20
Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes · Österreichischer Zweig Forum für aktive Gewaltfreiheit Palästina und Israel Syrien Kolumbien Religionen und Gewaltfreiheit: Judentum Stein des Tent of Nations in Bethlehem, Palästina Nr. 4 Dezember 2016, 3,-

Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes ... · 6 Spinnrad 4 / 2016 Kannst du uns sagen, warum ihr in At Tuwani die aktive Gewalt-freiheit als Strategie eures Widerstandes

  • Upload
    others

  • View
    5

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes · Österreichischer Zweig

Forumfür aktiveGewaltfreiheit

� Palästina undIsrael

� Syrien

� Kolumbien

� Religionen undGewaltfreiheit:Judentum

Stein des Tent of Nationsin Bethlehem, Palästina

Nr. 4Dezember 2016, € 3,-

EDITORIAL, IMPRESSUM 2

EINEN BAUM ZU PFLANZEN, HEIßT AN DIE ZUKUNFT GLAUBEN 3EIN REISEBERICHT AUS PALÄSTINA UND ISRAELvon Pete Hämmerle

INTERVIEW MIT HAFEZ HOUREINI 6Koordinator des gewaltfreien Volkswiderstandskomiteesin den South Hebron Hills

FRIEDEN FÜR SYRIEN? EINE ARGUMENTATIONSHILFE 8von Christine Schweitzer

ENTWICKLUNGEN IN SYRIEN UND IRAK 10von Clemens Ronnefeldt mit Zuarbeit von Felix Daiber

INITIATIVEN ZU SYRIEN 12über Adopt a Revolution und die Syria Campaign

FORDERUNG NACH FRIEDEN IN SYRIEN 13von Leo Gabriel

WOHER KOMMT DAS „NO” IN KOLUMBIEN?! 14von Chris Courtheyn

VERWICKLUNGEN DER KIRCHE 16IN DIE GEWALT IN KOLUMBIEN IIvon Herbert Peherstorfer

DIE TORA DER GEWALTFREIHEIT INTERPRETIEREN 18von Rabbi Lynn Gottlieb

Gastkommentare müssen nicht mit der Meinung des Redaktions-teams übereinstimmen.

IMPRESSUM (alle anderen ungültig):

Verleger, Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund,österreichischer Zweig (IVB)Redaktion: Irmgard Ehrenberger, Pete Hämmerle,Lucia HämmerleAdresse: Lederergasse 23/3/27, A - 1080 Wien;Tel./Fax: 01/408 53 32; Email: [email protected]: Monika NaskauLayout: Lucia HämmerleHersteller: AV+Astoria Druckzentrum GmbH,Faradaygasse 6, 1030 Wien; Verlagspostamt: 1080 WienBankverbindung: PSK, Kto.Nr. 92022553 (BLZ 60000);BIC: BAWAATWW, IBAN: AT94 6000 0000 9202 2553Preis der Einzelnummer: € 3,-Abonnement: € 12,- (Inland), € 15,- (Ausland)Für Mitglieder des IVB kostenlos!

Der IVB ist ein Zweig der internationalen gewaltfreien BewegungInternational Fellowship of Reconciliation (IFOR). IFOR hat bera-tenden Status bei ECOSOC und UNESCO. IFOR umfasst einNetzwerk von 80 Zweigen und Gruppen auf allen Kontinenten.www.ifor.org

Als Teil der internationalenFriedensbewegung arbeitet der öster-reichische Versöhnungsbund aktiv gewaltfreifür einen gerechten und nachhaltigen Frieden.

I n h a l t Liebe Leserinnen und Leser!

Im Herbst fand unsere gemeinsam mit Pax Christi ver-anstaltete Solidaritätsreise nach Palästina und Israelstatt. Diese Erfahrung nahmen wir zum Anlass, uns indieser Ausgabe des Spinnrads nicht nur der Gewaltfrei-heit im Judentum (S.18), sondern auch (wieder einmal)der hoch-komplexen und oft bedrückenden Frage „Wiekann es Frieden im Nahen und Mittleren Osten geben?“zu widmen.Niemand wird überrascht sein, dass wir keine einfacheAntwort darauf gefunden haben. Was wir entdeckthaben sind jedoch Perspektiven und Zugänge von Men-schen, deren Stimmen für gewaltfreie Ansätze in derRegion plädieren, ja, sie vielleicht sogar einfordern, unddie oft überhört werden. Wir laden euch darum ein,euch – nebst der Hektik, die zu dieser Jahreszeit oft auf-kommt – Zeit zu nehmen diesen Menschen zuzuhörenund so ihre Hoffnung auch zu der euren werden zu las-sen. „Wir wollten jedoch nicht vorwiegend Steine, son-dern Menschen besuchen…“ schreibt Pete Hämmerle inseinem Bericht über die Solidaritätsreise (S.3), die denTeilnehmenden darum auch viele Möglichkeiten desAustausches mit gewaltfreien Akteur_innen in Palästinaund Israel gab. Hafez Houreini (Interview S.6) war nureiner von ihnen. Das zweite Schwerpunktland in dieserAusgabe ist Syrien, wo Angriffe und kriegerische Aus-einandersetzungen täglich viel zu viele Menschenlebenfordern. Der Glaube an einen möglichen Frieden scheintvon großer Hilflosigkeit überschattet, weshalb wir esfür unabdingbar halten, Überlegungen zu gewaltfreienpolitischen Ansätzen (Christine Schweitzer, S.8, und Cle-mens Ronnefeldt, S.10), aber auch praktischen Gras-wurzel-Bewegungen (S.12-13) Raum zu geben. Es gibtsie, die konstruktiven Ansätze gegen die Gewalt und esliegt an uns allen ihnen Gehör zu verschaffen. Genauso,wie es trotz des „No” zum Friedensvertrag in Kolumbienweiterhin konstruktive Ansätze zur Thematisierung undTransformation der Gewalt geben muss (S.14 und S.16).

Lucia Hämmerle

Über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr (22.12.2016 bis4.1.2017) ist unser Büro geschlossen!

Wir wünschen euch eine schöne und friedliche Zeit!

3Spinnrad 4 / 2016

Die Wahl von Donald Trumpzum nächsten Präsidentender Vereinigten Staaten von

Amerika hat eine Fülle von Reak-tionen und Kommentaren hervor-gerufen, auch in Hinblick auf dieAuswirkungen auf das Verhältniszwischen den USA und Israel undden Konflikt in der Region. Vielesehen durch die AnkündigungenTrumps im Wahlkampf das definiti-ve Ende der „Zweistaatenlösung“gekommen, die de facto sowiesoschon von der Realität überholtworden sei, und sehen Israel vordie Wahl gestellt: entweder es ver-steht sich als „jüdischer Staat“,wodurch eine Zweiklassengesell-schaft für Juden/Jüdinnen und Ara-ber_innen – nun unter Einschlussder Palästinenser_innen in denbesetzten Gebieten – auf Dauerfestgeschrieben werde, oder Israeldefiniert sich als „demokratischerStaat“ mit gleichen Rechten für alleseine Bewohner_innen. Anderewiederum halten nach wie vor amPrinzip der zwei Staaten fest, weiles von zwei momentan unrealisti-schen Szenarien noch die Optionsei, die etwas weniger unwahr-scheinlich zu einem gerechtenFrieden im Nahen Osten beitragenkönnte, und fordern als „Ab-schiedsgeschenk“ von PräsidentObama eine UN-Resolution zuPrinzipien bzw. Parametern fürFriedensverhandlungen oder so-gar - wie z.B. Ex-Präsident JimmyCarter – die diplomatische Aner-kennung des Staates Palästina.

Die Solidaritätsreise

In dieses politische Umfeld hineinführte die Reise, die vom Interna-tionalen Versöhnungsbund und vonPax Christi Österreich gemeinsamorganisiert wurde. Von 22. Oktoberbis 2. November war eine Gruppe

von insgesamt 23 Personen unterder Reiseleitung von Andreas Paul(PCÖ) und Pete Hämmerle (VB-Ö)in Palästina und Israel unterwegs,um gemäß dem Motto „Kommt undseht!“ einerseits die aktuelle Situa-tion und den israelisch-palästinen-sischen Konflikt aus verschiedenenBlickwinkeln selbst kennen zu ler-nen, andererseits ein Zeichen derSolidarität mit Personen, Gruppenund Organisationen auf allen Kon-fliktseiten zu setzen, die sichgewaltfrei für einen Frieden in Ge-rechtigkeit und ohne Besatzungengagieren.

Das 11-tägige Programm umfassteüber 20 Aktivitäten und Begegnun-gen mit mehreren palästinensi-schen, israelischen, gemischtenund internationalen Friedens- undMenschenrechtsinitiativen: z.B. mitden beiden palästinensischen Ver-söhnungsbund-Mitgliedsorganisa-tionen Wi’am – Palestinian ConflictResolution&Transformation Centre(Zoughbi Zoughbi) und der Libraryon Wheels for Nonviolence andPeace (Nafez Assaily), die in ver-schiedenen lokalen Kontexten inBethlehem und Hebron für gewalt-freie Erziehung, für die Förderungvon Kinder- und Frauenrechtenund für gewaltfreie Lösungsansät-ze im innerpalästinensischen undisraelisch-palästinensischen Kon-flikt tätig sind, mit der Arche-Gemeinschaft in Bethlehem, dieeine Tagesstätte für mental be-nachteiligte Menschen betreibt,oder mit dem christlich-ökumeni-schen SABEEL Center für einepalästinensische Befreiungstheolo-gie in Ostjerusalem, in dem dieAnsätze der Befreiungstheologieaus Lateinamerika und Südafrikaauf die gegenwärtige Situation imNahen Osten übertragen werden.Gesprächspartner_innen auf jü-

disch-israelischer Seite waren u.a.zwei junge Aktivisten des Centerfor Jewish Nonviolence, RoniHamermann von Machsom Watch(in deren Rahmen israelische Frau-en regelmäßig Checkpoints beob-achten und über die Menschen-rechtssituation an den Checkpointsinformieren) und Lydia Aisenbergaus dem Kibbuz Givat Haviva, dieuns anschaulich über die Situationan der „Grünen Linie“ (der Waffen-stillstandslinie von 1948/49, diedie – nicht anerkannte - Grenzezwischen Israel und Palästina bil-det) im Norden des Landes berich-tete. Bei einer alternativen Stadt-rundfahrt in und um Jerusalem,organisiert vom IsraelischenKomitee gegen Hauszerstörungen(ICAHD), lernten wir die Auswirkun-gen der Mauer und die Siedlungs-politik Israels ganz anschaulichkennen, die Führung durch dasHolocaust-Kindermuseum Yad La-Yeled und die Arbeit des Center forHumanistic Education nördlich vonAkko vergegenwärtigten uns dasBedürfnis vieler israelischer Men-schen, in Sicherheit und Frieden ineinem eigenen Land leben zu kön-nen.

Einen Vormittag verbrachten wir inder Hand in Hand-Schule in Jeru-salem, einer binationalen Bildungs-einrichtung, die das Zusammenle-ben und –lernen jüdischer undpalästinensischer Kinder und Ju-gendlicher fördert. Besondersbeeindruckend daran war dieBegegnung mit zwei Schülerinnen,die beide aufgrund ihrer positivenErfahrungen im Zusammenlebenmit arabischen Schulkolleg_innenentschlossen sind, den auch fürFrauen verpflichtenden Wehrdienstin der israelischen Armee zu ver-weigern. Einen Tag lang waren wirmit den Begleiter_innen des Öku-

IISSRRAAEELL//PPAALLÄÄSSTTIINNAA

Einen Baum zu pflanzen, heißt an die Zukunft glaubenEin Reisebericht aus Palästina und Israel von Pete Hämmerle

menischen Begleitprogramms inPalästina und Israel (EAPPI) unter-wegs in den Hügeln südlich vonHebron und in Hebron selbst undhörten von ihrer Begleitarbeit mitden palästinensischen gewaltfreienWiderstandskomitees in Susiyaund AtTuwani, mit den Kindern aufihrem Schulweg und mit der Frau-enkooperative in der Altstadt vonHebron. Toine van Teeffelen erzähl-te uns von der Arbeit des Alternati-ve Education Center und desSumud Story House im Schattender Mauer in Bethlehem, drei Mitar-beiter_innen der Gesellschaft fürInternationale Zusammenarbeit(GIZ, deutsche Agentur für Ent-wicklungszusammenarbeit) prä-sentierten uns ihre Programme zurVerbesserung der Lebensumstän-de in den palästinensischen Flücht-lingslagern im Westjordanland undfür die Stärkung und Förderung derFlüchtlinge in der gesamten Regiondes Nahen Ostens durch Vernet-zung und Kapazitätsaufbau.

Der Aspekt der Solidarität standinsbesondere in der praktischenMithilfe bei der Olivenernte und derPflege der Olivenbäume im Projekt„Zelt der Völker“ bei Daoud Nassarund seiner Familie in Bethlehemauf der Tagesordnung. Insgesamtvier Mal machte sich die Gruppeauf den Weg zu Dahers Weinberg,wo wir nicht nur einen kleinen Bei-trag zur Kultivierung des Landesleisten konnten, sondern auch vombereits 25 Jahre währenden ge-waltfreien Widerstand der FamilieNassar gegen die drohende Ver-treibung und Enteignung erfuhrenund über die Realität der Besat-zung, des Siedlungsbaus und derSteine, die ihnen in den Weg gelegtwerden (Straßensperre bei derZufahrt zum Gelände, wiederholteZerstörung von Oliven- und Obst-bäumen, Schikanen bei der Legali-sierung des seit 1916 dokumentier-ten Grundbesitzes) informiert wur-den. Der Kreis der praktischen Soli-darität in Hinblick auf das Thema

Oliven schloss sich für uns miteinem Besuch der Palestinian FairTrade Organisation in Jenin undder Organisation Canaan in Burqin,die in ihrer Olivenpresse hochwerti-ges palästinensisches Olivenöl pro-duziert und für den Verkauf in alleWelt – auch in den Weltläden inÖsterreich und über Pax ChristiOberösterreich – exportiert.

Das „heilige Land“

Immer wieder sprechen wir vom„heiligen Land“, was natürlich inso-fern richtig ist, als sich hier auf eng-stem Raum – nochmals verdichtetin der Altstadt Jerusalems – diehistorischen Stätten und wichtigeHeiligtümer der drei monotheisti-schen Religionen des Judentums,des Christentums und des Islambefinden. Auf dem Reiseprogrammstanden auch Besuche und Besich-tigungen der Moschee und Syn-agoge Machpela in Hebron, wo dieStammeltern Abraham und Sara,Isaak und Rebekka sowie Jakobund Lea begraben sind, derGeburtskirche Jesu in Bethlehemund der Grabeskirche in Jerusa-lem, der Blick auf den Tempelbergmit Felsendom, Al Aqsa-Moschee

und Klagemauer, aber auch weni-ger bekannte Bauten wie die Syn-agoge Bet Alpha in Galiläa ausdem 6. Jahrhundert oder die grie-chisch-orthodoxe St. Georgskirchein Burqin. Wir wollten jedoch nichtvorwiegend Steine, sondern Men-schen besuchen, weshalb auch dieTeilnahme an einer katholischenMesse auf Hebräisch, an der Sab-bat-Feier (Kabbalat Shabat) in derreformierten Gemeinde Kol HaNes-hama und ein ökumenischer Got-tesdienst im SABEEL-Zentrum alsAngebot auf dem Programm stan-den. Teil unserer Gruppe warenauch Schwester Juliana aus Ober-österreich und ihre vier internatio-nalen Novizinnen aus dem Ordender Sionsschwestern (Notre Damede Sion), deren Häuser in EinKarem und Jerusalem wir ebenfallsbesuchen konnten. Weiters hattenwir Begegnungen mit gläubigenJuden und Jüdinnen, Christ_innenund Muslim_innen, die aus ihrerjeweiligen Tradition und SpiritualitätKraft und Verheißung für ihre Frie-densarbeit schöpfen – obwohl wirin vielen Fällen auch vom Gegen-teil, der Benutzung von Religionenfür die Rechtfertigung von Gewalt,Unterdrückung und Besitzansprü-

Spinnrad 4 / 20164

IISSRRAAEELL//PPAALLÄÄSSTTIINNAA

Olivenernte bei Daoud Nasser

chen, hören mussten. Die Religio-nen werden kaum von jemandemals Haupt-Konfliktursache bezeich-net, oft sind sie aber Teil des Pro-blems, und hoffentlich auch zukünf-tiger Lösungen.

Am österreichischen Nationalfeier-tag, dem 26. Oktober, war unsereGruppe im Österreichischen Hos-piz in Jerusalem eingeladen, wo wirauch die Gelegenheit zu einemGespräch mit dem GesandtenAndrea Nasi vom ÖsterreichischenVertretungsbüro für die palästinen-sischen Gebiete in Ramallah hat-ten, der uns über die Schwerpunk-te der Österreichischen Entwick-lungspolitik in Palästina informierteund sich unseren Reiseerfahrun-gen und Friedensbemühungen,z.B. im Rahmen von EAPPI,gegenüber sehr aufgeschlossenzeigte.

Hoffen wider alle Umstände

Während unserer Reise haben wirviel Bedrückendes über die Realitätin Palästina und Israel gehört undeiniges mit eigenen Augen gese-hen. V.a. über die Aussichten fürbaldige politische Lösungen des

Konflikts gab es kaum optimisti-sche Prognosen. Aber wir habentrotzdem auch Hoffnungszeichenangetroffen, v.a. auf der Ebene, woMenschen sich ganz konkret be-gegnen und engagieren. Zusam-menfassend würde ich folgendedrei Punkte anführen:

� Ein arabisches Wort für die Stra-tegie gewaltfreien Widerstandesheißt sumud, Standhaftigkeit, undbezieht sich sowohl auf das Ver-wurzelt-sein im eigenen Land wieauf den Aufbau alternativer Hand-lungsmöglichkeiten und Institutio-nen gegen die israelische Besat-zung. Daoud Nassar mit seinemProjekt Zelt der Völker bringt dasso auf den Punkt: „Ein Baum ist einZeichen der Hoffnung. Einen Baumzu pflanzen, heißt an die Zukunft zuglauben. Man lernt daraus, dassFrieden von unten her wachsenmuss.“ Solche Bäume der Hoff-nung – wirkliche und symbolische –haben wir auf palästinensischerSeite viele gesehen.

� Auf israelischer Seite haben wirebenfalls viele Zeichen der Solida-rität, der Zusammenarbeit mit Palä-stinenser_innen und der Verweige-

rung des Mittuns bei Gewalt undUnterdrückung kennen gelernt.„Besatzung ist nicht mein Juden-tum“, haben Isaac und Erez vomZentrum für jüdische Gewaltfreiheitauf ihren T-Shirts stehen, die groß-teils älteren Damen von MachsomWatch stehen Woche für Woche,seit vielen Jahren, am Checkpointin Kalandia, weil ihnen die Rechtepalästinensischer Menschen genauso wichtig sind wie die jüdischerMenschen.

� Der israelisch-palästinensischeKonflikt kann nicht von Außenste-henden gelöst werden – weder aufpolitischer Ebene noch durch inter-nationale Friedensorganisationen.Was aber sehr wohl wichtig ist undoft einen Unterschied ausmacht,sind Angebote von internationalerPräsenz, Begleitung, die morali-sche und in vielen Fällen auchfinanzielle Unterstützung lokalerFriedensbemühungen vor Ort, dieVerbundenheit im gemeinsamenEinsatz für einen gerechten Frie-den durch die Mittel der aktivenGewaltfreiheit. Dazu können wirhier in Österreich, in Europa unse-re Beiträge leisten, indem wir fairepalästinensische Produkte kaufen,über die Situation berichten, Be-gegnungen ermöglichen, Geld fürkonkrete Friedensprojekte auftrei-ben und vieles mehr.

Das Jahr 2017 bringt eine Fülle vonJahrestagen, die in Zusammen-hang mit dem Nahostkonflikt vonBedeutung sind: 100 Jahre Balfour-Erklärung, 70 Jahre UN-Teilungs-plan, 50 Jahre Besatzung vonWestjordanland, Gazastreifen undOstjerusalem, 30 Jahre Beginn derersten Intifada.

Der Versöhnungsbund wird inZusammenhang damit und im Rah-men seiner Arbeitsschwerpunktedazu aktiv sein – wir hoffen, mit derUnterstützung möglichst vielerunserer Leser_innen!

5 Spinnrad 4 / 2016

IISSRRAAEELL//PPAALLÄÄSSTTIINNAA

Die Mauer direkt neben dem Wi’am-Center

6 Spinnrad 4 / 2016

Kannst du uns sagen, warum ihrin At Tuwani die aktive Gewalt-freiheit als Strategie euresWiderstandes gewählt habt?

Hafez: Israel betreibt in den Hügelnsüdlich von Hebron eine Vorge-hensweise der Vertreibung, derenUmsetzung mit aggressiven Maß-nahmen einhergeht. Es wird Landkonfisziert, Häuser und andereGebäude werden zerstört, ein gro-ßer Teil des Gebietes ist zu einermilitärischen Übungszone (FiringZone 918) erklärt worden. Dadurchwerden wir dazu getrieben, daraufzu reagieren und Widerstand zu lei-sten – mit oder ohne Gewalt.

Nach der Ausrufung der FiringZone 918 im Jahr 2000 ist es unsgelungen – unterstützt durch großeinternationale Solidarität -, dass diemeisten Dörfer wieder besiedeltwerden konnten. Durch diesenDruck wurde die Besatzungsmachtzum Einlenken gebracht.

Wir haben dann lange und intensi-ve Diskussionen geführt, was das

Ergebnis von gewaltsamem Wider-stand wäre. Wir sind zur Auffas-sung gelangt, dass die Resultatenegativ wären. Die Besatzer_innenwollen uns mit ihren Aktionen dazubringen, auf gewaltsame Weise zureagieren, um so einen Vorwandfür das gewaltsame Vorgehen derArmee zu schaffen. Wir haben unsdaher entschlossen, diese Provo-kation zur Gewalt nicht in der glei-chen Weise zu beantworten. DieMenschen hier glauben, dass Ge-waltfreiheit der wirksamste Wegdes Widerstandes gegen die Sied-ler_innen ist. Die Besatzung zubekämpfen, voller Kraft und mitinternationaler Unterstützung, hatdas Eis gebrochen und die Auf-merksamkeit aller Dörfer auf dieEinhaltung unserer Menschenrech-te gerichtet – und mit den Erfolgenkommt auch der Glaube an dieGewaltfreiheit und ein verstärktesEngagement!

Wie ist die Organisation desgewaltfreien Widerstandes amAnfang gelungen?

Hafez: Unsere Einigkeit in derOrganisation gewaltfreien Wider-standes geht auf das Jahr 1999zurück, als wir die Aktionen gegendie Firing Zone 918 starteten.Inzwischen haben weitere gewalt-freie Aktionen stattgefunden: DieSchutzbegleitung der Schulkinder,der Abbau der Mauer entlang derStraße 317, die unser Gebiet inzwei Hälften spalten sollte. Nach-dem die South Hebron Hills zumGroßteil zur sogenannten „Area C“gehören, sind alle Dörfer und neu-en Bauwerke für Israel illegal undvon Zerstörung bedroht, wie daszuletzt im Fall von Susiya deutlichgeworden ist. Durch den Druck aufdie Behörden, z.B. auch durchinternationale Diplomat_innen,konnten wir bisher das Schlimmsteverhindern und Erfolge feiern.

Wichtig ist für uns, dass sich alleDörfer voll zur Gewaltfreiheit be-kennen – nicht einmal Steinewer-fen wird toleriert, obwohl das alsAusdruck des Widerstandes seitder 1. Intifada (1987-90) zur palä-stinensischen Widerstandskulturgehört. Aber auch darin sehen wirdie Gefahr, dass so ein Vorwandzur Anwendung von Gewaltgeschaffen wird.

Welche Art von internationalerUnterstützung ist für euchbesonders wichtig?

Hafez: Am meisten hilft es uns,wenn Internationale sowohl direktvor Ort – mit uns zusammen – tätigsind, wie auch wenn Leute zubestimmten Anlässen in Solidaritäthierher kommen. Die italienischeOrganisation „Operazione Colom-ba“ („Taube“) und die „ChristianPeacemaker Teams“ begleiten unsin At Tuwani schon seit vielen Jah-ren, und auch das ÖkumenischeBegleitprogramm (EAPPI) ist in der

IISSRRAAEELL//PPAALLÄÄSSTTIINNAA

Interview mit Hafez HoureiniKoordinator des gewaltfreien Volkswiderstandskomitees in den South Hebron Hills

Hafez Houreini, Koordinator der gewaltfreien Volkswiderstandskomitees in den South Hebron Hills

Region südlich von Hebron sehraktiv. Sie intervenieren sowohldirekt, wenn es zu Zwischenfällenund Übergriffen, etwa gegen Schul-kinder oder gegen Hirt_innen, diemit ihren Ziegen und Schafendurch das Gebiet wandern, kommt.Sie bringen aber auch Unterstüt-zer_innen aus ihren Heimatlän-dern, zu Konferenzen oder Semi-naren, hierher, was sehr wertvollsein kann, wenn es sich dabei umangesehene und bekannte Perso-nen oder Politiker_innen handelt.

Du hast von der Gewaltfreiheitals wirksamste Strategie gespro-chen. Mich würde noch interes-sieren, ob es dafür auch Anknüp-fungspunkte im islamischenGlauben gibt, auf die ihr zurück-greifen könnt?

Hafez: Ein wichtiges Anliegen imIslam ist die Frage, wie Lebengerettet werden kann – das eigeneund das der uns Nahestehenden.Wir sagen, dass Selbstmord-An-schläge und gewaltsamer Wider-

stand nicht Leben retten, sondernLeben zerstören, und dass wir des-halb über andere Wege „Leben zuretten“ nachdenken sollten. Es gehtauch darum, möglichst wenigeMenschenleben zu verlieren, unddeshalb ist unser Bekenntnis zurGewaltfreiheit der beste Weg desWiderstandes.

Vielen Dank für dieses Gesprächund für euren bewundernswer-ten Einsatz!

7 Spinnrad 4 / 2016

IISSRRAAEELL//PPAALLÄÄSSTTIINNAA

AKTIV SEIN IM VERSÖHNUNGSBUND!Jedes Engagement zählt - wir freuen uns, wenn du unsere Arbeit

für Frieden und Gewaltfreiheit unterstützen willst!

• MITGLIED WERDEN! – Als Mitglied beim Internationalen Versöhnungsbund, österreichischer Zweig setzt du einZeichen für die Gewaltfreiheit. Du bekommst am Anfang des Jahres unseren Jahresbericht und vierteljährlichunsere Zeitschrift „Spinnrad" zugesandt. Außerdem halten wir dich durch unseren monatlichen Email-Newslettersowie durch Veranstaltungstipps auf dem Laufenden, damit du immer weißt, was bei uns im Moment los ist(Mitgliedsbeitrag €45, ermäßigt €30 pro Jahr).

- Bist du noch kein Mitglied? Unter http://www.versoehnungsbund.at/mitglied-werden/ kannst du das ändern!

- Du bist bereits Mitglied? Vielleicht kennst du ja Menschen, die ebenfalls an Gewaltfreiheit interessiert sind undbeim VB Mitglied werden oder das „Spinnrad" abonnieren wollen!

• SPENDEN! - Eine Spende ermöglicht unsere Arbeit für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte! Als unab-hängiger Verein wird die Arbeit des Versöhnungsbundes zum größten Teil durch Beiträge und Spenden unsererMitglieder, Förderer und Förderinnen finanziert, dabei zählt jeder Beitrag (Kontoinformationen können dem beilie-genden Zahlschein entnommen werden)!

• Möglichkeiten zur freiwilligen MITARBEIT! - Wir freuen uns immer über Menschen, die sich mit ihren Interes-sen und Fähigkeiten bei uns einbringen wollen. In folgenden Bereichen würden wir uns derzeit über helfende Hän-de freuen – auch wenn die Mitarbeit nur gelegentlich stattfindet:

- Spinnrad: Die Möglichkeiten sich bei der 4x im Jahr erscheinenden Zeitschrift einzubringen sind vielseitig: Ver-sandtätigkeit im Büro, Verfassen von Artikeln, Redaktion und Lektorat. Melde dich einfach bei uns!

- Aktiv-Gruppe: Einmal im Monat (immer am letzten Montag) findet ein Jour Fixe im Versöhnungsbund-Büro statt,bei dem direkte gewaltfreie Aktionen geplant werden. Interessierte können sich unter www.versoehnungsbund.at/aktiv-gruppe/ eintragen!

- Mitarbeit in den Arbeitsgruppen zu unseren Programmen: Unsere neu beschlossenen Programme findet ihrin unserem neuen Leitbild unter http://www.versoehnungsbund.at/leitbild/. Nähere Auskünfte dazu geben wir ger-ne auf Anfrage!

Bei Interesse bitten wir um Kontaktaufnahme unter E-mail: [email protected]

Tel.: 01 - 408 5332

Dimension 1: Der Aufstand gegendie Herrschaft von Assad und fürdie Demokratisierung Syriens

Der Aufstand entfachte sich anPolizeigewalt und Folter gegen pro-testierende Jugendliche im März2011. Inspiriert von den Aufständenu.a. in Tunesien und Ägypten, wa-ren binnen weniger Wochen Hun-derttausende auf den Straßen. DerWiderstand verlor aber schnell sei-nen rein zivilen Charakter, als sichdie Freie Syrische Armee (FSA) bil-dete, die zunächst lediglich mitdem Anspruch antrat, die Protestie-renden zu „schützen“, aber baldzum Katalysator für die Bildungzahlreicher weiterer kämpfenderGruppen wurde.

Unsere Position: Die Entschei-dung über die Zukunft Syriens liegtalleine bei der syrischen Bevölke-rung. Weder internationale Ver-handler_innen, die durch die Ent-scheidung, wen sie zu Gesprächeneinladen und wen nicht, die eineoder die andere Koalition stärken(z.B. war bei den Genfer Verhand-lungen 2016 die syrisch-kurdischePYD ausgeschlossen), noch militä-risches Eingreifen auf egal welcherSeite sind hier hilfreich. Stattdes-sen sollte die sog. InternationaleGemeinschaft sich darauf be-schränken, als redliche Vermittlerinmit allen Konfliktparteien (ein-schließlich radikaler islamistischerGruppen und auf jeden Fall ein-schließlich der syrischen Kurd-_innen) Verhandlungen aufzuneh-men. Solche Vermittlungsbemü-hungen müssen nicht heißen, dassalle an einem Tagungsort zusam-menkommen – Vermittler_innenkönnen hin und her reisen oderTreffen mit jeweils nur einigenGruppen abhalten, um Möglichkei-ten einer wirklichen Lösung auszu-loten. Lokale Waffenstillstände unddie Schaffung von waffenfreien

Zonen (erstere gibt es, letzterenoch nicht) könnten dazu beitra-gen, dass in immer weniger Ge-genden Syriens die Waffen spre-chen. Des Weiteren muss sicher-gestellt werden, dass humanitäreHilfe und Wiederaufbauhilfe dieseZonen erreicht.

Dimension 2: Syrien als Schlacht-feld von ausländischen Militärs undMilizen

Je länger der Konflikt angedauerthat, umso mehr wurde er interna-tionalisiert. Es mag wert sein, sichden Ablauf zu vergegenwärtigen:Bereits ab dem Herbst 2011 gab esWaffenhilfe und militärisches Trai-ning für die FSA und andere Milizendurch sunnitisch-arabische Länderund durch die USA. Diese verstärk-ten ihr Engagement 2013 mit ei-nem CIA-geführten Programm.Anfang September 2014 wurdedann beim NATO-Gipfel in Walesein internationales Militärbündnisgegen den IS ins Leben gerufen.Gründungsmitglieder waren nebenden USA auch Deutschland, Groß-britannien, Frankreich, Italien, Po-len, Dänemark, Australien, Kanadaund die Türkei. Dieses Bündnis,erweitert durch mehrere arabischeLänder (heute gehören der Koali-tion 64 Staaten an), begann kurzdanach mit Angriffen auf den IS inSyrien und Irak, wobei die Bombar-dierungen zunächst allein durch dieUSA und einige arabische Länderdurchgeführt wurden. Im Rah-men dieser Koalition unterstütztDeutschland seit 2014 die kurdi-schen Peschmerga im Nordirak mitWaffen. Frankreich und GB schlos-sen sich den Bombardierungen inSyrien Ende September 2015 an,praktisch zeitgleich mit Russland.Bei Russland wurde schnell klar,dass nicht nur Stellungen des IS,sondern alle bewaffneten Opposi-tionsgruppen Ziele waren.

Die nächste Eskalation fand statt,als Frankreich und kurz danachauch Großbritannien im Nov./Dez.2015 nach einer Serie von Terror-anschlägen in Europa ihre Bombar-dierungen verstärkten, und andereEU-Staaten im Rahmen der EU-Solidarität, so auch Deutschland,den Einsatz ab diesem Zeitpunktauch militärisch unterstützten, ohneselbst Angriffe zu fliegen. Die bis-lang jüngste Eskalation stellt dasEingreifen der Türkei mit Boden-truppen seit August 2016 im Nord-irak, das mehr gegen die kurdi-schen Oppositionstruppen als ge-gen den IS gerichtet erscheint, unddie offene militärische Unterstüt-zung der Assad-Truppen durchRussland im Kampf um Aleppo dar.Heute sind mindestens 26 Staatendirekt oder indirekt in dem Krieg inSyrien involviert. Diese sind abernoch nicht die einzigen internatio-nalen Kriegsbeteiligten: Kurz nachder Entstehung der FSA kamenmehr und mehr ausländischeKämpfer(_innen) aus aller Welt,von Libyen bis Tschetschenien, vonSudan bis Westeuropa und Nord-amerika, ins Land und bildetenkämpfende Einheiten oder schlos-sen sich vorhandenen an. Der IS istnur eine von ihnen. Auch dieAssad-Regierung holte sich Unter-stützung – sie wandte sich in ersterLinie an schiitische Kämpfer - dielibanesische Hizbollah-Miliz undSoldaten aus dem Iran.

Unsere Position: Die Militärinter-vention der Anti-IS-Allianz in Syrienmuss beendet werden, und zwarnicht nur sie, sondern der gesamteKrieg gegen den Terror. Jede Droh-ne, die unschuldige Menschentötet, jede heimliche oder offeneMilitäroperation leistet vor allemeines: Sie schafft neue Terrorist-_innen. Und falls es gelingen sollte,den IS militärisch in die Knie zu

8 Spinnrad 4 / 2016

SSYYRRIIEENN

Frieden für Syrien? Eine Argumentationshilfe von Christine Schweitzer, Bund für Soziale Verteidigung (BSV)

zwingen, dann wird er in anderenLändern und im Untergrund weiter-kämpfen und auch den Terror ver-stärkt in den Westen tragen.

Der Schutz der Zivilbevölkerungpassiert nicht durch Bomben ausder Luft. Er braucht mutiges huma-nitäres Engagement sowohl direktin den Kriegsregionen wie in denGebieten Syriens, wo derzeit nichtgekämpft wird. Zumindest in letzte-ren Gebieten könnte unbewaffne-tes ziviles Peacekeeping einge-setzt werden, wie es die NonviolentPeaceforce derzeit in Form vonTrainings von Beirut aus anbietet.

Jeder Friedensplan für Syrien mussden Rückzug der fremden Truppenund Kämpfer beinhalten, nicht nurdas Ende der Bombardierungenaus der Luft. Dabei wird es vonbesonderer Bedeutung sein, denKämpfern, die nicht Teil einer „offi-ziellen“ Armee sind, in ihren Hei-matländern Möglichkeiten einerReintegration in ein ziviles Lebenzu bieten. Denn sonst werden sienur zu einem neuen Kriegsschau-platz weiterziehen.

Dimension 3: Der Konflikt zwi-schen der türkischen Regierungund der kurdischen Bewegung

Syrien ist eines von mehreren Län-dern in der Region (neben der Tür-kei, Irak und Iran), wo eine zahlen-mäßig bedeutsame kurdische Be-völkerung ansässig ist. Die kurdi-sche PYD beteiligte sich am Auf-stand gegen Assad und bekämpft,wie auch die irakischen Peschmer-ga, den IS. Sie unterhält guteBeziehungen zur PKK in der Tür-kei. Die Türkei fürchtet ein kurdischkontrolliertes Gebiet südlich ihrerGrenze. Deshalb hat sie begonnen,Stellungen der PYD anzugreifen.Damit wandte sich die Türkeigegen eine der Gruppen, die vonder Allianz gegen den IS mit Waffenund Training unterstützt werden.

Unsere Position: Eine Friedenslö-sung für Syrien muss auch eineRegelung für die kurdische Bevöl-

kerung in Nordsyrien beinhalten –vielleicht in Form ähnlicher Autono-mieregelungen, wie sie die Kurd-_innen im Irak genießen. Dies wirdaber wohl nur durchsetzbar sein,wenn es gelingt, den kurdisch-türki-schen Konflikt konstruktiv zu bear-beiten. Hier braucht es das Wirkenvon Vermittler_innen, die von allenSeiten anerkannt sind, z.B. aus denReihen der Organisation of IslamicCooperation, die u.a. schon denBürgerkrieg in Mindanao (Philippi-nen) beizulegen half.

Dimension 4: Der Stellvertreter-krieg zwischen sunnitischen undschiitischen Ländern

Der Krieg in Syrien ist auch, genauwie der im Jemen, ein Stellvertre-terkrieg zwischen Saudi-Arabienauf der einen und dem Iran auf deranderen Seite als die Führungs-mächte der sunnitischen und schi-itischen Ausrichtung des Islams.Die sunnitischen Länder unterstüt-zen die Opposition gegen dasAssad-Regime, wobei einige auchnicht vor einer (inoffiziellen) Förde-rung des IS Halt machten. DieRegierung Assad, geprägt durchdie den Schiit_innen nahestehen-den Aleviten, hat sich wiederumUnterstützung u.a. beim Iran undder libanesischen Hizbollah geholt.

Unsere Position: Der Konflikt zwi-schen den beiden Konfessionenwird sich nicht kurzfristig lösen las-sen, es gibt aber konstruktiveAnsätze, die religiöse Dimensiondieses Konflikts zu bearbeiten: Dia-log zwischen den Konfessionen,Stärkung der Aspekte, die beideKonfessionen verbinden, Versöh-nungsarbeit auf der Graswurzel-ebene. Da der Konflikt neben derreligiösen aber auch eine machtpo-litische und ökonomische Kompo-nente hat, braucht es zum anderendringend die schon oft geforderteKonferenz aller Staaten des Nahenund Mittleren Ostens nach Vorbildder Konferenz für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa (heute:OSZE), um die – letztendlich die-

sen Konflikt bestimmende – politi-sche und wirtschaftliche Konkur-renz zwischen den beteiligten Staa-ten anzugehen und zu überwinden.

Dimension 5: Der Stellvertreter-krieg zwischen Russland und demWesten

Dieser Konflikt hat nicht erst mit derUkraine-Krise begonnen. Schonseit 2011 hat Russland auf diplo-matischem Parkett, u.a. in der UN,die Regierung Assad unterstützt.Syrien war für Russland ein wichti-ger Handelspartner und außerdemOrt des einzigen Marinestützpunktsam Mittelmeer. 2013, als GB unddie USA mit einer Militärinterven-tion wegen des syrischen Giftgasesdrohten, spielte Russland aber einekonstruktive Rolle dabei, die syri-sche Regierung dazu zu bewegen,ihre Vorräte unter Aufsicht der UNabziehen und vernichten zu lassen.Jedoch nachdem wegen der Anne-xion der Krim und der Unterstüt-zung der Rebellen in der Ostukrai-ne Sanktionen gegen Russlandverhängt wurden und auf beidenSeiten militärisch aufgerüstet wird,hat sich der Krieg in Syrien auch zueinem Stellvertreterkrieg zwischenRussland und dem Westen entwi-ckelt.

Unsere Position: Der Schlüsselzur Aussöhnung zwischen Russ-land und dem Westen liegt eher inder Ukraine als in Syrien. Der BSVhat hierzu verschiedentlich Vor-schläge gemacht – Volksabstim-mungen, Minderheitenschutz, Ab-rüstung und Truppenabzug, ge-meinsame Sicherheit u.a.m. EineFriedenslösung für Syrien kannwohl nur gelingen, wenn alle fünfDimensionen angegangen werden.Dies erfordert ein Umdenken beiden beteiligten Regierungen. Druckvon unten, durch uns in den Frie-densbewegungen, ist die einzigeHoffnung, dass ein solches Um-denken einsetzt.

(zuerst erschienen auf der Webseitedes BSV http://bit.ly/2gJ1YW3)

9 Spinnrad 4 / 2016

SSYYRRIIEENN

Überblick

In Syrien und Irak sind mehr als50% der Bevölkerung jünger als 25Jahre, in Deutschland nicht einmal25%. Die Perspektivlosigkeit dieserjungen - häufig gut ausgebildeten -Generation, wird weiterhin einSpannungsfaktor bleiben, wenn ihrnicht lebenswerte Zukunftschancenermöglicht werden.

Zwischen Iran und Saudi-Arabienwird ein blutiger Machtkampf umdie Vorherrschaft in der Regionausgetragen, bei dem die sunni-tisch-schiitische Frage instrumenta-lisiert wird und die Zivilbevölkerungin Syrien, Irak und auch Jemen dieLeidtragende ist.

Unter den ethnischen Konfliktenspielt die Kurdenfrage eine zuneh-mend wichtigere Rolle, seit im Nor-den Iraks sowie im NordostenSyriens kurdische Vertreter_innenSelbstverwaltungen ausgerufen ha-ben, die vor allem beim türkischenPräsidenten Erdogan Ängste voreinem Übergreifen dieser Bewe-gungen auch auf die Türkei verur-sacht haben. Mit der Bombardie-rung der PKK-Führung in den iraki-schen Kandilbergen sowie derBombardierung zahlreicher kurdi-scher Hochburgen im Osten derTürkei versucht die RegierungErdogan durch eine Islamisierung(Bau neuer Moscheen) sowie Ara-bisierung (Ansiedlung von sunni-tisch-arabischen Flüchtlingen ausSyrien in kurdischen Hochburgen)die Demographie neu zu ungunstender kurdischen Seite „zu gestal-ten" - mittels Krieg. Mehr als400.000 Kurdinnen und Kurdensind im letzten Jahr aus ihren ost-türkischen Heimat-Städten geflüch-tet.

Die Faktoren „Klimawandel" und„Wasser" spielen ebenfalls für die

Kriege in Syrien und Irak einezunehmend wichtigere Rolle: Inden Jahren vor Beginn des Kriegesin Syrien 2011 gab es Dürrekat-astrophen vor allem an der syrisch-türkischen Grenze, die Tausendevon Klimaflüchtlingen zur Folgehatten, welche sich in Elendsvier-teln von Aleppo und Damaskusniederließen und sich von derRegierung Assad vernachlässigtfühlten. Die türkischen Staudamm-projekte des Tigris und Euphrat füh-ren schon jetzt zu einer Verschär-fung der Wasserverteilungsfragezwischen Türkei, Syrien und Irak.

Ein weiterer wesentlicher Eskala-tionsfaktor ist die Erdgasfrage. Dieweltweiten Reserven verteilen sichunter den drei Spitzenplätzen fol-gendermaßen: Russland (24,8%),Iran (15,6%) und Katar (13,2%).Alle anderen Länder liegen unter5%.

In einem aufschlussreichen Artikelmit dem Titel: „Pipeline-Politik inSyrien. Man kann den Konflikt inSyrien nicht verstehen, ohne überErdgas zu sprechen", schreibt US-Major Rob Taylor:

„Ein Großteil der Medienberichtelegt nahe, dass der Konflikt inSyrien ein Bürgerkrieg ist, in demdas Regime des Alawiten (Schiiten)Bashar Assad sich verteidigt (unddabei Grausamkeiten verübt)gegen sunnitische Rebellen-Cli-quen (die auch Grausamkeiten ver-üben). Die wirkliche Erklärung isteinfacher: Es geht um Geld. ImJahre 2009 plante Katar, eine Erd-gaspipeline durch Syrien und dieTürkei nach Europa zu betreiben.Stattdessen aber schmiedete As-sad ein Abkommen mit Irak undIran in östlicher Richtung, das die-sen schiitisch-dominierten LändernZugang zum europäischen Erdgas-markt verschaffen würde und die-

sen gleichzeitig den Sunniten inSaudi- Arabien und Katar verwei-gerte. Wie es jetzt erscheint, versu-chen die letzteren beiden StaatenAssad aus dem Weg zu räumen,damit sie Syrien kontrollieren kön-nen und ihre eigene Pipeline durchdie Türkei betreiben können".(1)

(Übersetzung: Clemens Ronne-feldt).

Konfliktverschärfend kommt nochhinzu, dass eines der weltweitgrößten Erdgasfelder zwischenKatar und Iran liegt - und von bei-den Ländern "angezapft" werdenkann.

Russland ist aus nachvollziehbarenGründen nicht daran interessiert,seine starke Rolle auf dem europä-ischen Erdgasmarkt durch Konkur-renz verringern zu lassen, europäi-sche Staaten sähen gerne mehrAlternativen zum Erdgas aus Russ-land, die US-Regierung würde ger-ne Putin geschwächt sehen - undIran und Hizbollah wissen, dass nurbei einem Verbleib Assads im Amtdie schiitisch-alawitische Landver-bindung von Iran, Irak, Syrien undHizbollah im Libanon - z.B. auch füriranische Waffenexporte an die Hiz-bollah - erhalten werden kann.

Zu Syrien

� Um ihre Kriegsführung in Syrienbesser zu koordinieren, trafen sichdie Verteidigungsminister Russ-lands, Syriens und des Iran AnfangJuni 2016 in Teheran. Es zeigt sichimmer deutlicher, dass zwischenRussland und Iran eine Zweckge-meinschaft besteht, bei der Russ-land die Luftwaffe stellt und Iran dieBodentruppen. Beide sind aufein-ander angewiesen, haben aber par-tiell unterschiedliche Interessen.Unterstützt werden beide von derHizbollah.

� Im Sommer 2016 zeigte sich,

10 Spinnrad 4 / 2016

SSYYRRIIEENN

Entwicklungen in Syrien und Irakvon Clemens Ronnefeldt mit Zuarbeit von Felix Daiber

dass durch den kombinierten Ein-satz von russischer Luftwaffe (diebei Aleppo auch Phosphorbombeneinsetzte) und schiitischen Boden-truppen erkämpfte Gebiete vonRebellen umgehend wieder zurück-erobert wurden.

� Im syrisch-türkischen Grenzge-biet möchte die türkische Regie-rung unter allen Umständen einenKorridor offen halten, um Rebellenin Syrien weiterhin militärisch unter-stützen zu können und gleichzeitigein zusammenhängendes Gebietunter kurdischer Selbstverwaltungzu verhindern. Um syrische Flücht-linge an der Flucht auf türkischesGebiet zu hindern, wurden im Som-mer 2016 mehrere Frauen und Kin-der von türkischen Grenzschützernerschossen.

� Auch Jordanien hat die jorda-nisch-syrische Grenze für Flüchtlin-ge geschlossen, nachdem es inJordanien zu einem schwerenAutobomben-Anschlag mit mehre-ren toten jordanischen Grenzschüt-zern gekommen war.(2)

Zur humanitären UN-Politik

Obwohl der Bedarf an Medikamen-ten, Lebensmitteln und anderenHilfsgütern sehr hoch war, konnteim Sommer 2016 nur ein Bruchteilder Bedürftigen versorgt werden.Die Regierung Assad ließ Hilfskon-vois in die von ihr kontrolliertenGebiete passieren, versagt abervielfach die Zufahrt in Rebellenge-biete, wo der humanitäre Bedarf fürdie Zivilbevölkerung ebenfalls sehrhoch war. Die Schwäche der UN-Hilfe besteht darin, dass sie auf dieZustimmung der Regierung Assadangewiesen ist und damit rechnenmuss, sogar des Landes verwiesenzu werden.

Konferenz zweier Oppositions-bündnisse in Brüssel

Sowohl die „Nationale Koalition"wie das „Nationale Koordinierungs-komitee" erklärten im Juni 2016 inBrüssel zum Abschluss ihrer Konfe-

Spinnrad 4 / 2016 11

SSYYRRIIEENN

Ein Friedensplan für Syrien?!Vorraussetzungen und Punkte für einen syrischen Friedens-plan, präsentiert von Clemens Ronnefeldt am 30. September

bei einem Vortrag in Wien

� Die Zivilgesellschaft muss mit an den Verhandlungstisch

� Es braucht einen Ansatz über Syrien hinaus. Im Besonderen betrifft das den Iran und die Kurden/Kurdinnen

� Für einen Waffenstillstand:

Es wird nicht ohne einen Ausgleich zwischen Washington und Moskau gehen.

Rebellengruppen vor Ort torpedieren die Bemühungen. Um das zu überwinden müsste man:

- den Waffennachschub abstellen

- die Zersplitterungen ausgleichen

� Errichtung einer entmilitarisierten Zone

� Hilfsorganisationen brauchen Zugang zu Bedürftigen. Dies betrifft nicht nur den direkten Zugang zu den Menschen, sondern auch die Notwen-digkeit, die erforderlichen Mittel bereitzustellen.

� Einigung auf eine Übergangsregierung

� Aufhebung aller Sanktionen, die die Zivilgesellschaft treffen

� Ende der Bombadierungen

� Keine Drohnenangriffe

� Einberufung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit imNahen und Mittleren Osten

� Massive internationale Wirtschaftshilfe nach Vorbild des Marshall-Plans

� Entschuldigung des Westens für die Rolle, die diese Staaten im Konfliktund der Region spielten (z.B. koloniale Politik, Kriege, [)

� Schließung von IS Rekrutierungsbüros

� Die Türkei, Katar und Saudi Arabien müssen ihre Kooperation mit demIS beenden

� Einberufung von Wahrheits- und Versöhnungskommisionen

Was kann Österreich (Europa) tun?

� Aufnahme von Verwundeten

� Bessere Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern der Region schaffen

� Rüstungsexporte einstellen!!!

renz, dass eine Lösung des Syrien-Krieges nur durch einen Rücktrittder Regierung Assad erfolgen kön-ne, die Macht künftig einer Über-gangsregierung aus Regierung undOpposition übertragen werden sol-le - und die EU eine stärkere Rollebeim Genfer Friedensprozess spie-len möge.

Zum Irak

Eine militärische Niederlage des ISin Irak wird wesentliche Problemedes Landes nicht lösen. Dazu zäh-len Hunderttausende von Flüchtlin-gen, die u.a. vor den Kämpfen inFalludscha geflohen sind, wegender Zerstörungen nicht zurück keh-ren können - und derzeit in riesigenZeltstädten am Stadtrand von Bag-dad in größtem Elend leben. Auchohne IS zeigt sich in Irak einewachsende innere Zerrisenheit: InAnbar kämpfen u.a. Sunnit_innengegen Sunnit_innen, in BagdadSchiit_innen gegen Schiit_innenum die Macht.

Notwendig wäre eine gerechte Auf-teilung sowohl der Macht zwischenSchiit_innen, Sunnit_innen undKurd_innen, ebenso eine gerechteAufteilung der (Öl-)Ressourcen desLandes. Die guten Erdöl-Geschäftezwischen dem Kurdenführer Barz-ani im Nordirak (unter kurdischerAutonomie) laufen ohne Beteili-gung der Zentralregierung in Bag-dad ab.

Artikel vom Sommer 2016, Vortragin Wien am 30. September 2016.Text redaktionell bearbeitet undgekürzt von Lucia Hämmerle.

(1) www.armedforcesjournal.com/ pipe-line-politics-in-syria/

(2) Anmerkung der Redaktion: Im Spät-winter 2016 sind es 75.000 Menschenan der syrischen Grenze zu Jordanien.Der Winter bedeutet für sie nochschlimmere Bedingungen:www.msf.org/en/article/jordan-winter-will-bring-even-more-desperate-living-conditions-over-75000-syrians-stran-ded

Adopt a Revolutionwww.adoptrevolution.org

Das Projekt wurde von deutschenund syrischen Aktivist_innen alsunabhängige Initiative als Folge aufBashar-Al Assads Angriffe auf dieDemonstrationen gegründet.

Die Ziele, die verfolgt werden, de-cken mehrere Teilbereiche derKonfliktlösung ab. Zum einen bietetdas Projekt den zumeist ehrenamt-lich arbeitenden Komitees vor Ortfinanzielle Unterstützung, denen oftdas nötige Geld für Anwält_innenfür die Betreuung von Gefangenenoder Lebensunterhaltskosten fürpolitisch Verfolgte fehlt. Zusätzlichgründete die Initiative ein Modell,bei dem Deutsche Patenschaftenmit Syrer_innen eingehen können,um somit solidarische Nähe aufzu-bauen und einen Bezug zum Landzu schaffen.

Ziel ist es einen Wissenstransferzwischen hiesigen und syrischenGruppen herzustellen, um bei-spielsweise Ratschläge darüber zugeben, welche effektive Rolle dieZivilgesellschaft in und nach einerDiktatur übernehmen kann. Eine„zivilgesellschaftliche Intervention"soll durch das Projekt geschaffenwerden, um einen Gegenpol zurvorherrschenden, militärischen Ge-walt zu bilden.

Somit ist ein sehr zentraler Punktdes Projekts die Unterstützung vonzivilen Initiativen wie beispiels-weise des Mandela Hauses inQamishli, welches ethnische undreligiöse Gruppen unter einemDach vereint und mit Aktivitäten wieWorkshops, Seminaren und FilmenAufmerksamkeit auf bestimmteThemen lenkt (z.B. Kampagnegegen Gewalt an Frauen). Geradedie zivilgesellschaftliche Kompo-nente macht das Projekt so span-nend. Durch die mentale und finan-zielle Unterstützung werden syri-sche Friedensinitiativen auf derGraswurzelebene ermutigt, sich zuetablieren und ihren Einfluss zuvergrößern.

Die Syria Campaignhttps://thesyriacampaign.org/

Was vertritt die Syria Campaign?

Die Kampagne exisitiert seit 2014und mobilisiert Menschen aus allerWelt, die Gewalt in Syrien zu stop-pen. Der Zweck ist, den Friedens-prozess zu unterstützen und denWeg für eine gewaltfreie und demo-kratische Zukunft in Syrien zu öff-nen. Ihre Arbeit gliedert sich in zweiArbeitsbereiche. Zum einen erstelltThe Syria Campaign Informations-material, in Form von Berichten,Grafiken oder Videos, um Aufmerk-samkeit auf die Situation zu lenken.Zum anderen organisiert sie größe-re Kampagnen.

Die Kampagne agiert unter demGrundsatz, dass nur die syrischeBevölkerung selbst den Kriegbeenden kann, da Lösungen fürden Konflikt nicht in fernen Städtenentworfen und dann „vom Himmelherabgeworfen" werden können.Aufgabe der internationalen Ge-meinschaft ist es zu mobilisierenund die Syrer_innen in ihremKampf für den Frieden zu unterstüt-zen.

Spinnrad 4 / 201612

SSYYRRIIEENN

Initiativen zu Syrien

13 Spinnrad 4 / 2016

Als wir, eine Gruppe interna-tionaler Friedensaktivist-_innen zusammen mit her-

ausragenden Mitgliedern der syri-schen Zivilgesellschaft unserenersten Aufruf 2012 verfassten, indem wir erklärten, dass das Blut-vergießen nur durch eine politischeLösung der syrischen Menschenselbst beendet werden könnte,ahnten wir noch nichts von denAusmaßen der humanitären Kata-strophe, die heute stattfindet. Wirhofften, dass nach dem Krieg imIrak und in Libyen die größeren undkleineren Kräfte ihren Einfluss aus-üben würden und eine Atmosphäredes Spannungsabbaus zwischenden antagonistischen Kräften, dieauf syrischem Boden gegeneinan-der kämpfen, schaffen. Aber dasGegenteil war der Fall: die interna-tionale Gemeinschaft der National-staaten benahm sich wie Aasgeiergegenüber den Opfern der syri-schen Zivilgesellschaft und mono-polisierte immer mehr die Multi-Kriegs-Szenarien. Dabei standenihre eigenen Interessen im Mittel-punkt ihrer Außenpolitik, die aufeinen nicht enden wollendenMachtkampf in der ganzen Regionausgerichtet waren.

Fünfeinhalb Jahre nach dem Aus-bruch des syrischen Konflikts soll-ten diese Kräfte zumindest ehrlichgenug sein anzuerkennen, dassihre Strategien gescheitert sind –selbst die jener, die gute Absichtenhatten. Spätestens jetzt, konfron-tiert mit hunderten und tausendenGräbern und Millionen von Flücht-lingen sollten sie ihre sogenannte„Unterstützung“, die daraus bestehtimmer mehr Zivilist_innen aus ver-schiedenen Regionen, Religionenund Ethnien zu bombardieren, ein-stellen und den Weg für jene Kräftefrei machen, die als einzige dasBlutvergießen eindämmen können:

die syrische Zivilgesellschaft.

Syrer_innen eine Stimme geben

Es ist nicht wahr, dass Syrer_innenkeine eigene Stimme haben. Wäh-rend unserer verschiedenen Bemü-hungen den Frieden in diesemerschlagenen und verfolgten Landkeimen zu lassen, hörten wir sieweinen und manchmal schreien: inDamaskus, in Aleppo und in denKurdischen Gebieten. Und wir hör-ten ihre gut artikulierten Argumenteals sie die Präsenz ausländischerKämpfer_innen zurückwiesen, denBedarf nach humanitärer Hilfe unddie Dringlichkeit betonten Friedens-verhandlungen zu organisieren umden militärischen Kräften amBoden, die ausländischen Verbün-deten miteingeschlossen, ent-gegenwirken zu können.

Als unsere internationale Initiativezwei Konferenzen unter demNamen ALL SYRIAN CONSULTA-TIONS FOR PEACE IN SYRIA inÖsterreich organisierte, erarbeite-ten drei Dutzend hoch angeseheneRepräsentant_innen aus den unter-schiedlichsten Bereichen der syri-schen Zivilgesellschaft einen kon-kreten Aktionsplan. Aber nur sehrwenige Menschen hörten ihnen zu.Während unseres letzten Treffenserarbeiteten sie sogar eine Basisfür eine zukünftige Verfassung fürSyrien als Resultat von drei Tagenvoller lebhafter und manchmalauch barscher Erwägungen: zurStaatsform, zur Beziehung zwi-schen Staat und den Religionen,den Grundrechten der syrischenBürger_innen, der zukünftigen Rol-le von Frauen in der Gesellschaft.

Natürlich wäre es schön gewesen,wenn dieser öffentliche Dialog, sowie es alle Teilnehmenden sichgewünscht hätten, in Syrien statt-finden hätte können: in Damaskus,Homs, Latakia, Aleppo, Qamishli

etc. Aber aufgrund der nationalenund internationalen Geheimdien-ste, die im Land aktiv sind, ist daszur Zeit nicht möglich. Aufgrunddes hohen Sicherheitsrisikos ist esnicht einmal möglich, dass Vertre-ter_innen des breiten Spektrumsvon Repräsentant_innen der syri-schen Zivilgesellschaft sich ineinem der Nachbarländer, die aktivauf der einen oder anderen Seiteam Krieg beteiligt sind, treffen: derTürkei, dem Libanon, dem Irakoder Jordanien.

Die syrischen Flüchtlinge inGriechenland: Basis für einegrößere Friedensbewegung

Darum fuhren einige Mitgliederunserer Friedensinitiative ausDeutschland, Österreich, Syrienund Afghanistan nach Griechen-land, einem Land, das für seineGastfreundschaft und Solidaritätmit den Menschen aus dem Mittel-meerraum und dem Mittleren Ostenbekannt ist, um nach einer Möglich-keit zu suchen dort eine „Versamm-lung zur zukünftigen VerfassungSyriens“ zu organisieren. Esbrauchte nur eine Woche (vom 1.bis zum 8. November). um mithilfevon Konzerten und Podiumsdiskus-sionen, in den Flüchtlingslagernvon Athen und Lesbos herauszufin-den, dass man eine breitere Frie-densbewegung durch die Anwen-dung interkultureller Methoden, dieMenschen der ZivilgesellschaftEuropas miteinschließt, ins Rollenbringen kann.

Die nächsten Stationen sind Oslound Berlin, wo wir versuchen dieUnterstützung der norwegischenund deutschen Regierungen odereinzelner Parlamentarier_innen fürunsere Bemühungen für Frieden inSyrien zu gewinnen.

Mehr unter: www.peaceinsyria.org

SSYYRRIIEENN

Forderung nach Frieden in Syrienvon Leo Gabriel

Am Sonntag, den 2. Oktober2016, hat eine knappe Mehr-heit der Kolumbianer_innen,

mit 50.2 % gegen das Friedensab-kommen zwischen der kolumbiani-schen Regierung und den FARC-Rebell_innen gestimmt. Das Ab-kommen, welches einen schon 50Jahre andauernden bewaffnetenKonflikt beenden sollte, beinhalteteVereinbarungen über ländliche Ent-wicklung, politische Partizipationder Opposition, illegaler Drogen,Opfer and Abrüstung. Als Resultatfünfjähriger Verhandlungen unter-schrieben beide Parteien dasAbkommen im September und gin-gen Zugeständnisse ein. Insbeson-dere die FARC, die einer Abrüstungzustimmte und mögliche Gefäng-nisstrafen für ihre Verbrechen ander Menschheit in Kauf nahmen.

Es überraschte jede/n, dass „No”im Referendum gewonnen hat.Umfragen ergaben, dass das Volkmehrheitlich mit „Sí” stimmen wür-de. Sogar Anhänger_innen von„No” schienen mit keinem Sieggerechnet zu haben. Die ParteiCentro Democrático, die sich starkgegen das Abkommen aussprach,überlegte sich sogar eine Strategie,in der bestimmte Elemente der Ver-einbarung später im Parlamentangefochten werden sollten. Zu-dem implizierten die in Bogotá auf-gehängten Poster der Opponent-_innen eine bereits eingestandeneNiederlage: „Stimmen Sie Nein fürden Frieden Ihres Gewissens.”

Der „No”- Sieg verstärkte die politi-sche Unruhe im Land. Obwohl

Regierung und FARC sich bereitsgegenüber der UN verpflichtethaben, die Friedensverhandlungenwieder aufzunehmen, stellt CentroDemocrático genau diese Forde-rung, hat jedoch noch keine kon-kreten Vorschläge vorgelegt. Mit-streiter_innen der FARC, die sichvorbereiten zu demobilisieren, erle-ben einen ständigen Wandel. Derfast identische Prozentsatz der „Sí”und „No”- Befürworter_innen könn-te die schon zugespitzten Span-nungen verstärken und zu mehrPolarität zwischen Familien undOrganisationen, sowie im politi-schen, rassen- und klassenabhän-gigen Spektrum führen. Trotz derBemühungen der internationalenGemeinschaft den Friedenspro-zess in Form eines Friedensnobel-preises für Präsident Santos zuunterstützen, bleiben Unsicherhei-ten über Kolumbiens Zukunft be-stehen.

Eine geographische Analyse derErgebnisse des Plebiszits zeigteine ernüchternde Realität auf:Obwohl „No” auf nationaler Ebenegewonnen hat, stimmten fast alleGebiete, die am meisten vom Kriegbetroffen sind, für das Abkommen.Eine Ausnahme stellt Trujillo in derProvinz Valle del Cauca dar, derSchauplatz von hunderten militäri-schen und paramilitärischen Mor-den, wo mit 63% für „No” gestimmtwurde. Dennoch gewann „Sí” sehrklar in Riosucio, Chocó (91%) undApartadó, Antioquia (52%), zweiStädten, deren emblematische‚Friedensgemeinden' sich seit den

1990ern aufgrund des Guerilla-Staat-Kampfes gegen die Massen-vertreibung gewehrt haben. Auch inSan Vincente del Caguán, Caquetá(63%), dessen Einwohner_innenseit Jahrzehnten unter der Vorherr-schaft der FARC gelebt haben,wurde mehrheitlich für „Sí” ge-stimmt; ebenso in Buenaventura,Valle del Cauca (71%), wo derGrad der Gewalt in den letzten Jah-ren außer Kontrolle geraten ist undparamilitärische Gruppen ,casas depique', Häuser, in denen die Kör-per der Opfer zerstückelt werden,leiten; in Toribío, Cauca (84%), woindigene Nasa-Völker, inmitten vonbeiden Gruppen, lange um Selbst-bestimmung gekämpft haben; undin Bojayá, Chocó, der Ort einesentsetzlichen Massakers an derZivilbevölkerung 2002, wo dieFARC eine Zylinderbombe in einerKirche zündete. Der „No”-Siegmacht die Stimmen derjenigenzunichte, die an den Fronten desKrieges nach Frieden rufen.

Wie jeder andere Abstimmungs-block, haben die, die für „No”gestimmt haben - aus verschiede-nen Gruppen kommend - unter-schiedliche Argumente. Zum Bei-spiel wenden viele ein, dass dasZugeständnis der Regierung derneuen politischen Partei der FARCin den nächsten beiden Wahlzyklenzehn Sitze im Parlament zuzuteilen(derzeit besteht der Senat und dasRepräsentatenhaus aus über 260Sitzen) im Land plötzlich zu einem„castrochavismo” - d.h. gleich demSozialismus von Kubas Fidel

14 Spinnrad 4 / 2016

KKOOLLUUMMBBIIEENN

Woher kommt das „No” in Kolumbien?!von Chris Courtheyn

Mehr unter: www.versoehnungsbund.at/delegation-to-colombia/

Castro oder Venezuelas HugoChávez - führen kann. Viele verlan-gen härtere Bestrafungen für dieFARC. Laut Abkommen gäbe eseinen generellen Straferlass für diebreite Masse der Guerillas, wäh-rend FARC- Mitglieder, die vomSpecial Peace Tribunal als schuldigbefunden wurden, dem Gefängnisentgehen können, indem sie mitder Wahrheitskommission zusam-menarbeiten und mit restorativergemeinnütziger Arbeit denen hel-fen, die sie terrorisiert haben. Wie-der andere sind vehement gegendie Reintegration von demobilisier-ten FARC-Mitgliedern in die Zivilge-sellschaft. Zahlreiche Kolumbianer-_innen antworteten auf die Frage,warum sie beabsichtigen mit „No”zu stimmen, mit: „Nein, weil Nein!Nach all dem Schaden, den dieFARC angerichtet hat...” Es ist kei-ne Übertreibung zu sagen, dassunter den kolumbianischen Bevöl-kerung ein tief verwurzelter Hassgegen die FARC, und wie die „No”-Stimmen bezeugen, ein Widerwillederen Mitgliedern entgegenzukom-men besteht. Ein klarer Faktor istdie Opposition des ehemaligenPräsidenten Álvaro Uribe, Führerdes Centro Democrático, der mitseiner extrem rechten Vorgehens-weise beabsichtigte die Guerillasmilitärisch zu vernichten. VieleMenschen in verschiedenen TeilenKolumbiens teilen diese Meinung.

Eine andere Strömung gegen das„Sí” ist eine stark patriarchalischeBewegung, die die „Genderideolo-gie” des Abkommens ablehnt. Tat-sächlich ist das Abkommen histo-risch in dem Sinne, dass Frauenals primäre Opfer des bewaffnetenKonflikts anerkannt werden. UndDelegationen von weiblichen Op-fern der Staats-, Paramilitär- undGuerillagewalt haben ihre Ge-schichten und Forderungen an dieRegierung und FARC am Verhand-lungstisch in Havana präsentiert.Als Ergebnis befinden sich zahlrei-che Bekenntnisse zu Frauenrech-

ten - wie auch zu Rechten von Indi-genen, Afro-Kolumbianer_innen,Campesinos und Campesinas(Bauern und Bäuerinnen) und derLGBT-Gruppe - im Abkommen. Die„No”-Bewegung, welche verschie-dene Bereiche des christlichenSektors mit einschließt, hat somitdas Friedensabkommen als Gefahrfür die traditionelle und heteronor-mative Familie gebrandmarkt. Diesfand starke Resonanz bei Konser-vativen und Homophoben undschien viele Wähler_innen motiviertzu haben. Außerdem offenbarteJuan Carlos Vélez, ein Organisatorder „No”-Kampagne, nach demReferendum seine Strategie, Lügenüber das Abkommen erzählt zuhaben, die in den Medien weiter-verbreitet wurden.

Ich möchte die Analyse aus einerkritischen Perspektive in Bezug aufdie „Rasse” vertiefen. Bisher hatsich niemand mit der Rassendyna-mik der Abstimmung auseinander-gesetzt. Viele Kommentator_innenhaben sich zum Land-Stadt-Unter-schied geäußert, wobei ländlicheRegionen dazu geneigt haben dasAbkommen zu unterstützen, wäh-rend Städte, verschont von direktenEinflüssen des Krieges, eher dage-gen gestimmt haben. Allerdingsgibt es große Ausnahmen bei die-ser Korrelation. Während großeStädte wie Medellín und Bucara-manga für „No” stimmten (63% und55%), gewann „Sí” in Bogotá(56%), Cali (54%) und Barranquilla(57%). Ich würde darum auf die vielstärkere Korrelation zwischen Ras-se und Ethnie hinweisen.

Die Regionen/Provinzen des Lan-des mit der größten Konzentrationan Indigenen und Schwarzenstimmten alle mit „Sí”: Chocó(80%), Valle del Cauca (53%), Cau-ca (67%), Narino (65%), Putu-mayo (66%), Amazonas (57%),Vaupés (78%), Guaviare (53%),Guainía (56%), Vichada (51%),Magdalena (61%) und La Guajira(61%). Die Teile Kolumbiens, die

mehrheitlich für „No” gestimmthaben, sind bekannt als „paisas”:Antioquia (62%, wo Medellín liegt),Quindío (60%), Caldas (57%), undRisaralda (56%). Paisas feiern ihreangeblich pure spanische und jüdi-sche Herkunft, sowie ihre ,zivilisier-ten’ Werte in Bezug auf harteArbeit, Unternehmertum, katholi-schen Glauben und Konservati-vismus. Studien von Expert_innen,wie Cristina Rojas und ClaudiaSteiner, zeigten, dass paisa einenCode für „Weißheit” darstellen soll,um zu verdeutlichen, dass dieseLeute die „europäischsten” derBevölkerung sind. Auch Autorenwie Frantz Fanon und Frank Wil-derson zeigten auf: indem manbehauptet „zivilisiert” zu sein, ver-unglimpft man damit die „Barbar-en” - Nicht-Weiße, Indigene undMenschen mit afrikanischer Ab-stammung.

Gibt es eine Beziehung zwischenRasse und dem Referendum?Zumindest existiert eine Korrelationzwischen der ethnischen Zusam-mensetzung der Menschen in denWahlgebieten und ihrer „Sí” oder„No” Stimme. Die Stimmen der pai-sa-Regionen sorgten dafür, dass„No” mit einer knappen Mehrheitauf nationaler Ebene gewonnenhat. Oder, in anderen Worten, dieindigenen und schwarzen Wähler-_innen, die für „Sí” gestimmt ha-ben, verhinderten ein „No” auf derländlichen Seite. Selbstverständ-lich gibt es nirgends ein Ergebnisvon 100%: die Überschneidungzwischen Ethnizität und Stimmver-halten zeigt generelle Neigungenauf, aber keine absolute Kausalität.Und sicherlich, wie oben beschrie-ben, existieren viele andere Fakto-ren, die Wähler_innen dazu veran-lasst haben für „No” zu stimmen,die nicht auf Rasse zurückzuführensind.

Trotzdem meine ich, dass in der„No”-Bewegung implizit ein rassisti-sches Projekt enthalten ist. Derradikale Widerwille der FARC

15Spinnrad 4 / 2016

KKOOLLUUMMBBIIEENN

gegenüber irgendwelche Zuge-ständnisse zu machen, ist verbun-den mit einer sehr konservativenIdeologie, die sich vor einer sozia-len Transformation in Bezug aufLand-, Vermögensverteilung undpatriachalische Hierarchien fürch-tet. Wie schwarze Feminist_innenwie Kimberlé Crenshaw vermerkthaben, überschneiden sich Artender Dominanz, wie Sexismus, Ras-sismus und Klassenausbeutung,auf komplexe Weise, was dieUnterscheidung von Patriarchatund Rassismus erschwert.

Denn welche Menschen sind Teilder FARC? Zum größten Teil sindes ländliche Bauern und Bäuerin-nen: campesinos und campesinas.Und wer sind die campesinos? Diemeisten sind direkte Nachfahr-_innen von indigenen und afrikani-schen Völkern, auch wenn sich vie-le als sogenannte „mestizos”(Mestiz_innen) identifizieren. Wiesehr sich die mestizo campesinosauch von ihrer indigenen oder afri-kanischen Herkunft distanizierenmögen, es reicht nicht aus, um derfortwährenden Diskriminierung ge-gen Nicht-Weiße zu entkommmen.

Die FARC selbst hat dieses rassi-stische Projekt gestärkt, indem sieindigene und schwarze Gemein-schaften, die sich der Autorität derFARC widersetzten, attackierte, sowie die Nasa in Toribio, Cauca. DieTatsache, dass solche Gruppenaufgrund ihres Kampfes um Auto-nomie und ihres Widerwillens, einerder beiden Seiten zuzugehören,die primären Opfer des FARC-Staats-Krieges waren, führte dazu,dass so viele dieser ethnischenGemeinschaften für das Abkom-men gestimmt haben.

Die „No”- Stimme gegen die ,Rein-tegration' der FARC in die ;Zivilge-sellschaft' stellt eine tief rassisti-sche Vorstellung dar, mit der ver-sucht wird, nicht nur dasGeschlechts- und Klassen-, son-dern auch das Rassenprivileg zu

schützen. Die „No”-Argumentegegen magere Zuschüsse fürdemobilisierte Guerillas für ihrenUmstieg weg vom Kampffeld, erin-nern mich an den Anti-Sozialhilfe-Diskurs in den Vereinigten Staaten,der für die Einstellung „Keine mei-ner (weißen) Steuergelder an diese(schwarzen) Crack-Babies“ stand.So wie die Black Lives MatterBewegung in den USA die Thema-tisierung rassistisch begründeterGewalt in der öffentliche Debatteeinforderte, wird es von wesent-licher Bedeutung sein, auf die Stim-men der indigenen und schwarzenOrganisationen in Kolumbien, wieBlack Communities Process (PCN)und die Association of IndigenousCouncils in Northern Cauca-ACIN,zu hören um den Rassismus, derdem kolumbianischen Krieg zuGrunde liegt, zu dekonstruieren.

Der knappe „No”-Sieg, den rechts-radikalen Flügel bestätigend, wardefinitiv eine Niederlage für dieGestaltung einer gerechten Zukunftin Kolumbien. Aber in Städten wieCauca und Chocó bis hin zu Bogo-tá und Medellín, warteten die Orga-nisationen von Opfern, Wehrdienst-verweigerern und indigenen bzw.afrikanischstämmigen Campesi-nos/as nicht auf eine Einigung vonStaat und FARC, um durch autono-me Projekte für Würde innerhalbund zwischen GemeinschaftenFrieden zu schaffen. Der stilleMarsch in Bogotá am Mittwoch,den 5. Oktober - die größte Mas-senmobilisierung für Frieden, ge-meinsam mit dem Friedensnobel-preis für Santos, lässt neues Lebenin den Friedensprozess kommen.Die kolumbianische Bewegung fürsoziale Gerechtigkeit ist nicht bereitaufzugeben und verdient in diesementscheidenden Moment unsereinternationale Solidarität in ihremKampf für die Art des Friedens, derin Kolumbien herrschen soll.

Übersetzung: Zeynep Tastekin

Im letzten „Spinnrad“ wurde dieMotivation und die Struktur die-ses im April 2014 erschienenen

Dokuments, herausgegeben vonCONPAZ und unterstützt von derzwischenkirchlichen KommissionJustitia und Pax, vorgestellt. EineAuswahl konkreter Fälle wurde indieser Ausgabe in Aussicht gestellt.

In 50 Dokumentationen werden inBriefen und Rundschreiben vonBischöfen und Priestern sowieAnzeigen gegen Geschwister dereigenen Kirche die direkten undstrukturellen, gewalttätigen Aktio-nen aufgezeigt, die innerhalb vonvier Jahrzehnten in Kolumbienbegangen wurden. Nach Durch-sicht der Dokumentationen er-schien es dem Berichterstatternicht opportun, konkrete Fälle dar-zustellen und Personen zu benen-nen. Es liegt nicht an uns zu rich-ten, sondern die Vorfälle darzustel-len. Deshalb hat er sich dazu ent-schlossen, lieber jene Denkweisendarzulegen, aus denen die Gewalt-strukturen erwuchsen, in die dieKirche verwickelt war.

Die früheste Motivation für Gewalt-ausübung innerhalb der Hierarchie,aber auch gegenüber der Bevölke-rung war der Antikommunismusund in weiterer Folge die Theologieder Befreiung, die sich vor allem inden Basisgemeinden ausbreitete.Im Einvernehmen mit der Regie-rung und unterstützt durch dasPontifikat von Johannes Paul II.war dies eine der Hauptmotivatio-nen zur Verfolgung von Priestern,Gemeinden, Personen, die sich derBefreiungsbewegung zugehörigfühlten.

In diesem „Kulturkampf“ gegen alle„linken“ Bewegungen sah sich dieKirche, insbesondere deren leiten-de Personen, angefangen vonPriestern, Prälaten, bis zu Bischö-fen, ja bis zum Erzbischof undGeneralsekretär der lateinamerika-nischen Bischofskonferenz, dazuberufen, im Einvernehmen mit

16 Spinnrad 4 / 2016

KKOOLLUUMMBBIIEENN

staatlichen Behörden und unterEinfluss der USA alle anscheinend„linken“ Bewegungen maßzure-geln, zu zerschlagen und zubestrafen.

Diffamierungen, Verleumdungen,Versetzungen waren Mittel, wobeisogar der Tod der Betroffenen inKauf genommen wurde. So wandtesich ein Gemeindepfarrer an sei-nen Bischof, da er sich von Geg-ner_innen seiner die Ärmstenbeschützenden Seelsorge bedrohtsah. Sein Bischof sandte ihn in dieGemeinde zurück, mit dem Hin-weis, er möge sich im konkretenFall melden. Prompt wurde erermordet, aber die Diözese teiltemit, dass sie von allem nichtsgewusst hätte.

Eine weitere „Schlagseite“ von vie-len prominenten Vertretern der Kir-che war deren Naheverhältnis zu„Größen“ der Drogenmafia. VonBischöfen und Prälaten wurdenAnlagen und Villen der Drogenbos-se gesegnet, bereitwillig großzügi-ge Spenden angenommen undangeblich unter den Armen (derPrälaten?) verteilt, deren Ge-schäftstätigkeiten keineswegs ver-urteilt, denn hätten diese es nichtgetan, wären es andere gewesen.Da wurden auch die Paramilitärs,bewaffnete Organisationen vonGroßgrund- und Minenbesitzer-_innen sowie Industriellen, durch-aus als Partner und Verbündeteakzeptiert, auch wenn sie völligunkontrolliert „Recht“ durchsetzten,das heißt willkürlich Menschen zuvertreiben, ja zu töten, die ihrenPlänen entgegenstanden.

Ein weiterer Block bezieht sich dar-auf, dass – aus welchen Gründenauch immer (Neid, Strenggläubig-keit, Fundamentalismus?) – De-nunziationen gegenüber anderenSeelsorgern, Ordensmitgliedern, in

kirchlichen Diensten Stehenden er-folgten und entsprechend von denVorgesetzten geahndet wurden.

Schließlich ist noch die Gleichgül-tigkeit, die Taubheit gegenüber denAnliegen benachteiligter Bevölke-rungsgruppen, deren Anliegen esist, sich aus all den bewaffnetenKonflikten herauszuhalten, hervor-zuheben. Hier ist auch die Ignoranzvon höheren kirchlichen Stellengegenüber den Anliegen etwa der -vom Internationalen Versöhnungs-bund und dessen österreichischenZweig - unterstützten Friedensge-meinde von San José de Apartadóeinzuordnen. Einige wenige Seel-sorger, die sich dafür einsetzten,erfuhren keinerlei Rückhalt beiihren Vorgesetzten, sondern imGegenteil wurden ermahnt, sichnicht derart zu engagieren.

In einem vierseitigen Epilog desDokumentes wird auf eine ver-hängnisvolle Folge von Dekreten,einerseits der obersten HeiligenKongregation des Pontifikats vonPapst Pius XII. aus dem Jahr 1949,andererseits der kolumbianischenDiktatur unter Rojas Pinilla von1956 verwiesen, die bis in unsereZeit hineinwirkten. 2011 wurde einPapier hoher Funktionäre der ko-lumbianischen Staatssicherheit zurFormierung paramilitärischer Ein-heiten aufgedeckt, das sich auf die-

se beiden Dekrete stützt und dar-aus verheerende Schlussfolgerun-gen zieht. In dieser Instruktion wur-de theologisch, moralisch und juri-stisch die Todesstrafe für die Oppo-sition gerechtfertigt. „Kommunist-_innen zu töten ist keine Sünde,Kommunist_innen zu töten ist keinDelikt“. Viele Strukturen der katholi-schen Kirche Kolumbiens habendazu beigetragen, dass diese Pas-sagen ernst genommen wurden.

Abschließend wird in dem Doku-ment festgestellt, dass eine Füllevon Details zu Maßnahmen, die dieAuslöschung der gegnerischen Ide-ologien bezweckten, aufgezeigtwurde. Darin wurzelt die außeror-dentliche Verantwortung, derenperversen Beitrag zur Gewalt inKolumbien darzustellen und derKirche zur Last zu legen. Die Gele-genheit Schritte in diese Richtungzu setzen, waren der Friedensdia-log mit den Guerilleros/as, derunter dem Pontifikat von PapstFranziskus möglich wurde. Viel-leicht gibt es dazu keine weitereMöglichkeit.

Übersetzung, redaktionelle Bear-beitung und Zusammenfassungdurch Herbert Peherstorfer

Das hier behandelte Dokumentkann auf Anfrage im Büro zuge-schickt werden (Spanisch, 102 S.)!

17Spinnrad 4 / 2016

KKOOLLUUMMBBIIEENN

Verwicklungen der Kirche in die Gewalt in Kolumbien IIvon Herbert Peherstorfer

Foto von Fernando Garcia auf flickr.com (CC BY 2.0)

Obwohl in der geschriebenenTora (wörtlich: Weisung;die ersten fünf Bücher der

hebräischen Bibel) viele Akte derGewalt beschrieben sind, habendie rabbinischen Weisen, die diemündliche Tora entwickelten, eineReihe von Strategien geschaffen,die alle gemeinsam die Anwendungdieser Passagen auf die reale Welteliminierten oder zumindest starkbeschränkten. Dieser Prozess derBegrenzung der Anwendung vonbiblischen Geboten, die Gewaltbefürworten, führten zur Entwick-lung einer Präferenz für Gewaltfrei-heit als Lebensweg im rabbini-schen Judentum. RabbinischesJudentum ehrt selten Krieger-_innen. Stattdessen zeigt das klas-sische Judentum eine Vorliebe für

die Weisheit der Weisen, die sichdem Studium, dem Dienst an derGemeinschaft und dem Gebet ver-schreiben, und betrachtet Gewaltals muktzeh (wörtlich: agesondert;nicht für den Gebrauch am sabbaterlaubt), etwas, was völlig vermie-den werden sollte. Die folgendenausgewählten Beispiele illustrierendie Präferenz des rabbinischenJudentums für Gewaltfreiheit.

Während die geschriebene Tora dieberühmten Passagen enthält, die„ein Auge für ein Auge“ fordern,interpretieren die rabbinischenWeisen das nie wörtlich. Vielmehrverstehen sie „ein Auge für einAuge“ als angemessene finanzielleEntschädigung. Hinsichtlich derAnweisung, ein aufsässiges Kind

zu Tode zu steinigen, merken dieWeisen an, dass das Steinigeneines Kindes nie angewendet wur-de: „Es ge-schah nie und wird niegeschehen!“ Sie konnten sich ein-fach kein moralisches Universumvorstellen, in dem diese Art desVerhaltens, das von der Tora sank-tioniert ist, erlaubt war.

Als Antwort auf die Bibelstellen, dieGottes Gebot zur Ermordung allerMoabiter_innen enthalten, bietetdie Tora sogar eine Gegenerzäh-lung, die dem Gebot zu widerspre-chen scheint. Rut ist eine moabiti-sche Frau, deren Güte als Modellfür göttliches Verhalten, das dieBotschaft der Tora verdeutlicht,gefeiert wird. So haben die rabbini-schen Weisen die Lesung aus der

18 Spinnrad 4 / 2016

JJUUDDEENNTTUUMM

Das Tägliche Vorhaben der Shomer ShalomIch glaube, dass die Praxis des Judentums und die Praxis aller Religionen um des Friedens willen passiert. Darumwidersage ich um des Friedens willen und für die Erfüllung des "hashomer akhi anokhi" (Ich bin verantwortlichfür den Schutz des Lebens und des Wohlbefindens meiner Schwester und meines Bruders) der Anwendung jeg-licher Art von physischer, emotionaler, verbaler, spiritueller und wirtschaftlicher Gewalt gegenüber mir und ande-ren, und nehme hiermit den Weg der Gewaltfreiheit/shmirat shalom auf mich. Ich mache das aus freiem Willen undin vollem Bewusstsein der Verpflichtung, die ich damit eingehe.

Als Shomeret Shalom verspreche ich meinen Eifer, meine Zuwendung und Hingabe für die Prinzipien und Prakti-ken des Shmirat Shalom.

• Ich wähle ein Leben nach dem Prinzip, dass das Studium der Tora auf die Kultivierung des Friedens ausgelegt ist. Ich werde die Tora als Shomeret Shalom studieren.

• Ich wähle ein Leben nach dem Prinzip, dass das Gebet auf die Kultivierung des Friedens ausgelegt ist.Ich werde das Gebet als Shomeret Shalom beten.

• Ich wähle ein Leben nach dem Prinzip, dass der Sabbat und die Heiligen Tage auf die Kultivierung des Friedens ausgelegt sind. Ich werde den Sabbat und die Heiligen Tage als Shomeret Shalom bege-hen.

• Ich wähle ein Leben nach dem Prinzip, dass unser Befähigung zu Liebe und Gewaltfreiheit eine Notwen-digkeit für den Frieden darstellt. Ich werde als Shomeret Shalom allen Menschen mit Liebe und Gewalt- freiheit begegnen. Als Shomeret Shalom verweigere ich den Krieg.

• Ich wähle ein Leben nach dem Prinzip, dass die Erde und alles auf ihr heilig ist. Als Shomeret Shalom über-nehme ich Verantwortung für die Umwelt.

Indem ich dieses Vorhaben darlege, akzeptiere ich die Rechte und Aufgaben eines Verwalters/einer Verwalterinder Gewaltfreiheit, eines/einer Shomeret Shalom. Möge bald und noch in unseren Tagen Friede auf Erden herr-schen. Amen.

Die Tora der Gewaltfreiheit interpretierenvon Rabbi Lynn Gottlieb

19Spinnrad 4 / 2016

Schriftrolle über Rut, die Moabite-rin, zu Shawuot („Wochenfest“)festgelegt, des Tages, der denEmpfang der Tora feiert. Talmudi-sche Weise bekräftigen milde(nachsichtige) Einstellungen ge-genüber Nicht-Juden/Nicht-Jüdin-nen und anerkennen die Präsenzvon Gerechten unter allen Völkern.

Es gibt hunderte solcher Beispiele,die sich so zu einem Trend in derrabbinischen Literatur zusammenfügen, der Gewaltfreiheit favorisiertund die Missachtung für Gewaltausdrückt. Die Weisen nennenjede_n, der/die die Hand gegeneine andere Person erheben,„Rasha“, böser Mensch. Hillelsberühmter Satz: „Tue anderennichts an, was dir verhasst ist. Dasist die ganze Tora. Nun geh undstudiere (sie)“, ist ein Grundprinzipjüdischer Gewaltfreiheit. Ein sho-meret shalom („Friedensstifter-_in“) glaubt daran, dass die Toranie benutzt werden darf, um Leidzuzufügen, sondern dass alles inder Tora Leid verhindern und denFrieden fördern muss.

Dennoch gebrauchen manche die

jüdischen Schriften, sowohl diegeschriebene wie die mündlicheTora, um Gewalt zu fördern. Wennjemand eine wütende Person ist,wird er oder sie eine wütende Torafinden. Wenn jemand mitfühlendist, wird sie oder er eine mitfühlen-de Tora finden. Deshalb müssenwir – wie die Tora uns lehrt – dasLeben wählen und nicht den Tod,den Segen und nicht den Fluch.

Wie wählen wir am besten dasLeben? Menschen, die sich zumshmirat shalom (Weg des Frie-dens) als Lebensweg verpflichten,glauben daran, dass wir durch dieWahl der Gewaltfreiheit die Ver-pflichtung erfüllen, das Leben zuwählen. Gewaltfreiheit ist sowohleine persönliche wie eine kollektivePraxis. Streben wir danach, sowohldie persönliche wie die gemein-schaftliche Präsenz der Gewaltfrei-heit zu erfüllen, indem wir grenz-überschreitende, nicht-sexistischeund antirassistische Praktiken derGewaltfreiheit entwickeln, die dieMenschheit als ganze erheben.Das bedeutet auch, dass Milita-rismus durch eine jüdische Praxis

der Gewaltfreiheit nicht legitimiertist, und wer shmirat shalom prak-tiziert, soll gegen alle Erschei-nungsformen von staatlicher Ge-walt, wo immer sie vorkommen,Widerstand leisten.

Rabbi Lynn Gottlieb engagiertsich schon ihr Leben lang beimInternationalen Versöhnungsbundin den USA. Außerdem ist sie u.a.Mitbegründerin der Community ofLiving Traditions, des Shomer Sha-lom Institute for Jewish Nonviolen-ce und des Muslim Jewish PeaceWalk.

JJUUDDEENNTTUUMM

Quelle: www.facebook.com/ShomeretShalom

Jeden Tag wähle ich den Weg der Gewaltfreiheit,den shmirat shalom.

Ich glaube, dass dieser Weg das Potential hat, den größtenBeitrag zum jüdischen und weltweiten Wohlbefinden zu leisten.

Schließlich steht geschrieben: „Wer ist der größte Held und diegrößte Heldin? Es sind jene, die einen Feind zu einem

Freund machen.“

Rabbi Lynn Gottlieb

DVR 0583031Zulassungsnummer:GZ 02Z032555M

P.b.b.Internationaler VersöhnungsbundLederergasse 23/Hof2/St.3/Tür 27A-1080 Wien