ZIELSETZUNGEN DER SPRACHWISSENSCHAFT 1924 UND HEUTE. Versuch Einer Standortbestimmung Aus Anlaß Der Gründung Der Societas Linguistica Europaea

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Folia Linguistica 1967.1.1-2

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  • ZIELSETZUNGEN DER SPRACHWISSENSCHAFT1924 UND HEUTE

    Versuch einer Standortbestimrnung aus Anla der Grndung derSocietas Linguistica Europaea

    HELMUT GIPPER

    Als im Dezember des Jahres 1924 in New York die Linguistic Societyof America begrndet wurde, ging es vor allem darum, die Sprachwissen-schaft aus der untergeordneten Stellung einer bloen Hilfswissenschaft derEinzelphilologien zu befreien und ihr den Status einer eigenstndigenWissenschaft zu verschaffen. Unter den Forschern, die diese Bemhungendurch ihre theoretischen und methodischen Beitrge besonders unter-sttzten, ist vor allem Leonard Bloomfield zu nennen. Sein im Jahre1926 verffentlichter "Set of postulates for the science of language"wurde wegweisend fr ein neues Selbstverstndnis der Linguistik und freine Neuorientierung der sprachwissenschaftlichen Arbeit,

    Heute, da wir der Grndung eines europischen Pendants, der Socie-tas Linguistica Europaea, beiwohnen, scheint es nicht nur erwnscht,sondern dringend geboten zu berprfen, ob die Prmissen, unter denendie Linguistic Society of America vor nunmehr 42 Jahren ihre Ttigkeitbegann, auch heute noch gelten und ob der Weg, den Amerikas Lin-guistik damals einschlug, auch noch der unsere sein kann.

    Bloomfield suchte bekanntlich die Linguistik dadurch zu einer selb-stndigen Disziplin zu machen, da er sich am Vorbild der erfolgreichensogenannten exakten Wissenschaften orientierte. Er stand ganz auf demBoden einer positivistisch-behavioristischen Wissenschaftauffassung undforderte eine Abkehr von mentalistischen und animistischen Vorstel-lungen, von denen die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen weithinbeherrscht waren. Spter1 schien ihm eine bersetzung der herkmm-lichen Terminologie in die Sprache der Physik und der Biologie ntig,so als sei bereits dadurch ein wissenschaftlicher Fortschritt zu erreichen,da man die mentalistischen Begriffe durch naturwissenschaftlicheablste. Noch entschiedener als die Wegbereiter des logischen Em-pirismus Rudolf Carnap und Otto Neurath verlangte Bloomfield die

    1 Vgl. "Language or ideas?", Language, 12 (1936), 89-95

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    Reduzierung der sprachwissenschaftlichen Aussagen ber das Sprach-geschehen auf jene verifizierbaren Fakten des Sprechaktes, die sich nachdem Vorbild der sogenannten objektiven Psychologie Ivan PetrovicPavlovs im neurophysiologischen Denkmodell von Stimulus und responsedarstellen Hessen.

    Die Sprache wurde unter solchen Voraussetzungen systematisch denForschungsgegenstnden gleichgesetzt, mit denen es die sog. exaktenWissenschaften zu tun haben: sie sollte zu einem Objekt werden, dassich mit quantitativ-analysierenden Methoden vermeintlich vorurteilsfreiund erschpfend beschreiben lie, ohne da dabei auf auerhalb derSprache liegende Faktoren zurckgegriffen zu werden brauchte.

    Wir wissen heute, wohin dieser Weg gefhrt hat. Der sog. Strukturalis-mus wurde zur vorherrschenden Disziplin nicht nur der amerikanischen,sondern auch der europischen Linguistik (die in manchem verwandtespeziell europische Olossematik' Louis Hjelmslevs mit ihrer algebrai-sierenden Tendenz und komplexeren erkenntnistheoretischen Voraus-setzungen kann hier am Rande bleiben). Bei all ihren vielfltigen Schat-tierungen bleibt fr diese Forschungsrichtung das Bemhen kennzeich-nend, Sprachstrukturen aufgrund exakter, zunchst vornehmlich an derLautgestalt orientierter Systemerprobungen mit Ersatz- und Verschie-beproben aus einem geschlossenen Korpus sprachlicher uerungenherauszuprparieren und mglichst formal und soweit wie mglichohne Hinblick auf die Bedeutung zu beschreiben.

    Ohne auf die damit verbundene Problematik hier nher eingehen zuknnen, mchte ich diesen Ansatz mit einem von dem Kieler PhilosophenKarl Otto Apel vorgeschlagenen Terminus als einen technisch-szien-tifischen Ansatz kennzeichnen. Er ist dadurch charakterisiert, dadie Sprache als ein mit mathematiknahen Methoden manipulierbaresObjekt angesehen wird und da an ihr nur das als linguistisch relevantgilt, was sich im erkenntnistheoretischen Kategoriennetz des Neoposi-tivismus, des Behaviorismus und der formalen Logik fngt. Diese Aus-gangsposition kann auch mit Helmut Schelsky dahingehend gekennzeich-net werden, da es sich hierbei um eine objektivistische Themati-sierung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung handelt, eineThematisierung also, die sich bei unbelebten Gegenstnden bewhrt hat.

    Die Mglichkeiten, die dieser Weg bot, mgen zwar noch nicht er-schpft sein, sie werden aber begrenzt bleiben. Es ist hier nicht zuerrtern, welche Verdienste sich der Strukturalismus urn eine Reinigungund Schrfung linguistischer Methoden erworben hat. Was hier vonscharfsinnigen Forschern in minutiser Deskriptionsarbeit geleistet

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    worden ist, kann nicht hoch genug eingeschtzt werden. Da dabei dieStrenge zur Enge und damit zur Einseitigkeit fhrte, ist angesichts desallgemeinen Gewinns fr unser Fach zu entschuldigen. Wenn ich aberdas Gewonnene trotz allem doch nicht fr ausreichend halte, so nichtetwa aus der weitverbreiteten Abneigung vieler europischer Linguistengegen formalisierende, mathematisierende Verfahrensweisen im Bereicheder Geistes Wissenschaften heraus, sondern aus der Erkenntnis, da dieSprache eben ein Forschungsgegenstand besonderer Art ist, dem auf demtechnisch-szientifischen Wege noch weniger als anderen Gegenstndender Wissenschaft beizukommen ist.

    Damit ist bereits angedeutet, da die Societas Linguistica Europaeanicht einfach die Postulate, unter denen die Linguistic Society of Americaangetreten ist, bernehmen kann, sondern da sie vor allem um eineVerbreiterung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Sprach-wissenschaft und um eine entsprechende Ausweitung der Methodenbemht sein mu.

    Wir haben meines Erachtens als Europer die Verpflichtung, uns dabeides Erbes der abendlndischen Philosophie wrdig zu erweisen undeinzusehen, da die Sprache ein Phnomen ist, das so eng mit dem Wesendes Menschen verknpft ist, da wir sie uns noch weit weniger als andereObjekte unserer Welterfahrung gegenberzustellen vermgen. Unseregeistige Existenz ist derart eng in und mit der Sprache verwoben, dawir sie nie als vorurteilsfreie Beobachter in den Blick zu nehmen verm-gen. Wir stehen so vllig in der Sprache darin, sind dem Sinnhorizontder Sprache, in der wir aufgewachsen sind, oder der Sprachen, die wirerlernt haben, derart unterworfen, da wir uns alles, was wir an einerbestimmten Sprache durch Beobachtung zu erkennen hoffen, zunchsteinmal ber den eigenen Sprachbesitz vermitteln lassen mssen, dawir also alle Strukturzge und Merkmale, die wir aus unserem Unter-suchungsgegenstand herauszuprparieren gedenken, bereits in uns selbstoder in anderen Sprachteilhabern als vorgegeben voraussetzen mssen.Wir mssen voraussetzen, da es sich um Sinngebilde handelt, und wirmssen in diese Sinnzusammenhnge gleichsam hineinspringen undzugleich Distanz zu ihnen zu gewinnen suchen, wenn eine Beschreibungberhaupt mglich werden soll. Diese Lage wird durch Martin HeideggersBegriff des hermeneutisehen Zirkels treffend gekennzeichnet. Das ver-bietet uns, der Sprache nur mit Verfahrensweisen beikommen zu wollen,die den sog. exakten Wissenschaften abgelauscht sind.

    Vielmehr und damit komme ich zum Kern meines kurzen Beitrages mu die erkenntnistheoretische Basis der Sprachwissenschaft dahin-

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    gehend erweitert werden, da wir den technisch-szientifischen Ver-fahrensweisen jene Wissenschaftsauffassung komplementr zur Seitestellen, die Apel als die transzendental-hermeneutische bezeichnet hat.Das heit: Wir mssen ausdrcklich anerkennen, da Sprache prinzi-piell tnender Sinn ist, objektivierter Geist, dessen Struktur nicht aussich selbst heraus zu erfassen ist, sondern vom intendierten Zusammen-hang her interpretiert werden mu. Das heit weiter: Wir mssen denSatz von Roman Jakobson wieder eindringlich ins Bewutsein zurck-rufen: "Linguistics without meaning is meaningless."

    Wenn der Sinn, die Bedeutung, die geistig-inhaltliche Seite wiederin ihre angestammten Rechte eingesetzt wird, wie Forscher wie JohannesLohmann, Jost Trier und Leo Weisgerber es versuchen, dann folgt darauszugleich, da unsere Wissenschaft einen weiteren Rahmen braucht undals selbstgengsame Disziplin vllig unmglich ist.

    Sprache zielt auch wenn manche an dieser mentalistischen Aus-drucksweise Ansto nehmen mgen - mit ihrem biologisch-physika-lischen Aspekt auf Verfgbarmachung von Geist; Geist ist aber stetsMetaphysis in dem Sinne, da er ber sich hinausweist, und zwar imFalle der Sprache nicht nur auf das, worber gesprochen wird, auf den,der spricht, und auf die Gemeinschaft, deren Sprache beim Sprechaktaktiviert wird, sondern zugleich auf alle berrationalen Bezge, die dahin-terstecken. Eine Sprachwissenschaft, die ihrem Gegenstand also wirklichgerecht werden will, wird ganz im Gegensatz zu den Forderungennach Selbstgengsamkeit der Linguistik die Sprache als isolierten For-schungsgegenstand aufgeben mssen und statt dessen den Funktions-kreis von Mensch, Sprache und Welt in den Blick zu nehmen haben.Sie wird einsehen mssen, da Sprache nicht ausschlielich objektivi-stisch thematisiert werden kann, sondern da sie zugleich in ihrem Kern-bereich im Sinne Schelskys subjektivistisch thematisiert werden mu,wie belebte Forschungsgegenstnde mit eigenstndiger Individualitt, undda deshalb so umstrittene Instanzen wie Sprachempfinden oder Sprach-gefhl (Intuition of the native Speaker'), das also, was der Sprecher anseiner Sprache erlebt und was der Forscher durch Selbstbeobachtunginterpretieren kann, als irreduzible Kontrollinstanzen anzuerkennen undvoll in Rechnung zu stellen sind.

    Das bedeutet aber, da die Sprachwissenschaft, ob sie es nun willoder nicht, aus ihrer Isolierung herausstreben und die Verbindung mitallen Wissenschaftszweigen suchen mu, die Aufschlsse ber dieWechselwirkungen zwischen Mensch, Sprache und Welt zu geben

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    vermgen.2 Mit anderen Worten: Wir mssen die Zusammenarbeit nichtnur mit allen Wissenschaften vom Menschen suchen, als da sind: Philo-sophie, Psychologie, Anthropologie, Ethnologie, Kommunikations-wissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, usw., sondern darberhinaus auch mit anderen Wissenschaften, also z.B. der Mathematik,Physik und Chemie, um Aufschlsse ber Spezialfragen zu erhalten.Sogar scheinbar fernliegende Forschungszweige wie die moderne Zyto-logie (Zellforschung) knnen fr die Sprachforschung wichtig werden,wenn sie z.B., wie es die revolutionierende Entwicklung auf diesemGebiet wahrscheinlich macht, Aufschlsse ber Struktur und Funktions-weise der Sprachzentren des Gehirns zu geben versprechen.

    Indem ich dieses mit voller berzeugung ausspreche, bin ich mirdurchaus bewut, da ich mit Widerspruch aus Ihren Reihen rechnenmu. Mancher wird entgegnen wollen, die Sprachen als solche seienbereits ein so unerschpfliches Untersuchungsfeld, da man tunlichstalles fernhalten sollte, was auerhalb liege. Man kann mir zurufen:Schuster, bleib bei deinem Leisten! Sei froh, wenn du mit einem kleinenrein linguistischen Problem fertig wirst und belaste ein an sich schonberkomplexes Gebiet nicht noch mit zustzlichen Forderungen!

    Darauf kann ich nur antworten: Was soll ein Schuster machen, dessenLeisten nun einmal, wie die Dinge liegen, in alle Bereiche menschlichenWissens und Forschens hineinreicht? Wir knnen eben fast keinesprachwissenschaftliche Frage ausreichend beantworten, wenn wir nichtber den engeren Bereich unseres Faches hinausblicken.

    Schon die Beschreibung des phonologischen Systems einer Sprachezwingt, auch wenn dies meist verschwiegen wird, zur Bercksichtigungder Sprachinhalte, welche berhaupt erst die Unterscheidungskriterienliefern. Diese sind aber stets von auersprachlichen Faktoren mitbestimmt.Auerdem wird sich etwa die Frage, weshalb in einer bestimmtenSprachgemeinschaft gerade diese und keine anderen Oppositionen heraus-gebildet wurden, ohne den Blick auf weitere sprachtypologische Zusam-menhnge und ohne Bercksichtigung auersprachlicher Faktoren, zudenen die Psychologie und die Anthropologie gehrt werden mssen,nicht beantworten lassen. Eine rein negative Bestimmung der distinctivefeatures einer Sprache gem dem Satze Ferdinand de Saussures:"H n'y a dans la langue que des differences mais sans termes positifs",kann uns nicht mehr befriedigen. Wenn wir aber nach positiven Bestim-mungen suchen, wird eine Ausweitung des Blickfeldes unausweichlich.

    *

    3 Vgl. dazu H. Gipper, Bausteine zur Sprachinhahsforschung (Dsseldorf, Schwann,

    1963), 6. Kap.: "Eigenwelt und Sprachwelt".

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    Wer ein lexikalisches Problem aufgreift und etwa die Farbwrtereiner Sprache beschreiben will, wird dies nicht in einem erschpfendenSinne tun knnen, ohne sich ber die besonderen Bedingungen desmenschlichen Farbensehens und -empfindens sowie ber die Eigenartder elektrophysikalischen Anste, die solche Empfindungen auszulsenvermgen, zu orientieren. Er wird ferner gut daran tun, sich auch ber diebesonderen Eigenschaften der Sehdinge, die in der betreifenden Sprach-gemeinschaft vorrangige Bedeutung haben und infolgedessen wortstif-tend und inhaltbestimmend geworden sein knnen, zu informieren. Manwird mir vielleicht entgegenhalten, es seien doch unzhlige Untersuchun-gen auf diesem Gebiet ohne Einbeziehung auersprachlicher Faktorengemacht worden. Darauf ist nur zu antworten: Dies war aber letztenEndes nur darum in gewissem Mae mglich, weil einfach alle Bedin-gungen des Farbensehens als selbstverstndlich und deshalb keiner Er-whnung bedrftig vorausgesetzt wurden. Die Wissenschaft hat aberdie Verpflichtung, mglichst alle Voraussetzungen explizit zu machen,damit Nachvollziehbarkeit und Verifizierbarkeit der gemachten Beobach-tungen gewhrleistet werden.

    Wie sehr man nach allen Seiten blicken mu, um auch nur eine einzigeFrage in diesem Sinnbereich ausreichend beantworten zu knnen, habeich an dem umstrittenen griechischen Farbwort 'purpurn'zu zeigen versucht.3 Hier war weder von der Etymologie allein noch vomKontext her, weder vom Blick auf Wrter und Sachen und auf diespeziellen Bedingungen der Purpurgewinnung im Altertum noch vonder Erforschung bestimmter Naturerscheinungen her ein ausreichen-der Aufschlu ber die inhaltliche Geltung zu gewinnen. Vielmehrmuten innersprachliche Gliederungsgesichtspunkte hinzugewonnenwerden und diese dann vor dem Hintergrund auersprachlicher Faktorenbeurteilt werden, um so Eigen- und Stellenwert dieses Wortes zweifelsfreizu ermitteln. Es versteht sich, da alle hheren Einheiten der Sprachen,also alle Strukturen syntaktischer Art, ebensowenig aus sich herausausreichend zu interpretieren sind. Weder die von Wilhelm von Hum-boldt gewnschte und von Leo Weisgerber in Angriff genommene Er-forschung der verschiedenen Weltansichten der Sprachen noch eine inHumboldts Bahnen voranschreitende umfassende Sprachentypologie,wie Ernst Lewy und Johannes Lohmann sie versuchen, ist mglich ohnedie Einbeziehung aller mglichen Formen menschlicher Welterfahrungund damit ohne die Untersttzung anderer Disziplinen. Dies ist aller-dings ein so unermelich weites Feld, da ich auf jeden Versuch, diesea Glotta, 42 (1964), 39-69.

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    allgemeine Bemerkung zu konkretisieren, an dieser Stelle verzichten mu.Worauf es mir in meinen notwendigerweise etwas aphoristischen

    Bemerkungen ankam, war lediglich dieses: Ich wollte nicht versumen,der Societas Linguistica Europaea diesen Wunsch mit auf den Weg zugeben: Sie mge bestrebt sein, jeder Einseitigkeit in linguisticis entgegen-zutreten und bestehende methodische Gegenstze zwischen einzelnenStrmungen nicht durch Polemik zu verschrfen, sondern im Gegenteilauf Erweiterung der erkenntnistheoretischen Grundlagen unseres Fachesdringen und anerkennen, da weder eine nur objektivistische noch einenur subjektivistische Thematisierung im Sinne Schelskys dem Gegen-stand Sprache gerecht zu werden vermag, sondern da vielmehr dietechnisch-szientifisch orientierten und die transzendental-hermeneutischausgerichteten Strmungen nach einer komplementren Ergnzungstreben sollten, so wie auch in der modernen Physik seit Niels Bohrder Begriff der Komplementaritt fr ein Verstndnis der komplexenPhnomene als absolut notwendig erkannt worden ist.

    Je breiter das Fundament der neuen Gesellschaft entworfen wird,desto fester und hher werden wir bauen knnen. Wir dienen dem ErbeLeonard Bloomfields und selbst dem des Pioniers Ferdinand de Saussurenicht, wenn wir bei ihnen stehen bleiben. Ihre Postulate und Systement-wrfe werden in dem Mae zu eng fr uns, als ihre methodische Grund-lage zur Einseitigkeit und zur Einengung des Blickes gefhrt hat. Es warzu einem bestimmten Zeitpunkt gut und ntig, das Schiff der Sprach-wissenschaft durch eine Generalreinigung von alten Schlacken zu be-freien und wieder flott zu machen. Es war segensreich, strenge Distink-tionen wie die von 'langue' und *parole', 'signifiant* und 'signifie', 'Syn-chronie' und 'Diachronie' einzufhren und jede Sprache als ein Systemvon Zeichen zu deuten. Wir haben heute aber zu erkennen, da es damitnoch nicht getan ist, da etwa die Saussuresche Zeichenterminologiedaran krankt, da sie die Sprachen als Zeichensysteme unter anderensehen lehrt, whrend in Wahrheit alle auffindbaren Zeichensystemegegenber dem Urphnomen der Sprache als Epiphnomene anzusehensind. Die Sprache kann aber nicht von abgeleiteten Erscheinungen herausreichend beurteilt werden. Weil die genannten Wegbereiter der mo-dernen Linguistik bei aller Genialitt einseitig waren, ja einseitig seinmuten, um Neues durchzusetzen, sind sie heute schon zum guten Teilhistorisch geworden. Ganz anders etwa ein Mann wie Wilhelm von Hum-boldt, der eben, weil er so ungeheuer vielseitig war, zunchst wenigDurchschlagskraft besa, darum aber auch heute noch uns allen unend-lich vieles zu sagen hat.

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    Wir mssen nach Erweiterung und nach neuen Synthesen suchen.Nicht durch Polemik, sondern nur durch Zusammenarbeit aller werdendie Aufgaben, vor die sich die moderne Sprachwissenschaft gestelltsieht, gelst werden knnen* Nur so kann die Sprachwissenschaft daswerden, was sie lngst sein sollte: Grundlagenforschung innerhalb derWissenschaften vom Menschen.4

    28. ii. 19665500 BonnSprachwissenschaftlichesInstitut der UniversittAm Hof 2Bundesrepublik Deutschland

    4 Erluternde Informationen und weitere Literaturangaben zu diesem Kurzreferat

    und den hier erwhnten Arbeiten bietet das von H. Gipper und H. Schwarz heraus-gegebene Bibliographische Handbuch zur Sprachinhaltsforschung, dessen I. Band(A-G) 1966 abgeschlossen wurde (Kln-Opladen, Westdeutscher Verlag). Vgl.besonders die Einleitung sowie die Besprechungen zu den Arbeiten von K. O. Apel,L. Bloomfield, R. Carnap, Z. S. Harris (8. Lfg. = 1. Lfg. des 2. Bandes, 1966); M.Heidegger, L. Hjelmslev (9. Lfg., erscheint 1967); E. Lewy, J. Lohmann (in Vorbe-reitung).