h l o s s e n . Z u r H e ­b u n g d e r s o g e n a n n t e n K a i s e r f o r e n w u r d e n e l f S t r a ß e n z ü g e a u s r a d i e r t , 5 5 0 0 W o h n u n g e n e rsa tz los a b g e r i s s e n . A r c h ä o ­log i s ch w a r a u c h h i e r das R e s u l t a t e h e r m a g e r : 8 4 % des G r a ­b u n g s g e l ä n d e s w u r d e n m a n g e l s F u n d e n w i e d e r z u g e d e c k t . D o c h das u r b a n i s t i s c h e N e b e n z i e l w a r e r r e i c h t : D i e z u m e i s t a r m e B e v ö l k e r u n g w u r d e aus d e r G e g e n d v e r t r i e b e n . D i e a r c h ä o l o g i s c h e K a m p a g n e w a r z u g l e i c h e i n e M a ß n a h m e m o ­d e r n e r D e s u r b a n i s i e r u n g . D a s L e b e n d e r I n n e n s t ä d t e w u r d e a u s g e t r o c k n e t , u m d i e H a b e n i c h t s e a n d e r P e r i p h e r i e a n z u ­s i e de ln .

Z u r D u r c h f u h r u n g d e r G r a b u n g s a r b e i t e n k o n n t e d i e S t a d t a u f e i n H e e r v o n A r b e i t s l o s e n z u r ü c k g r e i f e n . V o n 1 9 2 6 b is 1 9 3 3 v e r d r e i f a c h t e s i ch i h r e Z a h l n a c h B a n k z u s a m m e n ­b r ü c h e n a u f ü b e r e i n e M i l l i o n , d r e i V i e r t e l d a v o n k a m e n aus d e r I n d u s t r i e . In fo lge d e r a u ß e n p o l i t i s c h e n K r i s e n s a n k e n d i e E i n n a h m e n aus d e m T o u r i s m u s u m 4 0 % . D i e S t a d t s a ­n i e r u n g e n w u r d e n als M a ß n a h m e n d e r A r b e i t s b e s c h a f f u n g e i n g e s e t z t , w a s d e m Z e r s t ö r u n g s w e r k sozia le A k z e p t a n z u n d d e r Ä r a M u s s o l i n i i m n a c h h i n e i n d i e L e g e n d e w i r t s c h a f t l i c h e n W o h l e r g e h e n s e i n t r u g . D e r A u f s c h w u n g d e r m i t t l e r e n 3 0 e r J a h r e w a r , n e b e n d e r A u f r ü s t u n g , b e d i n g t d u r c h d i e mass ive B a u t ä t i g k e i t de s R e g i m e s . D i e A r m u t w u r d e k a s e r n i e r t i n m o d e r n e n >Idealstädten< w i e S a b a u d i a , A p r i l i a , T r o v i s c o s a . Para l le l z u r E n t v ö l k e r u n g d e r h i s t o r i s c h e n S t a d t k e r n e ve r l i e f d i e E n t i n d u s t r i a l i s i e r u n g d e s P r o l e t a r i a t s : V e r a r m t e B a u e r n u n d A r b e i t e r w u r d e n i n N e u s t ä d t e n a u f o f f e n e m F e l d , m e i s t o h n e A n s c h l u ß a n ö f f en t l i che V e r k e h r s m i t t e l , k a s e r n i e r t , w o sie als L a n d a r b e i t e r z u r T r o c k e n l e g u n g d e r p o n t i n i s c h e n S ü m p f e e i n g e s e t z t w u r d e n o d e r d e n L a t i f u n d i e n b e s i t z e r n z u r V e r f u g u n g s t a n d e n . D i e m o d e r n e T e n d e n z , soziale P r o b l e m e i m S i n n e des G e s a m t k u n s t w e r k s z u l ö s e n , k l e i d e t e d i e R ü c k ­k e h r z u d e m p a t r i a r c h a l e n A r b e i t s v e r h ä l t n i s d e r L e i b e i g e n ­schaft i n das G e w a n d s t ä d t e b a u l i c h e r U t o p i e .

D i e 3 0 M e t e r b r e i t e u n d 9 0 0 M e t e r l a n g e B e t o n s t r a ß e z w i ­s c h e n d e r P i a z z a V e n e z i a , d e m A m t s s i t z de s D u c e , u n d d e m K o l o s s e u m , d e r R e l i q u i e fasch i s t i scher R o m a n i t ä , d u r c h ­s c h n i t t d i e G r a b u n g s f e l d e r z w i s c h e n F o r u m R o m a n u m u n d d e n K a i s e r f o r e n i n h i s t o r i s c h w e n i g e i n f ü h l s a m e r W e i s e w i e e i n e S t a r t r a m p e . M u s s o l i n i m u ß t e i h r e n V e r l a u f g e g e n d e n R a t d e r F a c h l e u t e d u r c h s e t z e n . F ü r i h n m a c h t e g e r a d e d i e P a r a d e s t r a ß e d e n S i n n d e r g a n z e n V e r a n s t a l t u n g aus : D i e v o m

203

185 »eine absurde Ruinen land­schaft [. . .] zwischen einer kümmer l i ­chen Vegetation von klassischer Be ­deutung (Pinien, Lorbeer, Zypressen)«. Leonardo Benevolo: R o m a da ieri e domam, Bari 1971, S. 50 (Übers, v. Verf.).

186 »Jetzt ist es nötig, daß die G e ­schichte von morgen, die wir eifrig schaffen wollen, nicht zum Kontrast oder zur Parodie der Geschichte von gestern wird.« Mussolini zit. nach: Estermann-Juchler (zit. A n m . 183), S. 51 (Übers, v. Verf.).

s t ö r e n d e n L e b e n f r e i g e l e g t e n R u i n e n b i l d e t e n j e t z t d i e K u l i s s e für s e i n e A u f t r i t t e z u P f e r d o d e r i m o f f e n e n W a g e n , z u r A b ­n a h m e v o n T r u p p e n p a r a d e n o d e r als S c h n e i s e für d e n T ie f ­f l u g d e r Jagds ta f fe ln . L e o n a r d o B e n e v o l o k o m m e n t i e r t e das R e s u l t a t als » u n a s s u r d o p a e s a g g i o d i r o v i n e [. . .] fra u n a v e g e -t a z i o n e s t e n t a t a d i e s s e n z e c lass iche (p in i , a l lo r i , c i p r e s s i ) « . 1 8 5

D e r T e n o r d e r K u n s t h i s t o r i k e r u n d A r c h ä o l o g e n d e r N a c h k r i e g s z e i t b e u r t e i l t d i e E i n g r i f f e d e r 3 0 e r J a h r e d e n n a u c h ü b e r w i e g e n d k r i t i s c h . I n d e r T a t : d i e V i a d e H ' I m p e r o s t e h t d e n b a u m b e s t a n d e n e n S t a d t a u t o b a h n e n v o n L e C o r ­b u s i e r s >Plan Voisin< i n n i c h t s n a c h . D i e S t r a ß e , d e r e n N a m e h e u t e a r c h ä o l o g i s c h n e u t r a l i s i e r t ist z u V i a d e i F o r i I m p e r i a l i , b i l d e t das A n f a n g s s t ü c k d e r d a m a l s n e u e r r i c h t e t e n V e r ­k e h r s a c h s e z u d e n N e u b a u g e b i e t e n a u f d e m G e l ä n d e d e r für 1 9 4 2 g e p l a n t e n W e l t a u s s t e l l u n g , a u ß e r h a l b d e r P o r t a S a n G i o v a n n i .

E r ö f f n e t w u r d e d i e V i a d e H ' I m p e r o a m 2 8 . O k t o b e r 1 9 3 2 z u m 10 . J a h r e s t a g des M a r s c h s a u f R o m . H o c h z u P fe rd , w i e M a r k A u r e l a u f d e m K a p i t o l , n a h m M u s s o l i n i d i e P a r a d e a b . D i e R e d e , d i e e r a n s c h l i e ß e n d v o m B a l k o n d e s P a l a z z o V e n e z i a h i e l t , w u r d e ü b e r das R a d i o i n d i e e n t l e g e n s t e n W i n k e l I t a l i ens v e r b r e i t e t . S o er fü l l te s ich d i e a v a n t g a r d i s t i s c h e P r o p h e t i e v o n d e r E w i g e n W i e d e r k e h r z u m A n f a n g m i t d e n M i t t e l n d e r a v a n c i e r t e s t e n M o d e r n e . »Bi sogna , o r a , c h e la s t o -r ia d i d o m a n i , que l l a c h e n o i v o g l i a m o a s s i d u a m e n t e c r e a r e , n o n sia il c o n t r a s t o o la p a r o d i a de l la s to r ia d i i e r i « , 1 8 6 h a t t e d e r D u c e s c h o n v o r d e r M a c h t ü b e r n a h m e g e m a h n t . E r b e s a ß G e s c h m a c k g e n u g , u m z u a h n e n , d a ß es b e i A n l e i h e n a u s d e r A n t i k e für d i e a k t u e l l e P o l i t i k n u r e i n S c h r i t t v o m E r h a b e n e n z u m L ä c h e r l i c h e n sei . D o c h d i e W o c h e n s c h a u e n d e r 3 0 e r J a h r e h a b e n e i n B i l d a u f b e w a h r t , da s u n f r e i w i l l i g d i e B e f ü r c h t u n g e n M u s s o l i n i s be s t ä t i g t . D e r p las t i sche S c h m u c k d e r S t a a t s b a u t e n , d i e F e s t d e k o r a t i o n e n b e i P a r a d e n e r i n n e r n z u w e i l e n b e l u s t i g e n d a n das S e t t i n g fü r e i n e n A u f t r i t t K l e o p a t r a s i n H o l l y w o o d . M a r x m a g r e c h t h a b e n , w e n n e r sagt , d i e G e s c h i c h t e w i e d e r h o l e s ich n u r als Sa t i re . D a s V e r ­h e e r e n d e ist n u r , d a ß d i e K o m ö d i e v o n d e r W i e d e r k e h r des R ö m i s c h e n R e i c h e s e r n s t g e m e i n t w a r .

1926—32 w u r d e n n a c h A b b r u c h a r b e i t e n a m L a r g o A r g e n ­t i n a i m s ü d l i c h e n S t a d t z e n t r u m R o m s v i e r T e m p e l aus r e p u ­b l i k a n i s c h e r Z e i t f re ige legt ; das G e l ä n d e w u r d e a u f W u n s c h M u s s o l i n i s n i c h t ü b e r b a u t . U n t e r d e r L e i t u n g des A r c h ä ­o l o g e n A n t o n i o M u n o z e n t s t a n d e i n e R u i n e n l a n d s c h a f t , e i l ig z u s a m m e n g e f l i c k t aus F u n d s t ü c k e n u n d E r g ä n z u n g e n . D i e H a s t u n d m a n g e l n d e Sorgfa l t s o l c h e r A r c h ä o l o g i e e r k l ä r t s ich

204

aus d e m R e c h t f e r t i g u n g s d r u c k , u n t e r d e m d i e u n p o p u l ä r e n E ing r i f f e i n das S t a d t g e w e b e s t a n d e n . D e r M y t h o s R o m , d e r a u f K o s t e n v o n L e b e n s r a u m z u t a g e g e f ö r d e r t w u r d e , sol l te s ich w e n i g s t e n s s e h e n lassen . S o p r ä s e n t i e r t s ich d e n n h e u t e d i e >Area Sacra<, u m b r a n d e t v o m c h a o t i s c h e n V e r k e h r b e i d e r B u s h a l t e s t e l l e T o r r e A r g e n t i n a als g e h e i m n i s v o l l p l o m b i e r t e s T e r r a r i u m für K a t z e n u n d R a t t e n .

K a t z e n u n d R a t t e n b e w o h n e n a u c h das M a u s o l e u m des A u g u s t u s , das s ich i n s e i n e r 2 0 0 0 j ä h r i g e n N a c h g e s c h i c h t e stets n ü t z l i c h g e m a c h t h a t t e : als L a g e r r a u m , s t äd t i sches B o l l w e r k , L u s t g a r t e n u n d seit 1 7 8 0 als A m p h i t h e a t e r für S t i e r k ä m p f e , F e u e r w e r k e u n d n ä c h t l i c h e F e s t e . D i e R o t u n d e , v o m F u n d a m e n t des a n t i k e n M e m o r i a l b a u s v o r g e g e b e n , w u r d e 1 9 0 8 i n e i n M u s i k - A u d i t o r i u m u m g e w a n d e l t , das b e r ü h m t w a r für s e ine A k u s t i k . D a s l e t z t e K o n z e r t f and a m 1 3 . M a i 1 9 3 6 s ta t t . M u s s o l i n i s p o l i t i s c h e S t a t u r h a t t e s ich i n z w i s c h e n s o w e i t gefes t ig t , d a ß e r es w a g e n k o n n t e , se in R e g i m e m i t d e m a u g u s t e i s c h e n K a i s e r r e i c h d i r e k t z u v e r s c h r ä n k e n . D a s A u s k r a t z e n d e r >catapecchie< ( H ü t t e n ) , d i e d e m A u g u s t e u m i m L a u f d e r G e s c h i c h t e a n g e k l e b t w o r d e n w a r e n , b e g a n n i m J a h r d e r A n n e x i o n A b e s s i n i e n s (9 . M a i 1 9 3 6 ) . D i e Scha f fung d e r P i azza A u g u s t o I m p e r a t o r e u m das f re ige leg te M a u s o l e u m w a r das s t ä d t e b a u l i c h e S iege l a u f d i e B e f ö r d e r u n g V i k t o r E m a n u e l s z u m > R e - I m p e r a t o r e < . 1 2 0 H ä u s e r f i e l en d e r S a n i e r u n g z u m O p f e r . V o m Effek t w a r e n selbst d i e v e r a n t w o r t l i c h e n A r c h i ­t e k t e n u n d A r c h ä o l o g e n e n t t ä u s c h t ; m a n h a t t e das a b g e s u n k e ­n e N i v e a u des a n t i k e n D e n k m a l s z u w e n i g b e r ü c k s i c h t i g t . E i n » d e n t e c a r i a t o « 1 8 7 s tak h i e r u n s c h e i n b a r i m E r d r e i c h , u m g e b e n v o n e i n e m p o m p ö s e n N e u b a u g e v i e r t , d e s s e n k a h l e K o l o n ­n a d e n r e i h e n das v e r s c h w u n d e n e L e b e n des a l t e n Q u a r t i e r s >In Augus to< allenfalls m i t g e s p e n s t i s c h e n S c h a t t e n alla D e C h i r i c o fü l l t en . U n t e r s t ü t z t w u r d e das w e n i g r e p r ä s e n t a t i v e O r i g i n a l ­m o n u m e n t i n d e r P l a t z m i t t e d u r c h d e n n ü c h t e r n e n K u b u s aus B e t o n u n d Glas , de r , e r h ö h t a u f d e m N i v e a u v o n L u n g o t e v e r e , d i e Ä r a Pac i s , d e n r e k o n s t r u i e r t e n S a r k o p h a g d e s A u g u s t u s faßt . D i e E r ö f f n u n g f and a m 2 3 . S e p t e m b e r 1 9 3 8 s ta t t , d e m 2 0 0 0 s t e n G e b u r t s t a g des Ka i s e r s . Z u m Z e i t p u n k t d e r F e i e r d i e s e r s t ä d t e b a u l i c h e n F l u r b e r e i n i g u n g i m D i e n s t d e s M y t h o s w a r d i e e t h n i s c h e F l u r b e r e i n i g u n g d e r R a s s e n g e s e t z e s c h o n 5 0 T a g e i n Kraf t .

187 Zit . nach: Daniele M a n a -corda/Renato Tamassia: II piccone del regime, R o m 1985, S. 203.

205

Terragnis Danteum

188 Siehe dazu Thomas L. Schu­macher: T h e Danteum. A Study in the Architecture of Literature, Princeton 1985. Eine Darstellung von Terragni im zeitgenössischen Kon tex t siehe: Stefan Germer /Ach im Preiss (Hg.): Giuseppe Terragni, 1904-1943 , M o ­derne u n d Faschismus in Italien, München 1991.

189 Zit. nach: Pfammatter (zit. Anm. 176), S. 186.

D i e m y s t i s c h e V e r e i n i g u n g v o n M o d e r n e u n d A n t i k e sol l te a u f d e m G e l ä n d e d e r r ö m i s c h e n K a i s e r f o r e n m i t e i n e m D e n k m a l b e s i e g e l t w e r d e n : d e m D a n t e u m , 1 9 3 8 e n t w o r f e n v o n G i u ­s e p p e T e r r a g n i . 1 8 8

T e r r a g n i u n d d i e > G r u p p o 7< v e r s t a n d e n i h r e n e p o c h a l e n A u f t r i t t , v e r g l e i c h b a r d e m >Blauen R e i t e n , als E r n e u e r u n g u n d z u g l e i c h R ü c k k e h r z u m A n f a n g : » D e n n d i e h e u t i g e A r c h i t e k t u r s t e h t e rs t a m B e g i n n e i n e r g r o ß a r t i g e n Z u k u n f t , sie h a t b i s h e r n u r e i n e n k l e i n e n T e i l i h r e r p o t e n t i e l l e n C h a ­r a k t e r i s t i k a h e r a u s g e a r b e i t e t , v o n i h r e r n a t ü r l i c h e n E n t ­w i c k l u n g e rhof f t sie s ich e i n e v o l l k o m m e n e r e K u n s t f e r t i g k e i t , u n d w e i l s ich d i e se E r n e u e r u n g i n e i n e m K l i m a a l l g e m e i n e r E r n e u e r u n g v o l l z i e h t , k ö n n e n w i r d i e C h a r a k t e r z ü g e e i n e r n e u e n a r c h a i s c h e n P e r i o d e i n d e r G e s c h i c h t e d e r A r c h i t e k t u r e r k e n n e n . « 1 8 9 D a s D a n t e u m h ä t t e d i e s e >archaische< P e r i o d e d e s N e u a n f a n g s i n d r e i f a c h e r W e i s e e i n g e l ö s t : i n L a g e , G e g e n s t a n d u n d F o r m d e s D e n k m a l s . E r r i c h t e t w e r d e n sol l te es b e i m f r e i g e l e g t e n T r a j a n s - F o r u m , b e n a n n t n a c h d e m K a i s e r , u n t e r d e s s e n H e r r s c h a f t das R e i c h s e i n e g r ö ß t e A u s d e h n u n g , d i e B a u t ä t i g k e i t , R e c h t s p f l e g e u n d ö f fen t l i che W o h l f a h r t e i n e h o h e E n t f a l t u n g u n d D i s z i p l i n e r r e i c h t h a t t e n . A u f das T r a j a n s - F o r u m als u t o p i s c h e n O r t z ie l t e d i e E w i g e W i e d e r k e h r d e s F a s c h i s m u s z u r ü c k . K a i s e r l i c h w a r a u c h d e r G e g e n s t a n d d e s D e n k m a l s : D a n t e A l i g h i e r i , als V e r t r e t e r d e r R e i c h s i d e e i m M i t t e l a l t e r . Z u g l e i c h p e r s o n i f i z i e r t e d e r D i c h t e r d e n A n f a n g d e r i t a l i e n i s c h e n H o c h s p r a c h e . E i n A u s ­d r u c k v o n W i e d e r k e h r w a r s ch l i eß l i ch d i e m o d e r n e F o r m des D e n k m a l s , i n s p i r i e r t v o n d e n M a ß v e r h ä l t n i s s e n u n d S y m ­m e t r i e n d e r a n t i k e n R u i n e n i n d e r N a c h b a r s c h a f t .

D i e B a u i d e e g e h t a u f P d n o V a l d a m e r i z u r ü c k , d e n d a m a l i ­g e n D i r e k t o r d e r B r e r a - A k a d e m i e u n d P r ä s i d e n t e n d e r S o c i e t ä D a n t e s c a R o m a n a . V a l d a m e r i w a r als T e i l n e h m e r des M a r s c h s a u f R o m e i n Faschis t d e r e r s t e n S t u n d e . D a s D a n t e u m sol l te z u s a m m e n m i t d e r W e l t a u s s t e l l u n g i n R o m 1 9 4 2 e rö f fne t w e r d e n . D e r M a i l ä n d e r I n d u s t r i e l l e A l e s s a n d r o Poss s tel l te als F ö r d e r e r de s B a u s z w e i M i l l i o n e n L i r e i n A u s s i c h t . M i t T e r r a g n i , d e m A r c h i t e k t e n , h a t t e n s ich d i e I n i t i a n t e n a u f e i n e n E x p o n e n t e n d e r M o d e r n e fes tgelegt , d e r z w e i J a h r e z u v o r m i t d e r C a s a d e l Fasc io i n C o m o se in D e b ü t als A r c h i t e k t i n D i e n s t de s S taa tes g e g e b e n h a t t e . B e r e i t s 1 9 3 4 w a r T e r r a g n i a n e i n e m W e t t b e w e r b für d i e P a r t e i z e n t r a l e i n R o m be t e i l i g t g e w e s e n , d e n L i k t o r e n p a l a s t , d e r a n d e r s e l b e n Ste l le v o r g e ­s e h e n w a r , w o n u n das D a n t e u m g e p l a n t w u r d e . I n i t i a n t ,

206

G e l d g e b e r u n d A r c h i t e k t t r a fen s ich a m 10 . N o v e m b e r 1 9 3 8 i m P a l a z z o V e n e z i a z u e i n e r A u d i e n z m i t M u s s o l i n i . D e r A n l a ß v e r a n s c h a u l i c h t t r e f fend d e n p l a t o n i s c h e n K ö n i g s w e g fa sch i s t i s che r K u l t u r p o l i t i k : M a c h t , G e l d u n d I n t e l l i g e n z m a c h t e n i h r e P l ä n e o h n e d i e H ü r d e n d e m o k r a t i s c h e r M e i ­n u n g s b i l d u n g . N i c h t s d e s t o t r o t z g i n g es u m d i e S c h a f f u n g e i n e r s t aa t l i chen I n s t i t u t i o n z u m G e d ä c h t n i s a n das S c h r i f t t u m D a n t e s u n d z u d e s s e n V e r b r e i t u n g u n d E r f o r s c h u n g . D e m D e n k m a l so l l t en e i n e B i b l i o t h e k u n d e i n e g ra f i s che S a m m ­l u n g d e r D a n t e - I l l u s t r a t i o n e n a n g e g l i e d e r t w e r d e n . F ü r das z u b i l d e n d e D i r e k t o r i u m e i n e r n a t i o n a l e n D a n t e - G e s e l l s c h a f t w a r e n d i e f ü h r e n d e n K ö p f e d e r i t a l i e n i s c h e n I n t e l l i g e n z v o r ­g e s e h e n , a l l en v o r a n G i o v a n n i G e n t i l e , d e r P h i l o s o p h , d e r d i e idea l i s t i sche T r a d i t i o n m i t d e m F a s c h i s m u s v e r e i n t e . U g o O j e t t i , d e r g e f ü r c h t e t e B u h m a n n d e r M o d e r n e , w u r d e e b e n ­falls e i n g e l a d e n , u m i h n u n d se in S p r a c h r o h r — d i e Z e i t u n g >La Stampa< — als m ö g l i c h e K r i t i k e r d e r A r c h i t e k t u r T e r r a g n i s z u n e u t r a l i s i e r e n .

D a n t e , als V e r t r e t e r d e r I d e e e i n e s ka i se r l i ch g e e i n t e n I t a ­l i ens , v e r e h r t a u f d e m F u n d a m e n t d e r K a i s e r f o r e n i n d e n F o r ­m e n des R a z i o n a l i s m o , d e r a v a n c i e r t e s t e n M o d e r n e I t a l i ens : D a s w a r e i n g l ü c k l i c h e r Einfa l l , d e r d e m D u c e gefa l len m u ß t e . M i t d e m M o n u m e n t w a r d e r N o t s t a n d e i n e r p r o p a g a n d i s t i ­s c h e n E i n b i n d u n g d e s M i t t e l a l t e r s b e h o b e n . D i e >finstere Epoche< h a t t e für d e n >römisch< o r i e n t i e r t e n F a s c h i s m u s w e n i g I d e n t i f i k a t i o n s f i g u r e n a n z u b i e t e n ; d e r c h r i s t l i c h e U n i v e r ­sa l i smus w a r — t r o t z d e r L a t e r a n v e r t r ä g e — n i c h t n a c h M u s s o ­l in is G e s c h m a c k . D a n t e s >Kaisertreue< z u m r ö m i s c h - d e u t s c h e n H e i n r i c h V I I . m u ß t e i n d e m J a h r , da d i e e i s e r n e A c h s e m i t H i t l e r g e s c h m i e d e t w u r d e , b e s o n d e r s g u t a n k o m m e n . A n d e r V i a d e i r i m p e r o s i t u i e r t , h ä t t e das D a n t e u m z w i s c h e n d e r M a x e n t i u s - B a s i l i k a u n d d e m T o r r e d e i C o n t i g e s t a n d e n , e i n e m m i t t e l a l t e r l i c h e n D e n k m a l , das z u d e n w e n i g e n r ö m i ­s c h e n Z e u g n i s s e n n a c h a n t i k e n B a u e n s g e h ö r t , das d e r a r c h ä o ­l o g i s c h e K a h l s c h l a g i n d i e s e r G e g e n d ü b r i g ge lassen h a t t e . D a s D e n k m a l für d e n D i c h t e r de s M i t t e l a l t e r s w a r a n e i n e r Ste l le v o r g e s e h e n , w o e i n S t ü c k m i t t e l a l t e r l i c h e n S t ä d t e b a u s b e s e i t i g t w o r d e n w a r . D e n k m ä l e r s i n d i m m e r a u c h O r t e d e s V e r ­ge s sens .

V o n a u ß e n p r ä s e n t i e r t e T e r r a g n i s E n t w u r f das D a n t e u m als f e n s t e r l o s e n W ü r f e l , d i e W ä n d e v e r k l e i d e t m i t T r a v e r t i n - u n d M a r m o r p l a t t e n . D e r G r u n d r i ß b e r u h t a u f e i n e m R e c h t e c k i m G o l d e n e n S c h n i t t , w o b e i für d i e L ä n g s s e i t e a n d e r S c h m a l s e i t e d e r b e n a c h b a r t e n M a x e n t i u s - B a s i l i k a M a ß g e n o m m e n w u r d e ; d e m s ü d l i c h e n S e i t e n j o c h d e r a n t i k e n G e r i c h t s h a l l e e n t s p r a c h

207

D a n t e u m , R o m , En twur fsze ich­n u n g e n v o n Guiseppe Ter ragni : Außenans i ch t (links) u n d Pe r spek­tive des Hofes u n d des Säulenganges der >100 Säulen<

d i e G r u n d f l ä c h e d e s D a n t e u m s . D a n t e s i m a g i n ä r e B ü h n e für d i e Göttliche Komödie ist z w a r als k r e i s f ö r m i g b e s c h r i e b e n , d o c h e i n s o l c h e r G r u n d r i ß h ä t t e d e r F o r m e n s p r a c h e des R a z i o n a l i s m o , d e r u n t e r d e m E i n f l u ß v o n M o n d r i a n s N e o -p l a s t i z i s m u s s t a n d , n i c h t g e l e g e n . I n s e i n e r P r o j e k t b e ­s c h r e i b u n g g i b t T e r r a g n i ü b e r d i e s z u b e d e n k e n , d a ß d i e N a c h b a r s c h a f t d e s K o l o s s e u m s , de s g e s c h i c h t l i c h e n P r o t o t y p s z y l i n d r i s c h e r B a u t e n , j e d e Ä h n l i c h k e i t i n d e r F o r m z u r K a r i k a t u r g e m a c h t h ä t t e .

D e m G e b ä u d e v o r g e b l e n d e t ve r l äu f t e i n e f r e i s t e h e n d e M a u e r , a n d e r e n t l a n g e i n R e l i e f v o n M a r i o S i r o n i a n g e b r a c h t w e r d e n sol l te . Z w i s c h e n d e r M a u e r u n d d e m B a u k ö r p e r b i l ­d e t s ich e i n S c h a c h t , d e r d e m A n k o m m e n d e n l ängs d e r V i a d e i r i m p e r o , v o n d e r I n n e n s t a d t h e r , e i n e n D u r c h b l i c k a u f das

208

K o l o s s e u m g e w ä h r t . D i e s e r Ef fek t i l l u s t r i e r t w o h l D a n t e s B e ­s c h r e i b u n g des Aufs t i egs v o n d e r H ö l l e i n d e n L ä u t e r u n g s b e r g d u r c h e i n e Fe lsspa l te . E n t l a n g d e r F e l s w a n d v e r l a u f e n d i e R e l i e f s m i t D a r s t e l l u n g e n b e r ü h m t e r B e i s p i e l e v o n D e m u t , d i e D a n t e r ü h m t : »esser d i m a r m o c a n d i d o e a d d o r n o / d ' i n -tagl i si, c h e n o n p u r P o l i c l e t o / m a la n a t u r a Ii a v r e b b e s c o r -n o . « 1 9 0 E s ist a n z u n e h m e n , d a ß S i r o n i s R e l i e f b a n d , D a n t e s V e r s e n e n t s p r e c h e n d , d i e D e m u t z u m G e g e n s t a n d s e i n e r M o t i v e g e m a c h t h ä t t e — a l l e rd ings k a u m i m S i n n e d e r c h r i s t ­l i c h e n T u g e n d , s o n d e r n d e s fasch i s t i schen Ideals d e r U n t e r ­o r d n u n g u n t e r d i e Z i e l e d e s S t a a t s k ö r p e r s . G e m ä ß M u s s o l i n i s M o t t o » C r e d e r e - o b b e d i r e - c o m b a t t e r e « ( G l a u b e n - g e h o r ­c h e n — k ä m p f e n ) , das i n d e n 3 0 e r J a h r e n i n I t a l i en ü b e r H a u s ­e i n g ä n g e n , V e r s a m m l u n g s r ä u m e n u n d P l ä t z e n p r a n g t e , h ä t t e S i r o n i s R e l i e f e i n g e s t i m m t i n d e n A u f r u f z u r D e m u t i m Z e i c h e n des F a s z i e n b ü n d e l s . D i e M a u e r f l ä c h e n u m das R e l i e f w ä r e n m i t 100 M a r m o r tafe ln v e r k l e i d e t w o r d e n , e n t s p r e c h e n d d e n 1 0 0 G e s ä n g e n d e r Göttlichen Komödie. D e r E i n g a n g z u m D a n t e u m b e f i n d e t s ich i n T e r r a g n i s E n t w u r f h i n t e r d e r B l e n d m a u e r . D e r s c h m a l e , s c h l u c h t a r t i g e , p l ö t z l i c h e Z u t r i t t v e r a n s c h a u l i c h t d i e B e m e r k u n g D a n t e s : »Io n o n so b e n r i d i r c o m ' i o v ' e n t r a i , « 1 9 1 u n d d e r B e s u c h e r s t e h t i n e i n e m l e e r e n I n n e n h o f . N a c h T e r r a g n i s E n t w u r f e n t s p r i c h t d i e s e r >nutzlose< R a u m d e r e r s t e n L e b e n s h ä l f t e de s D i c h t e r s i n I r r u n g e n u n d S ü n d e , b e v o r e r s ich d e r e r b a u e n d e n A b f a s s u n g d e r Göttlichen Komödie w i d m e t e . D e r D a n t e u m s - B e s u c h e r s t e h t da , w o

190 Purgatorio X / 3 1 - 3 3 . »Von weißem Marmor war, und das ihn schmückte / Solch Bildwerk, daß nicht nur Polyklet, / Selbst die Na tu r an zweite Stelle rückte.« Zit. nach: Dante Alighieri: Die Göt t l iche K o m ö d i e , übersetzt von Wi lhe lm G. Her tz , M ü n c h e n 1957, S. 199.

191 Inferno 1/10. »Ich weiß nicht recht mehr wie ich hingeraten.« Zit . nach: Dan te Alighieri: Göt t l iche K o m ö d i e , über t ragen von Stefan George, Berlin 1912, S. 8.

209

D a n t e u m , R o m , En twur f sze i chnungen v o n G i u ­

seppe Terragni , Perspekt iven v o n Höl le , Pu rga to r ium, Paradies

210

D a n t e s t eh t , als e r m i t 3 5 J a h r e n z u s c h r e i b e n anse t z t : » N e l m e z z o d e l c a m m i n d i n o s t r a v i t a / m i r i t r ova i p e r u n a selva o s c u r a / c h e la d i r i t t a v ia e ra s m a r r i t a . « 1 9 2

U n d da s t eh t e r a u c h : d e r W a l d d e r 1 0 0 S ä u l e n , e n t s p r e ­c h e n d d e n 1 0 0 G e s ä n g e n d e r Göttlichen Komödie; sie t r a g e n das >Paradies< i m O b e r g e s c h o ß . E n t w e d e r u n t e r z i e h t s ich d e r B e s u c h e r j e t z t d e m g e i s t i g e n T r i m m p f a d , d e r ü b e r d i e H ö l l e u n d das P u r g a t o r i u m in s R e i c h des H i m m e l s f ü h r t , o d e r e r b e g i b t s ich , d i e L ä u t e r u n g i m G e i s t m o d e r n e r D e v o t i o u m g e ­h e n d , a m S ä u l e n w a l d v o r b e i d i r e k t i n d i e B i b l i o t h e k d e r D a n t e - G e s e l l s c h a f t , w o m i t das F e g e f e u e r u n t e r k e l l e r t ist .

E i n e F o t o g r a f i e de s v e r l o r e n e n M o d e l l s z u m D a n t e u m ze ig t f ü n f G i p s p l a s t i k e n v o n V e r d a m m t e n , d i e d e n D u r c h g a n g z u m H ö l l e n r a u m s ä u m e n u n d i n d e n g e q u ä l t - g e w u n d e n e n S t e l l u n g e n a n M i c h e l a n g e l o s Sklaven e r i n n e r n . D i e g e z e i c h n e ­t e P l a n v e r s i o n r ü c k t v o n d i e se r I d e e a b — e i n e z u rea l i s t i sche D a n t e - E v o k a t i o n h ä t t e d i e H ö l l e z u r G e i s t e r b a h n g e m a c h t . N a c h D a n t e s V o r s t e l l u n g e n t s t e h t das H ö l l e n l o c h i n d e r n ö r d ­l i c h e n H a l b k u g e l d e r E r d e b e i m Aufp ra l l de s g e s t ü r z t e n Luzi fer . D i e z u r ü c k g e d r ä n g t e E r d e b i l d e t i n d e r s ü d l i c h e n H e m i s p h ä r e , als k o n v e x e E n t s p r e c h u n g z u r H ö l l e , d e n L ä u t e r u n g s b e r g . S i e b e n g e d r u n g e n e R u n d p f e i l e r s t ü t z e n T e r r a g n i s H ö l l e n r a u m , d e n E i n d r u c k e i n e r d r ü c k e n d e n G r a b k a m m e r v e r m i t t e l n d . D i e W u c h t des Falles v o n Luz i f e r i n d i e E r d r i n d e m u ß f ü h l b a r w e r d e n . D i e a s y m m e t r i s c h e Auf ­s t e l l u n g d e r Pfe i le r s u g g e r i e r t das >Chaotische< d e r H ö l l e ; i h r e u n t e r s c h i e d l i c h e D i c k e e n t s p r i c h t d e r u n t e r s c h i e d l i c h s c h w e ­r e n B e s t r a f u n g für d i e s i e b e n T o d s ü n d e n . D e r K r e i s g r u n d r i ß d e r Pfe i le r spiel t a u f d i e H ö l l e n k r e i s e a n , d i e b e i D a n t e a l l e r ­d i n g s n e u n a n d e r Z a h l s ind . Se i t l i ch d e r H ö l l e s t e h t e i n e F l u c h t v o n z w ö l f T ü r e n , d i e ü b e r T r e p p e n v o r e i n e r M a u e r e n d e n , h i n t e r d e r s ich das P u r g a t o r i u m b e f i n d e t . E i n e n A u s g a n g g i b t es ü b e r d i e R a m p e a m E n d e des H ö l l e n r a u m s , v e r s t e c k t h i n t e r e i n e r S c h i r m m a u e r , w o d u r c h das I n f e r n o z u n ä c h s t u n e n t r i n n b a r s c h e i n t . I m R a u m d e r L ä u t e r u n g ist d e r H i m m e l z u s e h e n d u r c h d i e G e v i e r t e v o n s i e b e n u n t e r ­s c h i e d l i c h g r o ß e n I m p l u v i e n , d i e w o h l d e n s i e b e n K a r d i ­n a l t u g e n d e n e n t s p r e c h e n . T e r r a g n i v e r w e i s t a u f d e n R a u m t y p des A t r i u m s , d e n e r »e t rusk isch« n e n n t — n a c h j e n e m V o l k , a u f das d e r i t a l i e n i s c h e N a t i o n a l i s m u s sei t A l b e r t i s ich b e r u f e n h a t . E i n e L ä n g s w a n d , e n t s p r e c h e n d z u j e n e r d e r a n g r e n z e n d e n H ö l l e , ist v o n e i n e r B l e n d a r k a d e aus z w ö l f Ö f f n u n g e n d u r c h ­b r o c h e n . V o m P u r g a t o r i u m aus b e t r a c h t e t , g i b t d i e F l u c h t d e r b l i n d e n T ü r e n d i e b e r u h i g e n d e G e w i ß h e i t , d a ß d i e H ö l ­l e n h u n d e d e n G e l ä u t e r t e n n i c h t m e h r n a c h s t e l l e n k ö n n e n .

192 Inferno 1/1-3. »Es war inmit ­ten unsres wegs im leben: / Ich wandel­te dahin durch finstre bäume / Da ich die rechte Strasse aufgegeben.« Zit . nach: Göttliche Komödie (zit. A n m . 191), S. 7.

211

193 Schumacher (zit. A n m . 188) sieht die gläsernen Säulen beeinflußt von einem Gemälde Bertoias in der >Sala di Bacio< im Herzogspalast von Parma. Mir scheint dies fraglich, zumal es keinen Beleg gibt, daß Terragni das Gemälde gesehen hat, dessen sinnliches Motiv, außer den durchsichtigen Säu­len, mit Dantes keuschem Paradies w e ­nig zu tun hat.

194 Paradiso X X X / 4 6 - 5 1 . »Wie w e n n ein unverhoffter blitz durch­schneidet / Der äugen fähigkeit und das verscheuchte / Gesicht die stärksten dinge nicht mehr scheidet: / So über­strömte mich lebendige leuchte / U n d hielt mich so umhüll t von allen seiten / Mi t ihrem scheine dass ich blind mir deuchte.« Zit . nach: Gött l iche K o ­mödie (zit. Anm. 191), S. 107.

195 Giuseppe Terragni: Relazio-ne, zit. nach: Schumacher (zit. Anm. 188), S. 112 f. (Übers, v. Verf.).

Ü b e r d r e i T r e p p e n i n d e m s c h m a l e n D u r c h g a n g g e l a n g t m a n sch l i eß l i ch i n d e n V o r r a u m des H i m m e l s : das i r d i s c h e P a r a d i e s , w o D a n t e v o n B e a t r i c e a b g e h o l t w i r d . I n d e n q u a ­d r a t i s c h e n H i m m e l r a g e n 3 3 g l ä s e r n e S ä u l e n , e n t s p r e c h e n d d e r Z a h l d e r G e s ä n g e i n D a n t e s D i c h t u n g . B e i T e r r a g n i t r a g e n d i e S ä u l e n e i n g l ä s e r n e s D a c h , das d e n K r i s t a l l h i m m e l d a r ­stel l t , d e n D a n t e i m 3 0 . G e s a n g des >Paradiso< b e t r i t t , w o i h n B e a t r i c e w i e d e r v e r l ä ß t , u m als H i m m e l s r o s e a n d e n T h r o n G o t t e s z u r ü c k z u k e h r e n . 1 9 3 A u f s t e i g e n d v o m R a u m d e r L ä u t e r u n g sol l te d e r B e s u c h e r , w i e D a n t e , g e b l e n d e t w e r d e n v o n e i n e m R a u m , d e r n u r L i c h t i n L i c h t ist , i n d e s s e n G l e i ß e n s ich d e r l e t z t e R e s t v o n M a t e r i e v e r z e h r t : » C o m e s u b i t o l a m p o c h e d i sce t t i / Ii sp i r i t i v is ivi , si c h e p r i v a / da l l ' a t t o l ' o c c h i o d i p i ü for t i o b i e t t i , / cos i m i c i r cun fu l se l u c e v iva ; / e l a s c i o m m i fascia to d i tal v e l o / d e l s u o fulgor , c h e n u l l a m ' a p p a r i v a . « 1 9 4

R e c h t s v o m P a r a d i e s - R a u m g e h t e i n K o r r i d o r ab : d i e >Sala d e i r i m p e r o < , i n z w e i H ä l f t e n g e t e i l t d u r c h e i n e P f e i l e r ­k o l o n n a d e . D i e s e s t e h t a u f d e r M a u e r , d i e i m G e s c h o ß d a r u n ­t e r H ö l l e u n d F e g e f e u e r t r e n n t . D i e >Sala de l l ' Impero< , d e r >Saal de s Reichs<, e i n e R a u m s c h l u c h t u n t e r f r e i e m H i m m e l , n i m m t , w i e alle s c h a c h t a r t i g e n g e n Z u g ä n g e a n T e r r a g n i s B a u , M a ß a m s c h m a l e n P o r t i k u s d e r M a x e n t i u s b a s i l i k a . Z w e i O r t e also g i b t es i m D a n t e u m für d i e E r l ö s u n g : d e n >Kris ta l lhimmel< u n d das >Kaiserreich<, das o f f enba r d e m i r d i s c h e n P a r a d i e s d e r Göttlichen Komödie e n t s p r i c h t . S c h o n D a n t e u n t e r s c h i e d z w e i s ich e r g ä n z e n d e W e g e d e s H e i l s , d i e P a p s t u n d K a i s e r j e für s ich v e r w a l t e n so l l t en . D e r faschis t i sche S taa t u n d d e r V a t i k a n l ö s t e n d e n I n v e s t i t u r s t r e i t a u f m o d e r n e W e i s e m i t d e n L a t e r a n v e r t r ä g e n v o n 1 9 2 9 , d e r e n T e r r a g n i i n s e i n e m P r o j e k t g e d e n k t . W ä h r e n d d e r g l ä s e r n e H i m m e l n i c h t v o n d i e s e r W e l t z u se in s c h e i n t , g i b t d e r A r c h i t e k t i n u n f r e i w i l l i g e r K l a r h e i t d e m Ka i se r , w a s des Ka i se r s ist: e i n e l a n g g e s t r e c k t e Sackgasse aus M a r m o r u n d T r a v e r t i n . D e r >Saal de s Reichs< b i l d e t n a c h T e r r a g n i d e n H ö h e p u n k t i m D a n t e u m , d e n » K e i m des a r c h i ­t e k t o n i s c h e n G a n z e n « . D i e P r o p h e t i e e i n e r P r o p h e t i e ist h i e r R a u m g e w o r d e n : »Das u n i v e r s e l l e R ö m i s c h e R e i c h , das D a n t e v o r A u g e n g e f ü h r t u n d v o r a u s g e s a g t h a t als l e t z tes Z i e l u n d e i n z i g e s M i t t e l z u r R e t t u n g d e r M e n s c h h e i t u n d d e r K i r c h e v o n U n o r d n u n g u n d K o r r u p t i o n . « 1 9 5 D e r R a u m ­k o r r i d o r ver läuf t para l le l z u r S t r a ß e u n d h a t d a m i t d i e g l e i c h e >Marschr ich tung< w i e d i e V i a d e l l ' I m p e r o . Z u i h r z u r ü c k f i n ­d e n d i e B e s u c h e r , n a c h A b s c h r e i t e n v o n H ö l l e , F e g e f e u e r , H i m m e l u n d R e i c h , ü b e r e i n e n T r e p p e n s c h a c h t z w i s c h e n z w e i M a u e r n a n d e r s t a d t w ä r t s g e l e g e n e n Q u e r f a s s a d e des D a n t e u m s . E n t l a n g d e r P r o m e n a d e b e i d e r M a x e n t i u s - B a s i l i -

212

ka b e f i n d e n s ich n o c h Ü b e r r e s t e e i n e s fasch i s t i schen L e h r ­pfads , b e s t e h e n d aus e i n e r R e i h e v o n g e o g r a p h i s c h e n R e l i e f s m i t d e n E t a p p e n d e r A u s d e h n u n g d e s R ö m i s c h e n R e i c h s .

» C u l t u r a i t a l i ana d i d o l c e Stile n u o v o « k r i t z e l t e T e r r a g n i a u f d i e e r s te S k i z z e z u s e i n e m D a n t e u m - P r o j e k t . I n d e r B a u ­b e s c h r e i b u n g f i n d e t s ich e i n G e d a n k e , d e r a n A r n o l d S c h ö n ­b e r g s Verhältnis zum Text e r i n n e r t ; b e i m V e r t o n e n e i n e s L i e d s , sagt d e r K o m p o n i s t , g e h e es n i c h t u m d i e A b b i l d u n g des G e d i c h t s , s o n d e r n u m das N a c h e m p f i n d e n v o n d e s s e n S t r u k t u r . D i e g l e i c h z e i t i g e » i n n e r e N o t w e n d i g k e i t « , m i t d e r T e x t u n d T o n i h r e n F o r m g e s e t z e n g e h o r c h e n , b e w i r k e i h r e n Z u s a m m e n k l a n g . D a s s e l b e gil t für d i e A r c h i t e k t u r T e r r a g n i s a u f d e m G r u n d r i ß d e r Göttlichen Komödie: A r c h i t e k t o n i s c h e s u n d l i t e r a r i s c h e s W e r k k ö n n t e n d a n n e i n e A u s d r u c k s ­v e r b i n d u n g e i n g e h e n , » w e n n b e i d e e i n e S t r u k t u r u n d e i n e h a r m o n i s c h e R e g e l b e s i t z e n , d i e es e r l a u b t , e i n a n d e r g e g e n ­ü b e r g e s t e l l t z u w e r d e n , so d a ß sie i n e i n e m g e o m e t r i s c h e n u n d m a t h e m a t i s c h e n V e r h ä l t n i s v o n Para l le l i t ä t u n d U n t e r o r d n u n g z u l e s e n s i n d . « 1 9 6 D e r v o n Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e n b e h e r r s c h t e A u f b a u d e r Göttlichen Komödie e r l e i c h t e r t e i n e a r c h i t e k t o n i s c h e I n t e r p r e t a t i o n , d i e s ich i n M a ß u n d Z a h l a u f d i e k o m p o s i t o r i ­s c h e n u n d s y m b o l i s c h e n L e i t m o t i v e s t ü t z e n k a n n . D i e V e r h ä l t n i s s e a n T e r r a g n i s B a u b e r u h e n a u f d e n Z a h l e n 1, 3 , 7, 10 u n d i h r e n K o m b i n a t i o n e n . D i e T e r z i n e n D a n t e s r e i m e n s ich n a c h d e m S c h e m a A - B - A , B - C - B , C - D - C u s w . — d e r m i t t l e r e Vers e i n e r S t a n z e w i r d v o m e r s t e n u n d d r i t t e n Vers d e r f o l g e n d e n S t a n z e a u f g e n o m m e n . S o v e r z a h n e n s ich d i e >Stanzen<, w a s n i c h t s a n d e r e s h e i ß t als >Zimmer<, i n e i n a n d e r m i t t e l s Z e i l e n , d i e T e r r a g n i i n d i e A r c h i t e k t u r f o r m d e r s c h m a ­l e n K o r r i d o r e ü b e r s e t z t h a t , w o r i n e i n Z i m m e r s ich >zei lenar-tig< i n das f o l g e n d e e r g i e ß t .

T e r r a g n i w a r s ich d e r G e f a h r w o h l b e w u ß t , i n S y m b o l i s m u s o d e r k o n v e n t i o n e l l e R h e t o r i k a b z u g l e i t e n . »Es ist d a h e r n ö t i g , d a ß d i e P las t ik aus s ich h e r a u s e i n e n A u s d r u c k v o n a b s o l u t e r g e o m e t r i s c h e r S c h ö n h e i t f i n d e t . V o m e r s t e n C a n t o a n m u ß d i e ge i s t ige B e z i e h u n g u n d u n m i t t e l b a r e A b h ä n g i g k e i t v o m G e d i c h t a u s g e d r ü c k t se in i n u n m i ß v e r s t ä n d l i c h e n Z e i c h e n u n d d u r c h e i n e A t m o s p h ä r e , d i e a u f d e n B e s u c h e r e i n w i r k t u n d a u f s e i n e r s t e r b l i c h e n P e r s o n z u l a s t en s c h e i n t , so d a ß e r g e d r ä n g t ist , d e n G a n g z u e r l e b e n , w i e D a n t e es ta t . E r m u ß e rg r i f fen se in i n B e t r a c h t u n g d ieses A b e n t e u e r s u n d v o n d e n S t ra fen d e r S ü n d e r , d e n e n D a n t e w ä h r e n d s e i n e r t r a u r i g e n W a l l f a h r t b e g e g n e t e . « 1 9 7 D i e Göttliche Komödie s o l l t e a n T e r r a g n i s B a u n i c h t z u l e s e n , s o n d e r n als r ä u m l i c h e E r f a h r u n g d i r e k t z u e r l e b e n s e i n . W a s B o n t e m p e l l i d e r m o d e r n e n

D a n t e u m , R o m , En twur f sze ich­n u n g v o n Giuseppe Ter ragn i , Innenans ich t

196 Relazione, zit. nach: Schu­macher (zit. Anm. 188), S. 97 (Übers, v. Verf.).

197 Relazione, zit. nach: Schu­macher (zit. Anm. 188), S. 103-104 (Übers, v. Verf.).

213

198 Relazione, zit. nach: Schu­macher (zit. Anm. 188), S. 124 f.

199 Relazione, zit. nach: Schu­macher (zit. Anm. 188), S. 124.

A r c h i t e k t u r e m p f o h l e n h a t — das B a u e n o h n e A d j e k t i v e —, v e r ­s u c h t T e r r a g n i u m z u s e t z e n , i n d e m e r D i c h t u n g n a c h b a u t i n d e r r e i n e n S y n t a x d e r S i c h t b a r k e i t . D a s D a n t e u m ist s o l ­c h e r m a ß e n A r c h i t e k t u r - P o e s i e » c o m e f o r m a p u r a « . H i n t e r d e m A n s p r u c h , d i e Göttliche Komödie als a b s t r a k t e n R a u m s e h e n z u k ö n n e n , s t e h t d e r idea l i s t i sche F o r m a l i s m u s d e r C r o c e - S c h u l e . B e n e d e t t o C r o c e s h e r m e n e u t i s c h e s K o n z e p t d e r K u l t u r g e s c h i c h t e g r ü n d e t a u f d e r T h e s e d e r I d e n t i t ä t v o n F o r m u n d I n h a l t i m >Geist<. E s ist d i e T h e s e d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e , d i e m i t d e r S y n ä s t h e s i e d e r S i n n e s e i n d r ü c k e e r k l ä r t w i r d . A u g e , O h r u n d H a n d s i n d A u f n a h m e o r g a n e , d i e p a r a l ­lel d i e s e l b e ge i s t ige B o t s c h a f t a u f n e h m e n k ö n n e n . E s fehl t n i c h t a n m o d e r n e n V e r s u c h e n , K o n k o r d a n z e n h e r z u s t e l l e n z w i s c h e n F a r b w e r t e n , T ö n e n , M a ß u n d Z a h l . I dee l l e r O r t d e r E i n h e i t d e r k ü n s t l e r i s c h r e l e v a n t e n S i n n e ist d i e A r c h i t e k u r : D a s B a y r e u t h e r F e s t s p i e l h a u s , das G o e t h e a n u m , das D a n t e u m s i n d V e r s u c h e , i m B a u e i n e s G e s a m t k u n s t w e r k s g r o ß e D i c h t u n g i n k l a n g - b i l d - r ä u m l i c h e s E r l e b e n u m z u s e t z e n . B e i T e r r a g n i ü b e r n i m m t d e r A r c h i t e k t d i e R o l l e Verg i l s , als F ü h r e r de s d i e >Stanzen< a b s c h r e i t e n d e n R a u m l e s e r s d u r c h d i e U n t e r w e l t z u m P a r a d i e s . D a s G e b ä u d e w i r d als sakra le r R a u m a u f g e l a d e n . N i c h t M u s e u m , Palas t o d e r T h e a t e r , s o n d e r n T e m p e l sei das D a n t e u m . 1 9 8 D i e A r c h i t e k t u r sol l te w i e e i n B i b e l t e x t n a c h d e n v i e r M o d i d e r E x e g e s e b e t r a c h t e t w e r d e n , d i e D a n t e i n s e i n e m b e r ü h m t e n B r i e f a n d e n C a n G r a n d e a u s ­f ü h r t : n a c h d e m w ö r t l i c h e n , d e m a l l e g o r i s c h e n , d e m m o r a l i ­s c h e n u n d d e m a n a g o g i s c h e n S i n n . D e n l e t z t e n , d e n a n a g o g i -s c h e n S i n n , f ü h r t T e r r a g n i i n d e r Relazione aus : E r z i e h e r i s c h e A b s i c h t de s D a n t e u m s sei es , d e m B e t r a c h t e r d i e G e w i ß h e i t z u g e b e n , d a ß m i t M u s s o l i n i d e r K a i s e r e i n g e k e h r t sei, d e n D a n t e v e r h e i ß e n h a t t e . 1 9 9 M i t d e m E n t w u r f d e s D a n t e u m s e r b r a c h t e T e r r a g n i d e n N a c h w e i s , d a ß m o d e r n e A r c h i t e k t u r f ä h i g ist, d i e M e t a p h y s i k d e r f asch i s t i schen R e v o l u t i o n p r o p a g a n d i s t i s c h w i r k s a m a u s z u d r ü c k e n .

D i e E i n f l ü s s e v o n M o n d r i a n s N e o p l a s t i z i s m u s e r r e i c h t e n T e r r a g n i ü b e r M a r i o R a d i c e , m i t d e m e r sei t 1 9 3 2 z u s a m m e n ­a r b e i t e t e . E i n e rs tes E r g e b n i s w a r d i e C a s a de l Fasc io i n C o m o v o n 1 9 3 6 . I n d i e s e m B a u s i n d n o c h >klassische< S y m m e t r i e n u n d P r o p o r t i o n s v e r h ä l t n i s s e ab lesbar , d i e v o m i t a l i e n i s c h e n P a l a s t b a u a b g e l e i t e t s ind . I m D a n t e u m h i n g e g e n h a t s ich d i e m o d e r n i s t i s c h e T e n d e n z z u d e m v e r s t ä r k t , w a s M o n d r i a n das d y n a m i s c h e G l e i c h g e w i c h t n e n n t . D i e A s y m m e t r i e n u n d d i e g r o ß e n P r o p o r t i o n s s p r ü n g e i n d e n G r u n d r i ß z e i c h n u n g e n des D a n t e u m s s i n d a n g e r e g t v o n M o n d r i a n s K o m p o s i t i o n s ­g r u n d s ä t z e n . Als f o r m a l e M o t i v e t a u c h e n d i e a s y m m e t r i s c h

214

v e r s e t z t e n r e c h t e n W i n k e l auf. D i e s c h m a l e n R a u m s c h l u c h t e n i m G r u n d r i ß z i t i e r e n d i e e n g g e f ü h r t e n Pa ra l l e l en i n d e n R a n d z o n e n d e r B i l d e r M o n d r i a n s s o w i e d i e Z w i l l i n g s l i n i e n i n d e s s e n W e r k e n d e r 3 0 e r J a h r e . I m D a n t e u m s i n d M o n d r i a n s g e m a l t e M a n d a l a s g e w i s s e r m a ß e n i n s D r e i d i m e n s i o n a l e u m g e s e t z t . D i e ä s t h e t i s c h e V e r s e n k u n g ins B i l d h ä t t e s ich, w ä r e das D a n t e u m g e b a u t w o r d e n , r ä u m l i c h rea l i s ie r t . D a s d y n a m i s c h e G l e i c h g e w i c h t v o n H o r i z o n t a l e u n d V e r t i k a l e h ä t t e s ich a u s g e d r ü c k t i n M a u e r n u n d F u ß b ö d e n ; d i e V e r ­s c h m e l z u n g des I n d i v i d u u m s m i t d e m U n i v e r s e l l e n w ä r e m i t d e m E i n t r i t t de s B e s u c h e r s i n d e n K u l t r a u m m y s t i s c h e T a t ­sache g e w o r d e n . W a s M o n d r i a n d e m B i l d b e t r a c h t e r als i m a ­g i n ä r e n M e d i t a t i o n s w e g v o r g i b t , das w o l l t e T e r r a g n i i n d e r a r c h i t e k t o n i s c h h e r g e s t e l l t e n M ö g l i c h k e i t z u m A b s c h r e i t e n v o n H ö l l e , F e g e f e u e r u n d H i m m e l s s p h ä r e n v e r w i r k l i c h e n .

D e r l e i b l i c h e V o l l z u g d e r m y s t i s c h e n V e r e i n i g u n g v o n ä s t h e t i s c h e m S u b j e k t u n d K u n s t o b j e k t k n ü p f t , ü b e r D a n t e , a n e i n e >Kunstrel igiosi tät<, w i e sie i n M i c h e l a n g e l o s Jüngstem Gericht a n g e l e g t ist. S c h o n b e i M i c h e l a n g e l o g e s c h i e h t j e n e V e r s c h r ä n k u n g v o n k ü n s t l e r i s c h e m P r o z e ß u n d r i t u e l l e r L ä u ­t e r u n g ; ä s t h e t i s c h e Se lb s t au fgabe i m S c h a f f e n s p r o z e ß w i r d z u r M e t a p h e r für d i e V e r e i n i g u n g m i t G o t t — u n d u m g e k e h r t . S o w i e M i c h e l a n g e l o als K ü n s t l e r - M a r s y a s , w i e d e r h o l t T e r r a g n i als b a u e n d e r D a n t e d e s s e n B i t t e u m R e i n i g u n g v o n d e n H ü l l e n des Se lbs t a n d e r P f o r t e z u m P a r a d i e s . 2 0 0

I m >Kris ta l lh immel< u n d i n d e r >Sala deH ' Impe ro< d e s D a n t e u m s s t e h e n h i m m l i s c h e s P a r a d i e s u n d i r d i s c h e r P a r n a ß n e b e n e i n a n d e r . S o h a t T e r r a g n i das p o l i t i s c h E r h a b e n e des F a s c h i s m u s u n d d i e r e l ig iöse E r h e b u n g i n c h r i s t l i c h e r S e l b s t ­au fgabe m i t d e m ä s t h e t i s c h e n K a n o n d e r M o d e r n e i n E i n ­k l a n g g e b r a c h t . A m D a n t e u m w i r d d e r K r e u z u n g s p u n k t e i n e r l o n g u e - d u r e e - T o p i k v o n p o l i t i s c h - ä s t h e t i s c h - r e l i g i ö s e r D i ­m e n s i o n ablesbar . D i e r i t u e l l e n M o t i v e — das k a t h a r t i s c h e P i c h t e n u n d R e i n i g e n , d i e S e l b s t a u f g a b e , d i e E r l ö s u n g aus d e m K ä f i g d e r I n d i v i d u a t i o n , d i e m y s t i s c h e V e r e i n i g u n g m i t e i n e m a l l g e m e i n e n , h ö h e r e n P r i n z i p — b l e i b e n als r i t u e l l e R e s i d u e n e r h a l t e n i n d e n K u n s t t h e o r i e n d e r M o d e r n e als s äku la re M e t a p h y s i k ; u n t e r f asch i s t i schen V o r z e i c h e n m ü n d e t sie i n d e n m e t a p h y s i s c h e n N i h i l i s m u s d e s p o l i t i s c h E r h a b e n e n .

Idee l l ist T e r r a g n i s B a u e i n e Sp i ra le e i n g e s c h r i e b e n : d e r auf­s t e i g e n d e W e g v o n d e r E r d e , ü b e r d i e H ö l l e , das F e g e f e u e r , z u H i m m e l u n d R e i c h . T e r r a g n i b e z e i c h n e t das D a n t e u m als T e m p e l — dies d u r c h a u s n i c h t n u r i n f o r m a l e r H i n s i c h t , s o n ­d e r n b e z u g n e h m e n d a u f d e s s e n F u n k t i o n : E s w ä r e e i n T e m p e l für d e n fasch i s t i schen E r l ö s u n g s g l a u b e n g e w o r d e n , d e r s ich i n

200 Von George übersetzt unter dem Titel »Anruf Apollos«: »Apollo gü­tiger! zur lezten [sie] mühe / Gib daß ich so viel deiner kräfte fasse / Daß der geliebte lorbeer dann mir blühe! Bis­lang braucht ich Ein joch nur zum Par-nasse / Doch für die jetzo mir gezogne strecke / Bedarf ich beider eh ich ein mich lasse. / Dr ing nun in meinen bu-sen und erwecke / Die töne wie einst in des Marsyas jähre / Als du ihn zogst aus seiner glieder decke!«. Zit. nach: G o a -liche Komödie (zit. Anm. 191 . S

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d i e s e m B a u a u f d e n O r t e i n e s w i e d e r k e h r e n d e n R ö m e r t u m s g e g r ü n d e t h ä t t e , a u f d e n W e g des c h r i s t l i c h e n H e i l s , i n d e r E r s c h e i n u n g s f o r m d e r k ü n s t l e r i s c h e n A v a n t g a r d e , d i e d i e W e l t v o n m o r g e n h e u t e v o r w e g n i m m t .

M u s s o l i n i h a t t e T e r r a g n i s P l ä n e z u m D a n t e u m 1 9 3 8 e n t h u ­siast isch a u f g e n o m m e n . D e r K r i e g s e i n t r i t t z w e i g t e j e d o c h d i e A u f m e r k s a m k e i t de s R e g i m e s v o n k u l t u r e l l e n P r o j e k t e n a b . D e r K r i e g b o t w e i t e r h a b e n e r e E r l e b n i s m ö g l i c h k e i t e n , ü b e r d i e H ö l l e ins P a r a d i e s z u g e l a n g e n . 1 9 4 0 g i n g T e r r a g n i als F r e i w i l l i g e r i n d e n B a l k a n r a u m , i m J u l i 1941 w e c h s e l t e er , i n z w i s c h e n H a u p t m a n n , a n d i e O s t f r o n t . A m 2 9 . D e z e m b e r 1941 s c h r i e b e r z u r Z e i t d e r D o n - S c h l a c h t a n P i e t r o M a r i a B a r d i : »In d i e s e n f ü n f M o n a t e n i m r u s s i s c h e n K a m p f g l a u b e i c h , w i r k l i c h g e k ä m p f t z u h a b e n w i e i n d e n 15 J a h r e n m e i n e r b e r u f l i c h e n u n d k r i t i s c h e n A k t i v i t ä t . I ch g l a u b e , m e i n e n B e r u f s e h r e r n s t h a f t a u s g e ü b t z u h a b e n . J e t z t b i n i c h i m Begr i f f e , M a t e r i a l v o r z u b e r e i t e n u n d E n e r g i e n f r e i z u l e g e n , u m d e n K a m p f u m d i e F r a g e d e r A r c h i t e k t u r , w e l c h e r u n e n t ­s c h i e d e n g e b l i e b e n ist, w i e d e r a u f z u n e h m e n . « 2 0 1 W i e F r a n z M a r c sah T e r r a g n i i m K r i e g d i e F o r t s e t z u n g k r e a t i v e r * T ä t i g k e i t . H i e r , a m D o n , g i n g d e r K a m p f u m d i e n e u e A r ­c h i t e k t u r w e i t e r . W i e M a r c sk i zz i e r t e T e r r a g n i u n a b l ä s s i g i n d e n G e f e c h t s p a u s e n . D a n n k a m e n e i n h ö l l i s c h e r W i n t e r u n d d i e G e g e n o f f e n s i v e d e r R o t e n A r m e e . A m 2 0 . J a n u a r 1 9 4 3 w u r d e H a u p t m a n n T e r r a g n i m i t e i n e m V e r l e t z t e n t r a n s p o r t i n d i e H e i m a t z u r ü c k g e s c h a f f t . E r e r h o l t e s ich n i c h t m e h r v o n d e n E r s c h ö p f u n g s z u s t ä n d e n u n d H a l l u z i n a t i o n e n . Z u l a n g e w a r e r a n d e r F r o n t g e w e s e n , als d a ß e r a n d e m G l a u b e n d e r • E i n h e i t v o n K u n s t u n d L e b e n n o c h h ä t t e f e s tha l t en k ö n n e n , w i e F r a n z M a r c , d e s s e n W a h n d i e U n s c h u l d e i n e s f r ü h e n T o d e s g n ä d i g z u d e c k t e . T e r r a g n i k o n n t e d e n G e r u c h d e r L e i c h e n b e r g e , d i e i n d e r N a c h t p h o s p h o r f a r b e n a u s g l ü h t e n , ^ n i c h t m e h r v e r g e s s e n , so oft e r i n G e d a n k e n n o c h e i n m a l ü b e r sie i m S t u r m h i n w e g r a n n t e . E r s ta rb a m 19. J u l i 1 9 4 3 , sechs T a g e v o r d e r A b s e t z u n g M u s s o l i n i s .

D i e E n t w ü r f e für das D a n t e u m w ä r e n n i c h t ü b e r l i e f e r t , w e n n n i c h t P i e t r o L i n g e r i , T e r r a g n i s P a r t n e r , d i e P l ä n e b e i * a u f z i e h e n d e m B o m b e n w e t t e r n a c h H a u s e g e n o m m e n h ä t t e , n a c h T r e m e z z o a m C o r n e r S e e , k u r z b e v o r e i n e a m e r i k a n i s c h e Fl iegerstaffel das C o m a s k e r B ü r o z e r s t ö r t e . 1 9 5 7 w u r d e das P r o j e k t e r s tma l s v e r ö f f e n t l i c h t u n d e n t w i c k e l t e s ich z u m G e - |

201 Zit . nach: Bruno Zevi: Giu- h e i m t i p u n t e r A r c h i t e k t e n a u f d e r S u c h e n a c h d e r i t a l i e n i s c h e n seppe Terragni, Zür ich/München 1989, I n k u n a b e l d e r M o d e r n e . S o b e m e r k t G i o r g i o C i u c c i e i n l e i -S 203

202 Schumacher (zit A n m 188) t e n c ^ m T h o m a s S c h u m a c h e r s M o n o g r a p h i e , das D a n t e u m sei S. 7 i n e i n e r »Urbanen U n g e w i ß h e i t « 2 0 2 a n g e s i e d e l t ; d i e l e b e n d i g e

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U m g e b u n g d e r S t a d t sei a b w e s e n d . I n d e r T a t g e h ö r t das D a n t e u m z u j e n e r G a t t u n g A r c h i t e k t u r , d i e o h n e M e n s c h e n a u s z u k o m m e n s c h e i n t . I m s p i r i t u e l l e n F a s c h i s m u s g e w i n n t d i e m o d e r n e U t o p i e i h r e h ö c h s t e , g e f ä h r l i c h s t e S t u f e : d i e E r s c h a f f u n g des E r h a b e n e n , i n d e m alle U n z u l ä n g l i c h k e i t e n des L e b e n s ausge t i l g t s ind . S c h w e r e l o s z i e h t d e r B a u d e r Z u k u n f t s e ine B a h n i m W e l t a l l d e r I m a g i n a t i o n w i e e i n u n b e ­w o h n t e r K o m e t aus E i s .

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DRITTENS: DIE VERNEINUNG

Die Welt als Nichts

Der moderne Parrhasios

1 A r t h u r S c h o p e n h a u e r : D i e W e l t als W i l l e u n d V o r s t e l l u n g . Z ü r c h e r Ausgabe in 2 B ä n d e n , Z ü ­rich 1977, Bd . I, S. 2 3 8 .

2 S c h o p e n h a u e r (zit. A n m . 1), Bd. II, S. 452 .

3 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd. II, S. 389 .

I n Die Welt als Wille und Vorstellung l äß t S c h o p e n h a u e r e i n e n E r d g e i s t a u f t r e t e n , d e r d e m Lese r d i e g r o ß e n I n d i v i d u e n , d i e H ö h e p u n k t e u n d K a t a s t r o p h e n d e r W e l t g e s c h i c h t e v o r A u ­g e n f u h r t : als T h e a t e r d e s W i l l e n s . G e s c h i c h t e ist d e r s c h w e r e T r a u m , i n d e m sich d i e s c h l u m m e r n d e M e n s c h h e i t w ä l z t ; d i e rea le S i n n l o s i g k e i t i h r e s F o r t g a n g s sp iege l t das W e s e n des W i l l e n s a n s ich, d e s s e n Krä f t e j e n s e i t s d e s Satzes v o m G r u n d a n s e t z e n . S o w i e d e r z w e c k f r e i e W i l l e d i e Q u e l l e al ler G e ­s c h e h n i s s e u n d E r s c h e i n u n g e n ist, so ist »seine S e l b s t e r k e n n t ­n i s u n d d a r a u f s ich e n t s c h e i d e n d e B e j a h u n g o d e r V e r n e i n u n g [.. .] d i e e i n z i g e B e g e b e n h e i t a n s ich« . 1 D i e s e n s t o i s c h e n S c h e i d e w e g a p r i o r i h a t N i e t z s c h e a b g e l e h n t ; für i h n g a b es n u r das J a s a g e n , d e n » W i l l e n z u r M a c h t « — e i n e L o s u n g , d e r das H e e r d e r A v a n t g a r d e n m e h r h e i t l i c h gefo lg t ist.

D o c h g i b t es a u c h d i e V e r n e i n u n g als T o p o s m o d e r n e r M e n t a l i t ä t . S c h o p e n h a u e r z i t i e r t J e a n P a u l , d e r i n d e r Vor­schule der Ästhetik das W e s e n des k ü n s t l e r i s c h e n G e n i e s i n d e s ­sen B e s o n n e n h e i t s i eh t . D e r N o r m a l m e n s c h g e h e vö l l ig a u f i m » S t r u d e l u n d T u m u l t de s L e b e n s « . E i n A m s t e r d a m e r M a k ­le r l äß t s ich n i c h t s t ö r e n v o m o h r e n b e t ä u b e n d e n G e b r ü l l a n d e r B ö r s e ; ü b e r l e g t r e c h n e t u n d s p e k u l i e r t e r z u s e i n e n G u n ­s t en , als n ä h m e e r d i e U n r u h e u m i h n h e r u m ga r n i c h t w a h r . D a s T u n des M a k l e r s g e h t v i e l m e h r a u f i n d i e s e m geschä f t i ­g e n L ä r m , d e r v o n i n n e n h e r s ich v e r s t e h t als d i e S u m m e in t e r e s s i e r t e r , w o h l g e z i e l t e r R u f e . D e r b e s o n n e n e K ü n s t l e r h i n g e g e n b i e t e t n i c h t m i t a n d e r B ö r s e , s o n d e r n s c h i l d e r t d e r e n B e t r i e b , w i e e r s ich aus d e r E n t f e r n u n g ä s t h e t i s c h e r U n i n t e r e s s i e r t h e i t v e r n i m m t : als G e b r ü l l . 2

E s g i b t z w e i M ö g l i c h k e i t e n zu l e b e n . W i r k ö n n e n e in fach l e b e n w o l l e n : d i e n o r m a l e , d u r c h s c h n i t t l i c h e W a h l , »ein s te tes H i n s t ü r z e n d e r G e g e n w a r t i n d i e t o d t e V e r g a n g e n h e i t « , 3

s c h w a n k e n d z w i s c h e n d e n G r e n z e n v o n Ü b e r d r u ß u n d M a n ­ge l , S c h m e r z u n d f l a u e m S t u m p f s e i n . S o l c h e s L e b e n w o l l e n

218

k ä m p f t z w a r v e r b i s s e n u m se in Ü b e r l e b e n , j e d o c h d i e Z e i t , d i e es d e m M a n g e l u n d d e m T o d a b g e t r o t z t h a t , w e i ß es n i c h t a n d e r s t o t z u s c h l a g e n als m i t s c h a l e n V e r g n ü g u n g e n ; d e n n g e w o n n e n e L e b e n s z e i t d r o h t a l soba ld i n L a n g e w e i l e u m z u ­s c h l a g e n . N e b e n d e m K a r t e n s p i e l b i e t e n d i e G e s e l l i g k e i t u n d das S t r e b e n n a c h L i e b e u n d A n e r k e n n u n g das j ä m m e r l i c h s t e S c h a u s p i e l . D i e M e n s c h e n g l e i c h e n f r i e r e n d e n S t a c h e l s c h w e i ­n e n , d i e s ich a n e i n a n d e r d r ä n g e n , w o b e i sie s ich s t e c h e n u n d w i e d e r a u s e i n a n d e r s t r e b e n — e i n T a n z , d e r u n a u f h ö r l i c h v o n n e u e m b e g i n n t . D a s G l ü c k , das d e r L e b e n s w i l l e a n s t r e b t , ist n u r n e g a t i v b e s t i m m b a r : als B e s e i t i g u n g v o n M a n g e l u n d S c h m e r z . D i e E r s c h e i n u n g s f o r m d e s W i l l e n s i m L e b e n ist e i g e n t l i c h e i n W i l l e z u m N i c h t - m e h r - W o l l e n , z u r A b w e s e n ­h e i t v o n S c h m e r z u n d D r a n g . D i e L u s t ist U n l u s t ü b e r e i n e n M a n g e l , d e r z u g e s t o p f t w e r d e n wi l l . D o c h d e r L u s t s c h m e r z w ä c h s t i m m e r w i e d e r n a c h , w i e d i e H ä u p t e r d e r H y d r a , d i e a b g e s c h l a g e n w e r d e n u m d e n P r e i s , d a ß sie s ich v e r m e h r e n . D i e z w e i t e M ö g l i c h k e i t , d i e d e r S c h e i d e w e g e röf fne t , ist e i n L e b e n i n V e r n e i n u n g des W i l l e n s . D i e s e L e i s t u n g z e i c h n e t d e n M e n s c h e n u n t e r a l l en L e b e w e s e n aus : W i r k ö n n e n d e r W e l t m i t s t o i s che r H e i t e r k e i t e n t s a g e n u n d i m p h i l o s o p h i ­s c h e n E r k e n n e n » g l e i c h s a m u n s selbst los w e r d e n « . 4 V o r d e m V e r n e i n e n d e n l i e g e n d i e M a n i f e s t a t i o n e n des L e b e n s w i l l e n s w i e d i e Ü b e r r e s t e e i n e r a u f g e w ü h l t e n , d u r c h t a n z t e n N a c h t . »Er b l i c k t n u n r u h i g u n d l ä c h e l n d z u r ü c k a u f d i e G a u k e l b i l d e r d i e s e r W e l t , d i e e i n s t a u c h se in G e m ü t h z u b e w e g e n u n d z u p e i n i g e n v e r m o c h t e n , d i e a b e r j e t z t so g l e i c h g ü l t i g v o r i h m s t e h n , w i e d i e S c h a c h f i g u r e n n a c h g e e n d i g t e m Sp ie l , o d e r w i e a m M o r g e n d i e a b g e w o r f e n e n M a s k e n k l e i d e r , d e r e n G e s t a l ­t e n u n s i n d e r F a s c h i n g s n a c h t n e c k t e n u n d b e u n r u h i g t e n « . 5

D i e M e t a p h e r m a c h t e i n e n V o r g r i f f a u f d i e B i l d r ä u m e v o n J a m e s E n s o r , w o l ee r e L a r v e n v e r r a u s c h t e r M a s k e r a d e n a u s g e ­s t r e u t l i e g e n , fast z u gre l l b e s c h i e n e n v o n d e r Blässe e i n e s f r ü h e n T a g s .

D i e T r a d i t i o n d e r W i l l e n s v e r n e i n u n g s i eh t S c h o p e n h a u e r i n d e r r e l i g i ö s e n A s k e s e . E r b e r a u s c h t s ich s c h r e i b e n d a n d e r G e w a l t s a m k e i t , m i t d e r A n a c h o r e t e n , F a k i r e u n d E r e m i t e n i h r e n W i l l e n z ü c h t i g e n : » W e g w e r f u n g des E i g e n t h u m s , V e r ­l a s sung j e d e s W o h n o r t s , al ler A n g e h ö r i g e n , t iefe g ä n z l i c h e E i n s a m k e i t , z u g e b r a c h t i n s t i l l s c h w e i g e n d e r B e t r a c h t u n g , m i t f re iwi l l iger B u ß e u n d s c h r e c k l i c h e r , l a n g s a m e r S e l b s t p e i n i ­g u n g , z u r g ä n z l i c h e n M o r t i f i k a t i o n des W i l l e n s , w e l c h e z u ­le tz t b is z u m f re iwi l l igen T o d e g e h t d u r c h H u n g e r , a u c h 4 Schopenhaue r (zit. A n m . 1),

J3cl II S 482 d u r c h E n t g e g e n g e h n d e n K r o k o d i l e n , d u r c h H e r a b s t ü r z e n 5 ' Schopenhaue r (zit. A n m . 1) v o m g e h e i l i g t e n Fe l seng ipfe l i m H i m a l a j a , d u r c h l e b e n d i g Bd . II, S. 4 8 3 .

219

6 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . II, S. 4 8 0 - 4 8 1 . W a s Schopen ­hauer in atemloses Aufzählen ver­setzte, blieb für i hn selbst n u r eine Vors te l lung ve rne in ten Wil lens . Im prakt ischen Leben hielt es der w o h l ­habende R e n t i e r d o c h eher mi t der » jüd i sch-p ro tes t an t i schen Z u v e r ­sicht«, die er als Ph i losoph verachtete . D i e »Wegwerfung des Eigenthums« hät te ihn ja gehinder t , in ph i losophi ­scher M u ß e sein Lebenswerk , Die Welt als Wille und Vorstellung, zu schreiben. In den Frankfurter R e v o ­lut ionstagen v o n 1848 sah der alte a rgwöhnische Schopenhaue r seinen Besitzstand in Gefahr. D e r Hagestolz o h n e E r b e n ve rmach te sein V e r m ö ­gen d e m Invalidenfonds j e n e r p r e u ­ßischen Soldaten, die so m u t i g die »souveräne Kanaille« bekämpft hatten.

7 Gus tave Flauber t : D i e V e r ­suchung des heil igen An ton iu s , aus d e m Französ i schen v. Fel ix Pau l Greve , Z ü r i c h 1979.

8 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . I, S. 2 7 1 .

9 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . I, S. 2 5 1 .

10 Pau l C e z a n n e : Ü b e r die K u n s t , Gesp räche m i t Gasque t , Briefe, hg. v. Wal t e r Hess , M i t t e n ­wald 1980, S. 32 .

11 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . I, S. 2 3 3 .

12 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . II, S. 4 3 1 .

13 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . I, S. 335 .

B e g r a b e n w e r d e n , a u c h d u r c h H i n e i n w e r f u n g u n t e r d i e R ä d e r des u n t e r G e s a n g , J u b e l u n d T a n z d e r B a j a d e r e n d i e G ö t t e r ­b i l d e r u m h e r f a h r e n d e n u n g e h e u r e n W a g e n s , u s w . « 6 A u c h d i e se S c h i l d e r u n g b i l d e t d e n K e i m für e i n M o t i v , das i m S y m ­b o l i s m u s aus re i f en w i r d i n d e r Versuchung des heiligen Antonius.7

D i e 1874 p u b l i z i e r t e N o v e l l e v o n F l a u b e r t , K o n t e x t u n z ä h l i ­g e r B i l d f i n d u n g e n i n d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n K u n s t , m a l t d i e a t e m b e r a u b e n d e x o t i s c h e W i l d h e i t a u s , i n d i e d e r m o d e r n e K ü n s t l e r als ä s t h e t i s c h e r E r e m i t g e w o r f e n ist, z u k ä m p f e n als a s c h g r a u e r W e l t v e r n e i n e r g e g e n d e n b e t ö r e n d e n A n s t u r m d e r S i n n l i c h k e i t . D i e s c h i l l e r n d e n V e r l o c k u n g e n v o n F l a u b e r t s K ö n i g i n v o n Saba , d e r P a t r o n i n des J a s a g e n s , s e t z e n d e n E n t ­s c h l u ß z u r V e r n e i n u n g des W i l l e n s t e u f l i s c h e n P r ü f u n g e n aus .

E i n e m o d e r n e F o r m , d i e V e r n e i n u n g des W i l l e n s z u ü b e n , ist das L e b e n m i t d e r K u n s t u n d für d i e K u n s t . D e r K ü n s t l e r i m a k t i v e n P r o z e ß d e s Schaffens , a b e r a u c h d e r pass ive B e ­t r a c h t e r v e r s c h m e l z e n i m ä s t h e t i s c h e n Z u s t a n d v o n »Säl igkei t [sie] u n d G e i s t e s r u h e « 8 s c h m e r z l o s m i t d e r e r k a n n t e n I d e e . D e r K ü n s t l e r l äß t d e n B e t r a c h t e r g l e i c h s a m d u r c h se in A u g e s e h e n . 9 C e z a n n e w i r d spä t e r sagen : »Wi r s e h e n i n d e r M a l e r e i al les, w a s d e r M e n s c h g e s e h e n h a t . Al les , w a s e r h a t s e h e n w o l l e n . W i r s i nd alle d e r g l e i c h e M e n s c h . « 1 0 I n d e r A n s c h a u ­u n g v o n K u n s t e n t g r e n z e n s ich d i e e i n z e l n e n S u b j e k t e z u e i n e m e i n z i g e n , t r a n s z e n d e n t a l e n W e l t - I c h d e r W a h r n e h ­m u n g . I m g e l u n g e n e n W e r k e r s c h e i n t n ä m l i c h d e r B l i c k des K ü n s t l e r a u g e s v e r s c h r ä n k t m i t d e m W e l t a u g e , j e n e m O r g a n , w o r i n d e r W i l l e s ich d i e e r s t e n V o r s t e l l u n g e n s e i n e r S e l b s t e r ­k e n n t n i s geschaf fen h a t ; d e n n g a n z e n t g e h t d e r M e n s c h d e r p l a t o n i s c h e n H ö h l e n i e : D i e E r k e n n t n i s d e s W i l l e n s ist n u r m ö g l i c h i n d e r F o r m v o n V o r s t e l l u n g e n . I m S p i e g e l b i l d d e r K u n s t t r i t t »die W e l t als V o r s t e l l u n g r e i n h e r v o r , u n d g e ­s c h i e h t d i e v o l l k o m m e n e O b j e k t i v a t i o n d e s W i l l e n s « . 1 1 V o l l ­k o m m e n s i n d d i e k ü n s t l e r i s c h e n V o r s t e l l u n g e n v o n d e r W e l t als W i l l e , w e i l s ie , w i e d e r W i l l e a n s ich , frei s i n d v o n p r a k t i ­s c h e n Z w e c k s e t z u n g e n . A l l e r d i n g s be f re i t d i e K u n s t e r f a h r u n g »b loß u m e i n e k u r z e F e i e r s t u n d e , e i n e a u s n a h m s w e i s e , j a e i ­g e n t l i c h n u r m o m e n t a n e L o s m a c h u n g v o m D i e n s t e des W i l ­l e n s . « 1 2 K u n s t , als » Q u i e t i v des W i l l e n s « , e r lös t n u r für A u ­g e n b l i c k e v o m L e b e n w o l l e n . 1 3 E i n e n a c h h a l t i g e V e r n e i n u n g d e s W i l l e n s ist n u r i n d e r p h i l o s o p h i s c h e n E r k e n n t n i s z u v o l l ­z i e h e n , d e n n m i t d e r K u n s t b l e i b t d e r M e n s c h , w i e d e r h e i ­l ige A n t o n i u s , i m R e i c h d e r s i n n l i c h e n V e r s u c h u n g e n . B e ­z e i c h n e n d b l e i b t abe r , d a ß S c h o p e n h a u e r s e i n e s k e p t i s c h e n , a s k e t i s c h e n M a x i m e n i m m e r w i e d e r m i t M e t a p h e r n d e s S e -

220

h e n s u n t e r m a l t . D i e E i n l e i t u n g i n Die Welt als Wille und Vor­stellung n e n n t I m m a n u e l K a n t s Kritik der reinen Vernunft a n e r ­k e n n e n d als S t a r o p e r a t i o n a n e i n e m B l i n d e n ; m i t s e i n e m B u c h n u n g e b e er, S c h o p e n h a u e r , d e m g l ü c k l i c h O p e r i e r t e n »eine S ta rb r i l l e a n d i e H a n d « . 1 4 Z u r B e s c h r e i b u n g des L e b e n s i m R e i c h d e r t ä u s c h e n d e n V o r s t e l l u n g s w e l t d i e n t e i n G l e i c h ­n is , das i n d e n W e d e n u n d d e n P u r a n a s h ä u f i g a b g e w a n d e l t e r s c h e i n t : »Es ist d e r S c h l e i e r d e r M a j a , d e r S c h l e i e r de s T r u ­ges , w e l c h e r d i e A u g e n d e r S t e r b l i c h e n u m h ü l l t u n d sie e i n e W e l t s e h e n l äß t , v o n d e r m a n w e d e r s agen k a n n , d a ß sie sei , n o c h a u c h , d a ß sie n i c h t sei: d e n n sie g l e i c h t d e m T r a u m e , g l e i c h t d e m S o n n e n g l a n z a u f d e m S a n d e , w e l c h e n d e r W a n ­d e r e r v o n f e r n e für e i n W a s s e r hä l t , o d e r a u c h d e m h i n g e w o r ­f e n e n S t r i ck , d e n e r für e i n e S c h l a n g e a n s i e h t . « 1 5 D i e E i n s i c h t in d i e W a h n h a f t i g k e i t d e r W e l t als V o r s t e l l u n g f ü h r t z u j e n e r »e inz igen B e g e b e n h e i t a n sich«: d e n E n t s c h l u ß z u r B e j a h u n g o d e r z u r V e r n e i n u n g d e s W i l l e n s .

E i n e A r t d r i t t e n W e g b i e t e t d i e K u n s t a n . I m ä s t h e t i s c h e n Z u s t a n d s i n d B e j a h u n g u n d V e r n e i n u n g i n d e r M ö g l i c h k e i t s ­f o r m e n t h a l t e n : D i e B e j a h u n g des W i l l e n s i m G e n u ß d e r k ü n s t l e r i s c h e n S i n n e s e i n d r ü c k e , d i e V e r n e i n u n g i m V e r z i c h t , d e n s i n n l i c h e r f a h r e n e n L e b e n s w i l l e n d u r c h K u n s t ins g e ­w ö h n l i c h e L e b e n ü b e r s e t z e n z u w o l l e n . S c h o p e n h a u e r n e n n t Raf fae l als M a l e r » jener g ä n z l i c h e n M e e r e s s t i l l e de s G e m ü t s « ; in s e i n e n B i l d e r n s c h e i n e n u r n o c h E r k e n n t n i s auf, d e r W i l l e sei v e r s c h w u n d e n . 1 6 V i e l l e i c h t i n s p i r i e r t e d i e s e r Satz N i e t z ­sche d a z u , Raf fae l s Transfiguration als S i n n b i l d für d i e a p o l l i n i ­sche Z ä h m u n g des d i o n y s i s c h e n T r i e b s z u d e u t e n .

D i e B e j a h u n g u n d d i e V e r n e i n u n g des W i l l e n s i n d e r M ö g ­l i c h k e i t s f o r m K u n s t s c h e i n e n z w e i G r u n d h a l t u n g e n z u e r z e u ­g e n , d i e v ie le I n t e r p r e t e n i n d e r M o d e r n e g e s e h e n h a b e n . K a n d i n s k y u n t e r s c h i e d z w i s c h e n d e m » G r o ß e n R e a l e n « u n d d e m » G r o ß e n A b s t r a k t e n « ; das Begr i f f spaa r s t e h t a u f d e m G r u n d r i ß v o n S c h o p e n h a u e r s S c h e i d e w e g . A b e r a u c h i n n e r ­h a l b d e r A b s t r a k t i o n w u r d e e i n e P o l a r i t ä t g e s e h e n . »Es ist w o h l k e i n Zufa l l« , s c h r e i b t Ja f fe , »daß K a n d i n s k y s vo l l o r ­c h e s t r i e r t e , r a u s c h e n d e B i l d e r s ich i n i h r e m U r s p r u n g z u r V e r w a n d t s c h a f t m i t R i c h a r d W a g n e r s M u s i k , m i t d e m S i n ­n e n z a u b e r s e i n e r K l ä n g e b e k e n n e n , w ä h r e n d M o n d r i a n s a ske t i s che K o m p o s i t i o n e n d e m K l i m a e i n e r p u r i t a n i s c h e n S t r e n g e , e i n e r b e i n a h b i l d e r s t ü r m e r i s c h e n T r a d i t i o n e n t s t a m ­m e n . « 1 7 D i e M o d e r n e h a t d e n T o p o s d e r P o l a r i t ä t n i c h t g e f u n d e n , s o n d e r n n u r ak tua l i s i e r t , w a s s ich e i n e m v e r g l e i ­c h e n d e n S e h e n v e r d a n k t , das so alt ist w i e das S p r e c h e n ü b e r K u n s t . D i e K u n s t g e s c h i c h t e d u r c h s c h r e i t e t e i n Spa l i e r v o n

14 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd. I, S. 10.

15 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd. I, S. 34.

16 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd. II, S. 507 .

17 In: Polarität: Das Apol l in i ­sche u n d das Dionysische , Ausstel­lungskatalog, Reck l inghausen , Städt­ische Kuns tha l le /Amsterdam, S tede-lijk M u s e u m , Reck l inghausen 1 9 6 1 , o. S.

221

K ü n s t l e r - D i o s k u r e n : z w i s c h e n C e z a n n e u n d v a n G o g h , I n ­g r e s u n d D e l a c r o i x , P o u s s i n u n d R u b e n s , T i z i a n u n d M i c h e l ­a n g e l o . D a s e r s te g e g e n s ä t z l i c h e K ü n s t l e r p a a r b i l d e n Z e u x i s u n d P a r r h a s i o s ; i m 3 6 . B u c h v o n P l i n i u s ' Naturgeschichte s t e h t d i e b e r ü h m t e A n e k d o t e des W e t t s t r e i t s z w i s c h e n d e n z w e i g r i e c h i s c h e n M a l e r n . B e i d e w a r e n m i t T h e a t e r d e k o r a t i o n e n beschäf t ig t . » Z e u x i s f ü h r t e e i n G e m ä l d e m i t T r a u b e n i n so e r ­f o l g r e i c h e r W i e d e r g a b e a u s , d a ß i h n e n a u f d i e B ü h n e n b a u t e n d i e V ö g e l z u f l o g e n . U n t e r d e s s e n fe r t ig te P a r r h a s i o s se ine r se i t s e i n d e r a r t rea l i s t i sches G e m ä l d e v o n e i n e m V o r h a n g a n , d a ß Z e u x i s , s to lz ü b e r das U r t e i l d e r V ö g e l , f o r d e r t e , d e r V o r h a n g sei n u n z u z i e h e n u n d das G e m ä l d e z u z e i g e n . Als e r a b e r d e n I r r t u m e i n s a h , t r a t e r d e n P r e i s sch lagfer t ig m i t d e r A n e r k e n ­n u n g a b : E r h a b e V ö g e l b e t r o g e n , P a r r h a s i o s a b e r i h n , d e n K ü n s t l e r . « 1 8 Z e u x i s t ä u s c h t d i e S i n n e , P a r r h a s i o s e n t t ä u s c h t sie. Z e u x i s spiel t m i t d e m S e h e n als g e g e b e n e r T a t s a c h e ; P a r r ­has ios g e h t a n d e s s e n G r e n z e n . Z e u x i s ist d e r B e j a h e n d e , d e r für d i e A u g e n m a l t , w o r i n s ich d e r W i l l e s i c h t b a r m a c h t . P a r r ­has ios ist d e r V e r n e i n e n d e , i n d e m e r d e n A u g e n das S e h e n ­w o l l e n als B l e n d w e r k v o r f ü h r t — h i n t e r d e m g e m a l t e n V o r ­h a n g ist n i c h t s als F a r b e u n d M a l g r u n d .

D i e Z e u x i s s e d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e b i l d e n d i e M e h r ­zah l . A b e r m i n d e s t e n s e i n e m K ü n s t l e r g e b ü h r t d e r R a n g e i n e s P a r r h a s i o s d e r M o d e r n e : K a s i m i r M a l e w i t s c h .

Suprematismus + Elektrifizierung = Null

18 Zi t . nach: Gaius Plinius Se-cundus , Plinius d. Ä.: Natural is H i -storia, Liber X X X V I , 65 (Übers , v. Verf.).

W i e d e r S ieg des P a r r h a s i o s , so f a n d a u c h d e r k ü n s t l e r i s c h e D u r c h b r u c h v o n M a l e w i t s c h a u f e i n e r B ü h n e s ta t t . A m 3 . D e z e m b e r 1 9 1 3 w u r d e i m L u n a - P a r k - T h e a t e r v o n St . P e t e r s ­b u r g d i e fu tu r i s t i s che O p e r Sieg über die Sonne au fge füh r t ; das L i b r e t t o s c h r i e b A l e x e i K r u t s c h o n y c h , d i e M u s i k M i c h a i l M a t j u s c h i n . K o s t ü m e u n d B ü h n e n b i l d h a t t e M a l e w i t s c h e n t ­w o r f e n . A u f d e n K a t t u n - P r o s p e k t d e r B ü h n e w a r e i n r ies iges s c h w a r z - w e i ß e s Q u a d r a t g e m a l t . D e r b e s u n g e n e S i e g i m T h e a t e r s t ü c k b e s t a n d d a r i n , d i e S o n n e i n e i n e n q u a d r a t i s c h e n B e t o n b u n k e r e i n g e s p e r r t z u h a b e n . D i e V e r u r s a c h e r i n e i n e s v e r a l t e t e n , k i t s c h i g e n L e b e n s , m i t s e i n e n d ä m l i c h e n L ü s t e n , S o r g e n u n d A l l t a g s q u a l e n w a r g e b a n n t . D i e O p e r e r m u n t e r t e d i e Z u s c h a u e r , das S o n n e n s y s t e m h i n t e r s ich z u lassen u n d i n d i e N a c h t des W e l t a l l s v o r z u s t o ß e n . E i n q u a d r a t i s c h e r A u s ­s c h n i t t d ieses f re ien , s c h w a r z e n N i c h t s ist das Schwarze Qua­drat, das M a l e w i t s c h z w e i J a h r e später , a m 17. D e z e m b e r 1 9 1 5 , i n P e t r o g r a d auss te l l t e b e i d e r >Letzten F u t u r i s t i s c h e n B i l d e r -

222

a u s s t e l l u n g 0,10<. E s w u r d e z u m E m b l e m d e s g l e i c h z e i t i g a u s ­g e r u f e n e n S u p r e m a t i s m u s .

I m S u p r e m a t i s m u s v e r n e i n t s ich g e w i s s e r m a ß e n d e r f u t u r i ­s t i sche W i l l e z u r M a c h t , d e m M a l e w i t s c h i n d e n f r ü h e n 1910e r J a h r e n k rä f t ig z u g e s p r o c h e n h a t t e . N o c h i m M a i 1916 , als A l e x a n d e r N i k o l a i j e w i t s c h B e n o i s das Schwarze Quadrat e i n e n a b g e f e i m t e n T r i c k n a n n t e , g i n g M a l e w i t s c h m i t f u t u r i ­s t i scher F a u s t s c h l a g - M e t h o d e g e g e n d e n K u n s t s c h r i f t s t e l l e r aus d e m s o z i a l r e f o r m e r i s c h e n U m k r e i s d e r W a n d e r e n vo r . D e r o f fene B r i e f v e r h ö h n t d i e G e f ü h l s d u s e l e i , d i e N a t u r s e l i g ­ke i t d e r a l t e n G e n e r a t i o n u n d ve r s t e ig t s ich s ch l i eß l i ch z u e i n e m g e w a l t t ä t i g e n B e k e n n t n i s : » M e i n e P h i l o s o p h i e l au t e t : V e r n i c h t u n g d e r S t ä d t e alle fünfz ig J a h r e , V e r t r e i b u n g d e r N a t u r aus d e r K u n s t , V e r n i c h t u n g v o n L i e b e u n d A u f r i c h t i g ­ke i t i n d e r K u n s t , u m n i c h t s i n d e r W e l t a b e r A b t ö t u n g des l e b e n d i g e n Q u e l l s i m M e n s c h e n ( K r i e g ) . « 1 9 D i e s e m a r t i a l i ­s c h e n T ö n e s i n d e i n g e t r e u e s E c h o a u f M a r i n e t t i s K r a f t m e i e ­r e i e n . D e r 1 9 0 9 a u s g e r u f e n e F u t u r i s m u s , d e r e i n J a h r f ü n f t l a n g d e r e u r o p ä i s c h e n I n t e l l i g e n z d i e S t i c h w o r t e g a b , k a m aus I t a l i en , e i n e m L a n d , das spät z u r N a t i o n g e w o r d e n w a r u n d d e s s e n l ä n d l i c h e B e v ö l k e r u n g n o c h u n t e r d e r D e c k e e i n e r p a t r i a r c h a l e n M e n t a l i t ä t h i n d ä m m e r t e .

D i e A n z i e h u n g s k r a f t de s F u t u r i s m u s v e r h i e l t s ich u m g e ­k e h r t p r o p o r t i o n a l z u m r e a l e n t e c h n i s c h e n F o r t s c h r i t t . I m i n d u s t r i e l l e n R ü c k s t a n d w a r e n I t a l i en u n d R u ß l a n d ä h n l i c h . W a n n h a t t e M a l e w i t s c h , 1 8 7 8 g e b o r e n , i n e i n e m D o r f b e i K i e w i n a r m e n V e r h ä l t n i s s e n a u f g e w a c h s e n , d i e e r s t e G l ü h ­b i r n e a u f l e u c h t e n s e h e n ? W a n n h a t t e i h n , a n d e n W e g r a n d g e f l ü c h t e t , z u m e r s t e n M a l d e r S t a u b e i n e s v o r b e i f a h r e n d e n A u t o m o b i l s e i n g e h ü l l t ? W a n n h a t t e e r d e n e r s t e n D o p p e l ­d e c k e r a m H i m m e l k n a t t e r n h ö r e n ? M a l e w i t s c h w a r e r w a c h ­sen , als e r u m 1 9 0 0 n a c h M o s k a u z o g — z u m e r s t e n M a l i n e i n e r M e t r o p o l e ! I n Pa r i s w a r d e r F u t u r i s m u s w e i t w e n i g e r e r f o l g r e i c h , a u c h w e n n das G r ü n d u n g s m a n i f e s t a u f f r a n z ö ­sisch i m >Figaro< e r s c h i e n . F ü r d i e P a r i s e r A v a n t g a r d e w a r d i e i n d u s t r i e l l e M o d e r n e b e r e i t s U r b a n e W i r k l i c h k e i t . D i e S t a d t h a t t e d e m F u t u r i s m u s a v a n t la l e t t r e v o n 1 8 5 5 b is 1 9 0 0 fünf­m a l g e h u l d i g t a n l ä ß l i c h v o n W e l t a u s s t e l l u n g e n , d i e e i n i n t e r ­n a t i o n a l e s P u b l i k u m ü b e r das d a m a l s N e u e s t e a n V e r k e h r s ­m i t t e l n , I n d u s t r i e w a r e n u n d t e c h n i s c h e m G e r ä t i n A t e m u n d a u f d e m l a u f e n d e n h i e l t e n . G u s t a v e Eiffel h a t t e 1 8 8 9 m i t s e i n e m b e r ü h m t e n T u r m M a ß s t ä b e gese t z t , v o n d e n e n A n t o ­n i o San t 'E l i a s M a n i f e s t für f u tu r i s t i s che A r c h i t e k t u r n u r 1 9 Zi t . nach: H e i n e r Stachel-

, A , • i .-1 ~K & I X T haus: Kasimir Malewi tsch . E in tra-

t r ä u m e n k o n n t e . M a r i n e t t i s b e r ü h m t e M a x i m e v o n d e r »Ver- & s c h e r Konflikt , Düsse ldorf 1989, a c h t u n g des W e i b e s « v e r m o c h t e b e i P i ca s so e i n e n H e i t e r k e i t s - S. 2 3 .

223

20 Zi t . nach: Stachelhaus (zit. A n m . 19), S. 105 .

21 Kasimir Malewi tsch: Supre ­m a t i s m u s — D i e gegens tands lose W e l t , hg . v. W e r n e r H a f t m a n n , übers , v. H a n s v o n Riesen , Kö ln 1962, S. 1 9 3 - 1 9 4 .

22 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . II, S. 506.

e r fo lg z u e r r i n g e n , n i c h t a b e r e i n e p r a k t i z i e r e n d e Gefo lgschaf t

z u f i n d e n .

I n M a l e w i t s c h s Ä u ß e r u n g e n d e r 2 0 e r J a h r e s i n d d i e k r i e g e ­

r i s c h e n T ö n e v e r k l u n g e n ; das fu tu r i s t i s che J a s a g e n w e i c h t d e r

a s k e t i s c h e n W i l l e n s v e r n e i n u n g d e s a u s g e r e i f t e n S u p r e m a t i s ­

m u s . A l l e r d i n g s b e d e u t e t d i e V e r n e i n u n g des W i l l e n s n i c h t

d i e V e r n e i n u n g d e r K u n s t r e g e n t s c h a f t , i m G e g e n t e i l : » M i c h

d ü n k t , d a ß S u p r e m a t i s m u s a m b e s t e n p a ß t , w e i l es H e r r s c h a f t

b e d e u t e t « , s c h r e i b t M a l e w i t s c h a n M a t j u s c h i n . 2 0 D e r S u p r e ­

m a t i s m u s t r i t t m i t d e m A n s p r u c h a n , d i e V e r n e i n u n g des

W i l l e n s gese l l schaf t l ich d u r c h z u s e t z e n .

M a l e w i t s c h s S c h r i f t e n aus d e n 2 0 e r J a h r e n , d i e u n t e r d e m

T i t e l Die gegenstandslose Welt 1 9 6 2 a u f d e u t s c h ve rö f f en t l i ch t

w u r d e n , l e s e n s ich ü b e r w e i t e S t r e c k e n als P a r a p h r a s e n e i n e r

i n t e n s i v e n S c h o p e n h a u e r - L e k t ü r e . O f f e n k u n d i g k l i n g t das

p h i l o s o p h i s c h e V o r b i l d a n i n d e r w o h l b e r ü h m t e s t e n S te l le ,

d i e i m m e r w i e d e r als >Supremat i s t i sches Manifes te z i t i e r t w i r d :

Somit befindet sich das gegenstandsbefangene Bewußtsein im Schlaf der Vorstellungen und Vermutungen. Im Schlaf auch eilt die Menschheit durch die in der Vorstellung ihres Bewußtseins entstandenen Zeiträume. Wirtschaft, Verstand, Urteilsfähigkeit, Sinn, Logik, Wissenschaft, alles sucht Gott oder die Zukunft, sucht das vollkommene Dasein, sucht die Wahrheit. Wenn aber das Erwachen kommt, dann wird sich herausstellen, daß wir uns in der gegenstandslosen Wahrheit befinden. Die Welt als Vorstellung, als Vernunft, als Wille, wird vergehen wie Nebel. Zusammenfassend möchte ich feststellen: Allen Handlungen der menschlichen Weisheit, ihrer gegenständlichen Denkweise, ist das Prinzip der Gegenstandslosigkeit entgegenzustellen, ein Prinzip, das frei ist von jedem Versuch, irgend etwas Gegenständliches in der Zukunft oder in Gott zu erstreben, irgendwelche gegenständ­lichen Hoffnungen in sie zu setzen. Im weiten Raum kosmischer Feiern errichte ich die weiße Welt der suprematistischen Gegenstandslosigkeit als Manifestation des befreiten Nichts! 2 1

D i e S c h l u ß s ä t z e i n d e r Gegenstandslosen Welt s t i m m e n e i n i n

d i e S c h l u ß s ä t z e d e r Welt als Wille und Vorstellung, d i e t a u s e n d

S e i t e n P h i l o s o p h i e d e r Skeps i s u n d A s k e s e also b e e n d e n :

Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt. Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als die­ser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. [...] Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen - Nichts. 2 2

M a l e w i t s c h s m e r k w ü r d i g e W e n d u n g v o m >Schlaf d e r V o r ­

s t e l l u n g e n ist e i n e L e s e f r u c h t aus S c h o p e n h a u e r ; d i e E i n l e i ­

t u n g z u r Welt als Wille und Vorstellung b e schä f t i g t s ich e i n g e ­

h e n d m i t d e m V e r h ä l t n i s v o n w a c h e m L e b e n u n d T r a u m .

224

B e i d e g e h ö r e n z u r V o r Stellungswelt. I m R ü c k g r i f f a u f K a n t s i eh t S c h o p e n h a u e r d e n U n t e r s c h i e d v o n W a c h - u n d T r a u m z u s t a n d a l l e in i n d e m M a ß , n a c h d e m d i e j e w e i l s erlebten V o r s t e l l u g e n v e r s t a n d e s m ä ß i g n a c h d e m Sa tz v o m G r u n d g e o r d n e t e r s c h e i n e n . »Das L e b e n u n d d i e T r ä u m e s i n d B l ä t t e r e i n e s u n d des n ä m l i c h e n B u c h e s . D a s L e s e n i m Z u s a m m e n h a n g h e i ß t w i r k l i c h e s L e b e n . W a n n a b e r d i e j e d e s m a l i g e L e s e s t u n d e ( d e r T a g ) z u E n d e u n d d i e E r h o ­l u n g s z e i t g e k o m m e n ist , so b l ä t t e r n w i r oft n o c h m ü ß i g u n d s c h l a g e n , o h n e O r d n u n g , b a l d h i e r , b a l d d o r t e i n B l a t t auf: oft ist es e i n s c h o n g e l e s e n e s , oft e i n n o c h u n b e k a n n t e s , a b e r i m m e r aus d e m s e l b e n B u c h . « 2 3 D a s f a h r i g e B l ä t t e r n i m B u c h d e s L e b e n s ist d e r k u r z e , lu f t ige T r a u m i m l a n g e n , s c h w e r e n T r a u m d e s L e b e n s se lbs t . S o v e r s t e h t M a l e w i t s c h d i e g e g e n ­s t ä n d l i c h e V o r s t e l l u n g s w e l t als i m S c h l a f z u s t a n d g e z e u g t . D e r S u p r e m a t i s m u s w i l l d i e t r ä u m e n d e M e n s c h h e i t i n s be f r e i t e N i c h t s e r w e c k e n . D a s g e w ö h n l i c h e B e w u ß t s e i n ist W a h n ; d e r K ü n s t l e r als p l a t o n i s c h e r F ü h r e r r ü t t e l t d i e i m D ä m m e r ­sch la f d e r W e l t h ö h l e G e f e s s e l t e n auf. D i e s u p r e m a t i s t i s c h e n K o m p o s i t i o n e n m a c h e n d e n V o r g a n g d e s A u f w a c h e n s aus d e r W e l t d e r V o r s t e l l u n g e n s i ch tba r . D i e R h o m b o i d e , Q u a ­d r a t e u n d V i e r e c k e a u f g r a u w e i ß e m G r u n d b i l d e n G e s c h w a ­d e r v o n g e o m e t r i s c h e n F i g u r e n , d e r e n B i l d e i n d r u c k u n s s u g ­g e r i e r t z u s agen : »Sie schweben.« W i e M e t a l l s p ä n e s c h e i n e n sie g e o r d n e t v o n u n s i c h t b a r e n , >elektros ta t i schen< Kra f t f e l ­d e r n . S o l c h e s B e s c h r e i b e n ze ig t , d a ß w i r d a z u n e i g e n , se lbs t d i e g e g e n s t a n d s l o s e n F o r m e n d e r s u p r e m a t i s t i s c h e n M a l e r e i n o c h d u r c h d e n T r a u m s c h l e i e r d e r g e g e n s t ä n d l i c h e n W e l t z u s e h e n . V e r s u c h e n w i r , j e t z t a u f z u w a c h e n u n d u n s d e n Sch l a f d e r V o r s t e l l u n g e n aus d e n A u g e n z u r e i b e n ! B e t r a c h t e n w i r das Gelbe Viereck auf Weiß v o n 1 9 1 7 / 1 8 : E s ze ig t , w i e l e i c h t w i r H ö h l e n m e n s c h e n z u t ä u s c h e n s i nd . N u r z w e i g e r a d e L i n i e n , d i e g e g e n e i n a n d e r l au fen , l a ssen u n s a n n e h m e n , e i n e n r ä u m l i c h e n G e g e n s t a n d v o r u n s z u s e h e n . D i e L i n i e n i n t e r p r e t i e r e n w i r i m S i n n e d e r Z e n t r a l p e r s p e k t i v e als V e r ­k ü r z u n g . D i e s e n E i n d r u c k u n t e r s t ü t z t d e r F a r b a u f t r a g i m g e l b e n V i e r e c k , d e s s e n s te t iges V e r b l a s s e n d e r g e o m e t r i s c h e n F i g u r das A u s s e h e n e i n e r g e g e n s t ä n d l i c h e n O b e r f l ä c h e u n t e r d e m o p t i s c h e n E i n f l u ß d e r L u f t a t m o s p h ä r e g i b t . D i e u n w i l l ­k ü r l i c h s ich e i n s t e l l e n d e G e w o h n h e i t r ä u m l i c h e n W a h r n e h ­m e n s m a c h t u n s e i n g e l b l a c k i e r t e s B r e t t s e h e n , das d u r c h d e n N e b e l f l i eg t . D a m i t h a b e n w i r e i n e g e g e n s t a n d s l o s e I n f o r m a t i o n d e r S e h n e r v e n n a c h d e m Sa tz v o m G r u n d z u e i n e m r ä u m l i c h s i n n v o l l a n g e o r d n e t e n D i n g u m g e w a n d e l t . D a s O b j e k t ist e i n e K o p f g e b u r t d e s S u b j e k t s .

225

23 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), Bd . I, S. 46 .

Kasimir Malewi tsch , Gelbes Viereck auf Weiß, 1917/18

D a s Gelbe Viereck d i e n t als M a n d a l a , a n d e m w i r d e n W e c h ­sel v o m g e g e n s t ä n d l i c h e n z u m g e g e n s t a n d s l o s e n S e h e n ü b e n k ö n n e n . D a s B i l d ze ig t e i n e K i p p f i g u r : D u r c h d i e B r i l l e d e r Z e n t r a l p e r s p e k t i v e b e t r a c h t e t , h a b e n w i r das g e l b l a c k i e r t e B r e t t v o r A u g e n ; l ö s c h e n w i r i n u n s d i e S e h g e w o h n h e i t , k i p p t d i e F i g u r i n e i n u n r e g e l m ä ß i g e s V i e r e c k a u f g r a u w e i ß e r F l ä c h e . N o c h v e r r ä t d i e s e r a b s t r a h i e r e n d e E i n d r u c k e i n e n R e s t k o n v e n t i o n e l l e r A n s c h a u u n g : d i e I l l u s ion v o n F i g u r u n d G r u n d . Sie w i r d e r z e u g t v o n d e r u n t e r s c h i e d l i c h s t a r k e n A b s o r p t i o n des L i c h t s d u r c h d i e F a r b e n , w o d u r c h d i e F l ä c h e n als F a r b t r ä g e r i n r ä u m l i c h e V e r h ä l t n i s s e z u e i n a n d e r g e r ü c k t

226

s c h e i n e n . L ö s c h e n w i r a u c h d i e se V o r s t e l l u n g , so s e h e n w i r e i n e g e l b a n g e s t r i c h e n e F l ä c h e , b e g r e n z t v o n v i e r g r a u a n g e ­s t r i c h e n e n , r e c h t w i n k l i g e n D r e i e c k e n . D i e K i p p f i g u r d e r s u p r e m a t i s t i s c h e n K o m p o s i t i o n e r m ö g l i c h t L o c k e r u n g s ü b u n ­g e n d e r W a h r n e h m u n g . I n d e m w i r d e n B i l d e i n d r u c k i n u n s h i n u n d h e r s p r i n g e n lassen z w i s c h e n d e r g e g e n s t ä n d l i c h e n R a u m i l l u s i o n , d e r I l l u s i o n v o n fa rb ige r A t m o s p h ä r e u n d d e m g e g e n s t a n d l o s e n E i n d r u c k e i n e r fa rb ig a n g e s t r i c h e n e n F l ä c h e , d u r c h b r e c h e n w i r d i e f i x e n I d e e n des g e w ö h n l i c h e n B e w u ß t ­se ins u n d ü b e n u n s e i n i n d i e E r f a h r u n g d e s b e f r e i t e n N i c h t s .

M a l e w i t s c h h a t t e 1 9 1 3 a m F u t u r i s t e n k o n g r e ß i n F i n n l a n d t e i l g e n o m m e n . D i e S c h l u ß p r o k l a m a t i o n w a n d t e s ich g e g e n »die ve r a l t e t e B e w e g u n g d e r G e d a n k e n i n d e n G e l e i s e n d e r Kausa l i t ä t , g e g e n d e n S i n n u n d d i e L o g i k u n d das H e r u m ­i r r e n i m b l a u e n D u n s t de s S y m b o l i s m u s « . 2 4 >Kausalität< ist d e r z e n t r a l e Begriff , m i t d e m S c h o p e n h a u e r i n s e i n e r D i s s e r t a t i o n Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) K a n t s T h e o r i e des U r t e i l s m o d i f i z i e r t h a t . N a c h K a n t e n t s t e h t E r k e n n t n i s d u r c h d i e V e r k n ü p f u n g d e r r e i n e n A n ­s c h a u u n g s f o r m e n v o n Z e i t u n d R a u m m i t t e l s d e r v i e r V e r ­s t a n d e s k a t e g o r i e n : Q u a n t i t ä t , Q u a l i t ä t , R e l a t i o n u n d M o d a ­li tät . S c h o p e n h a u e r f ü h r t d i e v i e r K a t e g o r i e n a u f e i n e e i n z i g e , d i e Kausa l i t ä t , z u r ü c k . D i e W e l t als V o r s t e l l u n g ist n a c h d e m >Satz v o m G r u n d e < k o n s t r u i e r t . E i n U r t e i l folgt l og i sch g e m ä ß U r s a c h e u n d W i r k u n g , p r a k t i s c h g e m ä ß N u t z e n u n d Z w e c k für d e n U r t e i l e n d e n .

D a ß d e r M e n s c h d i e W e l t n a c h d e m B i l d s e i n e r V e r s t a n ­d e s m ö g l i c h k e i t e n u n d V e r w e r t u n g s i n t e r e s s e n schafft, ist e i n b e h e r r s c h e n d e r G e d a n k e b e i M a l e w i t s c h »Das D e n k e n gi l t i n d e r g e g e n s t ä n d l i c h e n , p r a k t i s c h - w i s s e n s c h a f t l i c h e n W e l t als h ö c h s t e s M i t t e l , als s t ä rks te Waf fe . M i t d e r G e s c h w i n d i g k e i t e i ne s B l i t z e s , v i e l l e i ch t sogar m i t e i n e r u m e i n Vie l f aches g r ö ß e r e n G e s c h w i n d i g k e i t d u r c h e i l t es das Al l , t a s te t es ab i n B r e i t e u n d T i e f e , i m m e r a u f d e r S u c h e n a c h d e n U r s a c h e n d e r E r s c h e i n u n g e n . D a b e i v e r g i ß t d e r M e n s c h aber , d a ß d i e v o n i h m w a h r g e n o m m e n e n E r s c h e i n u n g e n n u r das E r g e b n i s v o n V o r s t e l l u n g s - P r o z e s s e n i n s e i n e m k l e i n e n S c h ä d e l s i n d u n d d a ß d i e S c h w i e r i g k e i t d e r E r k e n n t n i s i n d e n g e d a n k l i c h e n K o n s t r u k t i o n e n ü b e r e i n e — i n W i r k l i c h k e i t g a r n i c h t v o r h a n ­d e n e — z w e c k g e b u n d e n e , p r a k t i s c h - r ä u m l i c h e W e l t z u s u c h e n i s t . « 2 5 W i s s e n s c h a f t , T e c h n i k u n d P o l i t i k s ind , so M a l e w i t s c h , d a v o n b e s e s s e n , d i e a n s ich g e g e n s t a n d s l o s e , z w e c k f r e i e W e l t i n d i e W e l t d e r V o r s t e l l u n g e n d e s M e n s c h e n z u ü b e r f ü h r e n , u m sie s e i n e n B e d ü r f n i s s e n d i e n s t b a r z u m a c h e n . »In d e r I d e e des p r a k t i s c h e n R e a l i s m u s b e f a n g e n , w i l l d e r M e n s c h d i e

24 Z i t . n a c h W e r n e r Haf t -m a n n s E i n l e i t u n g in: M a l e w i t s c h (zit. A n m . 21) , S. 18.

25 Malewi t sch (zit. A n m . 21) , S. 4 1 .

227

g a n z e N a t u r n a c h s e i n e m i d e a l e n E n t w u r f f o r m e n . [. . .] D e r g e g e n s t ä n d l i c h e Ideal i s t ist e i n T r ä u m e r : I h m s c h w e b t d e r G e g e n s t a n d v o n i dea l e r V o l l k o m m e n h e i t vo r , w i e d i e N y m ­p h e d e m D i c h t e r . E r w i l l sie f e s tha l t en i n s e i n e r P o e s i e , a b e r sie b l e i b t e w i g e i n e f l ü c h t i g e E r s c h e i n u n g . S o a u c h d e r G e ­g e n s t a n d für d e n g e g e n s t ä n d l i c h e n Idea l i s t en : e w i g e n t g l e i ­t e n d , n i e m a l s gre i fbar , n i e m a l s p h y s i s c h b e h e r r s c h b a r . T r o t z ­d e m v e r s u c h t d e r Idea l i s t i m m e r w i e d e r , das G e g e n s t a n d s l o s e g e g e n s t ä n d l i c h z u m a c h e n . D i e s e v e r g e b l i c h e n B e m ü h u n g e n s i n d es , d i e d e n S t u r m d e r m a t e r i a l i s t i s c h e n D i c h t e r , K ü n s t l e r u n d T e c h n i k e r en t fe s se ln u n d K r i e g , D r a h t v e r h a u e , G i f tgase , S e l b s t m o r d e , T r ä n e n , Z ä h n e k n i r s c h e n , T r a u e r u n d K u m m e r z u m G e f o l g e h a b e n . « 2 6 M a l e w i t s c h s c h r e i b t d i e s , als u n t e r d e n Soz ia l i s t en d i e R e a l i s m u s - D e b a t t e b e g i n n t . E r d r e h t d e n S p i e ß u m : D i e V e r f e c h t e r des >Material ismus< i m G e i s t v o n M a r x u n d L e n i n b e z i c h t i g t e r de s >Idealismus<, i m S i n n e d e s z w e c k r a t i o n a l h a n d e l n d e n , i m N ü t z l i c h k e i t s d e n k e n b e f a n g e ­n e n M e n s c h e n , d e r d e r N a t u r I d e e n a u f d r ä n g e n wi l l , d i e es n u r i m K o p f u n d i n B ü c h e r n g ib t . D e r >Material ismus< ist s o l ­c h e r m a ß e n e i n H i r n g e s p i n s t d e r m a r x i s t i s c h e n V o r s t e l l u n g s ­w e l t .

D i e T h e s e v o n d e r Z w e c k f r e i h e i t d e r N a t u r stell t e i n e G e g e n p o s i t i o n d a r z u d e r ö k o n o m i s c h e n A u f f a s s u n g , d i e i n d e r N a t u r das u n e r s c h ö p f l i c h e R o h s t o f f l a g e r i m D i e n s t d e s t e c h n i s c h e n F o r t s c h r i t t s , d e r A k k u m u l a t i o n v o n W a r e n u n d d e s P r o f i t s e r k e n n t . A n d i e s e m b ü r g e r l i c h e n V e r f ü g u n g s a n ­s p r u c h ä n d e r t d e r S o z i a l i s m u s n i c h t s , s o n d e r n b i l d e t d i e S tufe v o n d e s s e n gese l l schaf t l ich v o l l z o g e n e r D u r c h s e t z u n g . D e r K o m m u n i s m u s k o l l e k t i v i e r t d i e I d e e d e r N a t u r b e h e r r s c h u n g . S e i n e K u l t u r b e s c h r ä n k t s ich darauf , d e n » m e c h a n i s c h e n K a u ­appara t« a u s z u b i l d e n : » U n b e k ü m m e r t u m d i e l a u e r n d e n G e ­f a h r e n , w e r d e n i m m e r n e u e E r f i n d u n g e n g e m a c h t u n d S p e i ­s e h a l l e n e r r i c h t e t . I n d i e s e n S p e i s e h a l l e n v e r s a m m e l t s ich d i e g a n z e A l l g e m e i n h e i t , u m s ich satt z u e s sen . G e s ä t t i g t g e h t sie d a n n a n d i e A r b e i t , g e h t s äen u n d b r i n g t i h r e n D u n g g l e i c h m i t . I n d i e s e m K r e i s l a u f e r s c h ö p f t s ich d e r g a n z e S i n n d e s p r a k t i s c h e n F u t t e r t r o g - R e a l i s m u s u n d n e n n t s ich K u l t u r . « 2 7

M a r x ' D e f i n i t i o n v o n A r b e i t als »Stof fwechse l m i t d e r N a t u r « m a c h t es d e u t l i c h : D i e a r b e i t e n d e Gese l l schaf t ist e i n l e b e n d e r D a r m , e i n e M a d e , d i e s ich i n d e r N a t u r , j e n e r d u l d s a m e n W i r t i n , e i n g e n i s t e t u n d fes tgesaugt h a t , p u l s e n d i m p e r i s t a l t i -s c h e n R h y t h m u s e i n e r u n a b l ä s s i g e n , u n e r s ä t t l i c h e n V e r d a u -

26 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , u n g . D i e B e s t r e b u n g e n d e r I n d u s t r i e k u l t u r lassen s ich z u s a m -S 45 f.

27 Malewi tsch (zit. A n m . 21), m e n f a s s e n i n d e r F o r d e r u n g : »Ich w i l l essen.« D e m g e g e n ü b e r S. 136. s t r eb t d e r S u p r e m a t i s m u s d i e E r z i e h u n g z u e i n e m s p i r i t u e l l e n

228

M e n s c h e n a n , d e r s ich n i c h t i n d i e G e m ü t l i c h k e i t u n d d i e B e q u e m l i c h k e i t de s L e b e n s f ü g e n w i l l . M a l e w i t s c h m u t e t d e m S o w j e t m e n s c h e n , d e s s e n L e b e n s s t i l i n d e n 2 0 e r J a h r e n k a u m S a t u r i e r t h e i t n a c h g e s a g t w e r d e n k o n n t e , e i n i g e s z u . A l s d e r K ü n s t l e r d i e b e r ü h m t e Passage ü b e r d e n > F u t t e r t r o g - R e a -lismus< s c h r i e b , w a r e n d i e v e r h e e r e n d e n H u n g e r s n ö t e i m G e f o l g e des B ü r g e r k r i e g s b e i l e i b e n o c h n i c h t v e r g e s s e n . D o c h g e r a d e d a r a u f se tz te d e r S u p r e m a t i s m u s : d i e E r f a h r u n g des ö k o n o m i s c h e n Ko l l apses u n d d e r E n t b e h r u n g e n u m 1 9 2 0 als k u l t u r e l l e T u g e n d z u v o l l e n d e n . D i e K r i s e i n d e r g e g e n s t ä n d ­l i c h e n W e l t b a r g d i e C h a n c e , e n d l i c h i n d i e G e g e n s t a n d s ­los igke i t v o r z u s t o ß e n . L e n i n s N e u e Ö k o n o m i s c h e P o l i t i k ist n i c h t d i e s e n W e g g e g a n g e n . Sie v e r s u c h t e , s u p r e m a t i s t i s c h g e ­s e h e n , d i e g e g e n s t ä n d l i c h e W e l t als V o r s t e l l u n g z u r e s t a u r i e ­r e n . U n d d i e l i n k e n K o n s t r u k t i v i s t e n ha l f en krä f t ig m i t . I m U n t e r s c h i e d z u m S u p r e m a t i s m u s s t e l l t en sie s ich i n d e n D i e n s t d e r N ü t z l i c h k e i t . D e r K o n s t r u k t i v i s m u s folgt — m i t S c h o p e n h a u e r g e s p r o c h e n — d e m Satz v o m G r u n d u n d b e ­s c h r ä n k t s ich darauf , d i e i n s t r u m e n t e i l e V e r n u n f t m i t k ü n s t l e ­r i s c h e n M i t t e l n a u s z u d r ü c k e n .

D a s D e n k e n i n d e r K a t e g o r i e v o n U r s a c h e u n d W i r k u n g stellt d e n M e n s c h e n u n w i l l k ü r l i c h i n d e n M i t t e l p u n k t de s K o s m o s . D i e F r a g e n a c h d e r K a u s a l i t ä t e n t s c h e i d e t s ich stets v o n v o r n h e r e i n aus d e r P e r s p e k t i v e d e s s e n , d e r sie stellt : E s ist d e r M e n s c h , d e r alle D i n g e n a c h N u t z u n g e n u n d S c h ä d l i n g e n o r d n e t . S o b l e i b t d e r K o n s t r u k t i v i s m u s , so g u t w i e d e r soz ia l i ­s t i sche > F u t t e r t r o g - R e a l i s m u s < , d e m I r r t u m ve rha f t e t , d e n s c h o n d i e G e n e s i s v e r b r e i t e t h a t t e : D e r M e n s c h sei d i e K r o n e d e r S c h ö p f u n g ; i h m falle, kraf t d i e s e r S t e l l u n g , das R e c h t z u , d i e N a t u r s e i n e n Z w e c k e n Untertan z u m a c h e n . D e m hä l t M a l e w i t s c h e n t g e g e n : » H a b e n w i r e i n R e c h t , d e n M e n s c h e n als M a ß s t a b für d i e B e u r t e i l u n g k u l t u r e l l e r W e r t e z u n e h m e n ? K a n n es n i c h t v o r d e m E r s c h e i n e n d e s M e n s c h e n i n a n d e r e n A u s p r ä g u n g e n K u l t u r e n g e g e b e n h a b e n , d i e v i e l l e i ch t v ie l h ö h e r s t a n d e n als d i e i n m a n c h e r B e z i e h u n g d o c h r e c h t f rag­w ü r d i g e m e n s c h l i c h e K u l t u r ? B e g e g n e n w i r n i c h t a u f S c h r i t t u n d T r i t t h o c h e n t w i c k e l t e n K u l t u r e n i n K r i s t a l l e n , I n s e k t e n , i m g a n z e n u n s u m g e b e n d e n L e b e n ? « M a l e w i t s c h beg re i f t alle E r s c h e i n u n g s f o r m e n i m K o s m o s als g l e i c h w e r t i g . S o w e n i g es R a n g u n t e r s c h i e d e g i b t z w i s c h e n o r g a n i s c h e r u n d a n o r g a n i ­s c h e r W e l t , so w e n i g lassen s ich c h e m i s c h e u n d p h y s i k a l i s c h e Z u s t ä n d e b e w e r t e n , s o b a l d v o m M a ß s t a b des N u t z e n s für d e n M e n s c h e n a b g e s e h e n w i r d . »Wo ist V o l l k o m m e n h e i t u n d K u l t u r i m W e l t r a u m ? E s ist ü b e r a u s s c h w e r , i ch m ö c h t e s agen u n m ö g l i c h , z u e n t s c h e i d e n , w a s v o l l k o m m e n e r ist, das W a s s e r

229

o d e r d e r D a m p f . B e i d e E r r e g u n g s z u s t ä n d e h a b e n i n i h r e m W e r t e i n e g e g e n s t ä n d l i c h n i c h t n a c h w e i s b a r e G l e i c h h e i t . D i e ­se G l e i c h h e i t ist t a t s äch l i ch u n g e g e n s t ä n d l i c h u n d m i t k e i n e r W a a g e , k e i n e m M e ß g e r ä t z u b e s t i m m e n . S o m i t g i b t es v o n d i e s e m G e s i c h t s p u n k t aus w e d e r das , w a s m a n K u l t u r , n o c h das , w a s m a n V o l l k o m m e n h e i t n e n n t , es g i b t n u r u n b e s t i m m ­b a r e E r r e g u n g e n v o n G l e i c h h e i t e n . D a s ist a u c h das g a n z e W e s e n d e r w a h r e n K u n s t , d a ß sie s ich i n s e i n e r h ö c h s t e n F o r m , i n d e r g e g e n s t a n d s l o s e n M a l e r e i - d e m S u p r e m a t i s m u s o f f e n b a r t . « 2 8 M a l e w i t s c h s B e g r i f f d e r >Erregung< e n t s p r i c h t s o w o h l B e r g s o n s >elan vital< als a u c h d e m S c h o p e n h a u e r s c h e n W i l l e n i n d e r N a t u r .

»Bald h e b t s ich das W a s s e r als N e b e l , b a l d fällt es w i e d e r als T a u o d e r b i l d e t W o l k e n , d i e s ich w i e d e r a u f l ö s e n o d e r als R e g e n h e r u n t e r k o m m e n . D i e s e r g a n z e K r e i s l a u f v o l l z i e h t s ich g a n z o f fens ich t l i ch p l a n l o s , o h n e i r g e n d e i n e l e i t e n d e I d e e i m S i n n e des g e g e n s t ä n d l i c h - p r a k t i s c h e n R e a l i s m u s . E s s i n d v o l l k o m m e n g e g e n s t a n d s l o s e E r r e g u n g e n , d i e d iese W i r k u n ­g e n a u s l ö s e n . « 2 9 M i t d i e s e m B i l d p a r a p h r a s i e r t M a l e w i t s c h S c h o p e n h a u e r , d e r d e n W i l l e n i n d e r N a t u r j e n s e i t s de s Sa tzes v o m G r u n d i m K r e i s l a u f de s W a s s e r s e rk l ä r t : » W a n n d i e W o l ­k e n z i e h n , s i n d d i e F i g u r e n , w e l c h e sie b i l d e n , i h n e n n i c h t w e s e n t l i c h , s i n d für sie g l e i c h g ü l t i g : d a ß sie als e las t i scher D u n s t , v o m S t o ß d e s W i n d e s z u s a m m e n g e p r e ß t , w e g g e t r i e ­b e n , a u s g e d e h n t , z e r r i s s e n w e r d e n ; d ies ist i h r e N a t u r , ist das W e s e n d e r Krä f t e , ist d i e I d e e : n u r für d e n i n d i v i d u e l l e n B e t r a c h t e r s i n d d i e j e d e s m a l i g e n F i g u r e n . - D e m B a c h , d e r ü b e r S t e i n e a b w ä r t s ro l l t , s i n d d i e S t r u d e l , W e l l e n , S c h a u m ­g e b i l d e , d i e e r s e h e n l äß t , g l e i c h g ü l t i g u n d u n w e s e n t l i c h : d a ß e r d e r S c h w e r e folgt , s ich als u n e l a s t i s c h e , g ä n z l i c h v e r s c h i e b ­b a r e , f o r m l o s e , d u r c h s i c h t i g e F lüs s igke i t ve rhä l t ; d ies ist se in W e s e n , d ies ist , w e n n a n s c h a u l i c h e r k a n n t , d i e I d e e : n u r für u n s , s o l a n g e w i r als I n d i v i d u e n e r k e n n e n , s i n d j e n e G e b i l d e . — D a s E i s a n d e r F e n s t e r s c h e i b e s c h i e ß t a n n a c h d e n G e s e t z e n d e r K r y s t a l l i s a t i o n , d i e das W e s e n d e r h i e r h e r v o r t r e t e n d e n N a t u r k r a f t o f f e n b a r e n , d i e I d e e da r s t e l l en ; a b e r d i e B ä u m e u n d B l u m e n , d i e es d a b e i b i l d e t , s i n d u n w e s e n t l i c h u n d n u r für u n s d a . « 3 0 D i e g e g e n s t ä n d l i c h e n F i g u r e n , d i e das W a s s e r i n d e n v e r s c h i e d e n e n A g g r e g a t z u s t ä n d e n als G a s , F lüss igke i t u n d Kr i s t a l l b i l d e t , s i n d V o r s t e l l u n g s f o r m e n des m e n s c h l i c h e n

™ w i • i / • * A u g e s . Sie m ö g e n e r h a b e n , m a l e r i s c h u n d p o e t i s c h w i r k e n : 28 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , & . & ' r

S. 9 i . d i e z i e h e n d e n W o l k e n , d e r p l ä t s c h e r n d e B a c h u n d d i e w i n t e r -29 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , l i ehe E i s b l u m e a m F e n s t e r des D i c h t e r s s a g e n ü b e r das W e s e n

S ' 8 3 ° 0 Schopenhaue r (zit. A n m . 1), d e s W a s s e r s n i c h t s S e i n e r I d e e k o m m t d i e c h e m i s c h e Bd . I, S. 236 . F o r m e l H 2 0 n ä h e r .

2 3 0

In d i e s e m S i n n e wi l l M a l e w i t s c h h i n t e r d ie W e l t als V o r s t e l ­l u n g s e h e n . S e i n S u p r e m a t i s m u s a h m t d i e N a t u r n a c h — j e d o c h n i c h t i n i h r e r ä u ß e r e n Ges ta l t , d e m ve r fe s t ig t en S c h e i n d e r M a t e r i e , s o n d e r n i m Z u s t a n d i h r e r z w e c k f r e i e n E r r e g t h e i t . E r v e r a n s c h a u l i c h t d e n u n b e w u ß t e n W e l t w i l l e n , w i e e r i m T e l e ­skop o d e r i m M i k r o s k o p s i ch tba r w i r d : i n d e r B i l d u n g u n d i m Zerfa l l v o n M i l c h s t r a ß e n , M o l e k ü l e n u n d Kr i s t a l l en . D e r S u p r e m a t i s t »bege i s te r t s ich m e h r a n i h r e m [= d e r N a t u r ] s i n n -u n d i d e e n l o s e n W a l t e n als a n d e m >Sinn< aller p r a k t i s c h e n w i s ­senschaf t l i chen o d e r ge i s t i g - r e l i g iö sen E r r u n g e n s c h a f t e n . I m ­m e r w i r d für d e n K ü n s t l e r d i e N a t u r e i n i d e e n l o s e s W a l t e n se in , u n d j e d e m e n s c h l i c h e I d e e v o n e i n e m G e g e n s t a n d v e r ­w a n d e l t s ich i n s e ine r m a l e r i s c h e n E r r e g u n g i n e i n i d e e n l o s e s W a l t e n u n d l äß t e n t w e d e r e i n e ä s the t i s che F a r b s c h i c h t o d e r N i c h t s z u r ü c k . « 3 1 D e n K ü n s t l e r begre i f t M a l e w i t s c h als S e i s ­m o g r a p h e n d e r K r a f t s t r ö m e , d i e i m K o s m o s w i r k e n : »Seine H a n d w i r d z u m b l o ß e n M i t t e l , das u n b e w u ß t d i e W e l l e n d e r E r r e g u n g a u f d e r B i l d f l ä c h e a u f z e i c h n e t . « 3 2

S o l c h e G e d a n k e n b e r ü h r e n s ich m i r d e r s p i r i t u e l l e n P h y s i k d e r T h e o s o p h i e , m i t d e r sich M a l e w i t s c h a u s e i n a n d e r g e s e t z t h a t . 3 3 A u c h R u d o l f S t e i n e r z i e h t d i e A g g r e g a t z u s t ä n d e des Wasse r s als B e i s p i e l e für d i e G e i s t i g k e i t s o g e n a n n t e r M a t e r i e h e r a n : »Ja, w i e das E i s n u r e i n e F o r m ist, i n d e r das W a s s e r ex i s t i e r t , so s i n d d i e S i n n e n d i n g e n u r e i n e F o r m , i n d e r d i e S e e l e n - u n d G e i s t e s w e s e n e x i s t i e r e n . H a t m a n das b e g r i f f e n , so faßt m a n a u c h , d a ß w i e W a s s e r u n d E i s , so d i e G e i s t - i n d i e S e e l e n w e l t u n d d ie se i n d i e S i n n e n w e l t ü b e r g e h e n k ö n n e n . « 3 4

A l l e r d i n g s u n t e r s c h e i d e t s ich M a l e w i t s c h s G e g e n s t a n d s l o s i g ­ke i t v o m e s o t e r i s c h e n I d e a l i s m u s , so w i e F r a n z M a r c s fasch i ­s t i sche W i l l e n s b e j a h u n g v o n d e r t h e o s o p h i s c h e n W i l l e n s b e ­j a h u n g K a n d i n s k y s . D i e T h e o s o p h i e ist a n t h r o p o z e n t r i s c h ; n i c h t zufä l l ig h e i ß t S t e i n e r s A b l e i t u n g » A n t h r o p o s o p h i e « — e i n e L e h r e , d i e s ich i m M e n s c h e n v o l l e n d e t . Z u r n a t u r r o ­m a n t i s c h e n P a r t e i d e r M o d e r n e g e h ö r i g , v e r t r i t t sie e i n e n n e u z e i t l i c h e n S c h ö p f u n g s o p t i m i s m u s : G o t t h a b e d i e b e s t e al ler m ö g l i c h e n W e l t e n geschaf fen u n d d e n M e n s c h e n als s e i ­n e n S a c h w a l t e r d a r i n e i n g e s e t z t . M a l e w i t s c h h i n g e g e n g e h ö r t z u r P a r t e i des m o d e r n e n N i h i l i s m u s i n d e r N a c h f o l g e S c h o ­p e n h a u e r s . S e i n W i l l e k e n n t k e i n e E n t e l e c h i e . V o n d i e s e m k o n s e q u e n t e n S t a n d p u n k t b e t r a c h t e t , f ü h r t b e r e i t s N i e t z s c h e s W i l l e z u r M a c h t h i n t e r r ü c k s d e n Sa tz v o m G r u n d w i e d e r e i n . F r a n z M a r c s J a s a g e n zapft d i e b l i n d e k o s m i s c h e E n e r g i e a n z u m Z w e c k d e r S c h a f f u n g e i n e s h e r r e n d e u t s c h e n E u r o p a s . V o n d i e s e r f asch i s t i schen V e r e n g u n g d e s W i l l e n s ist M a l e ­w i t s c h w e i t e n t f e r n t : E r w i l l i n d e r T a t n i c h t s als das N i c h t s .

31 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , S. 80 .

32 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , S. 114.

33 Siehe dazu Jean Clair: M a l e -vitch, O u s p e n s k y et l 'espace neopla-ton ien , in: Malevi tch , col loque in ter ­na t iona l , 4 . / 5 . M a i 1978 , C e n t r e P o m p i d o u , Paris, hg. v. J e a n - C l a u d e Marcade , Lausanne 1979, S. 1 5 - 3 0 .

34 R u d o l f Steiner: T h e o s o p h i e : E in führung in übers innl iche W e l t e r ­k e n n t n i s u n d M e n s c h e n b e s t i m ­m u n g , Leipzig 1908, S. 123 f.

2 3 1

35 Malewi t sch (zit. A n m . 21), S. 82 .

36 Malewi tsch (zit. A n m . 21) , S. 173 .

» E i n e m r e i n e n K ü n s t l e r w e r d e n d i e i d e o l o g i s c h e n I n h a l t e d e s L e b e n s e b e n s o f r e m d b l e i b e n , w i e d e m M e e r d ie Sch i f f e .« 3 5

D a s L e b e n sol l te z w e c k f r e i w e r d e n w i e e i n e a u f g e k r ä u s e l t e W e l l e o d e r d e r S t u r z e i n e r S t e r n s c h n u p p e . A u f d i e F r a g e n a c h d e m S i n n d e r W e l t a n t w o r t e t d e r S u p r e m a t i s t m i t d e m N i c h t s , d e m b e f r e i t e n Z u s t a n d des N u l l g e w i c h t s n a c h Ü b e r ­w i n d u n g v o n S c h w e r k r a f t , U r s a c h e u n d W i r k u n g .

D e r S u p r e m a t i s m u s v e r k ü n d e t e i n m o d e r n e s N i r w a n a ; Z u t r i t t ist d e m g e w ä h r t , d e r d e n W i l l e n i n s ich z u r V e r n e i ­n u n g g e w e n d e t h a t . D i e B i l d e r d e r S e h n s u c h t , d i e u n s d i e W e l t als V o r s t e l l u n g v o r g a u k e l t , m ü s s e n e r l ö s c h e n . » M ö g l i c h , d a ß es d i e S e h n s u c h t n a c h e i n e m G e g e n s t a n d , d i e S e h n s u c h t , d i e s e n G e g e n s t a n d z u b e s i t z e n , g e g e b e n h a t u n d a u c h n o c h g ib t . V o n P o e t e n w i r d d i e se S e h n s u c h t oft g e n u g b e s u n g e n , d i e S e h n s u c h t n a c h >ihr< o d e r >ihm<. D a s b e w e i s t , d a ß z w e i V e r s c h i e d e n h e i t e n n a c h V e r e i n i g u n g v e r l a n g e n . J e d e r P o e t b a u t d e n n a u c h s e i n e P o e s i e a u f d i e s e m V e r l a n g e n , m e h r n o c h a u f d e r U n f ä h i g k e i t , d ieses V e r l a n g e n z u s t i l len , auf. A b e r w i e >sie< u n e r r e i c h b a r b l e i b t , so b l e i b e n a u c h alle e r s e h n t e n p r a k t i ­s c h e n G e g e n s t ä n d e u n e r r e i c h b a r , d e n n sie b e s t e h e n n u r i n u n s e r e r V o r s t e l l u n g , u n d d ie se V o r s t e l l u n g g a u k e l t u n s e t w a s v o r , w a s es ga r n i c h t g i b t . « 3 6 D i e s to i sche H a l t u n g e n t s p r i c h t M o n d r i a n s M a x i m e , d i e >Lebenstragik< i n d i v i d u e l l e n W ü n ­s c h e n s u n d W ä h n e n s z u ü b e r w i n d e n i n d e r m y s t i s c h e n V e r e i ­n i g u n g m i t d e m >universe l len G l e i c h g e w i c h t ^ das w i e d e r u m m i t M a l e w i t s c h s k o s m i s c h e m >Nul lgewicht< ü b e r e i n s t i m m t . D e r m o d e r n e M y s t i k e r ist e i n S ä u l e n h e i l i g e r i n d e r a v a n c i e r ­t e n G e s t a l t des K o s m o n a u t e n .

D e r S u p r e m a t i s m u s w i r k t als ä s the t i s che D r o g e , s ich ins b e ­freite Nichts< e i n z u s c h i e ß e n . D e n F l u g , v o n d e m d i e g e g e n ­s tands lose I k o n e k ü n d e t e , n a h m diese p h y s i s c h v o r w e g , i n d e m sie v o n d e r W a n d a b h o b : I n A n l e h n u n g a n d ie I k o n o s t a s e n o r t h o d o x e r K i r c h e n r ä u m e h ä n g t e M a l e w i t s c h se ine B i l d e r n a c h v o r n e g e n e i g t auf. S u p r e m a t i s t i s c h e E l e m e n t e e r s c h e i n e n a u s g e s t r e u t w i e R u d e l v o n A s t e r o i d e n , d i e d u r c h d i e M i l c h ­s t r aße rasen . D i e M e n s c h h e i t sol l te i h n e n n a c h f o l g e n . D i e p l a ­s t i s chen >Architektona< u n d >Planiten<, d i e M a l e w i t s c h z u s a m ­m e n m i t s e i n e n S c h ü l e r n Su je t in u n d T s c h a s c h n i k E n d e d e r 2 0 e r J a h r e i m A u f t r a g des S t aa t l i chen Ins t i tu t s für K u n s t g e ­sch i ch t e i n L e n i n g r a d en twar f , w a r e n P i l o t p r o j e k t e für e i n e Z u k u n f t s a r c h i t e k t u r . Sie e r i n n e r n a n F l u g z e u g t r ä g e r u n d R a ­k e t e n b a s e n u n d so l l t en , w i e d iese , j e d e r G e m ü t l i c h k e i t e n t ­b e h r e n . D e r >Planit< n i m m t f o r m a l u n d f u n k t i o n a l d i e R a u m ­s o n d e v o r w e g . S u p r e m a t i s t i s c h e s W o h n e n b e g i n n t n a c h d e m A b s c h u ß , i n d e r S t r a t o s p h ä r e . M i t d e r G e s c h w i n d i g k e i t e i ne s

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Pro jek t i l s g le i te t d e r be f re i t e M e n s c h s c h w e r e l o s d u r c h das Al l . D i e m i t g r i e c h i s c h e n B u c h s t a b e n b e t i t e l t e n >Architektona< k l i n g e n a n N a m e n n e u e n t d e c k t e r S t e r n e . A l p h a C e n t a u r i h e i ß t d e r s o n n e n n ä c h s t e F i x s t e r n ; n u r e i n paa r L i ch t j ah re e n t ­fe rn t ist a u c h das n e u e L e b e n n a c h M a l e w i t s c h .

Als k ü n s t l e r i s c h e s P r o g r a m m b i l d e t d e r S u p r e m a t i s m u s d e n H ö h e p u n k t m o d e r n e r E n t w u r f s k u l t u r . D i e A l l t a g s w i r k l i c h ­ke i t v e r b l a ß t i m s t r a h l e n d e n H o f d e r U t o p i e — e i n Begriff , d e r i n d e n V i s i o n e n v o n M a l e w i t s c h s e ine vo l l e B e d e u t u n g g e w i n n t . D e r S u p r e m a t i s m u s ist s y m b o l i s c h v o r w e g g e n o m ­m e n e s N i r g e n d w o . M a l e w i t s c h s K u n s t e n t z o g s ich d e r v o r ­s c h n e l l e n , s c h a l e n V e r w i r k l i c h u n g i m R a h m e n v o n F ü n f ­j a h r e s p l ä n e n , i n s e i n e r u t o p i s c h e n A r c h e f and k e i n e n P l a t z , w a s a n d i e a l te , v o r s i n t f l u t l i c h e W e l t d e r N ü t z l i c h k e i t e r i n ­n e r t e . D e r s u p r e m a t i s t i s c h e N o a h b e r e i t e t e s ich v o r , m i t G l e i c h g e s i n n t e n das N u l l g e w i c h t d e r W e l t a n z u s t e u e r n . E i n ­g e l a d e n w a r e n a b e r n i c h t al le , d i e s ich v o n t e c h n o k r a t i s c h e r N a t u r b e h e r r s c h u n g a b w e n d e n w o l l t e n . M a l e w i t s c h s L e h r e h a t n i c h t s z u schaffen m i t e i n e r Ö k o l o g i e , d i e i n d e r a n t h r o -p o s o p h i s c h e n E t h i k fuß t . D e r S u p r e m a t i s m u s ist V e r z i c h t a u f N a t u r b e h e r r s c h u n g m i t d e n a v a n c i e r t e s t e n t e c h n i s c h e n u n d gese l l scha f t l i chen M i t t e l n .

N a t u r r o m a n t i k w a r d i e e i n e P o s i t i o n , d i e M a l e w i t s c h b e ­k ä m p f t e , m a t e r i a l i s t i s c h e T e c h n i k b e g e i s t e r u n g d i e a n d e r e . D a b e i u n t e r s c h i e d e r k a u m z w i s c h e n d e r of f iz ie l len N e u e n Ö k o n o m i s c h e n P o l i t i k u n d d e n I d e e n des K o n s t r u k t i v i s m u s . I n L e n i n s S l o g a n » S o w j e t m a c h t + E l e k t r i f i z i e r u n g = K o m m u ­n i s m u s « k a m es o h n e h i n z u r K o n v e r g e n z v o n real e x i s t i e r e n ­d e m S o z i a l i s m u s u n d A v a n t g a r d e : D i e P a r t e i ü b e r s e t z t e d e n

Z w e i Beispiele für Malewi tschs >Architektona<, 1 9 2 4 - 2 8

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Kasimir Malewi t sch , Suprematismus, 1915

F u t u r i s m u s i n d i e P r a x i s , i n d e m sie e i n e S u b b o t n i k - G e s e l l ­schaft z u r p e r m a n e n t e n Ü b e r e r f ü l l u n g d e r Z u w a c h s r a t e n i n d e r S c h w e r i n d u s t r i e a n s t a c h e l t e . D a m i t a b e r w a r es u m j e n e K u n s t h e r r s c h a f t g e s c h e h e n , d i e M a l e w i t s c h a n s t r e b t e . W o l l t e m a n se in gese l l schaf t l iches Z i e l n a c h d e m M u s t e r v o n L e n i n s G l e i c h u n g a u s d r ü c k e n , m ü ß t e d e r S u m m a n d >Sowjetmacht< d u r c h >Supremat ismus< e r se t z t w e r d e n ; a d d i e r t m i t d e r >Elek-t r i f iz ierung< w ü r d e s ich e i n e m y s t i s c h e >Null< e r g e b e n .

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Utopie im Scheitern

t M a l e w i t s c h s B e g r ü n d u n g des S u p r e m a t i s m u s a n l ä ß l i c h d e r •Le tz ten F u t u r i s t i s c h e n B i l d e r a u s s t e l l u n g 0,10< i n P e t r o g r a d , i m W i n t e r 1915—16, f ü h r t e z u m B r u c h m i t T a t l i n u n d d e n K o n s t r u k t i v i s t e n . I n s t i t u t i o n e l l a n d i e M a c h t g e l a n g t , l i e f e r t en sich d i e b e i d e n P a r t e i e n d e r A v a n t g a r d e e r b i t t e r t e G r a b e n ­k ä m p f e i n n e r h a l b d e r K u n s t s c h u l e n u n d i m A u s s t e l l u n g s w e ­sen . A u f d e r e i n e n Se i t e s t a n d e n d i e m e s s i a n i s c h e n M y s t i k e r in d e r Gefo lgschaf t v o n M a l e w i t s c h u n d K a n d i n s k y , a u f d e r a n d e r e n d i e l i n k e n K o n s t r u k t i v i s t e n u m T a t l i n , R o d t s c h e n k o u n d d e n L i t e r a t e n M a j a k o w s k i , d i e s ich d e m pa r t e io f f i z i e l l en >Material ismus< v e r s c h r i e b e n h a t t e n . I h r e B e w e g u n g m ü n d e t e i n d i e >Labora to r iumskuns t< u n d d e n >Proletkult<: D e s i g n u n d P r o p a g a n d a v o n i n d u s t r i e l l e r R e v o l u t i o n u n d K o m m u n i s ­m u s . E i n e M i t t e l s t e l l u n g n a h m E l L i s s i t zky e i n , d e r z u M a l e ­w i t s c h als s e i n e m L e h r m e i s t e r h i e l t u n d d e s s e n M a n i f e s t e v e r ­b r e i t e n half, i n d e m e r sie ins D e u t s c h e ü b e r s e t z t e . Z u g l e i c h v e r s a c h l i c h t e e r d i e B o t s c h a f t de s S u p r e m a t i s m u s , i n d e m e r d i e se z u K o n s t r u k t i o n e n e r k a l t e n l i e ß , d i e s ich für D e s i g n u n d P r o p a g a n d a e i g n e t e n . E i n s p r e c h e n d e s B e i s p i e l ist das b e ­r ü h m t e A g i t a t i o n s p l a k a t : »Schlag d i e W e i ß e n m i t d e m R o t e n Keil!« W e i ß e r K r e i s u n d r o t e s D r e i e c k , F i g u r e n e i n e s g e g e n ­s t a n d s l o s e n F o r m e n k a n o n s , e r s c h e i n e n s y m b o l i s c h a u f g e l a d e n z u l e i c h t l e s b a r e n , p o l i t i s c h e n H i e r o g l y p h e n : K a m p f d e n w e i ­ß e n K o n t e r r e v o l u t i o n ä r e n ! I n d e r T a t t r u g d e r b o l s c h e w i s t i ­s che >Keil< d e r R o t e n A r m e e i m B ü r g e r k r i e g v o n 1 9 2 0 d e n S i eg d a v o n .

D i e K o n s t r u k t i v i s t e n s e t z t e n s ich i n d e r e r s t e n H ä l f t e d e r 2 0 e r J a h r e d u r c h . F ü r K a n d i n s k y w a r d ies e i n G r u n d , n a c h D e u t s c h l a n d z u r ü c k z u k e h r e n , das e r n a c h d e r O k t o b e r r e v o l u ­t i o n ve r l a s sen h a t t e , u m i n M o s k a u z u u n t e r r i c h t e n . 1 9 2 2 l eg te e r s e ine Ä m t e r n i e d e r u n d g i n g n a c h W e i m a r . A l l e r d i n g s k a m e r da v o m R e g e n i n d i e T r a u f e : A m B a u h a u s v o l l z o g s ich g l e i c h z e i t i g d i e s e l b e W e n d e v o n d e r M y s t i k z u r K o n s t r u k ­t i o n . J o h a n n e s I t t e n s R ü c k t r i t t i m F r ü h j a h r 1 9 2 3 b e d e u t e t e das E n d e d e r G r ü n d u n g s p h a s e i m G e i s t e x p r e s s i o n i s t i s c h e r R o m a n t i k . A m B a u h a u s w i c h d i e M i s c h u n g v o n W a n d e r v o ­g e l - B e w e g t h e i t u n d i n d i s c h e r M y t h o l o g i e e i n e m n e u s a c h l i ­c h e n T e c h n i k g l a u b e n , d e r d e n S t u d i e r e n d e n d i e B e d ü r f n i s s e d e r I n d u s t r i e v e r m i t t e l n sol l te . D e r S i eg des K o n s t r u k t i v i s m u s s t a n d i n O s t u n d W e s t a u f t ö n e r n e n F ü ß e n . I n d e r S o w j e t ­u n i o n v e r l o r e r i m G e f o l g e d e r N e u e n Ö k o n o m i s c h e n P o l i t i k s c h n e l l a n T e r r a i n . »Von d e r K l a s s i k e r n l e r n e n « l a u t e t e d i e L o s u n g d e r >Assoziat ion d e r K ü n s t l e r de s r e v o l u t i o n ä r e n

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37 Kasimir Malewitsch: D ie g e ­genstandslose W e l t , M ü n c h e n 1927, S. 7 (= Bauhausbücher , Bd. 11).

38 Siehe dazu Joseph R y k w e r t : D i e dunk le Seite des Bauhauses , in: ders.: O r n a m e n t ist ke in Verbrechen , Arch i t ek tu r als Kuns t , Kö ln 1983 , S. 6 8 - 8 0 .

R u ß l a n d s < ( A C h R R ) u n d d e r >Russ i schen A s s o z i a t i o n P r o l e ­t a r i s c h e r Schr i f t s t e l l en ( P J V P P ) . D i e v o l l s t ä n d i g e Z e r s c h l a ­g u n g d e r i n d e n R e v o l u t i o n s t a g e n e n t s t a n d e n e n n e u e n S t r u k ­t u r e n i n B i l d u n g u n d K u n s t b e t r i e b e r fo lg t e a m 2 3 . A p r i l 1 9 3 2 m i t d e r A u f l ö s u n g al ler K ü n s t l e r v e r b ä n d e . M a l e w i t s c h b l i e b i m L a n d als M ä r t y r e r d e r s u p r e m a t i s t i s c h e n U t o p i e . S e i n V e r ­s u c h , i m F r ü h j a h r 1 9 2 7 i n D e u t s c h l a n d F u ß z u fassen, m i ß ­l ang . E n t t ä u s c h e n d w a r d e r k ü h l e E m p f a n g a m B a u h a u s . Z w a r w u r d e e i n T e x t m i t d e m T i t e l Die gegenstandslose Welt i n d e r R e i h e d e r B a u h a u s b ü c h e r h e r a u s g e g e b e n , d o c h d i e S c h r i f t l e i t u n g füh l t e s ich g e n ö t i g t , i n e i n e m k u r z e n V o r w o r t a n z u m e r k e n , d a ß das B u c h »in g r u n d s ä t z l i c h e n F r a g e n v o n u n s e r e m S t a n d p u n k t a b w e i c h t . « 3 7 M a l e w i t s c h d r o h t e G e i s t e r z u b e s c h w ö r e n , d i e das B a u h a u s e r f o l g r e i c h a u s g e r ä u c h e r t h a t t e . 3 8 D i e e i n l e i t e n d e S t e l l u n g n a h m e d e r B a u h ä u s l e r u n t e r ­s t r i ch , d a ß v o m K u r s d e r n e u s a c h l i c h e n R e f o r m a t i o n n i c h t m e h r a b g e w i c h e n w e r d e n so l l te .

G r o p i u s ist d i e T o l e r a n z z u b e s c h e i n i g e n , M a l e w i t s c h t r o t z u n t e r s c h i e d l i c h e r S t a n d p u n k t e e i n e P l a t t f o r m g e w ä h r t z u h a b e n ; d o c h als L e h r e r a m B a u h a u s h ä t t e e r d e n u n b e r e c h e n ­b a r e n C h a r i s m a t i k e r n i c h t h a b e n w o l l e n . S o w a r M a l e w i t s c h v e r u r t e i l t , als P r o p h e t d e r M o d e r n e d i e U t o p i e a m O r t i h r e s S c h e i t e r n s z u e r l e i d e n . E r ist e i n I k a r u s d e r R e v o l u t i o n , de r , v o m S t u r m des Z e i t g e i s t e s i n d i e H ö h e g e r i s s e n , s ich d i e s e m a n v e r t r a u t e , da d e r F l u g i n d i e R i c h t u n g z u w e i s e n s c h i e n , i n d i e d e r e i g e n e E n t h u s i a s m u s z ie l t e . Se i t des D e z e m b e r a u f ­s t ands v o n 1 9 0 5 m a r s c h i e r t e M a l e w i t s c h v o r n e m i t . D i e O k t o b e r r e v o l u t i o n v o n 1917 e rö f fne te d e n A v a n t g a r d i s t e n e i n e n b e h e r r s c h e n d e n E i n f l u ß a u f das k u l t u r e l l e L e b e n . D i e a l t e n A k a d e m i e n w u r d e n abgeschaf f t u n d d e r freie Z u g a n g z u r k ü n s t l e r i s c h e n A u s b i l d u n g d u r c h g e s e t z t . I n d i e s e m K l i m a k o n n t e M a l e w i t s c h , d e r g e n i a l e D i l e t t a n t aus d e r P r o v i n z , s e ine A u s s t r a h l u n g s k r a f t e n t f a l t e n . S c h o n i m A u g u s t 1917 V o r s i t z e n d e r d e r K u n s t a b t e i l u n g des M o s k a u e r S o w j e t s , ü b e r ­n a h m e r n a c h d e r A b s e t z u n g d e r R e g i e r u n g K e r e n s k i j d u r c h d i e B o l s c h e w i k i a m 7. N o v e m b e r d i e L e i t u n g al ler M o s k a u e r K u n s t i n s t i t u t e . 1918 e r fo lg te s e i n e B e r u f u n g a n d i e S w o m a s , 1 9 2 0 u m g e t a u f t i n W c h u t e m a s : H ö h e r e K ü n s t l e r i s c h - T e c h n i ­sche W e r k s t ä t t e n M o s k a u , o r g a n i s i e r t n a c h d e m V o r b i l d des B a u h a u s e s . M a l e w i t s c h e r t e i l t e U n t e r r i c h t i n M a l e r e i u n d T e x t i l g e s t a l t u n g . Z u g l e i c h w i r k t e e r sei t 1919 a n d e r K u n s t ­s c h u l e i n W i t e b s k , d i e M a r c C h a g a l l l e i t e t e , d e m M a l e w i t s c h S c h ü l e r a b s p e n s t i g m a c h t e m i t k u l t u r r e v o l u t i o n ä r e n A k t i o n e n w i e d e r U n o w i s . 1 9 2 2 w u r d e e r z u m D i r e k t o r d e r A k a d e m i e v o n P e t r o g r a d e r n a n n t , d i e e r u m w a n d e l t e i n das S taa t l i che

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I n s t i t u t für K ü n s t l e r i s c h e K u l t u r ( G i n c h u k ) . S e i n k o n s t r u k t i ­v i s t i sche r G e g e n s p i e l e r T a t l i n u n t e r r i c h t e t e a n d e r s e l b e n S c h u l e , w a s z u R e i b u n g e n f ü h r t e . I m F e b r u a r 1 9 2 6 w u r d e M a l e w i t s c h als D i r e k t o r e n t l a s s e n , d i e S c h u l e aufge lös t . A b g e ­s c h o b e n i n d i e F o r s c h u n g s a b t e i l u n g des S t a a t l i c h e n I n s t i t u t s für K u n s t g e s c h i c h t e i n L e n i n g r a d , e n t w i c k e l t e e r z u s a m m e n m i t s e i n e n S c h ü l e r n S u j e t i n u n d T s c h a s c h n i k P l ä n e für s o z i a ­l is t ische S a t e l l i t e n s t ä d t e : d i e >Architektona< — sie g e f i e l e n d e n G e n o s s e n n i c h t . E n d e 1 9 2 9 w u r d e M a l e w i t s c h a u c h da e n t l a s ­sen . I m m e r h i n ze ig t e d i e T r e t j a k o w - G a l e r i e i m s e l b e n J a h r e i n e e r s te u m f a n g r e i c h e R e t r o s p e k t i v e s e i n e r W e r k e .

M a l e w i t s c h e r w i e s s ich stets als l oya l e r L e n i n i s t , d e r d i e G e n o s s e n allenfalls d u r c h ü b e r s c h ä u m e n d u n k o n v e n t i o n e l l e E i n s c h ä t z u n g e n b e f r e m d e t e . Z u m T o d L e n i n s v e r f a ß t e d e r K ü n s t l e r e i n p o l i t r e l i g i ö s e s T r a k t a t , das d e n F ü h r e r d e r O k t o ­b e r r e v o l u t i o n m i t C h r i s t u s v e r g l e i c h t . 3 9 »In d e r W e l t ist j e t z t e i n n e u e s E r e i g n i s g e s c h e h e n , das s ich i m T o d e L e n i n s a u s ­d r ü c k t . E s ist b e z e i c h n e n d , d a ß es n a c h d e m T o d e C h r i s t i das z w e i t e M a l ist, w o e i n e W e l t b e z i e h u n g d u r c h e i n e a n d e r e a b g e l ö s t w i r d . « I n h y b r i d e r F o r t s e t z u n g m i t t e l a l t e r l i c h e r G e ­s c h i c h t s t y p o l o g i e s i eh t M a l e w i t s c h i n L e n i n d e n w i e d e r g e ­k e h r t e n M e s s i a s , w ä h r e n d C h r i s t u s z u m a l t t e s t a m e n t l i c h e n P r o p h e t e n z u r ü c k g e s t u f t w i r d . » D i e M a t e r i e h a t e r t ö n t . D i e M a t e r i e de s N e u e n T e s t a m e n t s h a t e r t ö n t . D i e K i r c h e n ­g l o c k e n s i n d v e r s t u m m t — das A l t e T e s t a m e n t . [. . .] D i e R e l i ­g i o n s z e r e m o n i e h a t d i e F a b r i k ü b e r n o m m e n . [. . .] S o e n t s t e ­h e n d i e F o r m e n e i n e s n e u e n r e l i g i ö s e n R i t u s . « L e n i n ist e i n s t e r b l i c h e r G o t t , d e r das i m c h r i s t l i c h e n G l a u b e n V e r h e i ß e n e v e r w i r k l i c h t h a t . M i t s e i n e m T o d h a t e r s e i n e n s t e r b l i c h e n N a m e n a b g e l e g t ; J a h w e v e r g l e i c h b a r , d e r M o s e s i m D o r n ­b u s c h e r s c h e i n t , ist E R , d e r E R ist, g e w o r d e n . »So ist h i e r das W o r t L e n i n s c h o n n i c h t m e h r z u g e b r a u c h e n , s o n d e r n n u r : E R , I H N . « Als S t ä t t e z u r A u f b e w a h r u n g d e r s t e r b l i c h e n H ü l l e d ieses G o t t e s d e r R e v o l u t i o n sch läg t M a l e w i t s c h e i n M a u s o l e u m i n K u b u s f o r m v o r : »Als S y m b o l d e r E w i g k e i t , d e n n E R ist d i e E w i g k e i t . « D e r K u b u s sol l te e i n e p y r a m i d a l e A n h ä u f u n g v o n l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n M a s c h i n e n b e k r ö n e n — als g e g e n s t a n d s l o s e F o r m , d i e d i e W e l t n ü t z l i c h e r V o r s t e l l u n ­g e n t r a n s z e n d i e r t . D a s 1929—30 n a c h e i n e m E n t w u r f v o n A l e x e i S c h t s c h u s s e w v e r w i r k l i c h t e M a u s o l e u m n i m m t d e n n a u c h das M o t i v v o n K u b u s u n d P y r a m i d e a u f i n e i n e r F o l g e v o n p y r a m i d a l ü b e r e i n a n d e r g e b a u t e n , k l e i n e r w e r d e n d e n W ü r f e l n . M a l e w i t s c h s T r a k t a t w a r g e w i ß n i c h t d i e e n t s c h e i ­d e n d e I n s p i r a t i o n s q u e l l e für d e n B a u , d e n p o p u l ä r e n A n s t o ß g a b das 1 9 2 2 e n t d e c k t e G r a b v o n T u t a n c h a m u n i n L u x o r . E s

39 In der deu tschen Übe r se t ­zung erstmals publiziert in: K u n s t ­blatt N r . 10, Jul i 1924. Zi t . nach: Stachelhaus (zit. A n m . 19), S. 183 ff.

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40 Z u r B a u g e s c h i c h t e des Len inmauso leums siehe Felix Phi l ipp Ingo ld in: W e r k / A r c h i t h e s e , N o ­v e m b e r 1979; N i n a T u m a r k i n : Len ­in Lives! Cambr idge (Mass.)/ L o n d o n 1 9 8 3 ; M a t t h e w C u l l e r n e B o w n : K u n s t u n t e r Stal in, 1 9 2 4 - 1 9 5 6 , M ü n c h e n 1991 , S. 44 ff.

41 Zi t . nach: Stachelhaus (zit. A n m . 19), S. 194.

42 Zi t . nach: Stachelhaus (zit. A n m . 19), S. 186.

b e s t ä r k t e S t a l i n i n d e m V o r h a b e n , L e n i n als P h a r a o d e r R e ­v o l u t i o n e i n z u b a l s a m i e r e n — e i n e I d e e , d i e d e r D i k t a t o r g e g e n d i e e n t s e t z t e A v a n t g a r d e d u r c h s e t z t e . 4 0 D a s L e n i n m a u ­s o l e u m b e z e u g t , i n ä g y p t i s i e r e n d e r G e b ä r d e , d i e u n b e w u ß t e R ü c k k o p p e l u n g r e v o l u t i o n ä r e r R J i e t o r i k m i t d e r T r a d i t i o n d e r o r t h o d o x e n O s t k i r c h e . I n t e r e s s a n t ist e i n S t r e i t d e r K ü n s t l e r u m L e n i n s T o t e n m a s k e , d e n H e i n e r S t a c h e l h a u s b e l e g t . S o k l a g t e e i n 2 0 k ö p f i g e s B i l d h a u e r k o l l e k t i v i n e i n e m o f f e n e n B r i e f ü b e r d i e » r ä u b e r i s c h e n I n s t i n k t e e i n z e l n e r M e i ­ster«, d i e s ich m i t d e r A n e i g n u n g d e r o r i g i n a l e n T o t e n m a s k e e i n D a r s t e l l u n g s m o n o p o l e r w o r b e n h ä t t e n . D e r B e d a r f a n L e n i n - P o r t r ä t s w a r e n o r m i n d i e s e m r i e s i g e n L a n d , w o i n j e d e r ö f f e n t l i c h e n D i e n s t s t e l l e , ü b e r j e d e m F u n k t i o n ä r s p u l t e i n so l ches B i l d p r a n g e n so l l te . I m s t r e n g e n S i n n e w a r e n es >Ikonen<: s t e l l v e r t r e t e n d e B i l d n i s s e d e r p o l i t i s c h e n F ü h r u n g . B e i d e m S t re i t d e r K ü n s t l e r u m d i e T o t e n m a s k e g i n g es u m n i c h t s G e r i n g e r e s als d i e V e r a I k o n , das w a h r e B i l d d e s v e r -g ö t t l i c h t e n L e n i n . E s k o n n t e k e i n e b e g l a u b i g t e D a r s t e l l u n g L e n i n s g e b e n , »so lange e i n A b d r u c k aus d e m e i n z i g e n M a t e ­r ia l , o h n e das d i e S c h a f f u n g e i n e r a u t h e n t i s c h e n P o r t r ä t d a r ­s t e l l u n g W l a d i m i r I l j i tschs n i c h t m ö g l i c h ist , u n t e r s a g t s e in w i r d — d ieses M a t e r i a l ist d i e M a s k e « . 4 1 D i e T o t e n m a s k e w a r d i e g e o f f e n b a r t e , w a h r h a f t i g e I m a g o , n a c h d e r d i e s t e l l v e r t r e ­t e n d e n B i l d e r u n v e r ä n d e r t u n d g e t r e u r e p r o d u z i e r t w e r d e n so l l t en .

I n s e i n e m L e n i n - C h r i s t u s - T r a k t a t m i s c h t e s ich M a l e w i t s c h i n d e n S t re i t e i n : S e i n s a l o m o n i s c h e s U r t e i l i n d i e s e m n e o ­b y z a n t i n i s c h e n B i l d e r s t r e i t ist e b e n s o t r a d i t i o n e l l w i e a v a n t ­ga rd i s t i s ch . Als I k o n o k i a s t m u ß t e e r g e m a l t e L e n i n - P o r t r ä t s a b l e h n e n . »Ich h a b e n i e m a n d e n ge t ro f f en , d e r m i r b e s t ä t i g t h ä t t e , d a ß e i n e s d e r v o n d e n K ü n s t l e r n g e s c h a f f e n e n B i l d e r L e n i n s d e r W i r k l i c h k e i t e n t s p r i c h t . V i e l w i r k l i c h e r ist s e in B i l d i m K i n o . « 4 2 D i e V e r a I k o n d e s F ü h r e r s ü b e r l i e f e r t s ich i m F i l m . D a s b e l i c h t e t e Z e l l u l o i d ist das S c h w e i ß t u c h d e r R e v o ­l u t i o n .

A m 1 5 . M a i 1 9 3 5 s ta rb M a l e w i t s c h . D i e ö r t l i c h e n P a r t e i ­s te l l en h a b e n d e m T o t e n d u r c h a u s d i e l e t z t e E h r e e r w i e s e n . D e r L e n i n g r a d e r S t a d t s o w j e t ü b e r n a h m d i e B e g r ä b n i s k o s t e n , d i e F a m i l i e e r h i e l t e i n e S o n d e r r e n t e . D i e T r a u e r f e i e r f a n d i m H a u s d e s L e n i n g r a d e r K ü n s t l e r v e r b a n d e s s ta t t , d e s s e n M i t ­g l i e d e r M a l e w i t s c h e i n le tz tes G e l e i t z u m M o s k a u e r B a h n h o f g a b e n . D e r s u p r e m a t i s t i s c h e Sa rg w u r d e a u f e i n e m L a s t w a g e n ü b e r f ü h r t , d e s s e n K ü h l e r r o s t m i t e i n e m s c h w a r z e n Q u a d r a t v e r z i e r t w a r . D i e U r n e w u r d e i n N e m t s c h i n k o w a b e i g e s e t z t , e i n e m D o r f b e i M o s k a u , w o M a l e w i t s c h s e i n e D a t s c h a h a t t e .

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Malewi t sch auf d e m T o t e n b e t t in seiner Leningrader W o h n u n g

Als G r a b s t e i n d i e n t e e i n w e i ß e r K u b u s m i t e i n e m s c h w a r z e n Q u a d r a t ; M a l e w i t s c h s V o r s c h l a g für das D e n k m a l L e n i n s w u r d e so a n s e i n e m e i g e n e n G r a b i m M i n i a t u r f o r m a t v e r ­w i r k l i c h t . D a s l a n g s a m e S t e r b e n u n d d i e A u f b a h r u n g des t o t e n K ü n s t l e r s s i n d fo tog ra f i sch d o k u m e n t i e r t . S u j e t i n e n t ­w a r f e i n e n s u p r e m a t i s t i s c h e n Ka ta fa lk . D i e i n d e r L e n i n g r a d e r D i e n s t w o h n u n g a u f g e b a h r t e L e i c h e w u r d e v o r d e r F o t o k a ­m e r a i n s z e n i e r t w i e L e n i n i n s e i n e m M a u s o l e u m . M a l e w i t s c h h a t t e , w i e v i e l e I n t e l l e k t u e l l e , d i e E i n b a l s a m i e r u n g u n d ö f fen t l i che A u s s t e l l u n g des R e v o l u t i o n s f ü h r e r s als »as ia t i schen B r a u c h « 4 3 a b g e l e h n t . D i e S c h ü l e r f ü h r t e n j e t z t d i e s u p r e m a -t i s t i sch k o r r e k t e V e r e w i g u n g e i n e s V e r s t o r b e n e n v o r ; i n d e r i m m a t e r i e l l e n F o r m d e r F o t o g r a f i e , d e r Ve ra I k o n i m Z e i t a l t e r d e r t e c h n i s c h e n R e p r o d u z i e r b a r k e i t , ist M a l e w i t s c h e i n b a l s a m i e r t u n d ausges te l l t als G r ü n d e r des S u p r e m a t i s ­m u s , a u f b e w a h r t d e n k ü n f t i g e n G e s c h l e c h t e r n v o n K u n s t ­g l ä u b i g e n .

E i n e F o t o g r a f i e v o n M a l e w i t s c h a u f d e m T o t e n b e t t b i e t e t d i e v i sue l l e S u m m e des S u p r e m a t i s m u s . Ü b e r d e r L e i c h e ist d i e I k o n o s t a s e e i n i g e r H a u p t w e r k e a u f g e b a u t — als F e n s t e r , d i e i n das be f re i t e N i c h t s h i n a u s w e i s e n . M a l e w i t s c h ist h i e r e i n ­g e k e h r t i n das N i r w a n a d e r G e g e n s t a n d s l o s i g k e i t . E i n l e b e n ­d e r K ö r p e r m a c h t d e n S u p r e m a t i s m u s n i c h t m i t ; e r m u ß a u f d e r E r d e z u r ü c k g e l a s s e n w e r d e n . S o r u h t d e r t o t e L e i b des K ü n s t l e r s u n t e r e i n e m H i m m e l , d e n e r se lbe r g e m a l t h a t . D e r Ka ta fa lk , e i n w e i ß g e s t r i c h e n e r P l a n i t , s c h e i n t d e n D e m i u r -g e n i n s e i n e n se lbs tgescha f fenen K o s m o s z u e r h e b e n . Z w e i G e m ä l d e aus d e r I k o n o s t a s e ü b e r d e m T o t e n b e t t v e r d i e n e n

43 Boris Groys: Gesamtkuns t ­w e r k Stalin. D i e gespaltene Ku l tu r in der S o w j e t u n i o n , M ü n c h e n / W i e n 1988, S. 74 .

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Kasimir Malewi t sch , Selbstporträt als Renaissancemensch, 1933

b e s o n d e r e B e a c h t u n g . Ü b e r d e m H a u p t des T o t e n a u f g e ­h ä n g t , s i nd sie als S c h l ü s s e l w e r k e a u s g e z e i c h n e t : r e c h t s -s e lb s tve r s t änd l i ch - e i n Schwarzes Quadrat; l i n k s - m e r k w ü r d i ­g e r w e i s e — das s o g e n a n n t e Selbstporträt als Renaissancemensch, das u m s t r i t t e n e S p ä t w e r k v o n 1 9 3 3 , i n d e m M a l e w i t s c h z u g e g e n s t ä n d l i c h e n M o t i v e n z u r ü c k k e h r t . A l l e r d i n g s ist se in A b b i l d i n K l e i d u n g u n d H a b i t u s z u s o n d e r b a r , als d a ß m a n es >realistisch< n e n n e n k ö n n t e : M a l e w i t s c h p o s i e r t i m h i s t o r i s i e ­r e n d e n P h a n t a s i e k o s t ü m als l e h r e n d e r P r o p h e t . S e i n B l i c k schwei f t ü b e r d e n p r o f a n e n B i l d b e t r a c h t e r h i n w e g i n d i e Z u k u n f t s e i n e r L e h r e : d e n S u p r e m a t i s m u s o d e r d i e H e r r ­schaft i m N i c h t s . D i e e h r f u r c h t g e b i e t e n d e F r o n t a l i t ä t d e r F i g u r i n s t a rke r U n t e r s i c h t ist g e m a l t e n L e n i n - u n d S t a l i n -I k o n e n n i c h t u n ä h n l i c h . M a n d e n k e s ich n u r d i e R o b e w e g ! D e r d r e i e c k f ö r m i g e , r o t - w e i ß e K r a g e n w i r k t , k n e i f t m a n d i e A u g e n e t w a s z u , w i e e i n s u p r e m a t i s t i s c h e s F l u g o b j e k t , das d e r rea l i s t i sch g e m a l t e n , i n e i n e r L e h r g e b ä r d e g e ö f f n e t e n H a n d z u e n t s t e i g e n s c h e i n t . D i e H a n d b i e t e t d e r p h a n t a s t i s c h e n K r a ­g e n - M e t a m o r p h o s e e i n e n g e g e n s t ä n d l i c h e n S c h u t z . H a t s ich

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d e r S u p r e m a t i s m u s k o s t ü m i e r t , d a m i t e r d e n p r o l e t a r i s c h e n M a s s e n i n M e n s c h e n g e s t a l t e r s c h e i n e ? E i n e n W i d e r r u f d e r g e g e n s t a n d s l o s e n W e l t b e d e u t e t das P o r t r ä t n i c h t , d e n n r e c h t s u n t e n ist es m i t d e m E m b l e m des Schwarzen Quadrats s i gn i e r t .

M a l e w i t s c h s >realistisches< S p ä t w e r k w u r d e g e d e u t e t als V e r s u c h e i n e r A n p a s s u n g a n d e n D r u c k s ta l in i s t i scher K u l t u r ­po l i t i k . D i e F o t o g r a f i e de s a u f g e b a h r t e n K ü n s t l e r s s t ü t z t d i e se Auf fa s sung n i c h t . E i n T o t e r ist frei; e r b r a u c h t s ich k e i n e m R e g i m e m e h r z u b e u g e n . W e n n S u j e t i n das T o t e n b e t t de s M e i s t e r s m i t d e m S e l b s t p o r t r ä t als R e n a i s s a n c e m e n s c h v e r s a h , m u ß t e es m i t d i e s e r A r t s u p r e m a t i s t i s c h e m R e a l i s m u s e r n s t g e w e s e n se in . I n s e i n e m S p ä t w e r k v e r s u c h t e M a l e w i t s c h , Ä s t h e t i k u n d G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e des soz ia l i s t i schen R e a ­l i s m u s m i t d e m S u p r e m a t i s m u s z u v e r b i n d e n . D a s S e l b s t p o r ­t rä t h i n g ü b e r d e m T o t e n b e t t l i n k s , h e r a l d i s c h a u f d e r r e c h t e n , d e r d o m i n a n t e n Se i t e , n e b e n d e m Schwarzen Quadrat. M a l e ­w i t s c h v e r s t a n d das Q u a d r a t als A n t w o r t a u f K a n d i n s k y s Gei­stiges Dreieck. U n t e r d e m Z e i c h e n d e s D r e i e c k s h ä t t e n d i e A n t i k e u n d das C h r i s t e n t u m g e s t a n d e n ; aus e i n e r Basis u n d e i n e r S p i t z e b e s t e h e n d , v e r t r e t e es e i n ü b e r k o m m e n e s H e r r ­schaf t sverhä l tn i s . D a s Q u a d r a t h i n g e g e n sei das S y m b o l d e s K o m m u n i s m u s ; s c h w a r z w i e das Al l , g e h t i n i h m d i e k l a s s e n ­lose Gese l l schaf t auf. S t e h t das Schwarze Quadrat ü b e r d e m T o t e n b e t t M a l e w i t s c h s für d i e V e r n e i n u n g d e r g e g e n s t ä n d ­l i c h e n W e l t , so v e r k ü n d e t das S e l b s t p o r t r ä t a n d e r e r s e i t s d i e W i e d e r g e b u r t de s G e g e n s t a n d s i m soz ia l i s t i schen R e a l i s m u s : Als R e n a i s s a n c e m e n s c h k o s t ü m i e r t , f and d e r M a l e r z u r M e n ­s c h e n g e s t a l t z u r ü c k . I m S i n n e d e r r e v o l u t i o h ä n g t das B i l d n i s des W i e d e r k e h r e n d e n l i n k s , a m A n f a n g d e r L e s e r i c h t u n g , n e b e n d e m Schwarzen Quadrat. D e r v e r w i r k l i c h t e K o m m u n i s ­m u s b e d e u t e t das E n d e d e r G e s c h i c h t e u n d ist z u g l e i c h A n ­fang d e r g e g e n s t ä n d l i c h g e w o r d e n e n F r e i h e i t . B o r i s G r o y s h a t d e r A v a n t g a r d e e i n e n » a l t t e s t a m e n t l i c h e n « Z u g z u g e s c h r i e ­b e n . 4 4 D i e K ü n s t l e r d e r A b s t r a k t i o n w a r e n d i e P r o p h e t e n e i n e s G e l o b t e n L a n d e s , das i h n e n , w i e M o s e s , n o c h n i c h t z u b e t r e t e n v e r g ö n n t w a r . L e n i n f ü h r t e als n e u e r C h r i s t u s das a u s e r w ä h l t e V o l k i n d e n S o z i a l i s m u s . M i t d e r K u l t u r d e r S ta l inze i t s ch l i eß l i ch h a t t e d i e Gese l l schaf t e i n e n m e t a - u t o p i -s c h e n Z u s t a n d e r r e i c h t : D i e V e r h e i ß u n g w a r e i n g e t r e t e n . I n d i e s e m S i n n e v e r b a n d M a l e w i t s c h d i e D o k t r i n des soz ia l i ­s t i s chen R e a l i s m u s m i t s e i n e r s u p r e m a t i s t i s c h e n H e i l s l e h r e z u e i n e m g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h s c h l ü s s i g e n K o n z e p t . D a s a v a n t g a r d i s t i s c h e B i l d e r v e r b o t , i n d e m s ich d i e U t o p i e a n ­ze ig t e , k o n n t e b e i d e r e n V e r w i r k l i c h u n g a u f g e h o b e n w e r d e n . D i e N a c h t i m Schwarzen Quadrat, n a c h d e r O p f e r u n g d e r 44 Groys (zit. A n m . 43}, S. 124.

2 4 1

n a t ü r l i c h e n S o n n e , w i c h e i n e m n e u e n T a g ; d e r D e m i u r g des S u p r e m a t i s m u s w a r a u f e r s t a n d e n !

D e r >reale< S u p r e m a t i s m u s i m S p ä t w e r k M a l e w i t s c h s e n t ­s p r a c h S ta l ins D o k t r i n v o m »Soz ia l i smus i n e i n e m L a n d « , d i e T r o t z k i s a v a n t g a r d i s t i s c h e , a b s t r a k t e K o n z e p t i o n d e r p e r m a ­n e n t e n R e v o l u t i o n a b l ö s t e . D i e p o l i t i s c h e H ä r e s i e M a l e ­w i t s c h s b e s t a n d w e n i g e r i m E r l ö s u n g s k o n z e p t als d a r i n , w e r das E r l ö s u n g s w e r k a n f ü h r e n sol l te . D e r >Rena i s sancemensch< b l e i b t i n d i e s e m P u n k t a b s o l u t m o d e r n : D e r K ü n s t l e r sei P r o ­p h e t d e r E r n e u e r u n g . I n d e n A u g e n des S t a l i n i s m u s w a r es B l a s p h e m i e , w e n n e i n K ü n s t l e r s ich i n e i n e r B i l d n i s - I k o n e v e r e w i g t e , w i e d ies n u r d e n g r o ß e n T h e o r e t i k e r n des M a r x i s ­m u s u n d d e n F ü h r e r n d e r P a r t e i v o r b e h a l t e n w a r . B e i d e r Z e r s c h l a g u n g d e r A v a n t g a r d e g i n g es w e n i g e r u m F o r m f r a g e n als u m d e n K ü n s t l e r w i l l e n z u r M a c h t . D a s G e s a m t k u n s t w e r k d e r R e v o l u t i o n sol l te n i c h t u n t e r d e r S u p r e m a t i e d e r K u n s t , s o n d e r n u n t e r d e r S u p r e m a t i e d e r P o l i t i k d u r c h g e s e t z t w e r ­d e n . 4 5 D e r S o z i a l i s m u s i n e i n e m Land< w u r d e z u m e i n z i g offiziel l z u g e l a s s e n e n G e s a m t k u n s t w e r k . D e r M a c h t f r a g e h a t s ich M a l e w i t s c h d u r c h d e n T o d e n t z o g e n .

D a s E n d e d e r K u n s t r e g e n t s c h a f t w a r be s i ege l t m i t d e m B e s c h l u ß , d e n das Z e n t r a l k o m i t e e d e r K o m m u n i s t i s c h e n P a r ­te i a m 2 3 . A p r i l 1 9 3 2 faß te : d i e A u f l ö s u n g al ler K ü n s t l e r ­v e r b ä n d e . D a m i t h a t t e S ta l in n a c h v o l l z o g e n , w a s M u s s o l i n i s c h o n z e h n J a h r e z u v o r i n d e n b e r u f s s t ä n d i s c h e n G l e i c h ­s c h a l t u n g s g e s e t z e n v o n 1 9 2 3 b e g o n n e n u n d 1 9 2 6 m i t d e r L e g g e R o c c o a b g e s c h l o s s e n h a t t e . D a s na t i ona l soz i a l i s t i s che D e u t s c h l a n d e r r e i c h t e d e n t o t a l i t ä r e n G l e i c h s t a n d d e r K u n s t 1 9 3 7 m i t e i n e r k l e i n e n V e r s p ä t u n g , n a c h i n n e r p a r t e i l i c h e n U n s t i m m i g k e i t e n z w i s c h e n G ö r i n g , G o e b b e l s u n d R o s e n ­b e r g , i n d e r A u s s t e l l u n g >Enta r te te Kuns tx .

45 Groys schreibt, m a n k ö n n e -die Asthet is ierung der Poli t ik seitens der Par te i führung als R e a k t i o n auf die von der Avantgarde be t r iebene Poli t is ierung der Ästhet ik be t rach­ten«. Siehe dazu Groys (zit. A n m . 43) , S. 4n.

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VIERTENS: DAS VERGESSEN

Der Wille zur Kunst A nästhesierter Führungsanspruch

» O b j e m a n d e i n s ta rkes W o l l e n h a t o d e r e i n i n n e r e s E r l e b e n , das m a g e r d u r c h se in W e r k u n d n i c h t d u r c h s c h w a t z h a f t e W o r t e b e w e i s e n . Ü b e r h a u p t i n t e r e s s i e r t u n s alle v ie l w e n i g e r das s o g e n a n n t e W o l l e n als das K ö n n e n . « 1 M i t d i e s e n W o r t e n e rö f fne te A d o l f H i t l e r i m J u n i 1 9 3 7 d i e >Große D e u t s c h e Kunstx , d i e A u s s t e l l u n g para l le l z u r > E n t a r t e t e n Kunst<, d i e d e n T r a u m des K ü n s t l e r w i l l e n s z u r M a c h t b e e n d e t e . H i t l e r h a t t e d e n A n s p r u c h d e r A v a n t g a r d e i n d e r e n N e r v ge t ro f f en . Es g i n g j a n i c h t n u r u m G e s c h m a c k u n d Sti l , es g i n g u m s G a n z e . D i e K u n s t d e r M o d e r n e sol l te u m i h r e n M e s s i a n i s m u s g e b r a c h t w e r d e n . D e r t o t a l i t ä r e S taa t k a s t r i e r t e d i e K u n s t . D a s E r g e b n i s i m d e u t s c h e n R e i c h w a r e n k ü n s t l e r i s c h e E u n u c h e n , d i e e i n e rassis t isch a u f g e h e t z t e Gese l l schaf t i m K r i e g s z u s t a n d m i t h a r m l o s e r S c h ö n h e i t a b s c h i r m t e n .

D i e t o t a l i t ä r e n S t a a t e n d e r 3 0 e r J a h r e u s u r p i e r t e n d e n E r l ö ­s u n g s a n s p r u c h i h r e r A v a n t g a r d e n . I n D e u t s c h l a n d w u r d e n d i e K ü n s t l e r , d a r u n t e r n i c h t w e n i g e S y m p a t h i s a n t e n d e r N a z i s , v o n e i n e r s p i e ß i g e n K u l t u r p o l i t i k i n s i n n e r e u n d ä u ß e r e E x i l g e s c h i c k t ; i n d e r S o w j e t u n i o n w u r d e n sie u m e r z o g e n o d e r u m g e b r a c h t ; i n I t a l i en l i e ß m a n sie m i t m a r s c h i e r e n . D a s Z i e l d e r A v a n t g a r d e n , d i e Gese l l schaf t z u m G e s a m t k u n s t w e r k z u f o r m e n , sol l te n i c h t m i t t e l s K u n s t , s o n d e r n m i t t e l s K r i e g s ­p o l i t i k d u r c h g e s e t z t w e r d e n . V i e l e K ü n s t l e r a k z e p t i e r t e n d i e ­sen U m s c h w u n g u n d z o g e n b e g e i s t e r t i n d e n E r s t e n u n d d e n Z w e i t e n W e l t k r i e g , j e n e r F o r t s e t z u n g d e r K u n s t m i t d e r Waffe . I n i h r e r E r w a r t u n g v o n R a g n a r ö k , W e l t e n d e u n d G ö t ­t e r d ä m m e r u n g , ist d i e A v a n t g a r d e a b s o l u t m o d e r n — so fe rn M o d e r n e s ich b e s t i m m t als K i p p f i g u r z w i s c h e n V e r h e i ß u n g u n d K a t a s t r o p h e . H e i l s g e s c h i c h t e n m ü n d e n i n d i e Se lbs tauf ­h e b u n g , f ü h r e n v o n d e r h i s t o r i s c h e n Z e i t i n d i e e w i g e G e g e n w a r t . I n F o r m d e r ä s t h e t i s c h e n E r f a h r u n g ist das n u n c s tans , das S t e h e n d e >Jetzt!<, e i n e V o r w e g n a h m e des v e r h e i ß e ­n e n Z u s t a n d s .

1 Zi t . nach: Peter Ul r i ch H e i n : D i e B r ü c k e ins Geisterreich. K ü n s t ­lerische Avantgarde zwischen K u l ­turkr i t ik u n d Faschismus, R e i n b e k 1992, S. 270 .

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I m F r ü h j a h r 1 9 4 5 e r w a c h t e d i e M o d e r n e i n d e r W i r k l i c h ­k e i t i h r e r T r ä u m e . Al s d i e G ö t t e r d ä m m e r u n g v o r ü b e r w a r , a n g e k ü n d i g t i n d e r e n t s e t z l i c h e n B a n a l i t ä t v o n A l a r m s i r e n e n u n d a u s g l ü h e n d i n F e u e r s t ü r m e n , h a t t e m a n v o n A p o k a l y p ­sen g e n u g . D i e N a c h k r i e g s k u l t u r w o l l t e n i c h t m e h r a n d i e H e i l s e r w a r t u n g e n d e r A v a n t g a r d e e r i n n e r t se in . E s b l i e b d i e I d e e v o m S t e h e n d e n >Jetzt!<, d o c h m a c h t e sie e i n e V e r w a n d ­l u n g d u r c h . D i e g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e D i m e n s i o n w u r d e a b g e s c h n i t t e n : D a s S t e h e n d e >Jetzt!<, für d i e A v a n t g a r d e e i n e s c h a t o l o g i s c h e r Z u s t a n d n a c h d e m E n d e d e r G e s c h i c h t e , e i n e B e l o h n u n g n a c h b e s t a n d e n e m K a m p f für das N e u e , v e r -i n n e r l i c h t e d i e N a c h k r i e g s m o d e r n e z u r ä s t h e t i s c h e n E r f a h ­r u n g , w ä h r e n d G e s c h i c h t e u n d S o z i o l o g i e i n d e r K u n s t als u n ä s t h e t i s c h e r M i l i e u k i t s c h z u r ü c k g e w i e s e n w u r d e n . E s g i n g j e t z t n i c h t m e h r u m d i e k o l l e k t i v e E r l ö s u n g , s o n d e r n u m das e w i g e D r a m a i n d i v i d u e l l e r E x i s t e n z . D e r p o l i t i s c h e T o t a l i t a -r i s m u s h a t t e d e n K ü n s t l e r w i l l e n z u r M a c h t a m p u t i e r t . D e m S c h m e r z d a r ü b e r e n t g i n g d i e K u n s t d u r c h d i e A n ä s t h e s i e d e r E r i n n e r u n g , e i n e N a r k o s e d u r c h das V e r g e s s e n . D e n W i l l e n z u r M a c h t s c h i e n es n i e g e g e b e n z u h a b e n . E r h a t t e s ich u n ­m e r k l i c h g e w a n d e l t i n d e n W i l l e n z u r K u n s t .

V o n d e n P r o t a g o n i s t e n , d i e i n d i e s e m B u c h b e h a n d e l t w e r ­d e n , h a t k a u m e i n e r d e r K ü n s t l e r d i e N a c h k r i e g s z e i t e r l e b t , j e d o c h d e r P h i l o s o p h M a r t i n H e i d e g g e r . S e i n W e r k b e ­s c h r e i b t be i sp ie lha f t d i e W e n d e h ä l s i g k e i t d e r K l a s s i s c h e n M o ­d e r n e . E i n P r o p h e t d e r B e w e g u n g w u r d e z u m Ä s t h e t e n d e r N a c h k r i e g s k u n s t . D e r W i l l e m a c h t e e i n e n A b s t r a k t i o n s p r o ­z e ß d u r c h ; m i t d e m R ü c k z u g des K ö n i g s p h i l o s o p h e n aus s e i ­n e m real e x i s t i e r e n d e n S y r a k u s v e r d a m p f t e d i e p o l i t i s c h e U t o p i e z u h e r m e t i s c h e r K u n s t e r f a h r u n g . » U n d als e r s ich w i e d e r f a n d , w a r a u c h e r b e i m W i d e r s t a n d « , l a u t e t e i n z e i t ­g e n ö s s i s c h e s S p r i c h w o r t .

D e r E x i s t e n t i a l i s m u s d e r 4 0 e r u n d 5 0 e r J a h r e e n t d e c k t e d e n > h o m m e revolte<, d e r s ich g e g e n d i e e t a b l i e r t e n M ä c h t e a u f l e h n t . I n t e l l e k t u e l l e u n d K ü n s t l e r v e r s t a n d e n s ich j e t z t i n d e r O p p o s i t i o n z u r M a c h t — e i n e R o l l e , d i e d e r p l a t o n i s c h e n K u n s t h e r r s c h a f t z u w i d e r l ä u f t . D i e L e g i t i m i t ä t z u r R e v o l t e w u r d e a b g e l e i t e t v o n d e r O p f e r r o l l e d e r A v a n t g a r d e , e i n e r u n b e a b s i c h t i g t e n Spä t fo lge na t i ona l soz i a l i s t i s che r K u l t u r p o l i ­t ik . F ü r d i e K u n s t g e s c h i c h t e d e r N a c h k r i e g s z e i t s t a n d , b e ­r e c h t i g t e r w e i s e , d i e W i e d e r g u t m a c h u n g a n v e r f e m t e n K u n s t ­s t r ö m u n g e n i m V o r d e r g r u n d . D a k o n n t e m a n aus O p f e r n n i c h t z u g l e i c h T ä t e r m a c h e n . F r a n z M a r c s e u p h o r i s c h e Ä u ß e ­r u n g e n z u m K r i e g u n d z u e i n e m g r o ß d e u t s c h e n E u r o p a s c h r e i b t K l a u s L a n k h e i t d e r ü b e r h i t z t e n Z e i t s i t u a t i o n z u :

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M a r c sei » e x e m p l a r i s c h für d i e g e b i l d e t e J u g e n d des w i l h e l m i ­n i s c h e n D e u t s c h l a n d « . 2 D i e V e r h a r m l o s u n g d e r p o l i t i s c h e n K ü n s t l e r t r ä u m e g i n g e i n h e r m i t d e r M a x i m e , K ü n s t l e r s c h r i f ­t e n n i c h t a l lzu w i c h t i g z u n e h m e n . D e r K ü n s t l e r s p r e c h e s ich aus i m W e r k . M i t T e r r a g n i s D a n t e u m ist e i n P r o j e k t ü b e r l i e ­fert , aus d e m das B e k e n n t n i s de s A r c h i t e k t e n z u m F a s c h i s m u s k lar h e r v o r g e h t . T e r r a g n i s g e s a m m e l t e S c h r i f t e n , v o n B r u n o Z e v i 1 9 6 8 h e r a u s g e g e b e n i n d e m G e i s t , für d e n d i e J a h r e s z a h l s t eh t , t r äg t d e n G r u n d r i ß des D a n t e u m s a u f d e m U m s c h l a g , da e r so a k k u r a t a n K o m p o s i t i o n e n v o n M o n d r i a n e r i n n e r t . 3

In d e r T e x t e d i t i o n se lbe r ist d i e B e s c h r e i b u n g d e s P r o j e k t s u n t e r s c h l a g e n ; sie h ä t t e e i n e h o c h g e s c h ä t z t e I n k u n a b e l d e r i t a l i e n i s c h e n M o d e r n e k o m p r o m i t t i e r t .

D i e A u f f a s s u n g d e r N a c h k r i e g s z e i t ü b e r das , w a s m o d e r n sei , b e r u h t a u f d e r A b s p a l t u n g d e r g e i s t i g e n E i n z u g s g e b i e t e v o n d e n f o r m a l e n E r g e b n i s s e n . D i e K u n s t d e r A v a n t g a r d e w u r d e v o m h e r r s c h e n d e n Z e i t g e i s t f r e i g e s p r o c h e n . Z u m i n ­des t i n i h r e m m e s s i a n i s c h e n V o r d e n k e r t u m w a r d i e K u n s t d e r M o d e r n e n i c h t n u r O p f e r , s o n d e r n a u c h T ä t e r . B e i d i e s e r F e s t s t e l l u n g g e h t es n i c h t u m das A n s c h w ä r z e n e i n e r f r ü h e r e n G e n e r a t i o n aus d e m s i c h e r e n B l i c k w i n k e l d e r s p ä t e n G e b u r t , s o n d e r n u m d i e E r k e n n t n i s , d a ß d i e K u n s t n i e m a l s g a n z a n d e r s u n d v ie l b e s s e r ist als i h r e Z e i t . W e r a n d i e s e m G l a u ­b e n fes thäl t , h a t d i e m o d e r n e G n o s i s v e r i n n e r l i c h t .

E i n e H i s t o r i s i e r u n g d e r M o d e r n e w u r d e m ö g l i c h , als d e r B a n n ih re s E r f ü l l u n g s a n s p r u c h s a b z u f l a c h e n b e g a n n . E s b e ­d u r f t e d e r n ü c h t e r n e n E i n s i c h t , d a ß k ü n f t i g e i n e S t u n d e N u l l l i ebe r e rs t ga r n i c h t e i n t r e t e n m ö g e . W i r l e b e n i m Z e i t a l t e r e i n e r e n t t ä u s c h t e n G n o s i s : Mess i a s se s i n d g e k o m m e n u n d h a b e n T r ü m m e r u n d k o r r u m p i e r t e L e h r e n h i n t e r l a s s e n . Als E r b e n d e r M o d e r n e s t e h e n w i r v o r e i n e m ä h n l i c h e n P r o b l e m w i e das U r c h r i s t e n t u m i n d e m M o m e n t , da es e r k a n n t h a t , d a ß C h r i s t u s n i c h t so b a l d w i e d e r k e h r e n w e r d e u n d d a ß m a n sich w o h l o d e r ü b e l a u f e i n W a r t e n v o n u n b e s t i m m t e r D a u e r e i n z u s t e l l e n h a b e — o h n e g e n a u z u w i s s e n w o r a u f .

Aktionistische Moderne

E r w a c h t d e r b e t ä u b t e K ü n s t l e r w i l l e z u r M a c h t aus s e i n e m a n ä s t h e s i e r t e n Z u s t a n d , k o m m t d e r P h a n t o m s c h m e r z d e r a m p u t i e r t e n U t o p i e auf. D i e m o d e r n e n T o p o i g e b e n s ich als E r l ö s u n g s t o p o i z u e r k e n n e n . Sie k r e i s e n u m d i e F r a g e : W i e g e l a n g e i ch ins K u n s t p a r a d i e s d e s L e b e n s ? E r i n n e r n w i r u n s a n das G e f l e c h t d e r u n s c h a r f e n G e d a n k e n z u r K u n s t : S c h ö p -

2 Franz Marc : Schriften, hg. v. Klaus Lankhei t , Kö ln 1978, S. 27 .

3 O m a g g i o a Terragni , hg. v. B r u n o Zevi , Mai land 1968.

245

f u n g e n t s p r i n g t e i n e m u n b e w u ß t e n A n t r i e b ( T o p o s A ) — D a s K u n s t w e r k en t fa l t e t s ich i m S t re i t e i n e s G e g e n s a t z e s ( T o p o s B ) - Ä s t h e t i s c h e E r f a h r u n g b e s t e h t i m A u s h a l t e n d e s G e g e n ­satzes i n T o p o s B ( T o p o s C ) — K u n s t s p r e n g t d i e G r e n z e n d e r I n d i v i d u a t i o n ( T o p o s D ) . D i e e r s t e n v i e r T o p o i ä s t h e t i s c h e r M e n t a l i t ä t m a c h e n d e n i n n e r e n K e r n d e r K l a s s i s c h e n M o ­d e r n e aus . E s h a n d e l t s ich u m e i n I d e e n g e w ö l k , das aus d e n K u n s t a u f f a s s u n g e n d e r N e u z e i t v e r f r a c h t e t u n d u m g e b i l d e t w u r d e . D e r >Prolog i m H i m m e l < r e k o n s t r u i e r t d i e Para l le l i t ä t v o n K u n s t p r o z e ß u n d W e l t g e r i c h t i n M i c h e l a n g e l o s m o n u ­m e n t a l e m W a n d f r e s k o . D a s t h e o l o g i s c h fes tge leg te M o t i v v e r ­s c h r ä n k t e s ich i n d e r N e u z e i t m i t e i n e m B e g r i f f d e r K u n s t ­e r f a h r u n g , d i e i m G e i s t d e s N e u p l a t o n i s m u s re l ig iöse Z ü g e a n n a h m . D e r d o g m a t i s c h - ä s t h e t i s c h e Z w e i k l a n g , w i e i h n M i ­c h e l a n g e l o v i r t u o s a n s t i m m t , w a n d e l t s ich i n d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e z u m U n i s o n o e i n e r a u t o n o m e n K u n s t r e l i g i o n . D i e d o g m a t i s c h - e r z ä h l e r i s c h e n M o t i v e c h r i s t l i c h e r R e l i g i o s i t ä t v e r s c h w i n d e n , d o c h d e r e n E r f a h r u n g s s t r u k t u r e n b l e i b e n e r ­h a l t e n : das k a t h a r t i s c h e P a c h t e n u n d R e i n i g e n , d i e Se lbs tauf ­g a b e , d i e E r l ö s u n g aus d e m K ä f i g d e r I n d i v i d u a t i o n , d i e m y s t i s c h e V e r e i n i g u n g m i t e i n e m a l l g e m e i n e n , h ö h e r e n P r i n ­z ip b e s t i m m e n d i e ä s t h e t i s c h e E r f a h r u n g als s äku la re M e ­t a p h y s i k . D e r H a n g d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e z u o k k u l t e n , t h e o s o p h i s c h e n L e h r g e b ä u d e n b e k r ä f t i g t d i e V e r b u n d e n h e i t m i t d e m r e l i g i ö s e n E r b e . M o n s t r ö s w i r d d i e E rbscha f t d o r t , w o d i e K u n s t r e l i g i o n , w i e b e i T e r r a g n i , m i t d e r P o l i t r e l i g i o n d e s F a s c h i s m u s e i n e n P a k t e i n g e h t .

D a s ü b e r g r o ß e S e n d u n g s b e w u ß t s e i n d e r K l a s s i s c h e n M o ­d e r n e l ie fer te d e n K o n f l i k t s t o f f i n V e r b i n d u n g m i t d e n p o l i t i ­s c h e n E r l ö s u n g s k o n z e p t e n . D i e Z i e l e M o n d r i a n s u n d M a l e ­w i t s c h s w a r e n sch l i ch t z u e r h a b e n , als d a ß sie d e n p o ­p u l i s t i s c h e n F o r d e r u n g e n v o n D i k t a t o r e n h ä t t e n a n g e p a ß t w e r d e n k ö n n e n . Se lbs t T e r r a g n i , d e r s ich a u f d i e L i n i e M u s ­sol in is e i n g e l a s s e n h a t t e , m u ß t e e r f a h r e n , d a ß für w i r k l i c h e p o l i t i s c h e A r c h i t e k t u r d e r e i n g ä n g i g e r e N e o k l a s s i z i s m u s d e r S c u o l a R o m a n a b e v o r z u g t w u r d e . H ä t t e d i e r ö m i s c h e D u r c h ­schn i t t s f ami l i e i m R a h m e n e i n e s S o n n t a g s a u s f l u g s j e n e n m o d e r n i s t i s c h e n T r i m m p f a d ge i s t ige r L ä u t e r u n g i m D a n t e u m a u f s ich n e h m e n w o l l e n ? D e r F a s c h i s m u s T e r r a g n i s w a r d e r a r t r e i n , d e r a r t d u r c h g l ü h t v o m m e t a p h y s i s c h e n N i h i l i s m u s , d a ß e r d e m g e w ö h n l i c h e n F u ß v o l k k a u m z u g e m u t e t w e r d e n k o n n t e .

E r w i e s s ich d i e Klass i sche M o d e r n e i n i h r e m h o h e n A n s p r u c h u n b e s t e c h l i c h e r g e g e n ü b e r d e n F o r d e r u n g e n u n d S a c h z w ä n g e n d e r R e a l p o l i t i k , so w a r d i e v e r w a n d t e N e b e n -

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Strömung, d i e A k t i o n i s t i s c h e M o d e r n e , anfä l l ig für d e n p o l i t i ­s c h e n S ü n d e n f a l L F u t u r i s m u s u n d K o n s t r u k t i v i s m u s e n t w i k -k e l t e n S t r a t e g i e n z u r U m s e t z u n g d e r U t o p i e , K u n s t ins L e b e n zu ü b e r f ü h r e n . D a b e i k o n n t e es d u r c h a u s z u p r a g m a t i s c h e n K o m p r o m i s s e n m i t d e m P o p u l i s m u s v o n D i k t a t o r e n k o m ­m e n . D i e Klass i sche u n d d i e A k t i o n i s t i s c h e M o d e r n e d u r c h ­z i e h t e i n H a a r r i ß i n d e r F r a g e n a c h d e m >Ding<. D i e f u t u r i s t i ­sche M a l e r e i b l i e b stets g e g e n s t ä n d l i c h ; d e r K o n s t r u k t i v i s m u s sah se in Z i e l i n d e r Scha f fung v o n n ü t z l i c h g e s t a l t e t e m Z e u g . D e r A k t i o n i s m u s b e i d e r P a c h t u n g e n w a r i m K e r n z w e c k g e ­richtet, m a t e r i a l - u n d g e g e n s t a n d s b e z o g e n , w o h i n g e g e n d i e Klass ische M o d e r n e , i m S i n n e d e r i dea l i s t i s chen T r a d i t i o n , d i e Z w e c k f r e i h e i t d e r K u n s t h o c h h i e l t . A l s s ich i n d e n 3 0 e r J a h r e n d i e K u n s t h e r r s c h a f t als I l l u s i o n u n d d i e G e w a l t h e r r ­schaft als R e a l i t ä t h e r a u s s t e l l t e n , g a b d i e A k t i o n i s t i s c h e M o d e r n e , z u m i n d e s t i n i h r e n L o s u n g e n , d i e S t o ß r i c h t u n g a n . N e b e n d i e g e n a n n t e n v i e r E r l ö s u n g s t o p o i t r e t e n i m A k t i o n i s ­m u s d i e d r e i H a n d l u n g s t o p o i i n d e n V o r d e r g r u n d , d e r a g g r e s ­sive T e i l i m P o t e n t i a l d e r M o d e r n e : K e i n e G e f ü h l e , k e i n e K o m p r o m i s s e . T e r t i u m n o n d a t u r ( T o p o s E ) — Z u r ü c k z u m A n f a n g u n d a u f d e n G r u n d d e r D i n g e ! ( T o p o s F) — N o t w e n ­d i g k e i t ist F r e i h e i t ( T o p o s G ) .

Z u r A k t i o n i s t i s c h e n M o d e r n e g e h ö r e n a u c h d e r E x p r e s s i o ­n i s m u s u n d d i e N e u e S a c h l i c h k e i t . S ie v e r t r a g e n s ich n i c h t m i t d e m E t h o s d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e . D e r E x p r e s s i o n i s ­m u s b l e i b t , v o n M o n d r i a n s W a r t e b e t r a c h t e t , i m t r a g i s c h e n W i d e r s p r u c h v o n I c h u n d W e l t ve rha f t e t : e i n K o n f l i k t , de r , w i e >faustisch< e r a u c h i m m e r s ich g i b t , n i c h t s e l t en ins W e i n e r l i c h e a b s t ü r z t . D e r E x p r e s s i o n i s m u s n e i g t e z u r ä s t h e t i ­s c h e n P s y c h o t h e r a p i e u n d v e r l e t z t e d a m i t N i e t z s c h e s L e i t l i n i e v o m >Pess imismus d e r S t ä r k e r D i e I n d i v i d u a l i s i e r u n g d e r K u n s t f ö r d e r t allenfalls d e n P e s s i m i s m u s d e s S e l b s t m i t l e i d s . D e r K ü n s t l e r als v o r l e i d e n d e s I n d i v i d u u m läd t e i n z u m G e m e i n s c h a f t s b a d i m m e n s c h l i c h - a l l z u m e n s c h l i c h e n E l e n d . D i e m i t l e i d i g e K a t h a r s i s b e s t e h t i n d e m e n t l a s t e n d e n G e f ü h l ge t e i l t e r S c h ä b i g k e i t , i n d e r m a n s ich w o h l i g e i n r i c h t e t . N e b e n d e r H e r v o r h e b u n g i n d i v i d u e l l e r L e b e n s t r a g i k ist es d e r >nordische< C h a r a k t e r des E x p r e s s i o n i s m u s , d e r i n s e i n e n v ö l k i s c h e n U n t e r t ö n e n d e m U n i v e r s a l i s m u s e i n e s K a n d i n s k y , e i n e s M o n d r i a n e n t g e g e n s t e h t . D e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e s ind r a s s i sch -vo lksha f t e Z u o r d n u n g e n f r e m d . >Der g o t i s c h e M e n s c h < ist z u d e u t s c h , u m m o d e r n z u se in i m k l a s s i s chen S i n n . W i l h e l m W o r r i n g e r , d e s s e n D i s s e r t a t i o n ü b e r g o t i s c h e S k u l p t u r u n t e r d e m T i t e l Abstraktion und Einfühlung s ich 1 9 0 8 u n b e a b s i c h t i g t als t h e o r e t i s c h e B e g r ü n d u n g des E x p r e s s i o n i s -

2 4 7

4 W i l h e l m Wor r inge r : Abst rak­t ion u n d Einfühlung. E in Bei trag zur Stilpsychologie, M ü n c h e n (Neuauf­lage) 1959, S. 50 .

5 W o r r i n g e r (zit. A n m . 4), S. 36 . 6 W o r r i n g e r (zit. A n m . 4) , S. 59 . 7 W o r r i n g e r (zit. A n m . 4), S. 55 .

m u s e n t p u p p t e , h a t s e i n e n A b s t r a k t i o n s b e g r i f f v o n d e m d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e a b g e g r e n z t . F ü r i h n g e h ö r t d i e m y s t i ­s che V e r s c h m e l z u n g des I n d i v i d u u m s i m k o s m i s c h e n G l e i c h ­g e w i c h t , w i e sie K a n d i n s k y , M o n d r i a n , M a l e w i t s c h v e r t r e t e n , z u e i n e m , d e m G o t i k e r u n e i g e n t l i c h e n , p a n t h e i s t i s c h e n E i n ­f ü h l u n g s d r a n g . W o r r i n g e r e r k l ä r t d e n V o r r a n g d e r A b s t r a k ­t i o n aus d e m » u n g e h e u r e n R u h e b e d ü r f n i s « 4 des n o r d i s c h e n M e n s c h e n . D i e s e r J e n s e i t s m e n s c h , d e r G o t i k e r , u n t e r s c h e i d e t s ich v o m ge fä l l i g -ge fa l l süch t igen D i e s s e i t s m e n s c h e n , d e m G r i e c h e n u n d d e m L a t e i n e r , d e r s ich g e r n i n d i e W e l t e i n ­fühl t . E s s i n d d ies d i e V ö l k e r d e r o b e r f l ä c h l i c h e n »Ziv i l i sa ­t i o n « , w ä h r e n d d e r E x p r e s s i o n i s t das E r b e t i e f s c h ü r f e n d e r »Kul tu r« v e r t r i t t . W o r r i n g e r stell t d i e A b s t r a k t i o n ü b e r d i e E i n f ü h l u n g ; i h r e S c h ö n h e i t l i ege » im l e b e n s v e r n e i n e n d e n A n o r g a n i s c h e n , i m K r i s t a l l i n i s c h e n , a l l g e m e i n g e s p r o c h e n , i n a l ler a b s t r a k t e n G e s e t z m ä ß i g k e i t u n d N o t w e n d i g k e i t . « 5

Z w a r g l e i c h t W o r r i n g e r s b e g r i f f l i c h e s G e g e n s a t z p a a r d e m >Apollinischen< u n d d e m >Dionysischen< N i e t z s c h e s , d o c h g e w i n n t d i e >Abstraktion< als a p o l l i n i s c h e s Z u c h t m i t t e l b e i i h m e i n e d e u t s c h t ü m e l n d e F ä r b u n g . D a s G e s e t z A p o l l o s v e r ­s p i e ß e r t z u m P r i n z i p w i l h e l m i n i s c h e r L e i b f e i n d l i c h k e i t . Z u v i e l E i n f ü h l u n g w e c k e das C h a o s i m e i n z e l n e n u n d m ü s s e d a h e r n i e d e r g e k ä m p f t w e r d e n . K u n s t e n t s t e h e aus d e m >Ruhebedür fn i s< des B e w u ß t s e i n s v o r d e m d r ä n g e n d e n L e ­b e n . »Das L e b e n als so l ches w i r d als S t ö r u n g des ä s t h e t i s c h e n G e n u s s e s e m p f u n d e n . « 6 D i e e i n f ach e L i n i e u n d i h r e A n o r d ­n u n g n a c h g e o m e t r i s c h e n G e s e t z e n b i e t e »die g r ö ß t e B e ­g l ü c k u n g s m ö g l i c h k e i t [. . .] D e n n h i e r ist d e r l e t z t e R e s t v o n L e b e n s z u s a m m e n h a n g u n d L e b e n s a b h ä n g i g k e i t ge t i lg t , h i e r ist d i e h ö c h s t e a b s o l u t e F o r m , d i e r e i n s t e A b s t r a k t i o n e r r e i c h t ; h i e r ist das G e s e t z , ist N o t w e n d i g k e i t , w o s o n s t ü b e r a l l d i e W i l l k ü r d e s O r g a n i s c h e n h e r r s c h t . « 7 D i e M a x i m e , das d e m » K u b i s c h e n das Q u ä l e n d e z u n e h m e n « sei , ü b e r ­n i m m t W o r r i n g e r v o n A d o l f v o n H i l d e b r a n d u n d ve r schä r f t sie z u r K a m p f a n s a g e g e g e n d i e V e r s u c h u n g e n d e r E i n f ü h l u n g . D e r A b s t r a k t i o n s d r a n g W o r r i n g e r s g l e i c h t d e m v e r z w e i f e l t e n K a m p f des h e i l i g e n A n t o n i u s , d e r s ich g e g e n alle L e i b e s ­g e n ü s s e d i e se r W e l t w e h r t , d i e i h m d i e K ö n i g i n v o n Saba z u F ü ß e n leg t . D e r >nordisch< v e r s t a n d e n e E x p r e s s i o n i s m u s h a t e t w a s V e r s c h w i t z t e s ; se in z e r q u ä l t e s R i n g e n u m A b s t r a k t i o n r i e c h t n a c h d u r c h w a c h t e n N ä c h t e n ü b e r h i t z t e r P u b e r t ä t , d i e d e n A n s t u r m e i n e s u n g e k a n n t e n L e b e n w o l l e n s m i t se lbstauf­e r l eg te r , i n b r ü n s t i g e r Z u c h t z ä h m e n m ö c h t e .

A u s d r u c k d e r S e h n s u c h t n a c h A b s t r a k t i o n , d i e u n s v o m L e b e n e r lös t , ist , so W o r r i n g e r , d i e g o t i s c h e K a t h e d r a l e . H i e r

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ist d e r n o r d i s c h e M e n s c h z u H a u s e : »Ergr i f fen v o m T a u m e l d i e se r aus a l l en E n d e n h e r v o r d r i n g e n d e n , i n m ä c h t i g e m K r e -s c e n d o g e g e n H i m m e l s t r e b e n d e n O r c h e s t e r m u s i k m e c h a n i ­sche r Krä f t e füh l t e r i n s e l i g e m S c h w i n d e l s ich k r a m p f h a f t e m p o r g e r i s s e n . « 8 D e r m o d e r n e G o t i k e r v o l l z i e h t d i e E i n f ü h ­l u n g ins M e c h a n i s c h e : D a m i t ist e i n T o n a n g e s c h l a g e n , d e r be i O s w a l d S p e n g l e r u n d E r n s t J ü n g e r w e i t e r s c h w i n g t . D e r n o r d i s c h e M e n s c h ist b e s e s s e n v o m faus t i s chen D r a n g , d i e N a t u r i n s ich u n d v o r s ich z u ü b e r w i n d e n . D e r G e i s t d e r G o t i k e r f ä h r t i m M a s c h i n e n z e i t a l t e r s e ine W i e d e r k e h r . D a s S y s t e m d e r S t r ebep fe i l e r v e r w a n d e l t s ich z u r K u r b e l w e l l e d e r L o k o m o t i v e ; d i e T u r m s p i t z e d e r K a t h e d r a l e d e u t e t d e n S t u r z f l u g e i n e s S t u k a v o r a u s . I n d e r s t ä h l e r n e n G o t i k ist d i e i n n e r e E i n h e i t d e s E x p r e s s i o n i s m u s m i t d e r N e u e n S a c h l i c h ­ke i t a n g e l e g t .

D e r n o r d i s c h e M e n s c h ist i n n e r l i c h z e r r i s s e n , u n g l ü c k l i c h u n d h e r r s c h s ü c h t i g . M i t d e r K o n s t r u k t i o n e i n e s >faustischen< T y p s w i r d aus e i n e r K u l t u r n e u r o s e e i n e T u g e n d g e m a c h t . D e r faus t i sche M e n s c h e n t h ü l l t s ich , n a c h W o r r i n g e r s B e ­s c h r e i b u n g , als d e u t s c h e r K l e i n b ü r g e r , d e r s e ine V e r k l e m m t ­h e i t n a c h a u ß e n r ä c h t . W e r a n d e r K u n s t n u r das > R u h e -bedürfnis< schä tz t , ist a l l e rd ings v e r d a m m t , »g lück los s e i n e n B e w e g u n g e n z u fo lgen«. D e r n o r d i s c h e M e n s c h g e h ö r t z u d e n » d i s h a r m o n i s c h e n V ö l k e r n « , d i e , u m s ich a u s z u d r ü c k e n , »jenes u n h e i m l i c h e P a t h o s « b r a u c h e n « , das d e r V e r l e b e n d i ­g u n g d e s A n o r g a n i s c h e n a n h a f t e t . 9 I n s e i n e m R o m a n Michael, ein deutsches Schicksal s c h r i e b d e r E x p r e s s i o n i s t J o s e p h G o e b ­be ls : » U n s e r J a h r z e h n t ist i n s e i n e r i n n e r e n S t r u k t u r d u r c h a u s e x p r e s s i o n i s t i s c h . W i r h e u t i g e n s i n d alle E x p r e s s i o n i s t e n , M e n s c h e n , d i e v o n i n n e n h e r a u s d i e W e l t d r a u ß e n g e s t a l t e n w o l l e n . D e r E x p r e s s i o n i s m u s b a u t s ich e i n e n e u e W e l t . S e i n G e h e i m n i s u n d s e i n e M a c h t ist d i e I n b r u n s t . « 1 0 D a s » b r ü n ­st ige Exce l s io r« W o r r i n g e r s sol l te s e ine rea le U m s e t z u n g fin­d e n i n d e n F l a k s c h e i n w e r f e r n , d i e s ich b e t e n d z u m L i c h t d o m v e r s c h r ä n k e n , s u c h e n d i n d e r N a c h t d e r B o m b e r . D e r K r i e g w u r d e d e m f a u s t i s c h e n M e n s c h e n als R e i ß w e r k h ö c h s t e r A b s t r a k t i o n i n d i e H a n d g e g e b e n .

D e r E x p r e s s i o n i s m u s als I d e o l o g i e u n d als Stil h ä t t e N a z i ­d e u t s c h l a n d e i n a k k u r a t e s E r s c h e i n u n g s b i l d s t i f ten k ö n n e n . D a ß d ies i m A n s a t z a b g e w ü r g t w u r d e , lag a n d e r B o r n i e r t h e i t d e r F u n k t i o n ä r e u m H i t l e r , d i e d i e K u n s t a u f e i n e e u n u c h e n -haf te S o n n t a g s m a l e r e i u n d e p i g o n a l e s B i e d e r m e i e r z u r ü c k ­s t u t z t e n . D i e s ta l in i s t i sche u n d na t iona l soz i a l i s t i s che K u n s t ­h e t z e d e r 3 0 e r J a h r e m a c h t e n d e n >Express ionismus< z u m K e h r r i c h t e i m e r alles E n t a r t e t e n . D a m i t w u r d e d e r S t i l beg r i f f

8 W o r r i n g e r (zit. A n m . 4), S. 156; Wor r inge r s Begriffspaar findet eine treffende Charakter i s ie rung bei Die te r Bar te tzko: »Zwischen Z u c h t u n d Ekstase« lautet dessen Analyse der Arch i t ek tu r i m Deu t sch land der 20e r u n d 30er J a h r e . Siehe dazu Die te r Bar te tzko: Zwischen Z u c h t u n d Ekstase. Z u r Theatral ik v o n N S -Archi tek tur , Ber l in 1985.

9 W o r r i n g e r (zit. A n m . 4), S. 116.

10 Zi t . nach: R icha rd H a m a n n / Jost H e r m a n d : E p o c h e n deutscher K u n s t , B d . 5, E x p r e s s i o n i s m u s , Frankfurt a. M . 1977, S. 209 .

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z u m N a z i o p f e r u n d h a t t e s o m i t n a c h d e m K r i e g a u t o m a t i s c h A n s p r u c h a u f W i e d e r g u t m a c h u n g . D i e K u n s t g e s c h i c h t e des E x p r e s s i o n i s m u s h ä t t e d i f f e r enz i e r t e r g e s c h r i e b e n w e r d e n m ü s s e n , w e n n - s ta t t d e s v e r b i e s t e r t e n A m t s R o s e n b e r g — d i e k ü n s t l e r i s c h a v a n c i e r t e L i n i e v o n G o e b b e l s u n d G ö r i n g s ich h ä t t e d u r c h s e t z e n k ö n n e n . 1 1

Nominalistische Moderne

E s m a g v e r w u n d e r n , d a ß d i e E c o l e d e Pa r i s i m i m a g i n ä r e n M u s e u m dieses B u c h s n i c h t v o r k o m m t . D o c h d i e Klass i sche M o d e r n e ist e i n e idea l i s t i sche S t r ö m u n g , d i e so b r e i t ist w i e d e r G r u n d r i ß d e r P h i l o s o p h i e S c h o p e n h a u e r s . D i e s e u m f a ß t z w a r a u c h d e n f r a n z ö s i s c h e n S y m b o l i s m u s , n i c h t a b e r d i e e x ­p e r i m e n t e l l e n S t r ö m u n g e n d e r M a l e r e i . I m p r e s s i o n i s m u s , F a u v e s u n d K u b i s m u s s t a n d e n i n W i d e r s p r u c h z u r G e d a n ­k e n m a l e r e i .

A n d e r R e z e p t i o n v o n P a u l C e z a n n e l äß t s ich d ie m e n t a l e W a s s e r s c h e i d e d e r f r a n z ö s i s c h e n A v a n t g a r d e a b l e s e n . U b e r d i e l i t e r a r i s c h e V e r a r b e i t u n g d u r c h J o a q u i n C a s q u e t e r f ä h r t C e -z a n n e s K u n s t t h e o r i e e i n e s y m b o l i s t i s c h e A u s l e g u n g . D i e s e n C e z a n n e h a t a u c h H e i d e g g e r ge schä t z t . D a n e b e n g i b t es d i e k ü n s t l e r i s c h e R e z e p t i o n v o n C e z a n n e s W e r k , d i e i n d e n K u b i s m u s f ü h r t . D a s A u f b r e c h e n d e r Z e n t r a l p e r s p e k t i v e l e i t e t s ich ab v o n d e r r e i n m a l e r i s c h e n W e i t e r e n t w i c k l u n g des F a r b ­auf t rags u n d d e r O b j e k t w i e d e r g a b e ; C a s q u e t s G e s p r ä c h e m i t d e m M e i s t e r m u ß t e m a n d a z u n i c h t g e l e s e n h a b e n . P a b l o P i ca s so u n d G e o r g e s B r a q u e i n t e r e s s i e r t e n k u n s t t h e o r e t i s c h e S p e k u l a t i o n e n w e n i g . Sie p r a k t i z i e r t e n >Theorie< — z u d e u t s c h : >Betrachtung< - b e i m M a l e n . K u b i s m u s ist >parler pe in tu re< ; d i e T h e o r i e n d a z u w u r d e n d e r r e a l i s i e r t e n K u n s t h i n t e r h e r ­g e s c h r i e b e n .

N a t ü r l i c h s i n d a u c h b e i P i cas so d i e M o t i v e d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e a n z u t r e f f e n : D i e M e t a m o r p h o s e n , d e r G e g e n s a t z v o n M a n n u n d F r a u , M a l e r u n d M o d e l l i n A n l e h n u n g a n Ba lzacs Chef-dyceuvre inconnu. D o c h P i ca s so ist k e i n M e i s t e r F r e n h o f e r , d e s s e n A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h a b s o l u t m o d e r n ist — i m k l a s s i s chen S i n n e . P i ca s so ist z u h u m o r v o l l u n d z u u n g l ä u ­b i g , u m m i t K u n s t d i e W e l t v e r ä n d e r n z u w o l l e n . U n t e r s e i ­n e r e n o r m e n P r o d u k t i o n e r k a l t e n d i e M o t i v e d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e v i r t u o s z u r F o r m . D i e E c o l e d e Pa r i s , bef re i t v o m S y m b o l i s m u s , en t fa l t e t s ich als r e i n e M a l e r e i . K u n s t t h e o r i e

11 E i n e e i n g e h e n d e kr i t i sche v e r m i s c h t s ich n i c h t , w i e i n d e r k l a s s i s chen S t r ö m u n g , m i t U m w e r t u n g siehe H e i n (zit. A n m . 1). g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n M e i s t e r d i s k u r s e n , s o n d e r n b e -

250

s c h r ä n k t s ich a u f d i e A n a l y s e v o n M a t e r i a l u n d W a h r n e h ­m u n g . D e r W e g v o m I m p r e s s i o n i s m u s ü b e r d i e F a u v e s z u m K u b i s m u s ist e i n W e g d e r F a r b e : V o n d e r F a r b w a h r n e h m u n g ü b e r d i e r e i n e F a r b e z u m E n d e d e r F a r b e .

E i n e n B e g r i f f v o n T h i e r r y d e D u v e a u f n e h m e n d , k a n n d iese d r i t t e H a u p t s t r ö m u n g als N o m i n a l i s t i s c h e M o d e r n e b e z e i c h n e t w e r d e n . 1 2 Sie s t eh t i m G e g e n s a t z z u d e m E s s e n t i a -l i s m u s d e r K las s i s chen M o d e r n e , d i e d e m r a u n e n d e n U r p h ä -n o m e n a u f d e r S p u r ist. D i e >Gegenstandslosigkei t< u n d F e i ­s t i g k e i t d e r K u n s t f ü h r e n z u r r e i n e n A b s t r a k t i o n , d i e w e d e r v o n d e r A k t i o n i s t i s c h e n n o c h v o n d e r N o m i n a l i s t i s c h e n M o ­d e r n e a n g e s t r e b t w i r d . D e r N o m i n a l i s m u s k o m m t o h n e das D i n g u n d s e i n e n N a m e n n i c h t aus . O b i m p r e s s i o n i s t i s c h , far­b i g frei o d e r k u b i s t i s c h zer leg t : E i n D i n g m u ß m a l e r i s c h b e ­z e i c h n e t se in , d a m i t d e r Stil s ich d a r a n en t f a l t en k a n n . D a m i t das k u b i s t i s c h e V e r f a h r e n greif t , m u ß e r k e n n b a r b l e i b e n , d a ß b e s t i m m t e F l ä c h e n f r a g m e n t e a u f k o n k r e t e G e g e n s t ä n d e z u ­r ü c k v e r w e i s e n . D a s m y s t i s c h e N i c h t s ist n i c h t d r e i d i m e n ­s iona l , l äß t s ich d a h e r a u c h n i c h t z w e i d i m e n s i o n a l a u f d i e F l äche d e r L e i n w a n d d e k o n s t r u i e r e n . D e r K u b i s m u s b r a u c h t d e n R a u m k ö r p e r ; e i n a b s t r a k t e r K u b i s m u s m a c h t k e i n e n S i n n o d e r m ü n d e t i n d i e K o m p o s i t i o n e n M o n d r i a n s . A b e r m i t i h n e n ver lassen w i r d e n n o m i n a l i s t i s c h b e s t i m m t e n R a u m .

D i e N o m i n a l i s t i s c h e M o d e r n e g e w i n n t n a c h d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g d i e O b e r h a n d als d i e S t r ö m u n g , d i e s ich n i c h t d u r c h ä s t h e t o p o l i t i s c h e V e r s p r e c h e n u n g l a u b w ü r d i g g e m a c h t h a t . J e t z t greif t d e r W i t z i n d e r K u n s t u m sich, d e r i m R a h ­m e n d e r M e n s c h h e i t s b e g l ü c k u n g n i c h t a m P l a t z w a r . M u s i ­ker , L i t e r a t e n , K ü n s t l e r u n d K u n s t h i s t o r i k e r d e r 5 0 e r J a h r e z e l e b r i e r e n d i e W i e d e r e n t d e c k u n g v o n D a d a . M a r c e l D u -c h a m p s te igt aus d e r V e r g e s s e n h e i t a u f z u m d o m i n i e r e n d e n K u n s t p r o p h e t e n d e r N a c h k r i e g s z e i t ; e r l e h r t e i n e H a l t u n g , d i e e r » p i k t u r a l e n N o m i n a l i s m u s « n e n n t . D i e R e n a i s s a n c e v o n D a d a u n d D u c h a m p w i r d n i c h t m e h r i n E u r o p a a u s g e ­r u f e n , s o n d e r n , w i e al les, w a s n o c h fo lgen sol l te , i n d e n V e r ­e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a . A l l e s , w a s f o r t a n i n E u r o p a a n K u n s t e n t s t e h t , ist a m e r i k a n i s c h i n s p i r i e r t o d e r w i r k t a b g e ­s c h o t t e t , ist se lbs tgefä l l ige B r i c o l a g e .

V o n d e r >Moderne< h a b e n w i r n u r n o c h d e n N a m e n . U n d d i e F o r m e n ! D i e K u n s t d e r N a c h k r i e g s z e i t n ä h r t s ich a n d e n f r u c h t b a r e n M i ß v e r s t ä n d n i s s e n i m R ü c k b l i c k a u f d i e A v a n t ­g a r d e , d i e e i n K o r a l l e n r i f f v o n G e s t a l t u n g e n h i n t e r l a s s e n h a b e n , aus d e n e n das L e b e n des > G r o ß e n G e i s t i g e m e r l o s c h e n ist. D e n H i e r o g l y p h e n d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e ist d e r K o n ­t e x t d e r E r l ö s u n g s g e w i ß h e i t a b h a n d e n g e k o m m e n ; als v e r -

12 Siehe dazu Th ie r ry de D u v e : P ik tu ra l e r N o m i n a l i s m u s , M a r c e l D u c h a m p , die Malerei u n d die M o ­derne , aus d e m Französischen v. U r s -Beat Frei (1984), M ü n c h e n 1987.

251

s t u m m t e Z e i c h e n w e r d e n sie n e u g e n u t z t i m f re ien Sp ie l de s s u b j e k t i v e n A u s d r u c k s . D i e s u r r e a l i s t i s c h e n B i o m o r p h i e n v o n J o a n M i r o , Yves T a n g u y , M a r k R o t h k o , A l e x a n d e r C a l d e r s i n d z u r r e i n e n F o r m e r k a l t e t e U r p h ä n o m e n e n a c h K l e e u n d K a n d i n s k y . W e n n R o y L i c h t e n s t e i n d i e S p r e c h b l a s e aus d e r C o m i c - L i t e r a t u r i n d i e K u n s t ü b e r t r ä g t , sp ie l t er , w o h l o h n e es z u w i s s e n , m i t j e n e n > G e d a n k e n f o r m e n < , d e n M e n t a l ­k ö r p e r n , d i e w i r , n a c h A n n i e B e s a n t , ü b e r u n s e r e n K ö p f e n a b s o n d e r n .

D i e F o r m e n s i n d g e b l i e b e n ; d e r G l a u b e , d e r i n sie ge l eg t w a r , ist v e r b l a ß t . D e r m e n t a l e D u n s t d e r M o d e r n e ist a b g e z o ­g e n u n d g e w i n n t U m r i ß als G e w ö l k a m H o r i z o n t h i s t o r i ­s c h e n V e r s t e h e n s . W i r s i nd , m i t W a l t e r B e n j a m i n g e s p r o c h e n , aus e i n e m T r a u m e r w a c h t . E i n e E p o c h e , d i e u n s k ü r z l i c h n o c h J e t z t z e i t w a r , ist V e r g a n g e n h e i t . V o n d e n 5 0 e r z u d e n 7 0 e r J a h r e n w ä h r t e e i n e A r t M o r g e n s c h l u m m e r , da w i r u n s n o c h e i n m a l z u r ü c k t r ä u m e n w o l l t e n i n e i n e w u n d e r b a r e G e ­s c h i c h t e d e r V e r h e i ß u n g e n . N a c h f o r t s c h r i t t l i c h e r A u f f a s s u n g u n t e r b r a c h d e r F a s c h i s m u s d i e K o n t i n u i t ä t d e r M o d e r n e . V o r s c h n e l l s e i en w i r a u f g e s t ö r t w o r d e n v o n d e r p o l i t i s c h e n u n d m i l i t ä r i s c h e n K a t a s t r o p h e des Z w e i t e n W e l t k r i e g s . D o c h w i e d i e T r a u m z e n s u r d i e S c h l a f e n d e n aus g e f ä h r l i c h e n W ü n ­s c h e n r e i ß t , i n d e m sie d i e se a u f w a c h e n l äß t d u r c h e i n B i l d des G r a u e n s , w a r d e r S c h r e c k e n v o n 1 9 4 5 B e s t a n d t e i l de s m o d e r ­n e n T r a u m s : N o t b r e m s e g e g e n e i n e n W i l l e n z u r t o t a l e n E r l ö ­s u n g . I r g e n d w i e m e r k t e n d i e S c h l a f e n d e n al le , d a ß d e r N a c h ­t r a u m a m M o r g e n e i n w e n i g g e s t e u e r t w a r v o n b e w u ß t e n W ü n s c h e n . D a s N e o n l i c h t d e r N a c h k r i e g s z e i t , das d e r P r o ­m e t h e u s aus d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n g e b r a c h t h a t t e , w a r z u gre l l u n d z u f lach , als d a ß w i r u n s so r i c h t i g w i e d e r e i n g e f u n ­d e n h ä t t e n i n d i e T r a u m s t i m m u n g z w i s c h e n B l a u e r B l u m e u n d t e c h n i s c h e m P a r a d i e s . D i e s c h w e r v e r d a u l i c h e K o s t aus d e n soz ia l i s t i schen S t a a t e n , S ta l ins V a r i a n t e e i n e r real e x i s t i e ­r e n d e n M o d e r n e , lag d e n T r ä u m e r n i m W e s t e n , u n d , so sie n o c h t r ä u m t e n , a u c h i m O s t e n , a u f d e m M a g e n . D i e D e b a t t e d e r >Pos tmoderne< i n d e n 8 0 e r J a h r e n h a t s ch l i eß l i ch d i e A u r a d e s A u f w a c h e n s a n g e z e i g t . D i e G e g n e r p o s t m o d e r n e r T h e s e n s a h e n d i e A u f k l ä r u n g i n G e f a h r . Sie w a r e n d i e H ü t e r de s Schlafs . D i e A u f k l ä r e r w e h r t e n s ich g e g e n d i e H i s t o r i s i e r u n g d e r M o d e r n e , w e i l , i n d e r T a t , v e r g a n g e n ist, w a s z u G e ­s c h i c h t e w i r d . D o c h das A u f w a c h e n aus d e r M o d e r n e b e d e u ­te t n i c h t V e r z i c h t a u f A u f k l ä r u n g , s o n d e r n ist V e r s u c h , d e r e n

252

T r a u m g e d a n k e n k r i t i s c h z u d e u t e n . D i e s e s B u c h m ö c h t e a u f d ie R i s i k e n u n d N e b e n w i r k u n g e n e i n e r B e w u ß t s e i n s d r o g e h i n w e i s e n , d i e i m m e r w i e d e r i n U m l a u f k o m m e n k a n n .

G e s c h i c h t e w i r d g e s c h r i e b e n , d a m i t sie s ich n i c h t w i e d e r ­h o l e . Ist das n i c h t a u c h e r l ö s u n g s v e r d ä c h t i g ? F ü r B e n j a m i n , e i n e n M o d e r n e n , w a r d e r O r t de s A u f w a c h e n s d u r c h a u s u t o ­p i s c h e r A r t : i n e i n e m J e n s e i t s v o n G e s c h i c h t e als K a t a s t r o ­p h e n g e s c h i c h t e a n g e s i e d e l t . V o n s o l c h e n E n d z e i t e r w a r t u n g e n ist das n a c h m o d e r n e B e w u ß t s e i n a u s g e n ü c h t e r t . G e s c h i c h t l i ­c h e E r k e n n t n i s v e r m a g k e i n e B e r g e z u v e r s e t z e n . I m V o l l z u g h i s t o r i s c h e n V e r s t e h e n s w i r d allenfalls j e n e L e i c h t i g k e i t e r f ah rba r , m i t d e r S i s y p h u s ' Fels a u f d e r B e r g s p i t z e e i n e n A u g e n b l i c k z u t a n z e n s c h e i n t , b e v o r d i e S c h w e r k r a f t de s G e s c h e h e n s i n d e r Z e i t i h n w i e d e r u n v o r h e r g e s e h e n e B a h n e n s t ü r z e n l äß t .

253

D A N K

D a s K o n z e p t d ieses B u c h e s reif te w ä h r e n d d e r J a h r e m e i n e s U n t e r r i c h t s a m K u n s t g e s c h i c h t l i c h e n I n s t i t u t d e r U n i v e r s i t ä t B o c h u m . E i n F o r s c h u n g s s e m e s t e r i m W i n t e r 1 9 9 4 / 9 5 e r m ö g ­l i ch t e d i e N i e d e r s c h r i f t i n R o m . A n d e r H e r t z i a n a g a b e n m i r C h r i s t o p h L. F r o m m e l u n d M a t t h i a s W i n n e r e n t s c h e i d e n d e A n r e g u n g e n z u m Prolog im Himmel. F l o r e n s u n d K a r i n D e u c h -le r w a r i c h a m I s t i t u t o S v i z z e r o w i l l k o m m e n , w o L e o n i e H e u e r m i r d i e B i b l i o t h e k z u r i t a l i e n i s c h e n A r c h i t e k t u r d e r M o d e r n e e r s c h l o ß . G e r h a r d M e r z d a n k e i c h für e i n e n S o m m e r v o l l e r G e s p r ä c h e ü b e r K u n s t m i t B l i c k a u f d e n G a r t e n d e r T o s ­k a n a . W a l t h e r K ö n i g g a b m i r B u c h t i p s . M i c h a e l N a u m a n n u n d K a r l M a r k u s M i c h e l b o t e n m i r R ü c k h a l t als e r s te Leser . V o l k e r G e b h a r d t v o m D u M o n t B u c h v e r l a g d a n k e i ch d i e E n t ­s c h l o s s e n h e i t , das M a n u s k r i p t a n z u n e h m e n . I n k r i t i s c h e r L e k ­t ü r e h a t es Y v o n n e Par i s z u m B u c h g e m a c h t .

B . W . K ö l n , 8 . J u l i 1 9 9 6

254

A B B I L D U N G S V E R Z E I C H N I S

U m s c h l a g a b b i l d u n g : A r n o l d B ö c k l i n , Triton und Nereide, v o r 1874 ( D e t a i l ) , Ö l a u f L e i n w a n d , 1 0 5 , 3 x 194 c m , M ü n ­c h e n , B a y e r i s c h e S t a a t s g e m ä l d e s a m m l u n g e n , S c h a c k - G a l e r i e F o t o A r t o t h e k / B a y e r & M i t k o , P e i ß e n b e r g ) (vgl. A b b . S.

102)

Se i t e 2 / 3 : A d o l f v o n H i l d e b r a n d , Dionysos, u m 1 8 9 0 , T e r r a ­k o t t a , 145 x 145 x 2 2 c m , P r i v a t b e s i t z

Se i t e 8: J u s e p e d e P d b e r a , Apollo und Marsyas, 1637 , Ö l a u f L e i n w a n d , 180 x 2 3 2 c m , N e a p e l , M u s e o N a z i o n a l e

Se i t e 10: M i c h e l a n g e l o , Jüngstes Gericht (De t a i l ) , 1536—41, F r e s k o , R o m , V a t i k a n , S i x t i n i s c h e K a p e l l e ( F o t o A l i n a r i )

Se i t e 11 l i n k s : Apollo vom Belvedere, 2 6 , 4 x 16 ,2 c m , g e s t o ­c h e n v o n A g o s t i n o V e n e z i a n o ( F o t o B i b l i o t h e c a H e r t z i a n a , R o m )

Se i t e 11 r e c h t s : Belvederischer Torso, g e s t o c h e n v o n M i c h e l e M e r c a t i , aus : M e t a l l o t h e c a Va t i c ana , R o m 1718 , S. 3 6 6 ( F o t o B i b l i o t h e c a H e r t z i a n a , R o m )

Se i te 2 3 : M a r c e l l o V e n u s t i , D a n t e , Verg i l u n d M i c h e l a n g e l o als A u f e r s t e h e n d e , 1 5 4 9 , D e t a i l aus d e r K o p i e v o n M i c h e l ­ange los Jüngstem Gericht ( F o t o B i b l i o t h e c a H e r t z i a n a , R o m )

Se i t e 2 5 : T i z i a n , Apollo und Marsyas, u m 1570—76, Ö l a u f L e i n w a n d , 2 1 2 x 2 0 7 c m , K r o m e r i z , B i s c h ö f l i c h e s M u s e u m ( F o t o A r c h i v des A u t o r s )

Se i t e 3 0 : Ra f f ae l , Transfiguration (Verklärung Christi), 1 5 1 9 / 2 0 , Ö l a u f H o l z , 4 0 5 x 2 7 8 c m , R o m , V a t i k a n i s c h e M u ­seen , P i n a k o t h e k ( F o t o M u s e i V a t i c a n i , A r c h i v i o fo tog ra f i co )

Se i t e 3 9 o b e n : P i e t M o n d r i a n , Schafstall am Abend, 1907 , A q u a r e l l , 7 3 , 5 x 9 8 c m , B l a r i c u m , S a m m l u n g S. B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d n a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 3 9 u n t e n : P i e t M o n d r i a n , Wald bei Oele, 1907 , Ö l a u f L e i n w a n d , 1 2 8 x 2 5 8 c m , D e n H a a g , G e m e e n t e m u s e u m ( L e i h g a b e v o n S. B . Sli jper, B l a r i c u m ) © 1 9 9 7 A B C / M o n -d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 0 o b e n : P i e t M o n d r i a n , Düne, u m 1910 , Ö l a u f K a r ­t o n , 2 8 x 3 9 c m , B l a r i c u m , S a m m l u n g S. B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 0 u n t e n : P i e t M o n d r i a n , Der rote Baum, 1 9 0 9 / 1 0 , Ö l a u f L e i n w a n d , 7 0 x 9 9 c m , D e n H a a g , G e m e e n t e m u s e u m © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 1 : P i e t M o n d r i a n , Mühle am Wasser, u m 1 9 0 5 , Ö l a u f L e i n w a n d , a u f K a r t o n a u f g e z o g e n , 3 0 , 2 x 3 8 , 1 c m , N e w Y o r k , M u s e u m o f M o d e r n A r t ( F o t o © 1 9 9 7 T h e M u s e u m o f

255

M o d e r n A r t , N e w Y o r k © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 2 : P i e t M o n d r i a n , Kirchturm von Domburg, u m 1 9 0 9 , Ö l a u f L e i n w a n d , 114 x 7 9 c m , D e n H a a g , G e m e e n t e m u -s e u m © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 3 : P i e t M o n d r i a n s Victory Boogie Woogie i m N e w Y o r k e r A t e l i e r des K ü n s t l e r s , 1 9 4 4 , F o t o g r a f i e © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 4 : P i e t M o n d r i a n , Waldlandschaft, u m 1 9 0 3 / 0 5 , A q u a r e l l , 4 6 x 57 c m , B l a r i c u m , S a m m l u n g S. B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 4 8 : P i e t M o n d r i a n , Komposition mit Rot, Gelb und Blau, 1 9 2 1 , Ö l a u f L e i n w a n d , 3 9 , 5 x 3 5 c m , D e n H a a g , G e m e e n t e m u s e u m ( L e i h g a b e S. B . Sli jper, B l a r i c u m ) © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 5 3 : P i e t M o n d r i a n , V e r s c h i e d e n e K o m p o s i t i o n e n , aus : M i c h e l S e u p h o r , P i e t M o n d r i a n , L e b e n u n d W e r k , K ö l n 1957 , S. 3 9 3 © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 5 4 : V i n c e n t v a n G o g h , Bauernschuhe (Ein Paar Schuhe), 1 8 8 7 , Ö l a u f L e i n w a n d , 3 3 x 41 c m , T h e B a l t i m o r e M u s e u m o f A r t : T h e C o n e C o l l e c t i o n , f o r m e d b y D r . C l a r i b e l C o n e a n d M i s s E t t a C o n e o f B a l t i m o r e , M a r y l a n d

Se i t e 6 7 : P i e t M o n d r i a n , Pier und Ozean, 1 9 1 5 , Ö l a u f L e i n w a n d , 8 5 x 108 c m , O t t e r l o , P d j k s m u s e u m K r ö l l e r - M ü l -l e r © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 6 8 : P i e t M o n d r i a n , Komposition in Oval (Bäume), 1 9 1 3 , Ö l a u f L e i n w a n d , 9 4 x 7 8 c m , A m s t e r d a m , S tede l i jk M u s e u m © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 7 0 : P i e t M o n d r i a n , Leuchtturm, Westkapelle, u m 1 9 0 9 , Ö l a u f L e i n w a n d , 1 3 5 x 7 5 c m , B l a r i c u m , S a m m l u n g S. B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 7 5 : E d u a r d o C h i l l i d a , Windkämme, 1972—77, S t ah l , S a n Sebas t i an ( F o t o D o r o t h e a v a n d e r K o e l e n , M a i n z ) © V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 8 1 : E d v a r d M ü n c h , Allegorisches Porträt von Friedrich Nietzsche, 1 9 0 6 , Ö l a u f L e i n w a n d , 2 0 1 x 160 c m , S t o c k h o l m , T h i e l s k a G a l l e r i e t © T h e M ü n c h M u s e u m / T h e M ü n c h E l ­l i n g s e n G r o u p / V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 100 : A r n o l d B ö c k l i n , Selbstbildnis mit fiedelndem Tod, 1 8 7 2 , Ö l a u f L e i n w a n d , 7 5 x 61 c m , S taa t l i che M u s e e n z u B e r l i n - P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z , A l t e N a t i o n a l g a l e r i e ( F o t o B i l d a r c h i v P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z , B e r l i n )

Se i t e 1 0 2 : A r n o l d B ö c k l i n , Triton und Nereide, v o r 1874 , Ö l a u f L e i n w a n d , 1 0 5 , 3 x 194 c m , M ü n c h e n , B a y e r i s c h e S t a a t s ­g e m ä l d e Sammlungen, S c h a c k - G a l e r i e

256

Sei te 107 : H e i n r i c h W ö l f f l i n , K u n s t g e s c h i c h t l i c h e G r u n d ­begr i f fe . D a s P r o b l e m d e r S t i l e n t w i c k l u n g i n d e r n e u e r e n K u n s t , M ü n c h e n 1 9 2 3 , S. 5 0 / 5 1

Se i t e 1 0 8 : H e i n r i c h W ö l f f l i n , K u n s t g e s c h i c h t l i c h e G r u n d ­begr i f fe . D a s P r o b l e m d e r S t i l e n t w i c k l u n g i n d e r n e u e r e n K u n s t , M ü n c h e n 1 9 2 3 , S. 1 5 6 / 1 5 7

Se i t e 109 : H e i n r i c h W ö l f f l i n , K u n s t g e s c h i c h t l i c h e G r u n d ­begr i f fe . D a s P r o b l e m d e r S t i l e n t w i c k l u n g i n d e r n e u e r e n K u n s t , M ü n c h e n 1 9 2 3 , S. 2 0 4 / 2 0 5

Se i t e 115 : L e C o r b u s i e r , 1 9 2 2 , A u s b l i c k a u f e i n e A r c h i t e k ­tu r , h g . v. U l r i c h C o n r a d s / P e t e r N e i t z k e , B r a u n s c h w e i g / W i e s b a d e n ( V i e w e g ) 1 9 8 2 , (= B a u w e l t F u n d a m e n t e 2 ) , S. 110/111

Se i t e 1 2 6 : G o l d s c h m i e d e a r b e i t e n m i t G r a n a t e i n l a g e n , aus : A l o i s P d e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r ­r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , Tafel I

Se i t e 1 2 7 l i n k s : R o m , V a t i k a n , M a r m o r s a r k o p h a g m i t P e n -thes i l ea u n d Ach i l l , au s : A l o i s P i e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n ­d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 2 2 , S. 141

Se i t e 1 2 7 r e c h t s : R a v e n n a , M a u s o l e u m d e r Gal la P lac id ia , M a r m o r s a r k o p h a g , aus : A l o i s P i e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n ­d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 3 8 , S. 1 9 3

Se i t e 1 2 8 l i n k s : R o m , K o n s e r v a t o r e n p a l a s t , P o r t r ä t b ü s t e des L u c i u s A u r e l i u s C o m m o d u s , aus : A l o i s P d e g l , S p ä t r ö m i ­sche K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , S. 131

Se i t e 1 2 8 r e c h t s : R o m , K a p i t o l i n i s c h e s M u s e u m , M a r m o r ­k o p f des Ka i se r s G a i u s M e s s i u s Q u i n t u s T r a i a n u s D e c i u s , aus : A l o i s R d e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r ­r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 19 , S. 1 3 5

Se i t e 1 2 9 l i n k s : B e r l i n , K a i s e r F r i e d r i c h - M u s e u m , D i p t y ­c h o n t a f e l , aus : A l o i s P a e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 5 6 , S. 2 3 4

Se i t e 1 2 9 r e c h t s : W i e n , S a m m l u n g F i g d o r , K o p t i s c h e r G r a b s t e i n , aus : A l o i s R i e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 57 , S. 2 3 5

Se i t e 1 3 0 : A l o i s P d e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , S. 3 8 0 / 3 8 1

Se i t e 131 l i nks : R o m , L a t e r a n . S t a t u e des g u t e n H i r t e n , aus : A l o i s P a e g l , S p ä t r ö m i s c h e K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r ­r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 4 5 , S. 2 0 6

Se i t e 131 r e c h t s : K o n s t a n t i n o p e l , O t t o m a n i s c h e s M u s e u m , S t a t u e des g u t e n H i r t e n , aus : A l o i s R i e g l , S p ä t r ö m i s c h e

257

K u n s t i n d u s t r i e , W i e n ( Ö s t e r r e i c h i s c h e S t a a t s d r u c k e r e i ) 1927 , F ig . 4 6 , S. 2 0 7

Se i t e 1 3 2 : A d o l f H o e l z e l , Die Anbetung der Könige, 1 9 1 2 , Bleis t i f t , 3 2 , 5 x 2 5 , 7 c m , G a l e r i e d e r S t a d t S t u t t g a r t © 1 9 9 6 D o r i s D i e c k m a n n - H o l z e l , S t u t t g a r t

Se i te 134 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e i n e r I l lus t ra t ion z u G r i m m s M ä r c h e n u . K a n d i n s k y s G e ­m ä l d e Lyrisches, 1911 , Ö l / L e i n w a n d , 9 4 x 1 3 0 c m , R o t t e r d a m , M u s e u m B o y m a n s - v a n B e u n i n g e n © V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7 ; aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t . N e u a u s g . v. K l a u s L a n k h e i t , S. 3 4 / 3 5 © R . P i p e r Sc C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 1 3 5 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t d e m B i l d n i s e i n e s S t e i n m e t z e n , M a g d e b u r g e r D o m ( u m 1 2 1 0 ) , u n d e i n e r T a n z m a s k e aus B r a s i l i e n , aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 5 2 / 5 3 © R . P i p e r Sc C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 1 3 6 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t G a u g u i n s H o l z r e l i e f Pape Moe (Geheimnisvolle Wasser; E i c h e , g e s c h n i t z t u n d b e m a l t , 8 1 , 5 x 6 2 c m , P r i v a t b e s i t z ) u n d e i n e m a n t i k e n Rel ie f , Gorgo als Herrin der Tiere, e t r u s k i s c h -a rcha i sch , 6 . J h . v. C h r . , aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i ­s che N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 114/115 © R . P i p e r Sc C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 137: D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e i n e r H o l z p l a s t i k v o n d e n M a r q u e s a s - I n s e l n u n d e i n e m b a y e r i s c h e n G la sb i l d Maria mit dem Gottessohn, aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 6 6 / 6 7 © R . P i p e r Sc C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 145 l i nks : I n n e n r a u m m o d e l l de s e r s t e n G o e t h e a n u m s i n D o r n a c h , E n t w u r f v o n R u d o l f S t e i n e r , aus : H a g e n B i e -s a n t z / A r n e K l i n g b o r g , D a s G o e t h e a n u m - D e r B a u - I m p u l s R u d o l f S t e i n e r s , D o r n a c h (Verlag a m G o e t h e a n u m ) 1 9 7 8 , S. 2 3 © 1 9 9 6 Ver l ag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 145 r e c h t s : G r u n d r i ß des e r s t e n G o e t h e a n u m s , aus : W a l t e r K u g l e r , R u d o l f S t e i n e r u n d d i e A n t h r o p o s o p h i e , K ö l n ( D u M o n t ) 1 9 7 8 , S. 101 o b e n

Se i t e 148 o b e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m des e r s t e n G o e t h e a n u m s , Basis d e r e r s t e n S ä u l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 V e r ­lag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 148 u n t e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m des e r s t e n G o e t h e a n u m s , Basis d e r z w e i t e n S ä u l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 V e r l a g a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 149 : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m des e r s t e n G o e t h e a ­n u m s , Basis d e r d r i t t e n Säu l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 V e r l a g a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

258

Se i t e 150 o b e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m des e r s t e n G o e t h e a n u m s , Basis d e r v i e r t e n S ä u l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 Ver lag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 1 5 0 u n t e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m d e s e r s t e n G o e t h e a n u m s , Bas is d e r f ün f t en S ä u l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 Ver lag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 151 o b e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m des e r s t e n G o e t h e a n u m s , Basis d e r s e c h s t e n Säu l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 Ver lag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 151 u n t e n : S ä u l e n b a s e n i m A u d i t o r i u m d e s e r s t e n G o e t h e a n u m s , Bas i s d e r s i e b t e n S ä u l e , F o t o g r a f i e © 1 9 9 6 Ver lag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 1 5 4 : Heizhaus und Goetheanum, A q u a r e l l v o n H e r ­m a n n L i n d e , aus : H a g e n B i e s a n t z / A r n e K l i n g b o r g , D a s G o e ­t h e a n u m — D e r B a u - I m p u l s R u d o l f S t e i n e r s , D o r n a c h (Verlag a m G o e t h e a n u m ) 1 9 7 8 , S. 4 8 o b e n © 1 9 9 6 Ve r l ag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 155 l i n k s : Z w e i t e s G o e t h e a n u m , W e s t a n s i c h t , aus : H a g e n B i e s a n t z / A r n e K l i n g b o r g , D a s G o e t h e a n u m — D e r B a u - I m p u l s R u d o l f S t e i n e r s , D o r n a c h (Verlag a m G o e t h e a ­n u m ) 1 9 7 8 ; S. 6 5 u n t e n © 1 9 9 6 Ve r l ag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 155 r e c h t s : G r u n d m o t i v für das z w e i t e G o e t h e a n u m , W a n d t a f e l s k i z z e v o n R u d o l f S t e i n e r , aus : H a g e n B i e s a n t z / A r n e K l i n g b o r g , D a s G o e t h e a n u m — D e r B a u - I m p u l s R u d o l f S t e i n e r s , D o r n a c h (Ver lag a m G o e t h e a n u m ) 1 9 7 8 , S. 5 4 M i t t e © 1 9 9 6 Ver l ag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 156 : Z w i s c h e n k i e f e r k n o c h e n des Affen v o n v o r n u n d u n t e n , T u s c h f e d e r z e i c h n u n g , lav ier t , v o n d e m W e i m a r e r Z e i c h n e r W a i t z i n G o e t h e s A u f t r a g angefe r t ig t , aus : G o e t h e s W e r k e , H a m b u r g e r A u s g a b e i n 14 B ä n d e n , h g . v. E r i c h T r u n z , M ü n c h e n (Verlag C . H . B e c k ) 1 9 7 5 , B a n d X I I I , F ig . 11

Se i t e 157: G r u n d r i ß d e s z w e i t e n G o e t h e a n u m s , aus : W a l t e r K u g l e r , R u d o l f S t e i n e r u n d d i e A n t h r o p o s o p h i e , K ö l n ( D u M o n t ) 1 9 7 8 , S. 101 u n t e n

Se i t e 160 : P i e t M o n d r i a n , Evolution, T r i p t y c h o n , u m 1 9 1 1 , Ö l a u f L e i n w a n d , 178 x 8 4 , 184 x 8 7 u n d 178 x 8 4 c m , B l a r i ­c u m , S a m m l u n g S. B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 1 6 1 : P i e t M o n d r i a n , Sterbende Chrysantheme, u m 1 9 0 7 / 0 8 , Ö l a u f L e i n w a n d , 8 4 , 5 x 5 4 c m , B l a r i c u m , S a m m ­l u n g S . B . Sl i jper © 1 9 9 7 A B C / M o n d r i a n E s t a t e / H o l t z m a n T r u s t

Se i t e 162 : W a s s i l y K a n d i n s k y , Dame in Moskau, 1 9 1 2 , Ö l u n d D e c k f a r b e a u f L e i n w a n d , 1 0 9 , 5 x 1 0 9 , 3 c m , M ü n c h e n ,

259

S t ä d t i s c h e G a l e r i e i m L e n b a c h h a u s © V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 1 6 3 l i n k s u n d r e c h t s : Unbestimmte selbstlose Liebe / Ausbrechender Zorn, aus : A n n i e B e s a n t / C . W . L e a d b e a t e r , T h o u g h t - F o r m s , W h e a t o n / I l l . ( T h e T h e o s o p h i c a l P u b l i s h i n g H o u s e ) 1 9 8 6 , A b b . 9 u n d A b b . 2 2 / 2 3

Se i t e 1 6 4 : R u d o l f S t e i n e r , Der Menschheitsrepräsentant, A u s ­m a l u n g d e r k l e i n e n K u p p e l i m e r s t e n G o e t h e a n u m ( D e t a i l ) , aus : H a g e n B i e s a n t z / A r n e K l i n g b o r g , D a s G o e t h e a n u m — D e r B a u - I m p u l s R u d o l f S t e i n e r s , D o r n a c h (Ver lag a m G o e t h e a ­n u m ) 1 9 7 8 , S. 4 7 © 1 9 9 6 Ve r l ag a m G o e t h e a n u m , D o r n a c h

Se i t e 1 6 5 : M i c h e l a n g e l o , Die Erschaffung Adams ( D e t a i l ) , 1508—12, F r e s k o , R o m , V a t i k a n , S i x t i n i s c h e K a p e l l e ( F o t o A n d e r s o n , R o m )

Se i t e 166 : Wass i l y K a n d i n s k y , Drei Klänge, Nr. 343, 1 9 2 6 , Ö l a u f L e i n w a n d , 6 0 x 5 9 , 3 c m , N e w Y o r k , T h e S o l o m o n R . G u g g e n h e i m M u s e u m ( F o t o D a v i d H e a l d ) © V G B i l d -K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 167 l i n k s : Wass i l y K a n d i n s k y , Landschaft mit Kirche I, 1 9 1 3 , Ö l a u f L e i n w a n d , 7 8 x 100 c m , E s s e n , M u s e u m F o l k -w a n g © V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 167 r e c h t s : O u v e r t ü r e z u P d c h a r d W a g n e r s Meistersin­gern, aus : A n n i e B e s a n t / C . W . L e a d b e a t e r , T h o u g h t - F o r m s , W h e a t o n / I l l . ( T h e T h e o s o p h i c a l P u b l i s h i n g H o u s e ) 1 9 8 6 , A b b . v o r S. 71

Se i t e 168 : Plötzliche Angst, au s : A n n i e B e s a n t / C . W . L e a d ­b e a t e r , T h o u g h t - F o r m s , W h e a t o n / I l l . ( T h e T h e o s o p h i c a l P u b l i s h i n g H o u s e ) 1 9 8 6 , A b b . 2 7

Se i t e 1 7 1 : H i p p o l y t e B a r a d u c , I k o n o g r a p h i e , e n t s t a n d e n w ä h r e n d d e r P r o z e s s i o n v o r d e r M a r i e n s t a t u e , L o u r d e s , v o r 1 9 0 9 , aus : R o l f H . K r a u s s , J e n s e i t s v o n L i c h t u n d S c h a t t e n , M a r b u r g ( Jonas-Ver lag) 1 9 9 2 , S. 5 5 © 1 9 9 6 J o n a s - V e r l a g

Se i t e 179 : F r a n z M a r c , Tierschicksale ( Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern ) , 1 9 1 3 , Ö l a u f L e i n w a n d , 196 x 2 6 6 c m , Base l , K u n s t m u s e u m ( F o t o Ö f f e n t l i c h e K u n s t s a m m l u n g Base l )

Se i t e 1 8 1 : Wass i l y K a n d i n s k y u n d F r a n z M a r c , Der Blaue Reiter, F r o n t i s p i z u n d T i t e l s e i t e d e s A l m a n a c h s , aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k ­h e i t © R . P i p e r & C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 182 : G a b r i e l e M u n t e r , Stilleben mit Heiligem Georg, 1 9 1 1 , Ö l a u f P a p p e , 51,1 x 6 8 c m , M ü n c h e n , S t ä d t i s c h e G a l e ­r i e i m L e n b a c h h a u s © V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 1 8 3 : Wass i l y K a n d i n s k y , E n d g ü l t i g e r U m s c h l a g e n t ­w u r f für d e n A l m a n a c h Der Blaue Reiter, 1 9 1 1 , A q u a r e l l ,

260

T u s c h e , Blaus t i f t u n d Bleis t i f t a u f P a p i e r , 27 ,7 x 2 1 , 9 c m , M ü n c h e n , S t ä d t i s c h e G a l e r i e i m L e n b a c h h a u s © V G B i l d -K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 184 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e i n e r A b b i l d u n g aus d e r L ü b e c k e r B i b e l , L ü b e c k , 1 4 9 4 : Die Juden mit der Bundeslade an den Mauern Jerichos, aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k -h e i t , S. 2 1 2 / 2 1 3 © R . P i p e r & C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 1 8 5 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e i n e r L i t h o g r a p h i e , f r anzös i sch (?), 19 . J h . , u n d e i n e r A b b i l d u n g aus d e r N ü r n b e r g e r B i b e l , 1 4 8 3 , Die babylonische Hure, aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 2 1 4 / 2 1 5 © R . P i p e r & C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 186 : D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t e i n e r j a p a n i s c h e n F e d e r z e i c h n u n g u n d d e r S k u l p t u r Törichte Jungfrau v o n d e r P a r a d i e s p f o r t e des M a g d e b u r g e r D o m s , u m 1240—50, aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 1 8 2 / 1 8 3 © R . P i p e r & C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 187: D o p p e l s e i t e aus d e m A l m a n a c h Der Blaue Reiter m i t R o b e r t D e l a u n a y s Eiffelturm, 1 9 1 0 / 1 1 , Ö l / L e i n w a n d , M a ­ß e u n b e k a n n t , e h e m . B e r l i n , S a m m l u n g K o e h l e r ( i m Z w e i t e n W e l t k r i e g z e r s t ö r t © J . - L . D e l a u n a y , Pa r i s ) , u n d E l G r e c o s Hl Johannes dem Täufer, Ö l a u f L e i n w a n d , 110 x 7 0 c m , e h e m . B e r l i n , S a m m l u n g K o e h l e r ( i m Z w e i t e n W e l t k r i e g ze r s tö r t ) aus : D e r B l a u e R e i t e r , d o k u m e n t a r i s c h e N e u a u s g a b e v o n K l a u s L a n k h e i t , S. 6 8 / 6 9 © R . P i p e r & C o . Ver lag , M ü n c h e n 1 9 6 5

Se i t e 1 9 5 : L e C o r b u s i e r , P l a n V o i s i n d e Pa r i s , 1 9 2 5 , aus : L e C o r b u s i e r , CEuvres c o m p l e t e s , B d . I, 1 9 1 0 - 1 9 2 9 , Z ü r i c h 1 9 6 4 , © F L C / V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 196 : L e C o r b u s i e r , P l a n V o i s i n d e Pa r i s , 1 9 2 5 , aus : L e C o r b u s i e r , CEuvres c o m p l e t e s , B d . I, 1 9 1 0 - 1 9 2 9 , S. 109 © F L C / V G B i l d - K u n s t , B o n n 1 9 9 7

Se i t e 199 : M u s s o l i n i s e r s t e r P i c k e l h i e b z u m A b b r u c h des W o h n q u a r t i e r s für d i e V i a d e l l ' I m p e r o , F o t o g r a f i e aus : D a ­n i e l e M a n a c o r d a / R e n a t o T a m a s s i a , Ii p i c c o n e de l r e g i m e , R o m ( A r m a n d o C u r c i o E d i t o r e ) 1 9 8 5 , S. 1 8 3

Se i t e 2 0 8 o b e n l i n k s : G i u s e p p e T e r r a g n i , D a n t e u m , R o m , P r o j e k t z e i c h n u n g , A u ß e n a n s i c h t . M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i ­g u n g d e s Ver lages aus B r u n o Z e v i , G i u s e p p e T e r r a g n i , B o l o ­g n a ( N i c o l a Z a n i c h e l l i E d i t o r e S .p .A. ) 1 9 8 0

Se i t e 2 0 8 o b e n r e c h t s : G i u s e p p e T e r r a g n i , D a n t e u m , R o m , P r o j e k t z e i c h n u n g , P e r s p e k t i v e des H o f e s u n d des S ä u l e n g a n -

261

ges d e r >100 Säulen<. M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g des V e r ­lages aus : B r u n o Z e v i , G i u s e p p e T e r r a g n i , B o l o g n a ( N i c o l a Z a n i c h e l l i E d i t o r e S .p .A. ) 1 9 8 0

Se i t e 2 0 8 / 2 0 9 : G i u s e p p e T e r r a g n i , D a n t e u m , R o m , P r o ­j e k t z e i c h n u n g , Q u e r s c h n i t t , L ä n g s s c h n i t t e u n d G r u n d r i s s e v e r s c h i e d e n e n N i v e a u s . M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g des Ver lages aus : B r u n o Z e v i , G i u s e p p e T e r r a g n i , B o l o g n a ( N i ­co la Z a n i c h e l l i E d i t o r e S .p .A. ) 1 9 8 0

Se i t e 2 1 0 : G i u s e p p e T e r r a g n i , D a n t e u m , R o m , P r o j e k t ­z e i c h n u n g e n für H ö l l e , P u r g a t o r i u m u n d P a r a d i e s , P e r s p e k t i ­v e n a u f u n t e r s c h i e d l i c h e n N i v e a u s . M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h ­m i g u n g des Ver lages aus : B r u n o Z e v i , G i u s e p p e T e r r a g n i , B o l o g n a ( N i c o l a Z a n i c h e l l i E d i t o r e S .p .A. ) 1 9 8 0

Se i t e 2 1 3 : G i u s e p p e T e r r a g n i , D a n t e u m , R o m , P r o j e k t ­z e i c h n u n g , I n n e n a n s i c h t . M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g des Ver lages aus : B r u n o Z e v i , G i u s e p p e T e r r a g n i , B o l o g n a ( N i c o l a Z a n i c h e l l i E d i t o r e S .p .A. ) 1 9 8 0

Se i t e 2 2 6 : K a i s m i r M a l e w i t s c h , Gelbes Viereck auf Weiß, 1 9 1 7 / 1 8 , Ö l a u f L e i n w a n d , 106 x 7 0 , 5 c m , A m s t e r d a m , S t e -de l i jk M u s e u m

Se i t e 2 3 3 l i nks : B e i s p i e l für M a l e w i t s c h s >Archi tektona<, 1 9 2 4 - 2 8 ( F o t o S tede l i jk M u s e u m A m s t e r d a m )

Se i t e 2 3 3 r e c h t s : B e i s p i e l für M a l e w i t s c h s >Archi tektona<, 1 9 2 4 - 2 8 ( F o t o A r c h i v D u M o n t )

Se i t e 2 3 4 : K a s i m i r M a l e w i t s c h , Suprematismus, 1 9 1 5 , Ö l a u f L e i n w a n d , 101 ,5 x 6 2 c m , A m s t e r d a m , S tede l i jk M u s e u m

Se i t e 2 3 9 : K a s i m i r M a l e w i t s c h a u f d e m T o t e n b e t t i n s e i n e r L e n i n g r a d e r W o h n u n g , 1 9 3 5 F o t o g r a f i e , aus : K a t a l o g K a s i m i r M a l e w i t s c h , W e r k u n d W i r k u n g , h g . v. E v e l y n W e i s s , K ö l n ( D u M o n t ) 1 9 9 5 , S. 2 4 9

Se i t e 2 4 0 : K a s i m i r M a l e w i t s c h , Selbstporträt als Renaissance­mensch, 1 9 3 3 , Ö l a u f L e i n w a n d , 7 3 x 6 6 c m , St. P e t e r s b u r g , S taa t l i ches R u s s i s c h e s M u s e u m

262

REGISTER

Die kursiv gesetzten Sei tenzahlen bez iehen sich auf die Seiten mi t

Abb i ldungen .

A d o r n o , T h e o d o r W . 15, 77, 87, 9 5 , 157 A g a t h o n 19 Alkibiades 18 A n g e l i , D . 12 Apol l inai re , G u i l l a u m e 187f. Are t i no , P ie t ro 12 Ar i s tophanes 19 A r p , H a n s 7 3 Äschylus 27, 31 Augus tus , r ö m . Kaiser 198, 2 0 5

Balzac, H o n o r e de 106, 2 5 0 Baraduc , H i p p o l y t e 171 f., 171 Barlach, E rns t 100 Barolsky, Paul 13 Bar te tzko , D i e t e r 2 4 9 B ä t s c h m a n n , O s k a r 8 1 , 88 Bauer , R o g e r 129 Becquere l , A n t o i n e H e n r i 170 B e n e v o l o , L e o n a r d o 2 0 4 Ben jamin , Wal t e r 7 2 , 128f. Beno i s , A lexande r Nikola i jewi tsch 2 2 3 B e r e n s o n , B e r n a r d 112 Berg , A lban 140 Bergson , H e n r i 7 9 , 122, 191, 2 5 2 B e r n h a r d v o n C la i rvaux 21 B e r n i n i , G ian L o r e n z o 88 Ber to lucc i , B e r n a r d o 199 Besant , A n m e 161, 163, 163, 165, 167f, 171, 2 5 2 Beuys , J o s e p h 160 Bill, M a x 7 7 , 1 5 9 , 1 6 7 Bi l l ington , J a m e s 184 Blavatsky, H e l e n a 67, 9 9 , 165, 168f. B loch , M a r c 2 5 2 B l u m , Suzanne 60 B l u m e n b e r g , H a n s 3 6 B o c c i o n i , U m b e r t o 178 Böck l in , A r n o l d lOOff., 100, 102

263

B o e h m , Got t f r ied 80 B o l l n o w , Fr iedr ich 77 B o n a v e n t u r a , hl . ( Johannes Fidanza) 2 3 B o t h n e r , R o l a n d 177ff. B o w n , M a t t h e w C u l l e r n e 2 3 8 B r a q u e , Georges 7 3 , 2 5 0 B r o n z i n o , A g n o l o 106f , 107, 118 B ü d i n g e r , M a x 123f. B u r c k h a r d t , J a c o b 2 9 , 116 Burge r , Fr i tz 117 Buschor , E r n s t 109

Calder , A lexande r 2 5 2 Car rä , Ca r lo 178 Casque t , J o a q u i n 2 5 0 Caval ier i , T o m m a s o 2 2 Ce l an , Paul 77

C e z a n n e , Paul 3 3 , 5 0 , 54 , 7 3 , 79 , 8 1 , 117, 138 , 2 2 0 , 2 2 2 , 2 5 0 Chagal l , M a r c 2 3 6 C h a r c o t , J e a n M a r t i n 169 Chi l l ida , E d u a r d o 7 3 - 7 6 , 7 5 C i u c c i , G io rg io 216 Clair , J e a n 231 C o l b e r t , J ean-Bap t i s t e 197 C o l o n n a , Vi t tor ia 2 2 , 24 C o n d i v i , Ascanio 13 C o o k , F lo rence 170 C o r l e t t , A l f 172 C r o c e , B e n e d e t t o 124, 126f , 214 C r o o k e s , Sir W i l l i a m 170 C u r i e , M a r i e 169f. C u r i e , P ie r re 170 C u r t i u s , L u d w i g 100, 115

D a n t e Al ighier i 13 , 21ff., 23, 2 0 6 - 2 1 5 D a r w i n , Char les 156 D e C h i r i c o , G io rg io 2 0 0 De lac ro ix , E u g e n e 3 3 , 2 2 2 Delaunay , R o b e r t 186f , 187 D e r r i d a , Jacques 60f. Descar tes , R e n e 74, 174 D i t t m a n n , Lo renz 80 D i x o n J o h n W . J r . 23f. D o e s b u r g , T h e o van 59 , 84 Dresler , E m i 159

264

D u c h a m p , Marce l 4 5 , 7 9 , 87, 251 D ü r e r , A lb rech t 9 5 D u v e , T h i e r r y de 8 7 , 2 5 1 D v o r a k , M a x 86 , 112

E h r e n b u r g , Ilja 59 Eichendorff , J o s e p h v o n 139 Eiffel, Gus tave 2 2 3 Ensor , J a m e s 219 Es t e rmann- Juch le r , M a r g r i t 201 f., 2 0 4

Fa lkenhausen , Susanne v o n 2 0 0 Farinell i , A r t u r o 13 Fein inger , Lyonel 159 Fe ldhusen , R u t h 11 Figini , Luigi 198 Flauber t , Gustave 2 2 0 Fra Ange l i co 14 Franz , E r i ch 180 Frei , U r s - B e a t 251 Fre t te , G u i d o 198 F reud , S i g m u n d 16, 3 2 , 101 , 123 , 2 5 2 Frey, Car l 12 F u s s m a n n , Klaus 15

G a d a m e r , H a n s - G e o r g 81 Galvani , Luigi 147 G a n z , Pe te r 65 Garbol i , Cesare 125 G a u g u i n , Paul 134, 136, 136 Gent i l e , G iovann i 2 0 7 G e o r g e , Stefan 21f , 140, 2 0 9 , 215 G e r m e r , Stefan 2 0 6 G e t h m a n n - S i e f e r t , A n n e m a r i e 7 3 G i d e , A n d r e 138 Giesler, Mar i a 159 Gi lkerson , A n n 7 Girard i , E n z o N o e 2 2 Goebbe l s j o s e p h 2 4 2 , 249f. G o e t h e , J o h a n n Wol fgang v o n 123 , 142f, 145ff, 153 , 155f ,

156, 159, 1 6 2 , 1 6 4 , 174, 177 G o g h , T h e o van 58 G o g h , V i n c e n t van 3 3 , 37, 54, 57f , 60 f , 138 , 2 2 2 G ö r i n g , H e r m a n n 66 , 191, 2 4 2 , 2 5 0 G r e c o , E l 186ff, 187

265

G r e e n b e r g , C l e m e n t 78 Greens t e in , Jack M . 11, 22f. Gr iesebach , Augus t 100 G r i m m , G e b r ü d e r 133 , 134 G r i m m , H e r m a n n 111 G r o p i u s , Wal t e r 5 9 , 67, 8 6 , 2 3 6 Groys , B o n s 2 3 9 , 241 f.

H a b e r m a s , J ü r g e n 60 H a f t m a n n , W e r n e r 2 2 4 , 2 2 7 H a m a n n , R i c h a r d 9 3 , 2 4 9 H a m d o r f , W i l h e l m 7 Har r i e s , Kars ten 177 H a r t m a n n , T h o m a s v o n 1 4 0 , 1 5 9 H e b e l , J o h a n n Peter 7 3 H e g e l , G e o r g W i l h e l m Fr iedr ich 27, 6 5 , 105f , 108, 111, 114,

121f , 124, 127f., 174 He idegge r , M a r t i n 27, 35ff , 4 1 , 4 3 - 4 7 , 4 9 - 5 2 , 5 4 - 7 9 passim,

86 , 9 5 , 9 8 , 109£ , 133 , 143, 161, 2 4 4 , 2 5 0 Hei l iger , B e r n h a r d 74 H e i n , Peter U l r i c h 2 4 3 , 2 5 0 H e i n r i c h VII . , r ö m . Kaiser 2 0 7 H e l d , H e i n z - G e o r g 125 H e n n i n g e r , G e r d 188 Herak l i t 95 H e r m a n d j o s t 9 3 , 2 4 9 Hersche l , Sir J o h n Freder ick W i l l i a m 114 H e r t z , W i l h e l m G. 1 3 , 2 0 9 Hess , Wa l t e r 2 2 0 He tze r , T h e o d o r 7 3 , 109

H i l d e b r a n d , Ado l f v o n 2/3, 103 , 109, 115, 126 , 2 4 8 Hi l l , E d 60 H i n s k e , N o r b e r t 157 Hi t ler , A d o l f 6 5 , 69ff, 8 5 , 2 0 0 , 207, 2 4 3 , 2 4 9 Hoe lze l , Ado l f 117, 132, 178 H o f m a n n , W e r n e r 7, 2 4 , 102, 110 H ö l d e r l i n j o h a n n Chr i s t i an Fr iedr ich 4 5 , 54 , 62f , 6 5 , 79 H o m e r 2 3 , 6 5 , 9 3 H o r k h e i m e r , M a x 9 5 , 157 H u g o , Vic to r 15 H u s e , N o r b e r t 193 Husser l , E d m u n d 79

Ibsen, H e n r i k 138 I m d a h l , M a x 80

266

Ingold , Felix Ph i l ipp 2 3 8 Ingres , J e a n Augus t e D o m i n i q u e 3 3 , 2 2 2 I t ten , J o h a n n e s 1 1 7 , 1 5 9 , 2 3 5

Jaffe, H a n s 3 3 , 221 J ä h n i g , D ie t e r 73f. J a m m e , C h r i s t o p h 177 J a n t z e n , H a n s 7 3 , 109 Jaspers , Kar l 6 4 , 100 Jawlensky, Alexej v o n 142 Jeanne re t , P ie r re 197 J e a n Paul 218 J ü n g e r , E rns t 2 4 9 Jus t i , Car l 11, 111

Kafka, Franz 92

Kand insky , Wassily 3 3 , 5 2 , 82 , 99 , 114, 117, 132£ , 134, 136, 142, 158f , 1 6 1 - 1 6 9 , 162, 166f, 172, 176£, 180, 1 8 2 - 1 8 6 , 183, 2 2 1 , 2 3 1 , 2 3 5 , 2 4 1 , 2 4 7 £ , 2 5 2

K a n t , I m m a n u e l 80 , 8 5 , 1 1 9 - 1 2 2 , 124, 157, 175, 2 2 1 , 2 2 7 K e m p , Wol fgang 84 Kereny i , Karl 7, 94 Klee , Paul 7 3 , 7 9 , 1 5 9 , 2 5 2 Kleopa t ra VII . , ägyptische K ö n i g i n 2 0 4 Kl imt , Gus tav 116 Krauss , R u d o l f 170 Krauss , W e r n e r 100 K r i s h n a m u r t i , J i d d u 165f. K r u t s c h o n y c h , Alexei 2 2 2 K u h n , D o r o t h e a 156 K ü r n b e r g e r , F e r d i n a n d 94

La Cava, Francesco 11 Landfester, Manf r ed 2 7 Lankhe i t , Klaus 176, 189, 2 4 4 Laplace, P ie r re S i m o n , Marqu i s de 175 Larco, Sebast iano 198

Le C o r b u s i e r 7 1 , 7 3 , 9 8 , 115, 154, 1 9 2 - 1 9 9 , 195f, 201 Leadbeater , C . W . 161, 163 , 163, 161j., 171 Leibniz , Got t f r ied W i l h e l m 141 Len in , W l a d i m i r Iljitsch 158, 2 2 8 f , 2 3 3 £ , 2 3 7 - 2 4 0 Lessing, T h e o d o r 91 L e v y - B r u h l , L u c i e n 2 5 2 Libera, Ada lbe r to 198 Lichtens te in , R o y 2 5 2

267

Lich tens te rn , Chr i s t a 143 L inde , H e r m a n n 154 Linger i , P ie t ro 2 0 0 , 216 Liss i tzky,El 5 9 , 2 3 5 Locher , H u b e r t 104 L ö h n e y s e n , Wol fgang v o n 2 9 L o n g h i , R o b e r t o 1 2 4 - 1 2 8 Louis XIV. , franz. K ö n i g 197 L ö w i t h , Kar l 65 Lukäcs , G e o r g 94 Lurz , M e i n o l d 104, 117

M a c k e , Augus t 52 , 138f. Mae te r l inck , M a u r i c e 138, 140 M a g n u s s o n , Ceci l ia 11 M a g r i t t e , R e n e 61 M a i o , R o m e o de 12 Majakowski , W l a d i m i r W l a d i m i r o w i t s c h 2 3 5 Malewi t sch , Kas imi r Sewer inowi t sch 59f , 8 4 , 86 , 97, 2 2 2 - 2 4 2

passim, 226, 233f, 2 3 5 , 239f, 2 4 6 , 2 4 8 M a l r a u x , A n d r e 13f. M a n a c o r d a , Dan ie l e 2 0 5 M a r c , Franz 132ff, 159, 1 7 6 - 1 8 2 , 179, 1 8 7 - 1 9 2 , 216 , 2 3 1 , 244f. M a r c a d e , J e a n - C l a u d e 231 M a r i n e t t i , T o m m a s o 6 9 , 97f , 125 , 193 , 2 0 0 , 2 2 3 M a r k Aure l , r ö m . Kaiser 2 0 4 M a r x , Karl 2 0 4 , 2 2 8 Mat jusch in , Micha i l 2 2 2 , 2 2 4 M a x i m i l i a n I., r ö m . Kaiser 155 M e e g e r e n , H a n A n t h o n i u s van 117 M e n d e l s o h n , E r i ch 154 Merca t i , M i c h e l e 11 Miche l ange lo B u o n a r r o t i 10, l l f f , 2 0 - 2 4 , 23, 114, 165, 165,

1 7 4 , 2 1 1 , 2 1 5 , 2 4 6 Mil le t , J e a n - F r a n c o i s 57 M i r 6 , J o a n 2 5 2 M o m b e r t , Alfred 140 M o n d r i a n , Pie t 27, 2 9 , 3 3 , 3 5 , 37f , 39f, 4 1 , 41, 42, 4 3 - 4 6 , 43f,

4 8 - 5 2 , 48, 54, 5 6 , 59 f , 6 6 - 7 2 , 67f, 70, 76f , 7 9 , 86 f , 9 3 , 95ff , 160f, 160f, 177, 2 0 8 , 214f , 2 2 1 , 2 3 2 , 245f., 247 f , 251

M ö n i g , R o l a n d 180 More l l i , G iovann i 113 M ü n c h , Edvard 81 ff., 81, 84 M u h o z , A n t o n i o 2 0 2 , 2 0 4 M ü n s t e r m a n n , Chr i s t a 16

268

M u n t e r , Gabr ie le 158, 182, 182 Musso l in i , B e n i t o 70 , 198, 2 0 0 - 2 0 5 , 199, 207 , 2 0 9 , 214, 216 ,

2 4 2 , 2 4 6 M u z i o , G iovann i 2 0 0

N a p o l e o n I. B o n a p a r t e 65 N e u m a n n , J a r o m i r 24 N e w m a n , B a r n e t t 7 8 N e w t o n , Isaac 76 , 147 N ie t z sche , Fr iedr ich 1 6 - 2 0 , 2 6 - 2 9 , 31-37 , 77, 79 , 8 1 £ , 81, 8 4 ,

94ff., 9 8 , lOOff., 110, 176 -179 , 190£ , 218 , 2 3 1 , 247£ Nie t z sche , M a r i a 81

O b e r e r , Ha r io l f 80 , 111 O c h i n o , B e r n a r d o 24 O j e t t i , U g o 2 0 7 O r w e l l , G e o r g e 65 O t t o , Wal t e r F. 7 , 9 4 O v i d (Publ ius O v i d i u s Naso ) 19

Panofsky, E r w i n 80 , 8 2 , 89 , 9 3 , 111, 1 1 9 - 1 2 2 , 125 P a r m e n i d e s 128 Passavant, J o h a n n D a v i d 2 3 Patinier , J o a c h i m 108 Paul , J e a n s. J e a n Paul P e h n t , Wol fgang 154 Perraul t , C l a u d e 197 Per r ig , A lexande r 11 Pfammat te r , U e l i 1 9 8 - 2 0 1 , 2 0 6 P iacen t in i , Marce l lo 2 0 0 Picasso, Pablo 14, 9 9 , 2 2 3 , 2 5 0 Piper , R e i n h a r d 183 P i t t i , M . 12 P ia ton 18, 35ff , 5 2 , 6 9 , 147, 182, 192 Pl in ius d. Ä. , Gaius S e c u n d u s P. 2 2 2 Pöggeler , O t t o 7 3 , 177 Pol l ini , G i n o 198 Pol lock, Jackson 77 Poss, Alessandro 2 0 6 Pouss in , Nico las 2 2 2 Preiss, A c h i m 2 0 6

Raffael 2 3 , 2 6 , 2 9 - 3 2 , 30, 34 , 37, 178, 221 R a n k e , L e o p o l d v o n 99 R a s i n , S tenka 1 8 3 , 1 8 6

269

R a v a , Ca r lo E n r i c o 198 R e d i g de C a m p o s , D e o c l e c i o 13 , 2 2 R e i n h a r d t , A d 77 R i b e r a , J u s e p e de 8 £ , 8, 11 R i c c i , C o r r a d o 2 0 2 R i c h e l i e u , A r m a n d J e a n d u Plessis 197 R i c h e t , Char les 170 R i e g l , Alois 80 , 8 6 , 8 8 , 9 9 , 109, 119, 122ff., 1 2 6 - 1 3 3 , 126-131,

144 R i e s e n , H a n s v o n 2 2 4 R i l k e , R a i n e r M a r i a 52 R i n g b o m , Sixten 165 R o d t s c h e n k o , Aleksandr Michaj lowi tsch 2 3 5 R o h , Franz 100 R ö s c h , E r i c h 19 R o s e n b e r g , Alfred 61 , 191, 2 4 2 , 2 5 0 R o t h k o , M a r k 7 8 , 2 5 2 R u b e l , Ira 133 R u b e n s , Pe ter Paul 2 2 2 Ru i sdae l , J a c o b van 108 R u m o h r , Car l F r iedr ich v o n 118 R u t h e r f o r d , E r n e s t 1 2 3 , 168 R y k w e r t , J o s e p h 2 3 6

Sabanejew, L e o n i d 140 Säf lund, Gös ta 11 Safranski, R ü d i g e r 64f. Sa in t -Exupe ry , A n t o i n e de 97 Salis, A r n o l d v o n 11 Salvini, R o b e r t o 12 Sauerländer , Wil l iba ld 129 Schapi ro , M e y e r 60 Scheerbar t , Paul 154

Schell ing, Fr iedr ich W i l h e l m J o s e p h 6 5 , 84 Schiele, E g o n 117 S c h l e m m e r , O s k a r 117, 159 Schmid t , G e o r g 7 3 Schmid t , J o c h e n 18 Schmid t -Be rge r , U t e 18 Schmi tz , N o r b e r t 104, 117 Schönbe rg , A r n o l d 140f, 213 Schopenhaue r , A r t h u r 2 8 , 31f , 96 , 9 9 , 102, 104, 110, 121 , 141,

160, 169, 171-177 , 2 1 8 - 2 2 1 , 2 2 4 f , 227 , 229ff , 2 5 0 Schtschussew, Alexei 237 Schube r t , Franz 141

270

Schumache r , T h o m a s L. 2 0 6 , 212ff., 216f. Schure , E d o u a r d 158, 168 Sedlmayr, H a n s 6 3 Semper , Got t f r ied 110, 130 Seuphor , M i c h e l 3 8 , 43 f , 4 8 £ , 51 , 54, 5 6 , 68 f , 71 Severini , G i n o 178 Sievers, M a r i e v o n 158 S i m m e l , G e o r g 123 S imson , O t t o v o n 11 Sironi , M a r i o 208f. Sloterdijk, Peter 17, 19 S m y t h , C ra ig H u g h 7 Sokrates 18f, 27 Speer, Alfred 2 0 0 Spengler , O s w a l d 6 4 , 105, 197, 2 4 9 Sperl ich, M a r t i n 15 Spinoza , B a r u c h 174, 201 Stachelhaus , H e i n e r 2 2 3 f , 237f. Stalin, Iossif Wis sa r ionowi t s ch 70 , 2 4 0 , 2 4 2 Steffen, U w e 189 Ste inberg , Leo 2 4 Steiner , R u d o l f 1 4 2 - 1 4 6 , 145, 1 5 3 - 1 6 0 , 155, 163 , 164, 165,

168f, 1 7 2 , 1 7 4 , 176, 1 8 3 , 2 3 1 S t e i n m a n n , E rns t 12f. S te rnberger , D o l f 100 Strakosch, A lexande r 159 Stuck, Franz v o n 114, 132 Sullivan, Louis H e n r y 62 S z e e m a n n , Hara ld 97

Ta ine , H i p p o l y t e 105 Tamassia, R e n a t o 2 0 5 Tanguy , Yves 2 5 2 Tat l in , W l a d i m i r Jewgrafowi t sch 5 9 , 2 3 5 , 2 3 7 Tavel, C h r i s t o p h v o n 133 T e r b o r c h , Ge ra rd d j . 8 8 Ter ragn i , G iuseppe 198, 2 0 0 , 2 0 6 - 2 0 9 , 208-210, 213, 2 1 1 - 2 1 6 ,

2 4 5 f T h o m a s v o n A q u i n , hl . 2 3 , 3 5 T h ü r l e m a n n , Felix 8 2 , 132f , 187f. T i e d e m a n n - B a r t e l s , Hel la 129 Tiz ian 10, 24f , 25, 3 7 , 2 2 2 Tolnay, Char les 11, 13 , 22 Tro t zk i , Leo 2 4 2 T u r m a k i n , N i n a 2 3 8

271

Valdamer i , R i n o 2 0 6 Valdes, J u a n de 2 4 Vasan , G io rg io 12£ , 106, 111, 114 Veläzquez, D i e g o R o d r i g u e z de Silva y 37, 106, 101, 118 Venez i ano , A g o s t i n o 11 Venus t i , Marce l lo 23 Verdier , Ph i l ippe 12 Vergil (Publ ius Vergilius M a r o ) 2 2 £ , 23, 214 Verheyen , E g o n 8 0 , 1 1 1 V e r m e e r , J a n 117 V i k t o r E m a n u e l III. , ital. K ö n i g 2 0 5 Vi t ruv ius 198 Volkelt , J o h a n n e s 104 Volta, Alessandro 147

W a g n e r , C o s i m a 19, 2 6 W a g n e r , R i c h a r d 2 6 , 2 8 , 77, 9 6 , 142, 167, 161, 221 W a n k m ü l l e r , R i k e 156 W a r h o l , A n d y 7 8 , 1 1 6 W a r n k e , M a r t i n 100, 113, 125 , 2 5 2 W e b e r , Alfred 100 W e b e r n , A n t o n v o n 140 Weizsäcker , Car l F r i ed r i ch v o n 156 Wif fen , B e n j a m i n 24 W i n c k e l m a n n , J o h a n n J o a c h i m 2 9 , 107 W i n d , E d g a r 16 W i n g l e r , H a n s M . 3 3 , 9 7 W i n n e r , Mat th ia s 7 W i t t g e n s t e i n , L u d w i g 7 9 , 9 1 - 9 4 Wolfe , T o m 8 3 Wöl f f l in , H e i n r i c h 37, 80 , 82 f , 8 6 , 8 8 , 98ff , 1 0 2 - 1 2 1 passim,

101-109, 1 2 5 - 1 2 8 , 1 3 3 , 1 3 6 , 1 3 8 , 1 4 2 W o r r i n g e r , W i l h e l m 247ff. W u n d t , W i l h e l m 104 W y s s , E d i t h H . 7

Z a u n s c h i r n , T h o m a s 129 Z e v i , B r u n o 2 1 6 , 2 4 5 Z i m m e r m a n n , R o b e r t 123

272