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Kapitel 3.8 Gesellschaftlicher Wandel 296 297 Die Anhänger der halbreligiösen Sekte der Oulad Sidi Ahmed ou Moussa, d. h. der Söhne des Sidi Ahmed ou Moussa, berufen sich auf den gleich- namigen, als Heiligen verehrten Mystiker, der von 1460 bis 1563 im Tazerwalt, im Süden Marok- kos, lebte. In seiner Jugend wurde er Anhänger einer Bruderschaft, die das Wohnen in Klöstern verbietet und von ihren Mitgliedern Wander- schaft und Kontemplation erwartet, ohne dabei von Bettelei zu leben. Diese Gebote tragen dazu bei, dass die Nachfolger des Sufi eine eigen- willige Lebensweise führen. Die Gruppen ziehen in Nordafrika umher und überbringen durch Tanz, Gesang sowie mit Hilfe akrobatischer Dar- bietungen die Baraka, d. h. göttlichen Segen und weltliches Heil. Der Heilige der Bruderschaft, Sidi Ahmed ou Moussa, ist südöstlich von Tiznit im gleich- namigen Ort begraben. Dreimal im Jahr, in den Monaten März, April und August, trifft man Wallfahrer, die zu seinen Ehren und zu seinem Gedächtnis das Grabmal besuchen und es in der Hoffnung auf Segen und Heil in ritueller Weise umschreiten. Heute noch begegnet man den religiös motivierten Anhängern der Bruder- schaft vor allem im südlichen Marokko bei ihren Wanderungen über die verstreuten Dörfer. Sie reisen in Gruppen von einigen Personen bis zu mehreren Dutzend Anhängern. In den länd- lichen Siedlungen und in vielen Städten führen sie ihre Künste im Namen ihres Heiligen, des Beschützers der Reisenden, zum Wohle der Bewohner vor und erbitten dafür Speise und Trank oder klingende Münze. Zirkusakrobaten aus Marokko: die Söhne des Sidi Ahmed ou Moussa anton escher Foto 1 Mit „The Bedouin Arabs, a circus act“ ist diese amerikanische Zeichnung aus dem Jahre 1838 betitelt

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Kapitel 3.8 Gesellschaftlicher Wandel

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Die Anhänger der halbreligiösen Sekte der OuladSidi Ahmed ou Moussa, d. h. der Söhne des SidiAhmed ou Moussa, berufen sich auf den gleich-namigen, als Heiligen verehrten Mystiker, dervon 1460 bis 1563 im Tazerwalt, im Süden Marok-kos, lebte. In seiner Jugend wurde er Anhängereiner Bruderschaft, die das Wohnen in Klösternverbietet und von ihren Mitgliedern Wander-schaft und Kontemplation erwartet, ohne dabeivon Bettelei zu leben. Diese Gebote tragen dazubei, dass die Nachfolger des Sufi eine eigen-willige Lebensweise führen. Die Gruppen ziehenin Nordafrika umher und überbringen durchTanz, Gesang sowie mit Hilfe akrobatischer Dar-bietungen die Baraka, d. h. göttlichen Segen undweltliches Heil.

Der Heilige der Bruderschaft, Sidi Ahmedou Moussa, ist südöstlich von Tiznit im gleich-namigen Ort begraben. Dreimal im Jahr, in denMonaten März, April und August, trifft manWallfahrer, die zu seinen Ehren und zu seinemGedächtnis das Grabmal besuchen und es inder Hoffnung auf Segen und Heil in rituellerWeise umschreiten. Heute noch begegnet manden religiös motivierten Anhängern der Bruder-schaft vor allem im südlichen Marokko bei ihrenWanderungen über die verstreuten Dörfer. Siereisen in Gruppen von einigen Personen bis zumehreren Dutzend Anhängern. In den länd-lichen Siedlungen und in vielen Städten führensie ihre Künste im Namen ihres Heiligen, desBeschützers der Reisenden, zum Wohle derBewohner vor und erbitten dafür Speise undTrank oder klingende Münze.

Zirkusakrobaten aus Marokko:

die Söhne des Sidi Ahmed ou Moussa anton escher

Foto 1 Mit „The Bedouin Arabs, a circus act“

ist diese amerikanische Zeichnung aus dem

Jahre 1838 betitelt

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Die Söhne des Sidi Ahmed ou Moussa in den Zirkusarenen der WeltAus dieser jahrhundertealten religiösen Tradi-tion gingen im 19. Jahrhundert professionelleZirkusakrobaten hervor, deren Spring- und Pyra-midenbaukünste sowohl in Europa als auch inÜbersee großen Anklang fanden. Die ältesteSpur der religiösen Truppen reicht in Form derbildlichen Darstellung einer Zirkuspräsentationvon beduinischen Arabern in den VereinigtenStaaten bis ins Jahr 1838 zurück [Foto 1]. InDeutschland treten die marokkanischen Artis-ten ab 1852 im Zirkus Renz auf und werden im Laufe der Jahre zu einem festen Bestandteilder Programmabfolge in der Zirkuswelt.

Die erste photographische Dokumentationmarokkanischer Akrobaten in Deutschland findet man in einer Broschüre des Zirkus Buschin Hamburg im Jahr 1902 [Foto 2]. Die Araber-Gruppen des Hadji Mohamed präsentieren sichdabei in einem Aussehen, das an den Gründer-vater des deutschen Turnsports, Friedrich LudwigJahn, erinnert. Orientalisches Dessin und damitder Hinweis auf die exotische Herkunft spiegeltsich in der Arbeitskleidung.

In der Saison des Jahres 1906/07 verzeich-net der Internationale Artisten-Almanach neunAkrobatengruppen, die in Deutschland auftreten.In den goldenen Zwanziger Jahren waren bis zu 25 marokkanische Artistentruppen an deut-schen Varietés und in deutschen Zirkuszeltenbeschäftigt. Trotz der vielfältigen Schreibfehlerin den Zirkusprogrammen, trotz der irrtümlichenBezeichnungen und trotz der werbeträchtigenunterschiedlichen Herkunftsbezeichnungen –wie Araber, Syrer oder Sudanesen – bestehenalle Gruppen aus marokkanischen Berbern, dieaus dem Süden des Landes, aus dem Tazerwaltkommen.

Foto 2, oben „Hadji Mohamed’s Araber-Truppe“ in einer

Broschüre des Zirkus Busch aus dem Jahre 1902. Die Marok-

kaner haben die typischen Kennzeichen des deutschen

„Turnvater Jahn-Habitus“ angenommen.

Foto 4, links Der Prospekt der Ben Abdullah Truppe zeigt

drei typische Pyramiden und die auch heute noch übliche

Präsentation der Gruppe am Ende der Vorstellung

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Kapitel 3.8 Gesellschaftlicher Wandel

Die orientalistischen Sprach- und Dialektfor-scher Albert Socin und Hans Stumme lassensich die Anwesenheit der Berber in Berlin nichtentgehen. Sie interviewen die Akrobaten undanalysieren ihre Sprache, zeichnen ihren Dia-lekt auf und dokumentieren Erzählungen ausihrer Heimat. Verwundert berichtet der Bedui-nenforscher Max Freiherr von Oppenheim Endedes 19. Jahrhunderts von seinem Treffen miteinem deutsch sprechenden Akrobaten inDamaskus, welcher sich als Sohn eines marok-kanischen Berbers der halbreligiösen Oulad SidiAhmed ou Moussa und einer deutschen Frauaus Berlin zu erkennen gibt. Bereits Ende desvorletzten Jahrhunderts sind die marokkani-schen Akrobaten Grenzgänger und Wandererzwischen den Kulturen der Welt.

Foto 3 Marokkanische Akrobaten gehören seit den 1950er

Jahren wieder zum festen Bestandteil deutscher Zirkus-

programme

Während des Dritten Reiches wird diese Ent-wicklung gebremst aufgrund der rassistischenVerfolgung von Artisten und Zirkusmitgliederndurch die Nationalsozialisten. Nach dem Zwei-ten Weltkrieg arbeiten die marokkanischenAkrobaten wieder in europäischen Varietés, inZirkusarenen [Foto 3] und in Lichtspieltheatern.Ältere marokkanische Artisten, die nicht mehrdie akrobatischen Leistungen erbringen können,wechseln die Zirkusnummer oder verdingensich als Verwalter oder Arbeiter im Zirkus.

Noch heute gastieren marokkanische Artis-tentruppen in Europa und den USA, wenn auch ihre Popularität nicht mehr an die ehema-lige Blütezeit anknüpfen kann. Sie bezaubern ihr Publikum mit Sprüngen und Pyramiden.Die Originalität der Sprünge führt dazu, dass heute weltweit der „Araber“ oder „Arabski“, einSeitsalto in halbgruppierter Stellung, und der„Araberbogen“, ein breitbeinig aus dem Stand ausgeführter Vorwärtsüberschlag, gesprungenwerden. Ihre faszinierenden Menschenpyrami-den bestehen aus sieben bis über 15 Personenund sind bis zu vier, in Ausnahmefällen bis zusechs Mann hoch [Foto 4].

Die Söhne des Sidi Ahmed ou Moussa unddeutsche Forscher Ende des 19. JahrhundertsDer Afrikaforscher Gustav Nachtigal traf bei seinen Reisen im Frühjahr 1870 eine Berber-gruppe der Oulad Sidi Ahmed ou Moussa aufihrer Pilgerfahrt nach Mekka. Er beschreibt ihretänzerischen Vorstellungen, ihre soziale Organi-sation und ihre persönlichen Probleme. DerEthnologe Max Quedenfeld spricht im Jahr 1881das erste Mal mit einem Mitglied der Oulad Sidi Ahmed ou Moussa in Tunesien; weitereKontakte folgen in Marokko. Ein Mitglied derVereinigung begleitet den Forscher nach Berlin.Er berichtet von der Geschichte der Bruder-schaft und beschreibt zahlreiche Sprung- undTanzfiguren der Gemeinschaft.

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Marokkanische Akrobaten in Marrakesch und Tanger Jeder Reisende, der heute in die Touristenmetro-pole Marokkos nach Marrakesch fährt, wird die Vorstellungen der Akrobaten auf dem PlatzJemaa el-Fna, die nahezu jeden Nachmittagstattfinden, nicht versäumen. Schon seit langerZeit haben sich dort die Akrobaten aufgrundder zahlreichen Besucher aus den verschiede-nen Landesteilen Marokkos und der zahlungs-kräftigen fremden Touristen aus aller Welteinen Stammplatz erobert. Ungeachtet der harten Asphaltdecke des Platzes führen die Akro-baten ihre waghalsigen Kunststücke vor undfaszinieren ihre Zuschauer [Foto 5]. Kenner derAkrobaten-Szene berichten, dass in Marokkoheute neben Marrakesch auch Ksar el-Kebir,Larache und Tanger als Zentren der Akrobatengelten.

Foto 5 Wie vor hundert Jahren präsentieren sich die Oulad

Sidi Ahmed ou Moussa auf dem großen Platz Jemaa el-Fna

in Marrakesch

Tanger wurde schon Ende des 19. Jahrhundertsfür die Akrobaten ein attraktives Ziel, denn Tanger war der Ort, um Kontakte nach Europaund in die Welt zu bekommen. In Tanger gab es damals die einzigen Konsulate vieler Natio-nen und informelle Arbeit. Die großen Impres-sarios und Arbeitsvermittler der Akrobaten, dieVerträge für die Arbeit außerhalb des Landesvermitteln, residierten in Tanger. Das Café Tingisam Socco Chicco, dem kleinen Markt in der Altstadt von Tanger, war bis Mitte des 20. Jahr-hunderts die wichtigste Schalt- und Informa-tionsstelle für Akrobaten. Dort erfuhr man dieNeuigkeiten, welche die Akrobaten in Marokkointeressieren: Wer sucht gute Springer? Wo gibtes neue Truppen? Wo gibt es Arbeit?

Heute noch kann man halbwüchsige Kin-der und junge Männer am Strand von Tangerbeobachten, die dort ihr regelmäßiges Trainingabsolvieren [Foto 6, 7]. Sie alle hoffen, von einemImpressario, von einem Vermittler für die Kar-riere in der weiten Welt entdeckt und engagiertzu werden.

Der Impressario Ali Hassani in LondonDer im Jahre 2004 über achtzigjährige Ali Hassani verkörpert eine der zentralen Vermittler-figuren für die weltweite Tätigkeit der arabi-schen Zirkusartisten und blickt dabei auf einetypische Biographie eines marokkanischenAkrobaten des 20. Jahrhunderts zurück. Die Kar-riere des marokkanischen Briten beginnt miteiner Standardgeschichte: Mit sieben Jahren lief er als zehntes von 17 Kindern von den Elternfort. Er hatte es satt, sich vom Koranlehrer schla-gen zu lassen, versteckte sich mit Hilfe seinerMutter und schloss sich in Marrakesch einerAkrobatengruppe an. Mit der Gruppe wanderteer durch Marokko, erlernte die Akrobatik undwurde ein Sohn der Sidi Ahmed ou Moussa.

Erst mit 15 Jahren kommt Ali wieder nachMarrakesch zurück. Seine eigentliche Familiefindet er nie wieder. „Die Akrobaten wurdenmeine Familie“, sagt Ali Hassani heute. Er ent-wickelt sich zu einem guten Springer. Später

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Kapitel 3.8 Gesellschaftlicher Wandel

trägt er alleine als Untermann beim Pyramiden-bau zehn Personen. Mit der Atlas-Sahara-Truppetourt er bis 1944 durch Spanien. 1948 kommter zum ersten Mal nach Deutschland. Im Jahr 1951 lernt er beim Zirkus Billy Smart in England seine spätere Frau Tamara kennen, die Tochterdes weltbekannten Clowns Cocco. 1954 gastier-te er mit der Ifni Sahara Troupe in Paris. Seineerste eigene Truppe formierte er im Jahre 1955.Mit der Hassani-Truppe [Foto 8] folgen Auftrittein Deutschland, Spanien, Italien, Dänemark undUSA, um nur einige Etappen der weltweitenEngagements zu nennen.

Ali Hassani berichtet von den kulturellenUnterschieden, welche die marokkanischen Akro-batengruppen in den verschiedenen Ländernder Welt zu meistern haben: In Dänemark undSchweden gibt es immer Probleme mit jungenFrauen, die sich zu sehr um die jungen Marok-kaner kümmern. In Deutschland achtet dasManagement der Unternehmen mit strengenRegeln darauf, in für die Marokkaner unverständ-licher Weise kleine, unwichtige Dinge einzu-halten. In den USA hat man als Marokkanerbeim Zirkus das Gefühl, als ob man der Armee

beigetreten wäre. Außerdem will das Publikumin den Vereinigten Staaten Blut sehen und istenttäuscht, wenn sich bei der Vorstellung keinUnfall ereignet. In Italien hingegen ist es wie in Marokko: Man kommt leicht und geht leicht.Im Jahr 1980 lässt sich Ali Hassani als „CircusHassani“ im Chessington Park „World of Adven-ture“ in London nieder und steuert von dortaus seine Akrobaten-Gruppen in den USA, Eng-land, Korea und Japan.

Inzwischen hat sich Ali Hassani zur Ruhegesetzt und seinen Zirkus sowie seine Tätigkeitals Impressario aufgegeben. Ein Nachfolger,der in seine Fußstapfen treten könnte, hat sichnoch nicht gefunden. Die Söhne des Sidi Ahmedou Moussa als Zirkusakrobaten in den Arenender Welt waren wohl Phänomene des 20. Jahr-hunderts?

Foto 6, 7, links und Mitte Kinder und junge Männer

üben im Wald von Larache und am Strand von Tanger

die „Turm“-Pyramide und andere Figuren

Foto 8, rechts Die Akrobatentruppe von Ali Hassani

tritt in den Zirkusarenen aller Kontinente auf