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Zitadelle im Eis

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Nr. 319

Zitadelle im Eis

Der Weg zur Burg des schlafenden Gottes

von Clark Darlton

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtau­senden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berser­ker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen.

Atlan und Razamon gelangen auf eine Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist es, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse.

Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah­men, haben Atlan und Razamon durch die Zerstörung des Kartaperators der irdi­schen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Jetzt – bei ihrer Flucht aus dem zerstörten Moondrag – halten sich die Kampfgefährten in östliche Richtung.

Sie gelangen dabei zur ZITADELLE IM EIS …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Razamon - Die beiden Wanderer sollen dem Eisgott geopfert werden.Fenrir - Atlans und Razamons treuer Begleiter.Marxos - Ein Magier auf dem Weg zur Eiszitadelle.Forel Wargoon - Oberhaupt der Wargoons von Cafoort.Karel Wargoon - Ein gewissenloser Bandit und Mörder.

1.

Je weiter sie nach Osten vordrangen, de­sto kälter wurde es.

Atlan schätzte, daß sie in den vergange­nen Tagen etwa siebzig Kilometer zurückge­legt hatten. Die völlig zerstörte Stadt Moon­drag lag nun weit hinter ihnen. Alle Hoff­nung, die ehemalige Schaltstation in Betrieb nehmen zu können, hatte sich zerschlagen.

Neben Atlan marschierte Razamon mit verkniffenem Gesicht. Er hatte seit der über­hasteten Flucht aus Moondrag nicht viel ge­sprochen, eigentlich nur auf Fragen geant­wortet und dabei noch so getan, als sei das von seiner Seite aus ein gewaltiges Entge­genkommen.

Der dritte im Bund war Fenrir, der Wolf. Er trottete hinter den beiden Männern her, ohne in seiner ständigen Wachsamkeit nach­zulassen. Immerzu sah er sich nach allen Seiten um und streckte die Nase in den Wind, der ihm die Witterung einer Gefahr unvermeidbar zugetragen hätte.

Seit gestern gab es keine Vegetation mehr, nur noch Eis.

Streckenweise hatte das Eis bereits zehn Kilometer östlich von Moondrag angefan­gen, aber immer wieder hatte es freie Flä­chen und flache Täler gegeben. Gras wuchs hier, auch vereinzelte Büsche und manchmal sogar ein paar verkrüppelte Bäume.

Dann wurde es kälter und die eisfreien Zonen weniger, bis es schließlich keine mehr gab.

Dem Wolf schien der plötzliche Tempera­tursturz nichts auszumachen, aber die beiden Männer besaßen nichts als ihre bunte und ziemlich leichte Kleidung, die kaum wärm­te. Der Mangel an jeglicher Ausrüstung hat­

te nur den einen Vorteil, daß sie nichts mit­schleppen mußten.

Nachts hatten sie zu schlafen versucht, aber die Kälte hatte sie immer wieder hoch­gejagt und weitergehen lassen. Sie wären sonst erfroren.

Heute schien wieder die Sonne, aber die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrier­punkt. Manchmal war im Norden das Meer zu sehen, eine dunkle und scheinbar unbe­wegliche Fläche, die sich bis zum Horizont dehnte. Dazwischen schimmerte über dem Wasser die transparente Mauer des Energie­schirms, der Pthor von dem Reich der Men­schen trennte.

Und dreißig bis fünfzig Kilometer südlich lag die sonnendurchglühte Wüste Fylln, in der augenblicklichen Situation ein unerfüll­barer Traum von Wärme und Geborgenheit.

Ihr Ziel lag nicht im Süden, sondern weit im Osten.

Gestern hatte Razamon gesagt: »Wir müssen die Quelle des Flusses Xa­

myhr erreichen und zuvor das Gebiet der Eisküste durchqueren. Etwa zweihundert­fünfzig Kilometer. Dann beginnt die Dunkle Region, an die ich keine Erinnerung mehr habe. Wenn wir dem Fluß folgen, erreichen wir nach weiteren zweihundert Kilometern dessen Mündungsdelta, nördlich der FE­STUNG, unserem eigentlichen Ziel. Dort wenden wir uns nach Süden.«

Razamons Erinnerung war nur bruch­stückhaft. Man hatte ihm vor Tausenden von Jahren sein Gedächtnis genommen, als man ihn auf der Erde zurückließ. Mit Atlan war er nach Atlantis/Pthor zurückgekehrt, als es wieder auftauchte, um Rache an den Herren der FESTUNG zu nehmen. Atlan hingegen wollte nichts anderes, als daß dieser teufli­sche Kontinent wieder dorthin verschwand,

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woher er gekommen war: in eine andere Di­mension, in eine andere Zeit, vielleicht auch in einen anderen Raum.

Gegen Mittag stieg die Temperatur ein wenig an, blieb aber noch immer unter dem Gefrierpunkt. Atlan steuerte auf eine nach Süden gelegene Mulde zu und blieb stehen.

»Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um ein paar Stunden zu ruhen. In der Sonne ist es warm, und der Nordhang schützt uns vor dem kalten Wind.«

Razamon nickte zustimmend und ging in die Hocke. Dann aber streckte er sich ein­fach lang auf dem Eis aus.

»Wir dürfen nicht zu lange schlafen, das wäre gefährlich«, sagte er und brach sein Schweigen. »Fenrir sollte uns rechtzeitig wecken.«

Sie lagen dicht nebeneinander, um sich zu wärmen. Unter sich spürten sie die Kälte des Eises, und von oben her schien die Sonne herab. Fenrir rollte sich einige Meter abseits zusammen und steckte die Schnauze in das dichte Bauchfell.

»Wir werden von selbst wach«, meine At­lan zuversichtlich. »Dafür sorgt schon die Kälte. Glaubst du, daß es weiter östlich schlimmer wird?«

»Ich weiß es nicht mehr, aber ich glaube schon. Ich kann mich nur erinnern, daß es im Gebiet der Dunklen Region nicht mehr so kalt ist. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.«

»Wir werden ihn schon schaffen«, brummte Atlan und schloß die Augen.

Er war sofort eingeschlafen.

*

Es war Nachmittag, als sie erwachten. Die Sonne war weitergewandert und tiefer ge­sunken. Die Kälte setzte wieder ein.

Fenrir war nicht da. Atlan erhob sich und stieg auf den Hügel.

Die Bewegung brachte sein Blut wieder in Wallung. Razamon kam langsam nach.

»Er wird auf der Jagd sein, er muß noch mehr Hunger haben als wir.«

Clark Darlton

Atlan lutschte auf einem Stück Eis herum. »Wenigstens haben wir keinen Durst zu

leiden.« Er deutete nach Süden. »Da kommt er, der Ausreißer …«

Fenrir kam herbeigetrottet und leckte sich das Maul. Er mußte ein kleineres Tier getö­tet und gefressen haben. Vielleicht gab es hier so etwas wie Schneehasen.

»Vielleicht wäre es besser«, sagte Atlan nach einem Rundblick, »wir würden uns überhaupt etwas südlicher halten, mehr der Wüste Fylln zu. Da ist es wärmer. Es wäre kein großer Umweg.«

»Jeder Kilometer zählt doppelt«, wider­sprach Razamon. »Außerdem ist die Eisregi­on sicherer. Niemand verirrt sich hierher, und ich glaube auch nicht, daß jemand hier wohnt. Wir haben keine Waffen, nicht ein­mal ein Messer. Ich schlage vor, wir mar­schieren weiter nach Osten. In zwei oder drei Tagen haben wir das Eis hinter uns.«

Atlan zuckte die Schultern. »Wie du meinst, Razamon.« Diesmal trottete Fenrir vor ihnen her und

sicherte, obwohl es allem Anschein nach nichts zu sichern gab. Das Gelände war ziemlich eben und daher übersichtlich. Le­diglich im Osten begrenzten einige weiß­schimmernde Hügel und sogar Berge die Sicht, aber die Täler dazwischen schienen breit und flach zu sein.

Sie kamen nicht sehr schnell voran, weil sie immer wieder auf dem Eis ausrutschten und ständig aufpassen mußten, wollten sie nicht hinfallen. Wenn sie einen Hügel über­querten, waren sie oft genug gezwungen, auf allen vieren weiterzukriechen. Fenrir sah ih­nen interessiert zu, als halte er das für ein neues Spiel.

Zwei Stunden später blieb Razamon ste­hen.

»Das sind Eisberge«, sagte er und sah nach Osten, wo die Gipfel der weißen Erhe­bungen im Schein der untergehenden Sonne rötlich schimmerten. »Oder natürliche Ber­ge, die mit Eis und Schnee bedeckt sind. Vielleicht sollten wir doch nach Süden aus­weichen.«

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Atlan stand neben ihm. Aufmerksam be­trachtete er die Berge, von denen ihm einer durch seine regelmäßige Form besonders auffiel. Er erinnerte an eine auf ihrer Schnittfläche ruhende Kugel und war viel­leicht dreißig Meter hoch, wenn die Entfer­nung nicht täuschte. Jedenfalls war er niedri­ger als die anderen Berge seiner Umgebung.

»Ich denke, wir gehen ein Stück weiter, Razamon. Siehst du den wie eine Kuppel ge­formten Hügel, ganz links von den übrigen? Glaubst du, daß er durch Zufall entstanden sein könnte?«

Razamon kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Aufmerksam stu­dierte er das Objekt, dann schüttelte er den Kopf.

»Sieht in der Tat aus wie eine Kuppel. Vielleicht haust da ein Einsiedler – und viel­leicht hat der was zum Essen für uns. Wenn Gefahr droht, wird Fenrir uns schon recht­zeitig warnen.«

»Es wird bald dunkel, wir müssen uns be­eilen.«

Sie legten die restlichen zwei oder drei Kilometer im Eiltempo zurück und näherten sich dann vorsichtig und möglichst in Deckung einiger flacher Erhebungen blei­bend der gläsernen Kuppel, hinter deren halbtransparenten Wänden es dunkel schim­merte. Fenrir lief voraus, zeigte aber keine Gefahr an.

Bald zweifelte Atlan nicht mehr daran, es mit einem künstlichen Bauwerk zu tun zu haben. Quadratische Eisblöcke waren auf­einandergeschichtet und mit darauf geschüt­tetem Wasser verschmolzen worden. So war die Kuppel entstanden.

Sie umrundeten sie, konnten aber nicht sofort den Eingang finden. Aber sie sahen undeutlich, daß innerhalb der Kuppel Kisten und andere Behälter aufgestapelt waren.

»Ein Depot, ein Vorratslager«, stellte At­lan verblüfft fest. »Für wen?«

»Vielleicht steht es schon Jahrhunderte hier«, hoffte Razamon und suchte vergeblich nach frischen Spuren. Er fand keine. »Das Fehlen von Spuren besagt nicht viel, zuge­

geben. Ein einziger Schneesturm verwischt sie. Aber wir sollten nicht so pessimistisch sein. Also, was ist? Wie kommen wir hin­ein?«

»Wir müssen durch die Eiswand, denn es gibt keine Tür.«

»Die ist einen halben Meter dick, und wir haben kein Werkzeug.«

»Hier ist sie dünner«, rief Atlan plötzlich, nachdem er einige Schritte weitergegangen war. »Höchstens zwanzig Zentimeter. Viel­leicht doch eine Art Tür.«

Razamon betrachtete das an dieser Stelle tatsächlich durchsichtigere Eis und stellte fest, daß der fragliche Bezirk fast rechtecki­ge Formen besaß. Rechts davon waren roh geschnittene Eiswürfel aufgestapelt, dane­ben lag ein ganzer Haufen zertrümmerter Eisbrocken.

»Die Haustür«, sagte Razamon, sich sei­ner Sache absolut sicher. »Du hast recht, At­lan. Sie schlagen die Tür ein, wenn sie kom­men, um Vorräte abzuholen und setzen sie später einfach wieder zusammen. Das kön­nen wir auch.«

»Womit?« »Das wirst du gleich sehen, warte hier!« Razamon winkelte die Arme an und setzte

sich in Trab. Er lief um die Kuppel herum, von Fenrir begleitet. Wenig später tauchte er von der anderen Seite kommend wieder auf, in beiden Händen einen schweren Stein hal­tend. Keuchend blieb er stehen, als er bei der »Tür« anlangte. Er ließ den Stein fallen.

»Ich sah ihn schon früher, achtete aber nicht darauf. Jetzt fiel er mir wieder ein.«

Atlan bückte sich und hob den Stein auf. »Der wird genügen«, sagte er und schleu­

derte ihn mit voller Wucht gegen die Eis­wand. Es entstanden mehrere Risse und ein Loch in der Mitte. »Jetzt du!«

Razamon traf ein wenig höher. Ein zwei­tes Loch entstand, mit dem ersten durch wei­tere Risse verbunden. Atlan schlug heftig mit der geballten Faust gegen die brüchige Stelle, ehe sein Freund erneut werfen konn­te. Ein großes Stück brach ab und fiel in das Innere der Kuppel.

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Der Rest war einfach. Razamon klopfte sogar sehr vorsichtig, um die Öffnung nicht zu groß werden zu lassen, und als Atlan ihn nach dem Grund fragte, meinte der Atlanter:

»Die Sonne geht unter, und es wird kalt. Vielleicht ist es da drinnen auch nachts nicht so eisig wie hier draußen. Ein paar Stunden Schlaf würden uns verdammt guttun.«

Wenn Razamon »verdammt« sagte, mein­te er es ernst und duldete keinen Wider­spruch. Atlan wußte das und grinste.

»Daran habe ich auch schon gedacht. Al­so – hinein! Zuerst Fenrir, damit er uns war­nen kann, wenn jemand dort auf uns war­tet.«

Der Wolf begriff schnell, was von ihm er­wartet wurde. Willig ließ er sich durch die Öffnung schieben und half nach besten Kräften nach. Den Rest schaffte er allein. Mit einem Satz war er in der Kuppel ver­schwunden, in der es dämmerig geworden war.

Razamon folgte Fenrir, dann erschien sein Kopf wieder in der Öffnung.

»Du kannst nachkommen und dich wun­dern, mein Freund. Wir haben ein unver­schämtes Glück gehabt. Diese Nacht, da ge­he ich jede Wette ein, werden wir herrlich und warm schlafen.«

»Ist die Kuppel, oder was es auch sein soll, vielleicht geheizt?«

»Das nicht gerade, aber wir haben genug zum Zudecken.«

Atlan kroch durch das Loch und wurde von Razamon aufgefangen.

Dann stand er vor einem Depot an lebens­wichtigen Vorräten, die den Rest des Mar­sches durch die Eiswüste zu einem Spazier­gang werden zu lassen versprachen.

Haufenweise lagen dicke Pelzjacken mit Kapuzen herum, innen gefüttert und eben­falls mit schwarzem Pelz besetzt. Daneben stapelten sich dunkelbraune Lederhosen und schwere Pelzstiefel, die jeder noch so tiefen Temperatur standhielten. Warme Handschu­he vervollständigten das Bekleidungslager.

In den Kisten befanden sich Trocken­fleisch und Trockengemüse. Daneben lager-

Clark Darlton

ten praktische Tragebeutel mit Lederriemen zum Umhängen, außerdem ähnlich gefertig­te Wasserbeutel, ebenfalls aus dichtem Le­der.

»Wir haben das Paradies gefunden«, meinte Razamon und stöberte in den Schät­zen herum. »Und warm ist es hier! Ich fange an zu schwitzen. Oder ist das nur die Aufre­gung?«

»Nein, es ist warm!« bekräftigte Atlan. »Das wird die schönste Nacht meines Le­bens.«

»Übertreibe nicht«, dämpfte Razamon seine Begeisterung. »Du lebst viel zu lange, als daß man dir das glauben könnte. Aber ich muß mich korrigieren: Die Kuppel scheint in der Tat geheizt zu sein. Von selbst ist es nicht so warm hier.«

Sie wanderten durch die von den aufge­stapelten Kisten gebildeten Gänge und ge­langten so in die Mitte der Kuppel. Zu ihrem Erstaunen gab es hier einen runden, freien Platz, der fast an eine kleine Arena erinner­te. Im Zentrum des Platzes fiel ihnen eine muldenartige Vertiefung auf, in der Wasser stand.

Kein gefrorenes Wasser, sondern warmes und dampfendes Wasser! »Daher also die Wärme! Eine heiße Quelle?« sagte Atlan verblüfft.

»Sicher, es soll sie hier geben«, entsann sich Razamon. »Jene, die das Depot anleg­ten, taten es über einer heißen Quelle. Wir müssen ihnen dankbar sein für ihre Rück­sichtnahme …«

»… die bestimmt nicht uns galt«, unter­brach ihn Atlan und sah zu, wie Fenrir um die Quelle kreiste und schnupperte. »Füllen wir Wasser in Beutel, damit es abkühlt. Fenrir hat Durst.«

»Und ich werde mich um unser Abendes­sen kümmern«, versprach Razamon und eil­te davon.

*

Trotz ihrer Müdigkeit schliefen sie nicht sofort ein.

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Fenrir lag ausgestreckt und mit vollem Bauch in unmittelbarer Nähe der Quelle und jaulte im Traum.

Atlan und Razamon ruhten auf einem pompösen Lager aus Pelzjacken und Leder­hosen. Sie brauchten sich nicht zuzudecken, denn es war warm genug in der Kuppel.

Das Abendessen war großartig gewesen. Trockenfleisch und Trockengemüse waren mangels eines geeigneten Behälters einfach in die heiße Quelle geworfen worden. Nach einer Stunde hatte sich in der Kuppel ein köstlicher Duft verbreitet, und aus der ehe­maligen Quelle war ein natürlicher Sup­pentopf geworden. Die beiden Männer hat­ten die Köstlichkeit mit den Händen aus­schöpfen müssen, da auch die Löffel oder Gabeln fehlten.

Das Wasser erneuerte sich wieder, nach­dem sie den Zufluß geöffnet hatten. Der Rest der sich immer mehr verdünnenden Mahlzeit floß durch eine Rinne ab und ver­schwand in einer Bodenspalte.

»Wir nehmen genügend Vorräte mit, da­mit wir auf keine Kontakte angewiesen sind«, schlug Razamon vor und gähnte. »Schade, daß wir keinen Zugor gefunden haben, so ein Ding würde uns einen schönen Marsch ersparen.«

»Wir schaffen jetzt den Rest des Weges leicht zu Fuß«, tröstete ihn Atlan. »Vor allen Dingen werden wir nicht mehr unter der Kälte zu leiden haben. Sagtest du nicht, wei­ter östlich gäbe es auch heiße Quellen?«

»Mehr als hier, soweit ich mich erinnere. Aber das kann sich alles geändert haben. Du weißt ja, wieviel Jahrtausende vergangen sind.«

»Etwa zehn.« »Richtig. Aber die Quellen beschäftigen

mich weniger, denn das Wasser in den Beu­teln friert nicht so schnell, wenn wir es am Körper tragen. Darin lassen sich Fleisch und Gemüse leicht zubereiten. Was mich stört, ist die Tatsache, daß wir noch immer keine Waffe haben.«

»Ich habe das lange Seil«, erinnerte ihn Atlan. »Leider war nur eins vorhanden. Man

kann nie wissen, wie man es gebrauchen kann.«

»Ein Seil ist keine Waffe«, widersprach Razamon.

»Und ob! Ich kann sehr gut ein Lasso werfen. Außerdem soll das Gelände weiter im Osten schwieriger werden – du hast es sogar selbst behauptet. Da kann ein Seil von großem Nutzen sein.«

»Ich habe ja auch nichts dagegen, daß du es mit dir herumschleppst. Aber ein gutes Messer wäre mir lieber gewesen; oder gar ein Waggu!«

»Solange wir niemandem begegnen, wä­ren Waffen nur unnötiger Ballast. Die Ge­gend scheint ja wirklich menschenleer zu sein.«

»Und was ist mit dem Depot? Glaubst du, Geister hätten es angelegt? Ich nicht! Es scheint übrigens ein illegales Depot zu sein, vielleicht ein Lager mit Diebesgut. Jemand hat die Sachen hier versteckt.«

»Mir ist im Augenblick alles egal«, mur­melte Atlan, der nun doch müde wurde. Die Wärme trug viel dazu bei. »Ist noch etwas Wichtiges?«

Razamon rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hände. »Wieso?«

»Weil du es gleich sagen mußt, sonst schlafe ich ein.«

Enttäuscht ließ sich der Atlanter wieder in die Pelze zurücksinken.

»Nein, nichts mehr. Vielleicht fällt mir morgen etwas ein.«

»Gute Nacht«, murmelte Atlan. »Gute Nacht«, gab Razamon zurück und gähnte er­neut.

Es war stockdunkel geworden.

*

Die Nacht verlief ohne jeden Zwischen­fall, und als die beiden Männer am anderen Morgen erwachten, fühlten sie sich ausge­ruht und kräftig. Die Kälte außerhalb der Kuppel war vergessen, aber sie wußten, daß sie wieder in sie hinein mußten. Diesmal al­lerdings gut ausgerüstet und mit warmer

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Kleidung versehen. Der Weitermarsch wür­de gegen das, was hinter ihnen lag, ein wah­res Vergnügen werden.

Fenrir kehrte von einer Inspektionsrunde durch die Kuppel zurück. Geduldig wartete er, bis Razamon ein grobes Stück Dörr­fleisch in heißem Wasser weichgesotten und ihm zugeworfen hatte. Dann erst frühstück­ten auch die Männer.

Das Licht brach sich tausendfach in den Eiskristallen, als die Sonne aufging und die Strahlen die Kuppel erreichten. Mit einem Schlag wurde es hell.

Als sei der Sonnenaufgang ein Komman­do gewesen, stand Fenrir plötzlich auf, be­gann leise zu knurren und schlich in Rich­tung des Ausgangs davon. Sein Nackenfell war gesträubt.

Atlan hielt Razamon fest. »Warte noch! Fenrir hat etwas gewittert,

das Gefahr bedeuten kann. Vielleicht sind die Besitzer des Depots eingetroffen.«

»Glaubst du wirklich, daß es sie gibt?« »Natürlich, alles deutet darauf hin. Vergiß

nicht, daß wir unbewaffnet sind.« Razamon knurrte etwas Unverständliches

und duckte sich hinter die Kisten. Als Fenrir nicht zurückkam, flüsterte Atlan:

»Los, wir müssen nachsehen, ehe wir überrascht werden. Bleib in Deckung!«

Vorsichtig schlichen sie sich in Richtung Ausgang und erblickten den Wolf, der vor der »Tür« stand und immer noch leise knurr­te.

Hinter der transparenten Eiswand beweg­ten sich Schatten – große und menschenähn­liche Schatten. Mehr als drei oder vier Dut­zend.

Sie trugen ebenfalls Pelzkleidung und in den Händen Gegenstände, die sofort an Waffen erinnerten. Aber es waren keine Waggus, keine energetischen Lähmpistolen. Sie erinnerten vielmehr an kleine Gewehre.

Die Gestalten schienen zu beratschlagen, was sie unternehmen sollten. Zweifellos hat­ten sie draußen Spuren entdeckt, dann das Loch in der Tür und schließlich Fenrir, der ihnen den Eintritt verwehrte.

Clark Darlton

Atlan sah, daß einer der Unbekannten sei­ne Gefährten beiseite drängte und bis zum Loch im Eis vorkam. Ohne den Kopf in das Innere der Kuppel zu strecken, rief er in Pthora, der Sprache von Atlantis:

»He, wir wissen, daß ihr da drinnen seid! Kommt heraus, sonst holen wir euch! Aber schnell! Und schickt das Biest weg, ehe wir es töten.«

Atlan warf Razamon einen fragenden Blick zu: Der Atlanter verstand. Es war bes­ser, wenn er mit den Leuten sprach.

»Fällt uns nicht ein, uns einfach von euch abschlachten zu lassen, Freunde. Kommt doch herein, wenn ihr etwas von uns wollt!«

»Ich würde nicht so frech sein«, gab der Unbekannte zurück. »Ihr habt keine Chan­ce.«

»Haben wir doch! Die Lebensmittel rei­chen für ein paar Jahre. Wollt ihr uns viel­leicht so lange belagern?«

Während Razamon mit den Fremden re­dete, beobachtete Atlan jede ihrer Bewegun­gen. Der Sprecher blieb eine Weile stumm, dann tauchte sein Gesicht in dem Eisloch auf.

»Na schön, vielleicht hattet ihr nur Hun­ger und wolltet essen, das ist kein Verbre­chen. Wenn ihr bezahlt, lassen wir euch lau­fen.«

»Bezahlen? Womit denn?« »Na, mit Quorks, womit denn sonst?« »Wir haben keinen einzigen Quork mehr,

sie wurden uns abgenommen.« »Das glauben wir erst dann, wenn wir

euch durchsucht haben. Wieviel Diebe seid ihr eigentlich?«

»Mehr als ihr«, log Razamon, obwohl er wissen mußte, wie sinnlos das war.

Der Fremde lachte. »So, mehr als wir? Ihr habt aber nur die

Spuren von zwei Männern hinterlassen. Wie habt ihr das nur gemacht?«

Atlan nickte Razamon zu und löste ihn ab. »Wir möchten mit euch verhandeln«, sag­

te er. »Ist das möglich, oder wollt ihr uns tö­ten, ohne uns anzuhören?«

»Wir werden euch anhören«, versprach

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der Fremde. »Gut«, antwortete Atlan. »Dann wartet.

Wir werden kommen.« Er duckte sich wieder hinter die Kisten. »Bist du verrückt?« zischelte Razamon

ihm zu. »Die bringen uns um, ehe wir auch nur den Mund aufmachen können.«

Atlan schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber es spielt auch

keine Rolle, was wir glauben oder nicht, denn sie sind in der Überzahl. Für uns be­deuten sie eine unüberwindliche Streit­macht. Außerdem ist mir etwas aufgefallen. Ich habe das Gesicht des Anführers gese­hen.«

»Na und? Kennst du ihn vielleicht?« »Ihn selbst nicht, aber wir beide kennen

jemanden aus seiner Familie. Erinnerst du dich an die beiden jungen Burschen, die uns in der Wüste Fylln, am Rand des Dämmer­sees, vor den Riesenskorpionen retteten?«

»Die beiden Wargoons?« »Richtig! Sie wanderten vor Jahrzehnten

von hier aus nach Süden. Die Kerle da drau­ßen müssen Verwandte von ihnen sein, denn sie haben die gleichen gelben Gesichter mit den Schlitzaugen. Unsere beiden Retter be­nahmen sich zwar merkwürdig, machten aber einen gutmütigen Eindruck. Warum sollen die Burschen hier anders sein?«

»Die Wargoons also …?« Razamon schi­en sich an etwas erinnern zu wollen, das lan­ge zurücklag, aber es gelang ihm nicht. »Na schön, wir können es ja versuchen …«

Sie richteten sich auf und hängten sich die Tragbeutel um. Später kamen sie vielleicht nicht mehr dazu. Atlan hatte sich das Seil so um den Körper gewickelt, daß es von der Pelzjacke verdeckt wurde. Dadurch wirkte er dicker und stärker.

Das Gesicht, das ihnen neugierig entge­genblickte, sah nicht gerade vertrauener­weckend aus. Das lag weniger an dem spär­lichen Spitzbart, der höchstens aus einem Dutzend langer Haare bestand, sondern mehr an der harpunenähnlichen Waffe. Von dem eingespannten Geschoß war nur die mit Widerhaken versehene Spitze zu erkennen.

Sie war auf die beiden Männer gerichtet. »Da seid ihr ja, ihr Diebe! Dann steigt

mal schön durch das Loch, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.«

»Kommt doch herein, hier ist es wärmer.« »Damit ihr uns einzeln den Schädel ein­

schlagen könnt? Nein, lieber nicht. Was ist mit dem Wolf?«

»Er tut nichts, wenn man ihn nicht an­greift.«

Razamon sagte: »Du bleibst besser hier, Atlan, während

ich vorgehe.« Laut genug erwiderte Atlan: »Die Vorsicht ist unnötig, Razamon, wir

haben es, so glaube ich, mit ehrlichen Be­wohnern der Eisküste zu tun. Vielleicht sind es sogar Verwandte unserer Freunde im Sü­den, der Familie Wargoon.«

Seine Worte erzielten die beabsichtigte Wirkung.

»He, was hast du eben gesagt? Die Fami­lie Wargoon? Kennt ihr sie denn?«

Atlan nickte und blieb vor dem Ausgangs­loch stehen. Die Harpune wurde zurückge­zogen.

»Richtig, die Familie Wargoon. Sie wohnt in dem Dorf Kaarv nördlich des Dämmer­sees. Sie hätte uns sicherlich Grüße für euch aufgetragen, wenn wir damals schon gewußt hätten, daß wir euch hier oben an der Eiskü­ste begegnen.«

»Es ist schon lange her, daß die Familie nach Süden zog. Komm, ich helfe dir …«

Atlan kroch durch das Loch. Razamon schob Fenrir nach und folgte dann selbst. Der Wolf verzog sich abseits, setzte sich und beobachtete die Gruppe mit aufmerksamen Blicken.

Der Anführer hielt seine Waffe schräg im Arm.

»Ich bin Forel Wargoon und das Ober­haupt der Siedlung Cafoort, damit ihr gleich Bescheid wißt. Und wer seid ihr?«

Razamon erzählte ihm eine glaubhafte Geschichte, wobei ihm zustatten kam, daß niemand auf Pthor so recht wußte, wer ein paar Dutzend Kilometer weiter hauste. Die

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Herren der FESTUNG sorgten aus unerfind­lichen Gründen schon dafür, daß es nicht zu­viel Kontakte zwischen den Bewohnern des Kontinents gab. Somit klang Razamons Ge­schichte durchaus glaubhaft.

»So, so«, machte Forel Wargoon und ver­suchte, die Reaktion seiner Männer an ihren Gesichtern abzulesen. »Und da kamt ihr zu­fällig und völlig ausgehungert in diese Ge­gend und fandet das Depot. Kam euch wohl gerade recht, was?«

»Allerdings«, gab Atlan zu. »Wir hielten es für herrenlos.«

»Ist unsere einzige Reserve, wenn ihr es genau wissen wollt. Ja, wie ist es denn nun mit der Bezahlung? Dann könnt ihr alles be­halten, was ihr gestohlen habt.«

Noch einmal versicherte Atlan, keinen einzigen Quork zu besitzen, was den sicht­baren Unwillen der Sippe hervorrief. Nach einer kurzen Beratung mit seinen Männern entschied Forel:

»Also gut, ihr könnt das Zeug vorerst be­halten, aber ihr werdet uns zu unserem Dorf begleiten. Dort sehen wir dann weiter.«

»Sind wir eure Gefangenen?« Forel grinste breit. »Nun, sagen wir, ihr seid unsere Schuld­

ner. Das klingt wohl besser, obwohl ich da eigentlich keinen großen Unterschied ent­decken kann. Denn ihr bleibt so lange bei uns, bis die Schuld bezahlt ist.«

Das klang wenig ermutigend, aber Atlan sah keine andere Möglichkeit, als sich zu fü­gen. Etwa fünfzig oder sechzig Wargoons hatten sie umringt, und alle waren bewaff­net. Gegen eine solche Obermacht kämpfen zu wollen, wäre glatter Selbstmord gewesen.

»Gut, wir werden euch begleiten, dann se­hen wir weiter«, sagte Atlan endlich, nach­dem er einen Blick des Einverständnisses mit Razamon getauscht hatte. »Aber der Wolf bleibt bei uns.«

»Wir haben nichts dagegen einzuwenden, solange er nicht frech wird. Dann allerdings wären wir gezwungen, Dörrfleisch aus ihm zu machen.«

»Der ist schrecklich zäh«, versuchte Raz-

Clark Darlton

amon, dem Chef der Familie Wargoon den Appetit zu nehmen.

Forel teilte acht Mann zur Bewachung ih­rer »Schuldner« ein und verschwand mit dem Rest in der Eiskuppel, um die Bestände zu kontrollieren. Dann wurde die Tür wieder verschlossen und Wasser darüber geschüttet. Die Spuren wurden verwischt, soweit das auf dem Eis möglich war.

Als sich der Zug nach Osten zu in Bewe­gung setzte, gingen Atlan und Razamon in der Mitte, immer von einigen Männern be­wacht. Fenrir trottete ein paar Dutzend Me­ter abseits der Kolonne nebenher.

Forel gesellte sich nach einiger Zeit zu ih­nen.

»Wir sind noch vor Anbruch der Nacht im Dorf«, teilte er ihnen mit, ohne daß sie ihn gefragt hätten. »Diese gelegentlichen In­spektionen unseres Depots sind notwendig, das hat die heutige ja wohl bewiesen. Zum Glück kommen nicht viel Fremde in diese abgelegene Gegend.«

»Was habt ihr mit uns vor?« fragte Raza­mon.

Forel machte ein undurchdringliches Ge­sicht.

»Das wird sich finden, ich kann nicht al­lein entscheiden. Das letzte Wort haben im­mer die Priester.«

»Die Priester?« Razamon war ehrlich er­staunt. »Ihr habt Priester?«

»Gloophys Priester«, bestätigte Forel mit einem Unterton des Bedauerns. Er schien nicht gut auf diese Priester zu sprechen zu sein, konnte aber wohl nichts gegen ihre Existenz unternehmen. »Gloophy ist der Gott der Familie Wargoon.« Er sah Raza­mon an. »Willst du mehr darüber wissen?«

»Es interessiert mich schon deshalb, weil diese Priester anscheinend mehr zu sagen haben als du, Forel.«

Diesmal hielt Forel mit seinem Ärger nicht zurück, sprach jedoch so leise, daß ihn seine Männer nicht hören konnten.

»Sie sind eine Plage, diese Priester, aber das Volk hört auf sie. Sie üben eine schlim­me Macht aus, und sie nutzen sie. Sie lassen

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andere für sich arbeiten und versprechen ih­nen dafür die Rückkehr des Gottes Gloophy, der ihnen das Paradies einrichten wird. Purer Aberglaube, wenn ihr mich fragt.«

»Wer ist dieser Gott eigentlich?« »Gloophy …« Forel überzeugte sich da­

von, daß ihn außer seinen beiden Gefange­nen niemand hören konnte. »Er kam vor lan­ger Zeit in unser Land, als es noch frei von Eis und Not war. Es gab Wälder und reich­lich Wild. Unsere Vorfahren lebten an den Gestaden eines warmen und freundlichen Meeres, den ganzen Tag schien die Sonne. Und dann erschien Gloophy, so berichteten die Priester. Damit begann das Unglück.«

»Warum wird ein Gott verehrt, der Un­glück brachte?«

»Dafür gibt es immer Entschuldigungen. Gloophy brachte das Unglück nicht mit Ab­sicht, aber sein Atem war so kalt, daß das ganze Land im Eis erstarrte. Er selbst wurde das Opfer seiner eigenen Größe, denn das Eis begrub ihn lebendig. Er schlief ein, aber eines Tages wird das Eis auftauen und ihn freilassen. Dann wird er zu uns kommen und für seine treuen Anhänger das Paradies er­schaffen.«

»Aha, das also ist es, was die Priester ver­sprechen?«

»Ja, genau das ist es. Nur wer sich getreu an ihre Gebote hält, für ihren Unterhalt sorgt und ihre Opferfeste feiert, wird Einlaß in dieses Paradies finden. Die anderen bleiben in der Eiswüste zurück.«

»Zu denen wirst du dann aber auch zäh­len«, prophezeite ihm Atlan.

Forel nickte, ohne sonderlich traurig zu wirken.

»Das nehme ich allerdings auch an, aber ich mache mir nur wenig Gedanken über künftige Dinge. Für mich zählt nur die Ge­genwart. Ich habe euch beim Diebstahl erwi­scht, also muß ich euch zurück ins Dorf bringen, damit die Priester über euer Schick­sal entscheiden können.«

»Und wie wird das aussehen?« »Das weiß ich nicht.« Es war Mittag geworden. Warm schien

die Sonne vom Himmel herab. Alle Wargo­ons hatten ihre Pelzjacken geöffnet, und auch Atlan begann zu schwitzen. Fenrir war weit vorausgelaufen. Er stand auf einem fla­chen Hügel. Seine Silhouette hob sich gegen den Horizont ab.

»Ein treues Tier«, sagte Forel anerken­nend. »Ihm wird nichts geschehen.«

Atlan glaubte, eine Betonung auf dem Wörtchen »ihm« bemerkt zu haben, enthielt sich aber jeder Äußerung. Sein Gefühl, daß Forel in einer moralischen Klemme steckte, verstärkte sich. Der Anführer der Wargoons war nicht unsympathisch, aber er besaß nicht die Macht, die zu besitzen er vorgab. Er stand unter der Fuchtel der Priester, ohne deren Wohlwollen er niemals Oberhaupt der Sippe geworden wäre.

Vom Hügel aus war die Sicht nach Osten wieder frei.

Vor ihnen lag Cafoort.

*

Die Siedlung bestand aus etwa hundert kugelförmigen Eishütten, an Iglus erinnernd. Sie waren ringartig um den in der Mitte lie­genden Dorfplatz angeordnet, in dessen Zen­trum eine zehn Meter hohe Statue stand. Sie hatte kein Gesicht und keine Gliedmaßen. Wahrscheinlich hatten auch ihre Schöpfer keine Vorstellung davon, wie ihr Gott Gloo­phy eigentlich ausgesehen hatte.

Frauen und Männer kamen dem Zug ent­gegengelaufen. Atlan schätzte, daß hier etwa fünfhundert Wargoons leben mußten. Forel hatte berichtet, daß sie in erster Linie von der Jagd und vom Fischfang lebten. Das Meer war nicht weit, und nur wenige Kilo­meter südlich gab es eine spärliche Vegetati­on, die eine Unmenge von Kaninchen und andere Tiere ernährte.

Forel hatte Fragen zu beantworten, verlor aber schon bald die Geduld.

»Schert euch nach Hause!« rief er seinen Untertanen zu. »Morgen werden wir in einer Beratung entscheiden, was mit den Gefange­nen zu geschehen hat.«

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12

Die Menge begleitete den Zug ins Dorf, wo er sich auflöste.

Atlan betrachtete die riesige Statue des Gottes. Sie war aus blankpoliertem Eis ge­hauen und reflektierte das Sonnenlicht tau­sendfach und in allen Farben des Regenbo­gens. Für abergläubische Gemüter ein impo­santer Anblick.

Forel näherte sich ihnen. »Kommt, ich bringe euch in eure Hütte.

Bleibt in ihr, wenn ihr keinen Ärger haben wollt. Einer der Priester wird euch heute noch aufsuchen und mit euch reden. Dazu mein Rat: Wer viel spricht, sagt oft wenig. Und umgekehrt. Merkt euch das.«

Sie folgten ihm in eine Hütte direkt am Rand des Dorfplatzes. Sie schien unbewohnt zu sein. In der Mitte war eine kalte Feuer­stelle. Oben in der Eiskuppel schimmerte ein kleines Loch. Es diente der Lüftung und dem Rauchabzug.

Razamon sah sich um. »Ungemütlich«, protestierte er. »Keine Betten.«

»Man wird euch Felle bringen, und Feuer. Eure Vorräte dürft ihr vorerst noch behalten. Wir sehen uns morgen.«

Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Etwas später brachten zwei Männer Holz, Wasser und zwei Töpfe. Dazu hölzerne Löf­fel. Wortlos verschwanden sie wieder, nach­dem sie das Holz mit einer Fackel entzündet hatten.

Razamon zog die Jacke aus, als es wärmer geworden war. Er setzte sich auf die großzü­gig zur Verfügung gestellten Felle.

»Und was nun?« erkundigte er sich und sah Atlan etwas ratlos an. »Sind wir nun Ge­fangene oder nicht? Draußen lungern immer so ein paar von den Kerlen herum. Sie sind bewaffnet.«

»Warten wir ab, was der Priester zu sagen hat«, riet Atlan und machte es sich ebenfalls bequem. »Stell den Topf mit Wasser aufs Feuer. Ich habe schon wieder Hunger.«

Fenrir erschien erst nach einiger Zeit. Wahrscheinlich war er ums Dorf gestrichen, um sich zu orientieren. Man hatte ihn nicht verjagt, sondern einfach nicht beachtet. Fo-

Clark Darlton

rel mußte entsprechende Anweisungen gege­ben haben. Der Wolf legte sich dicht neben das Feuer und starrte in die Flammen, als denke er nach.

Razamon bereitete die übliche Suppe, die sie dann mit den Löffeln gleich aus dem ei­sernen Topf verspeisten. Fenrir bekam sein Stück Fleisch, das er lustlos herunter­schlang.

Draußen begann es schon zu dämmern, als der Priester kam.

*

Rein äußerlich unterschied er sich von Fo­rel und den anderen Männern schon da­durch, daß er statt der Pelzjacke ein farben­prächtiges Gewand trug, das wohl seine Würde hervorheben sollte. Gebückt kam er durch den niedrigen Eingang und richtete sich dann wieder auf. Er schien darauf zu warten, daß man ihn mit der ihm zustehen­den Ehrerbietung empfing.

Razamon blieb sitzen und warf ein Fell in die Mitte der Hütte.

»Setz dich, damit wir reden können.« Atlan beschloß, vorerst einmal etwas di­

plomatischer zu sein. Er stand auf und trat auf den Priester zu.

»Wir begrüßen dich und freuen uns über deinen Besuch. Er zeigt uns, daß wir nicht in die Hände eines wilden und den Göttern nicht ergebenen Volksstammes gefallen sind. Der Hunger trieb uns dazu, einige Din­ge dem Depot zu entnehmen, und wir sind bereit, sie eines Tages zurückzugeben.«

Der Priester verzog keine Miene, als er sich setzte.

»Ihr habt gestohlen, und Gott Gloophy bestraft die Diebe. Er nimmt keine Entschul­digung an.«

»Aber es war nur der Hunger …« »Gloophy verlangt Opfer von seinen Kin­

dern, sonst werden sie das Paradies, das er für sie schaffen wird, niemals sehen.«

»Wir sind nicht Gloophys Kinder!« brau­ste Razamon wütend auf, schwieg aber, als er Atlans warnenden Blick auffing.

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13 Zitadelle im Eis

Der Priester zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Alle sind seine Kinder, auch ihr! Und ich bin sein Vertreter im Eisland. Ich frage euch nicht, woher ihr kommt. Und die Frage, wo­hin ihr gehen werdet, ist nun überflüssig ge­worden. Gloophy wird euch gnädig empfan­gen und euch verzeihen.«

Razamon hielt den Kopf etwas schief und belauerte den Priester. »Kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken, Priester? Warum müßt ihr immer so geheimnisvoll daherre­den, daß es kein Mensch versteht?«

»Morgen wird meine Sprache deutlicher sein«, versprach der Buntgekleidete.

Ehe er aufstehen konnte, fragte Atlan: »Wir müssen weiter nach Osten zum Fluß

Xamyhr. Kennst du einen sicheren Weg dorthin?«

»Im Osten wohnt Gloophy, und es gibt keinen sicheren Weg zu ihm. Das schwere Eis umgibt und schützt ihn, es wacht über seinen langen Schlaf.«

Atlan wußte aus der Geschichte der Menschheit, daß jeder Mythos seinen realen Ursprung hatte. Selbst Zukunftsvisionen ent­stammten der Erinnerung des Unterbewußt­seins. Es mußte also einst ein Wesen gege­ben haben, das Gloophy genannt wurde und zum Gott avanciert war.

Niemand wußte das besser als dieser Prie­ster.

Der erhob sich nun endgültig und schritt zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um.

»Verbringt diese Nacht in Frieden, denn morgen werdet ihr Gott Gloophy näher sein denn je zuvor.«

Razamon starrte hinter ihm her, bis er ver­schwunden war.

»Das hört sich nicht gerade sehr freund­lich an«, knurrte er. »Ich kenne solche Sprü­che – auch von meinem Aufenthalt auf der Erde her. Den Göttern nahe sein – das be­deutet fast immer den Tod.«

Atlan legte ein Stück Holz nach. Fenrir, der sich während der Unterhaltung mit dem Priester ruhig verhalten hatte, knurrte leise im Halbschlaf.

»Ich fürchte, du hast recht, Razamon. Wir sollten uns etwas einfallen lassen.«

»Flucht?« »Sie haben uns alles gelassen – Beklei­

dung und Vorräte. Ich bin überzeugt, daß dieser Forel uns wohlgesinnt ist. Er haßt die Priester, kann aber offiziell nichts gegen sie tun, weil sie zu mächtig sind. Wenn wir flüchten, darf er nichts damit zu tun haben.«

»Natürlich nicht, ist doch klar. Ich frage mich nur, wie wir unbemerkt aus dem Dorf herauskommen sollen. Schließlich kann er es nicht wagen, seine Männer einzuweihen. Es kann Verräter unter ihnen geben, die alles dem Priester berichten.«

Atlan stand auf und sah vorsichtig durch das Türloch. Dann kam er zurück und setzte sich wieder.

»Die Wächter sind noch da. Draußen ist es schon dunkel geworden. Auf dem Dorf­platz lodert ein Feuer, rundherum haben sich die Wargoons versammelt. An Flucht ist jetzt nicht zu denken.«

Sie sprachen, wenn sie allein waren, kein Pthora, damit sie niemand verstehen konnte. Die Gefahr des Belauschtwerdens bestand also nicht.

»Wir sollten ein paar Stunden schlafen«, schlug Razamon vor.

*

Es mußte gegen Mitternacht sein, als At­lan durch ein Geräusch geweckt wurde, das er nur zu gut kannte: Fenrir knurrte war­nend.

Atlan blieb ganz ruhig liegen. Das Feuer war niedergebrannt, aber die restliche Glut verbreitete noch einen schwachen Schim­mer.

»Ganz ruhig, Fenrir!« flüsterte er. Draußen vor der Eishütte war ein vorsich­

tiges Tappen, dann verdunkelte sich der Ein­gang, der durch die Reflexion des Sternen­lichtes auf dem Eis ein wenig erhellt wurde.

Jemand stattete ihnen einen heimlichen Besuch ab.

»Forel?« flüsterte Atlan.

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14

Es folgte ein erleichtertes Aufatmen. »Ja, ich bin's, Fremder. Du bist noch

wach?« »Komm herein und setz dich. Ich habe

dich erwartet.« »Du hast mich erwartet?« Forel Wargoon

betrat endgültig die Hütte und blieb einen Moment stehen, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Dann setzte er sich. »Warum?«

Inzwischen war auch Razamon erwacht und rutschte samt seiner Felle näher an die glimmende Asche heran.

Atlan berichtete Forel vom Besuch des Priesters und seinen geheimnisvollen An­deutungen.

»Ich habe es mir gedacht«, gab Forel be­klommen zu. »Damit hat er schon das Urteil vorweggenommen. Sie wollen euch Gloo­phy opfern.«

»Opfern?« preßte Razamon hervor. »Darum also das Gerede von dem Kerl, der wie ein Papagei aussah.«

»Ich muß euch, glaube ich, eine Menge erklären«, sagte Forel. »Damit ihr das alles versteht.«

»Was hilft uns das, wenn wir tot sind?« fragte Razamon ärgerlich.

»Noch lebt ihr«, hielt Forel ihm entgegen. »Und ihr werdet auch morgen leben und nicht in Gefahr sein. Ein Opferfest bedarf der Vorbereitungen. Die Wargoons müssen zuerst eisklar werden und so ihre Verbun­denheit zu Gloophy erreichen. Vorher darf kein Opfer gebracht werden.«

»Ich verstehe kein Wort«, gab Razamon zu.

»Es werden Löcher in das Eis gehackt, in die wir steigen müssen. Die Priester wollen es so. Nackt steigen wir also in die Eislö­cher, und die Kälte vertreibt alle bodenbe­dingten Gedanken aus unseren Gehirnen. Wir werden eisklar, und erst damit sind wir bereit für das Opfer, das die Priester dem Gott darbringen. Das Fest kann also frühe­stens übermorgen stattfinden.«

»Außerdem muß erst das Urteil gefällt werden.«

Clark Darlton

»Es steht schon fest«, gab Forel zu. »Und darum bin ich hier. Ich hatte gehofft, die Priester würden diesmal darauf verzichten, ihre Macht zu demonstrieren, aber wahr­scheinlich war es ein Fehler von mir, für eu­re Freilassung zu plädieren. Ich hätte euch in der Kuppel lassen sollen.«

»Dann hätte einer deiner Begleiter dich verraten.« Atlan schüttelte den Kopf. »Wenn du uns hilfst, können wir in dieser Nacht fliehen.«

»Nicht in dieser, Fremder! Aber in der da­nach folgenden. Ich werde meine Vorberei­tungen treffen. Ihr müßt euch dann nach Sü­den wenden. Niemand wird euch dorthin folgen.«

»Wir müssen nach Osten, zur Dunklen Region.«

»Nein!« Forels Ausruf verriet sein Er­schrecken. »Um dorthin zu gelangen, müßt ihr das schwere Eis überqueren, und das würde euren sicheren Tod bedeuten. Noch niemals kehrte jemand von dort zurück.«

Atlan beugte sich vor. »Das schwere Eis …? Ich hörte diesen

Ausdruck schon einmal. Was ist das eigent­lich, das schwere Eis?«

»Das weiß niemand. Wir wissen nur, daß von dort in jedem Jahr die Flugmaschine kommt, um unsere Schätze abzuholen.«

Das wird ja immer verrückter, dachte At­lan.

»Flugmaschine … Schätze?« Forel räusperte sich. »Sie kommt von der Eiszitadelle, mehr

wissen wir nicht. Sie holt unsere Pelze, die Lederwaren und auch das Dörrfleisch. Das ist ja auch der Grund, warum wir heimlich im Westen das Depot errichtet haben. Wenn uns die Maschine eines Tages mal alles ab­nehmen sollte, haben wir einen Vorrat.«

»Diese Eiszitadelle liegt also im Gebiet des schweren Eises?« vergewisserte sich At­lan.

»So wurde uns mitgeteilt. Die Priester sa­gen es auch.«

»Nicht ganz ohne Grund«, vermutete Raz­amon, der sich ungewohnt schweigend ver­

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hielt. »Geht also nicht nach Osten«, riet Forel

noch einmal. »Obwohl euch kein Wargoon dorthin folgen würde.«

»Dann werden wir nach Osten gehen. Wir fürchten das schwere Eis nicht. Und wie stellst du dir unsere Flucht vor, Forel?«

»Ich werde euch morgen abend meinen Plan mitteilen, bis dahin geduldet euch. Ihr solltet heute nur wissen, daß ich euch helfen möchte. Aber niemand darf davon erfah­ren.«

»Du hast unser Wort«, versprach Atlan. »Gut.« Forel Wargoon erhob sich. »Ich

gehe jetzt, um keinen Verdacht zu erregen. Es werden ständig Wachen vor der Hütte sein, verlaßt sie also nicht. Morgen ist das anders.«

»Wir werden uns ausschlafen«, knurrte Razamon und fügte hinzu: »Und noch vielen Dank, Forel. Bist ein anständiger Kerl.«

Der Wargoon verschwand. Atlan und Razamon machten es sich wie­

der auf ihren Pelzen bequem. Fenrir schlief schon wieder.

»Das sind ja eine Menge Neuigkeiten, die wir erfahren haben, Atlan. Aber wenn dieser Forel nicht bereit gewesen wäre, uns zu hel­fen, säßen wir hübsch in der Klemme. Wir hätten die Flucht auf eigene Faust unterneh­men müssen.«

»Ich möchte nur wissen, was es mit dem schweren Eis auf sich hat«, sann Atlan vor sich hin.

»Wir werden es herausfinden«, meinte Razamon. »Gute Nacht!«

»Schlaf gut!« gab Atlan zurück und deck­te sich zu.

Er sah dem anderen Tag mit einem gewis­sen Interesse entgegen. Aber auch mit eini­ger Sorge.

2.

Man holte sie am frühen Vormittag ab. Zwei der buntgekleideten Priester beglei­

teten vier Wargoons, die mit Harpunen be­waffnet waren. Man nannte diese Harpunen

»Pektos«, wie sie später erfuhren. Es waren primitive, aber äußerst gefährliche Waffen.

Niemand dachte daran, den Gefangenen Fesseln anzulegen, aber das wäre auch über­flüssig gewesen. Am hellichten Tag konnte es aus dem Dorf keine Flucht geben.

Man brachte sie zum Platz, wo noch im­mer das Feuer loderte, das schon gestern abend gebrannt hatte. Männer und Frauen standen in einem großen Kreis herum, Kin­der waren nicht zu sehen. Sie schienen die Hütten nur selten verlassen zu dürfen.

Atlan bemerkte, daß einige der Männer damit beschäftigt waren, kopfgroße Steine in den Flammen des Feuers zu erhitzen. Wenn sie fast glühend waren, wurden sie mit Ei­senstangen hervorgeholt und zum Rand des Platzes gerollt. Dort ordnete man sie derart, daß Abstände vorhanden waren – und ließ sie in das schmelzende Eis hinabsinken. Mit Pickeln wurde nachgeholfen und die entste­henden Löcher vergrößert.

Atlan mußte an das denken, was Forel ih­nen gestern gesagt hatte.

Die Wargoons hatten schon damit begon­nen, alles für das Opferfest vorzubereiten.

Das Urteil stand schon jetzt fest. Würdevoll kamen die Priester herbeige­

schritten, allen voran der Bunte, der die Ge­fangenen gestern in ihrer Hütte aufgesucht hatte. Sie nahmen auf primitiv zusammenge­bastelten Stühlen Platz und scheuchten zu nahe stehende Wargoons mit herrischen Handbewegungen fort.

»Dort drüben ist Forel«, flüsterte Raza­mon und machte eine kurze Bewegung mit dem Kopf, um die Richtung anzudeuten. »Er hat mir zugeblinzelt.«

»Sei ruhig jetzt, das ist besser«, hauchte Atlan.

Er hatte Forel auch schon gesehen. Das Oberhaupt der zahlreichen Sippen stand in der ersten Reihe einer Gruppe von Männern, deren Gesichter finster wirkten. Ob der Aus­druck offener Mißbilligung den Priestern oder den Gefangenen galt, war nicht festzu­stellen.

Wenn Atlan mit einem Frage und Ant­

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16

wortspiel bei der Verhandlung gerechnet hatte, so sah er sich getäuscht. Lediglich Fo­rel mußte vortreten und einen kurzen Bericht über die Festnahme der Diebe abgeben, dann durfte er wieder an seinen Platz zu­rückkehren.

Dann wandte sich der Oberpriester der Statue des Eisgottes zu, breitete beide Arme aus und verharrte in dieser Stellung gut zwanzig Minuten. Jeder mußte fest davon überzeugt sein, daß er nun Zwiesprache mit Gloophy hielt und um seinen Rat ansuchte. Als er sich wieder den Gefangenen zuwand­te, blitzte gespielter Zorn in seinen Augen.

»Gloophy hat das Urteil über euch ge­fällt«, sagte er mit donnernder Stimme. »Aber das Opfer, das ihr ihm bringen sollt, bedeutet zugleich eine große Gnade für euch. Was unseren tapferen Kriegern nur für kurze Zeit vergönnt sein darf, die Klärung der Gedanken durch das heilige Eis, soll euch für alle Zeiten vergönnt sein. Gloophy wird euch für immer zu sich nehmen in sein Reich. So lautet das Urteil, und morgen soll es vollstreckt werden.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, gab er seinen Mitpriestern einen Wink und wandel­te durch die sofort entstehende Gasse der auseinanderweichenden Wargoons davon, von seinen Helfern gefolgt.

»Kurz und bündig«, knurrte Razamon. Auf seiner Stirn war eine steile Falte ent­standen. »Ich möchte am liebsten …«

»Sei still! Du könntest alles verderben, wenn du jetzt einen Wutanfall bekommst. Wir haben Zeit bis morgen.«

Forel kam auf sie zu, begleitet von eini­gen Männern.

»Kommt, wir bringen euch zurück in die Hütte.«

Atlan und Razamon gehorchten wortlos. Sie konnten nicht wissen, welcher der War­goons auf ihrer Seite stand und welcher nicht. Eine unvorsichtige Bemerkung konnte alles verderben und auch Forel in größte Ge­fahr bringen.

Fenrir hatte sich nicht von der Stelle ge­rührt. Er lag noch immer auf seinem alten

Clark Darlton

Platz dicht beim Feuer. Ein Topf mit Wasser stand auf einem Eisengestell über den Flam­men.

Forel folgte ihnen in die Hütte. Leise sag­te er:

»Verhaltet euch ruhig, während draußen das Eisbaden beginnt.«

»Und was soll nun geschehen?« flüsterte Razamon.

»Vorerst nichts. Ruht euch aus. Ich werde nach euch sehen, sobald die Dämmerung einsetzt. Bis dahin dürft ihr nichts unterneh­men.«

Razamon ließ sich auf den Fellen nieder. »Was hat dieser Priester eigentlich mit

uns vor?« Forel sah nach draußen, dann erst antwor­

tete er: »Vor der Statue Gloophys wird eine Gru­

be in das Eis geschmolzen, in die man euch morgen bei Sonnenaufgang legen wird. Dann wird diese Grube mit klarem Meer­wasser gefüllt, das unsere Leute holen wer­den. Das Wasser wird schnell gefrieren. Eu­re Körper werden sich bis in alle Ewigkeit nie mehr verändern, und selbst unsere Kin­deskinder werden euch noch zu Füßen des Eisgotts ruhen sehen.«

Razamon starrte ihn an, seine Hände ball­ten sich zu Fäusten. Weiß traten die Knöchel hervor. Atlan legte ihm die Hand auf den Arm.

»Ganz ruhig!« mahnte er, aber seine Stimme zitterte ein wenig. Zu Forel gewandt fuhr er fort: »Euer Priester hat eine blühende Phantasie, und euer Gloophy muß ein grau­samer Gott gewesen sein. Ist Ähnliches auch schon mit Leuten deines Volkes gesche­hen?«

»Ja, Fremder, oft genug. Aber es ist nun das erstemal, daß ein solches Opfer direkt zu Füßen des Eisgotts gebracht werden soll.«

»Eine ganz besondere Ehre, die wir zu schätzen wissen«, preßte Razamon mühsam hervor. »Diesen Kerl sollte man ebenfalls konservieren, als abschreckendes Beispiel. Mann, Forel, wie könnt ihr euch nur so drangsalieren lassen? Tut doch endlich was

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17 Zitadelle im Eis

dagegen!« Forel schüttelte traurig den Kopf. »Es ist unmöglich. Die Priester herrschen

absolut, weil unsere Männer und Frauen Angst vor der Rache Gloophys haben. Ver­sucht das zu verstehen. Wir können nichts tun.«

»Und doch willst du uns helfen?« »Ja, denn es ist meine Schuld, daß ihr hier

seid. Ihr habt mir eine lange und merkwürdi­ge Geschichte erzählt, die mir gefallen hat. Euer Weg kann und darf hier an der Eisküste nicht zu Ende sein.«

»Danke«, sagte Atlan und gab ihm die Hand. »Aber sei vorsichtig und teile uns dei­nen Plan rechtzeitig mit. Hast du Vertraute unter deinen Männern?«

»Sie werden heute nacht die Wache über­nehmen«, versicherte Forel und zog sich ab­rupt zurück.

Draußen hörten sie ihn mit den Männern sprechen, dann entfernten sich seine Schrit­te.

Nur noch das Geräusch der Eispickel war zu hören.

*

Am Nachmittag wurde es stiller. Atlan, der ein wenig geschlafen hatte,

ging vorsichtig vor bis zum Eingang und spähte hinaus. Rechts von der Hütte stand einer der Wächter, in der Hand seine Pekto. Links standen zwei weitere, die sich leise unterhielten.

Der Dorfplatz war gut zu übersehen. Zehn Männer arbeiteten mit Hilfe glühender Stei­ne an der Eisgrube zu Füßen Gloophys. Dar­über breitete sich eine Wolke von Wasser­dampf aus.

Nackt und vor Kälte an allen Gliedern zit­ternd, standen Männer und Frauen in den fertiggestellten Eislöchern, um die »erdgebundenen Gedanken aus ihrem Be­wußtsein zu vertreiben«. Sie machten sich eisklar, was immer das auch bedeuten moch­te.

Atlan zog den Kopf wieder zurück und

setzte sich. »Nun?« fragte Razamon und streichelte

Fenrir. Atlan teilte ihm seine Beobachtungen mit. »Die Priester sind raffiniert bis auf die

Knochen. Indem sie ihre Gläubigen ordent­lich durchfrieren lassen, wecken sie in deren Unterbewußtsein den Haß gegen uns, die an der Prozedur indirekt schuld sind. Damit wiederum wird bewirkt, daß die eigene Schuld geringer wird, wenn man uns tötet.«

»Das ist mir zu kompliziert«, gab Raza­mon zu und warf Gemüse und Fleisch in das siedende Wasser. »Essen wir lieber schon jetzt, denn mit vollem Magen kann ich schlecht marschieren. Und ich fürchte, das werden wir die ganze Nacht tun müssen, wenn wir die Region des schweren Eises er­reichen wollen.«

Langsam vergingen die Stunden, aber dann begann es endlich zu dämmern. Der Eissarg für die Verurteilten war inzwischen fertiggestellt worden. Noch im Bereich der Wärme des Feuers standen die Holzgefäße mit Wasser, das über die Delinquenten ge­schüttet werden sollte.

Dahinter wuchtete Gloophy, von dessen Eiskörper der Schein des Feuers in glühen-den Farben zurückgeworfen wurde.

Atlan und Razamon hatten gegessen, bis sie nicht mehr konnten. Die Wasserbeutel waren frisch gefüllt, und die Vorräte würden mindestens eine Woche reichen. Um im ent­scheidenden Augenblick keine Zeit verlieren zu müssen, hatten sie alles für einen soforti­gen Aufbruch vorbereitet. Tragbeutel und Pelzbekleidung lagen griffbereit.

Als es dunkel geworden war, sah Atlan wieder nach draußen.

Das Feuer vor dem Götzenbildnis brannte nur niedrig. Die Wärme würde gerade aus­reichen, das Wasser in den Kübeln nicht ge­frieren zu lassen. Nur ein einzelner Mann saß im flackernden Schein und warf ab und zu ein Stück Holz in die Glut.

Die Wargoons hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen, bis auf jene, die noch in den Eislöchern standen und den Willen ihres

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Gottes erfüllten. Atlan glaubte, ihre Zähne bis zur Hütte klappern zu hören.

»Ich sehe keine Wächter mehr«, flüsterte er Razamon zu. »Forel kann sie unmöglich abgezogen haben. Damit würde er sich selbst zu sehr gefährden. Hoffentlich taucht er bald auf.«

»Hoffe ich auch, denn ich bin die Warte­rei leid.«

Sie mußten noch zwei Stunden warten, dann hörten sie ein vertrautes Geräusch. Fenrir regte sich nicht, er kannte Forel be­reits.

»Hört gut zu«, sagte der Wargoon und blieb stehen. »Die beiden Wächter machen ständige Runden durch das Dorf und inspi­zieren regelmäßig alle halbe Stunde diese Hütte. Ihr müßt euch also aus dem Dorf schleichen, wenn sie hier waren. Ihr habt dann dreißig Minuten Vorsprung.«

»Das ist verdammt wenig«, knurrte Raza­mon. »Warum nicht die ganze Nacht?«

»Unmöglich! Es darf kein Verdacht auf uns fallen. Wenn die beiden Männer die Hütte nach ihrem Rundgang leer finden, müssen sie Alarm schlagen. Es wird aber­mals eine halbe Stunde vergehen, bis die Verfolgung organisiert ist. Bis zur Grenze, also dort, wo das schwere Eis beginnt, ist es ein Tagesmarsch. Von dort an seid ihr si­cher. Für die Verfolger aber wird es unmög­lich sein, in der Dunkelheit eure Spuren zu finden. Ich werde versuchen, sie auf den Ge­danken kommen zu lassen, ihr wäret nach Süden geflohen.«

»Ein paar Stunden Vorsprung genügen«, gab Atlan zu. »Was ist mit Waffen?«

»Neben der Hütte liegen zwei Pektos. Und ein Beutel mit Pfeilbolzen.«

Fenrir knurrte leise und warnend, dann er­hob er sich langsam und blickte in Richtung Eingang. Atlan folgte dem Blick und sah dort eine hohe Gestalt stehen, die vorher nicht da gewesen war. Das Feuer war nie­dergebrannt und verbreitete keine Helligkeit mehr, trotzdem wußte er sofort, wer sie überrascht hatte.

Der Oberpriester trat vor, in der Hand ei-

Clark Darlton

ne Pekto, die er auf Forel richtete. »Ich habe alles vernommen, was du sag­

test, Verräter. Du wirst zusammen mit die­sen Dieben in die Grube gelegt – ein Privi­leg, das du nicht verdientest. Du hast es nur meiner Gnade zu verdanken, wenn ich nicht …«

»Faß, Fenrir!« Razamon sprach es nicht sehr laut aus,

aber der Wolf verstand. Atlan handelte, noch ehe Fenrir sprang, und riß Forel mit einem Ruck zu Boden, so daß der Bolzen von des Priesters Harpune dicht an seinem Kopf vor­beischwirrte und sich in das Eis der Hütten­wand bohrte.

Dann war Fenrir über dem Priester der Wargoons.

Dem blieb keine Zeit mehr, einen Schrei auszustoßen, so blitzschnell fand der Wolf seine Kehle und biß zu. Lautlos sackte der Mann im bunten Gewand zu Boden. Er war sofort tot.

Fenrir zog sich auf seinen Platz zurück. Eine Weile herrschte bedrücktes Schwei­

gen, dann jammerte Forel: »Ich bin verloren, und nicht nur ich. Die

übrigen Priester werden ein fürchterliches Strafgericht abhalten, dem alle meine Freun­de zum Opfer fallen. Was soll ich nur tun? Ich kann nicht mit euch über das schwere Eis gehen … ich kann es nicht!«

Atlan beruhigte ihn: »Laß uns überlegen, Forel. Natürlich las­

sen wir dich nicht im Stich, aber dieser Prie­ster mußte sterben. Er hätte dein Geheimnis verraten, so aber kann er es nicht mehr. Wa­rum nutzen wir nicht den Aberglauben dei­nes Volkes aus? Die Priester selbst haben ihn verbreitet, sie können ihn also auch nicht widerrufen.«

»Wie meinst du das?« fragte Razamon verständnislos.

Atlan lächelte in die Dunkelheit hinein. »Jeder kann sehen, daß der Priester durch

den Biß eines Tieres getötet wurde. Kein Mensch brachte ihn um. Wir bringen ihn hinaus und legen ihn in die Grube, die er uns zudachte, dann schütten wir das Wasser über

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ihn. Wenn sie ihn morgen finden, werden sie ihn unter dem Eis zu den Füßen seines Got­tes liegen sehen. Gloophy hat ihn gnädiger­weise zu sich geholt.«

»Draußen ist ein Mann beim Feuer«, sag­te Forel. »Er gehört nicht zu meinen Ver­trauten.«

»Um den werde ich mich kümmern«, er-bot sich Razamon. »Wann haben die beiden Wächter ihre Runde beendet?«

»Jeden Moment.« »Gut, dann warten wir solange.« Schweigend saßen sie um das endgültig

erlöschende Feuer. Forel und der tote Prie­ster lagen verborgen unter einigen Fellen, damit sie niemand sehen konnte, wenn je­mand in die Hütte blickte. Dann hörten sie die Schritte der Wärter. Eine Fackel wurde durch die Tür gestreckt. Ihr Schein beleuch­tete die scheinbar schlafenden Gefangenen und wurde von den Augen Fenrirs reflek­tiert.

Befriedigt gingen die beiden Wargoons weiter.

Dann ging alles sehr schnell. Razamon schlich vor, betäubte den Mann am Feuer mit einem Fausthieb und schaffte ihn beisei­te. Dann holten sie den Priester, legten ihn in den eisigen Sarg und leerten die Wasserbe­hälter über ihn aus. Das Wasser begann so­fort zu gefrieren.

Der Abschied von Forel war überstürzt, aber Atlan war überzeugt, daß man ihm kei­ne Schuld an der Flucht der Gefangenen ge­ben würde. Die Priester würden genug damit zu tun haben, sich über ihren neuen Oberhir­ten zu einigen. Jeder von ihnen würde an der Nachfolge interessiert sein.

Sie nahmen ihr Gepäck, die beiden Pektos und verließen das Dorf.

Forel sah ihnen nach, bis sie in der Dun­kelheit verschwunden waren. Auf dem Weg zu seiner Hütte begegnete er den Wächtern.

»Geht eine weitere Runde, ehe ihr nach den Gefangenen seht«, flüsterte er ihnen zu.

Sie nickten stumm ihr Einverständnis. Als Forel in seinen Fellen lag, begann

sein Verstand langsam zu verarbeiten, was

geschehen war. Sein größter Widersacher war tot, von einem herumstreifenden wilden Tier angefallen und zu Tode gebissen. Nie­mand würde wissen, wie er in den Eissarg gekommen war, und die anderen Priester würden die ersten sein, die es als Wunder bezeichneten.

Nein, auf ihn – Forel – würde kein Ver­dacht fallen.

Er begann leichter und freier zu atmen. Mit einem Gefühl neuer Zuversicht lag er

da und wartete auf das Alarmgeschrei der beiden Wächter.

3.

Atlan, Razamon und Fenrir marschierten die ganze Nacht, bis im Osten der Morgen zu dämmern begann.

Viel hatten sie nicht von einer Verfolgung bemerkt. Als sie eine Stunde unterwegs ge­wesen waren, hatten sie hinter sich die hel­len Punkte von Fackeln gesehen, die sich ziellos in der Dunkelheit bewegten. Die mei­sten von ihnen wanderten nach Süden. We­nige nur folgten ihnen in östlicher Richtung.

Das Gelände hatte sich kaum verändert. Die wenigen Hügel, die sie vor zwei Tagen gesehen hatten, lagen längst hinter ihnen. Während der Nacht waren sie über eine glat­te Eisfläche gegangen und schnell vorange­kommen. Doch nun, als im Osten die Sonne aufging, sahen sie eine gewaltige Eisbarriere vor sich aufragen, die sich wie ein unüber­windlicher Riegel zwischen sie und ihr Ziel schob.

»Das muß die Grenze sein«, murmelte Razamon und setzte automatisch einen Fuß vor den anderen. »Möchte wissen, ob wir da eine Lücke finden.«

Atlans Zuversicht schwand, je näher sie dem Hindernis kamen.

Die Barriere mochte fast dreißig Meter hoch sein und erstreckte sich wie eine glatte, schimmernde Mauer von Norden nach Sü­den. Es schien weder Vorsprünge noch Ein­schnitte zu geben, die eine Besteigung er­leichtert hätten. Die einzige Möglichkeit war

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20

das Umgehen im Süden, aber das hätte einen weiteren Tagesmarsch Umweg bedeutet.

Sie näherten sich der Wand bis auf weni­ge hundert Meter und hielten an, um zu überlegen. Fenrir, der keine Müdigkeit zu kennen schien, lief weiter bis zur Barriere und dann an ihr entlang, als wolle er die richtige Stelle zur Überwindung des Hinder­nisses allein durch seine ausgezeichnete Witterung finden.

»Wir haben immerhin das Seil«, sagte At­lan nicht ohne eine gewisse Genugtuung.

Razamon nickte und meinte spöttisch: »Na, ist das nicht fabelhaft? Wir werfen

es einfach in die Höhe, und dann klettern wir daran empor. Feine Sache!«

»Klar«, meinte Atlan in gleichem Tonfall. »Und dann klettert Fenrir hinterher.«

Sie grinsten sich an, wurden aber schnell wieder ernst, als am westlichen Horizont ei­nige Dutzend dunkle Punkte auftauchten, die sich in ihre Richtung bewegten.

Die Verfolger hatten ihre Spur endlich ge­funden.

»Nun wird es aber Zeit«, stellte Atlan fest. »Komm!«

Erst als sie vor der senkrecht aufragenden Eiswand standen, wußten sie, daß nur noch ein Wunder sie retten konnte. Ohne Berg­steigerausrüstung kam hier niemand hoch, selbst nicht der geschickteste Kletterer. Au­ßerdem war da noch der Wolf, den man nicht zurücklassen wollte.

Fenrir … Sie hörten ihn weiter südlich bellen und

heulen. Aber er war nicht zu sehen. »Was hat er denn?« fragte Razamon und

nahm die Beutel wieder auf, die er abgestellt hatte. »Wo steckt er überhaupt?«

Das Gelände vor der Barriere war flach und übersichtlich, trotzdem war Fenrir nir­gendwo zu sehen. War er vielleicht in eine Eisspalte gestürzt?

Nein, dann hätte sein Geheul ganz anders geklungen.

»Ob er etwas entdeckt hat?« »Wahrscheinlich«, sagte Atlan sarka­

stisch. »Sonst würde er sich nicht so anstel-

Clark Darlton

len. Sehen wir nach, viel Zeit haben wir oh­nehin nicht mehr, dann müssen wir uns auf die Verteidigung vorbereiten. Lebendig krie­gen mich die Priester nicht!«

»Ein zweites Mal kann Forel uns be­stimmt nicht helfen …«

Sie schlitterten über das Eis, so beeilten sie sich. Plötzlich sahen sie den Wolf.

Er stand oben auf der dreißig Meter hohen Eisbarriere und blickte schweifwedelnd zu ihnen herab.

Razamon blieb ruckartig stehen, rutschte natürlich aus und setzte sich hin. Atlan hielt langsamer an. Suchend wanderte sein Blick an der steilen Eiswand entlang, aber er ent­deckte nichts, das an einen leichten Aufstieg erinnerte.

Die dunklen Punkte im Westen kamen nä­her und wurden größer.

»Wo ist er bloß?« fragte Razamon und stand vorsichtig auf.

»Ich sehe nichts als die glatte Wand.« Atlan zuckte die Schultern. »Fenrir kann nicht fliegen, also gibt es

einen Weg nach oben. Wahrscheinlich ist es nur ein schmaler Spalt, den man leicht über­sieht. Los, weiter! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

Wenn man unmittelbar vor der Barriere stand, wirkte sie doppelt so hoch. Aber nicht mehr unüberwindbar. Fenrir war dafür der lebende Beweis. Der Wolf war verschwun­den, aber sie hörten ihn noch heulen. Es war offensichtlich, daß er ihnen den Weg zeigen wollte.

»Soll er doch nochmal 'runterkommen«, keuchte Razamon.

»Wir finden es auch so«, gab Atlan zu­rück.

Sie hasteten nach Süden, immer dicht an der Eiswand entlang, um den Aufstieg nicht zu verpassen. Die Verfolger waren jetzt nur noch zwei oder drei Kilometer entfernt und mußten sie entdeckt haben, wenn sie nicht gerade blind waren.

Atlan stutzte, als er den schmalen Spalt sah, an dem er fast vorbeigegangen wäre. Er war gerade breit genug, einen Mann durch­

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21 Zitadelle im Eis

zulassen. Einen Mann oder einen Wolf. »Das muß es sein!« Razamon holte ihn

ein und blieb stehen. »Ein Riß im Eis!« Atlan quetschte sich durch den Spalt, der

schon nach wenigen Metern breiter wurde. Trotzdem mußte er sich vorstellen, was pas­sieren würde, wenn sich die durch den Riß getrennte Barriere wieder zusammenschob. So betrachtet, stand er auf dem Grund einer dreißig Meter tiefen Gletscherspalte.

Aber Fenrir hatte diese dreißig Meter Hö­henunterschied überwunden, also mußte es auch einen Weg nach oben geben.

Razamon stand neben Atlan. Die beiden Männer erblickten eine bizarre und unheim­liche Landschaft, in die das Tageslicht senk­recht von oben hereinfiel. Gläserne Säulen und Türmchen gaukelten ihnen eine erstarrte Märchenlandschaft vor, dazwischen klafften dunkle Höhlen und Risse in den Eiswänden.

»Da vorn ist so etwas wie ein Pfad«, sagte Atlan und ging weiter. »Er muß durch Zufall entstanden sein.«

Natürlich war es kein richtiger Pfad, aber immerhin führte er nach oben. Sie hörten Fenrir lauter heulen. Er hatte wahrscheinlich jetzt die Verfolger gewittert. Zwischendurch bellte er und wies den Männern die Rich­tung.

Es war ein beschwerlicher Weg, denn der Boden war glatt und trügerisch. Immer wie­der rutschten sie aus und wären unweiger­lich abgestürzt, wenn die bizarren Eisforma­tionen ihnen keinen Halt geboten hätten.

Endlich hatten sie es geschafft. Fenrir begrüßte sie freudig und tat ganz

so, als seien sie nun für alle Zeiten in Sicher­heit. Dabei hatten sie lediglich nur ein Hin­dernis genommen, und niemand konnte wis­sen, wie viele noch vor ihnen lagen.

War mit dem schweren Eis diese Barriere gemeint?

Atlan ging vor zum Abbruch und sah in die Eiswüste hinab, aus der sie gekommen waren. Etwa fünfzig Wargoons waren es, die sich am Fuß der Barriere versammelt hatten und zu den Verfolgten emporsahen. Keiner

von ihnen schien Lust zu verspüren, die Jagd fortzusetzen.

Atlan winkte ihnen abschiednehmend zu und kehrte zu Razamon und Fenrir zurück.

»Die sind wir los«, sagte er und deutete nach Westen. »Der Höhenunterschied von dreißig Metern bleibt bestehen, wir haben also praktisch nur eine Schwelle erstiegen. Aber das Gelände scheint schwieriger zu werden. Überall sind Spalten und Täler, eine phantastische Landschaft, wie von Riesen in einem Sandkasten aufgebaut.«

»Nur daß es kein Sand ist, sondern Eis. Du hast recht: Sieht nicht gut aus. Gegen das, was vor uns liegt, war das Bisherige nur ein harmloser Spaziergang. Ich gebe zu: Ich bin nicht begeistert.«

»Gute hundert Kilometer bis zur Dunklen Region …« Atlan strich Fenrir geistesabwe­send durch das Nackenfell. »Nun werden wir endlich das Seil gebrauchen können.«

»Bin ich froh, daß du keine anderen Sor­gen hast …«

Ohne noch einen Blick nach hinten zu werfen, setzten sie ihren Marsch fort.

Es war inzwischen früher Nachmittag ge­worden.

*

Zwei Stunden später hatte Razamon für das Seil nur noch bewundernde Blicke üb­rig.

Er hatte die Führung übernommen und ging voran. Fenrir folgte ihm dicht auf den Fersen, zehn Meter dahinter bildete Atlan den Abschluß der kleinen Marschkolonne.

Bisher hatte es keine nennenswerten Schwierigkeiten gegeben, und sie waren gut vorangekommen. Tiefe Spalten waren meist nur schmal und kündigten sich durch auffäl­lige Risse im Eis an. Breite Spalten hatten immer sanfte Gleithänge, die man hinab­schlitterte und dann auf ihrem Grund weiter­ging, bis sie von selbst wieder ausliefen.

Atlan war es leid geworden, Razamon zum Anseilen überreden zu wollen. Der At­lanter lehnte es stur ab, »an die Leine ge­

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nommen zu werden«, wie er sich ausdrück­te. Außerdem befände man sich nicht im Hochgebirge, wo er eine solche Vorsichts­maßnahme noch akzeptieren würde, wenn es unbedingt sein müsse.

Während der letzten fünf Kilometer hat­ten sie etwa fünfzig Meter an Höhe verloren. An manchen Stellen kam der nackte Fels zum Vorschein. Die Eisdecke konnte nicht mehr so dick sein wie vorher.

»Hast du nicht das Gefühl, daß es wärmer wird?« Atlan war stehengeblieben und taste­te an einer Felswand entlang, nachdem er sich die Handschuhe ausgezogen hatte. »Es gibt richtige eisfreie Zonen hier. Woran mag das liegen?«

»Wenn wir wie bisher Weiterrennen, fan­ge ich noch an zu schwitzen«, übertrieb Raz­amon und gab Fenrir einen Brocken Dörr­fleisch. »In ein oder zwei Stunden wird es dunkel. Ich bin für eine Pause.«

»Erst dann, wenn es dunkel wird«, lehnte Atlan ab. »Übrigens liegt vor uns eine Ne­belbank. Hast du schon mal Nebel über dem Eis gesehen?«

»Hier ist so ziemlich alles möglich. Du meinst also, wir sollen weiter?«

»Meine ich allerdings. Außerdem suchen wir uns für die Nacht einen bequemeren Platz als diesen.«

Razamon stolperte weiter. Atlan begann sich über die neuen Eisfor­

mationen zu wundern. Statt der bisher übli­chen Spalten und Schluchten gab es immer mehr … er fand nicht den richtigen Aus­druck für die brunnenähnlichen Schächte, die immer wieder den Weg blockierten. Ebensowenig konnte er sich erklären, wie sie entstanden sein mochten.

Er fuhr erschrocken zusammen, als er Razamons plötzlichen Aufschrei hörte, und als er aufblickte, sah er nur noch, wie der Atlanter verzweifelt mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und nach einem Halt suchte.

Dann war er verschwunden. Die Einbruchstelle befand sich auf einer

runden Eisfläche, die höchstens fünf Zenti-

Clark Darlton

meter dick war. Sie hatte ihn nicht tragen können. Fenrir hingegen hatte sie ohne Zwi­schenfall passiert.

Atlan warf sein Gepäck ab und rutschte bis zur Einbruchstelle vor. »Razamon! Bist du verletzt?«

»Knie geprellt, sonst alles in Ordnung! Mann, ist das eine Rutschbahn.« Seine Stim­me klang dumpf und hohl. »Hörst du mich?«

»Wie tief bist du gefallen?« »Keine Ahnung, zehn Meter vielleicht.

Hier unten ist Wasser.« »Wasser?« »Warmes Wasser, ob du es glaubst oder

nicht!« Erst jetzt bemerkte Atlan den feinen Ne­

bel, der aus dem Loch stieg. »Eine warme Quelle wahrscheinlich. Jetzt

weiß ich auch, wie die Löcher entstanden sind. Bist du naß geworden?«

»Bis zum Bauchnabel stehe ich in der Brühe. Tut ja ganz gut, so ein warmes Bad, ich frage mich nur, wie ich hier wieder her­auskommen soll.«

Atlan rutschte zurück und mußte unwill­kürlich grinsen. Er löste das Seil und ließ es in den Schacht hinab.

»Aufpassen, das Seil! Mach eine Schlinge und halte dich daran fest … oder besser: Be­festige deine Ausrüstung daran, die ziehe ich zuerst hoch.«

Wenig später waren die Beutel mit Le­bensmittel und Wasser in Sicherheit, auch die Pekto war unversehrt geblieben. Aber dann wurde es anstrengend. Razamon war nicht gerade leicht, aber er half mit, so gut er konnte. Als sein Kopf endlich über der trü­gerischen Eisfläche erschien, stieß Fenrir ein freudiges Gejaule aus.

Atlan zog ihn auf die sicheren Felsen. »Na, was hätten wir wohl ohne das Seil

gemacht?« fragte er nicht ohne Genugtuung. Razamon schüttelte sich. »Keine Ahnung«, gab er zu und tastete an

seiner Hose herum. »Die ist naß, und trocken wird sie auch nicht von alleine.«

Die Temperatur schwankte um den Ge­frierpunkt. Immer noch zu kalt, um die Ho­

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23 Zitadelle im Eis

sen auszuziehen und zu trocknen. Was fehl­te, war ein Feuer, aber hier gab es nichts zum Verbrennen. Außerdem hatten die Män­ner kein Feuerzeug bei sich.

»Dort unten ist mehr Nebel, also gibt es auch offene heiße Quellen. Während wir deine Sachen trocknen, kannst du dich ins warme Wasser legen. Das wäre doch eine Lösung.«

»Das ist so ziemlich das Verrückteste, was ich bisher hörte«, knurrte Razamon.

Sie nahmen ihr Gepäck wieder auf und marschierten weiter. Diesmal blieb Fenrir zurück, und Atlan übernahm die Spitze. Er hatte sich das Seil um den Leib geschlungen, am anderen Ende war der Atlanter befestigt. Er hatte nicht einmal protestiert.

Es war eine riesige Senke, in die sie hin­abstiegen. Nur an den Hängen war noch Eis, der Boden war meist felsig und eisfrei. Ein­mal bückte sich Atlan und tastete das Ge­stein ab. Als er sich aufrichtete, lächelte er zufrieden.

»Warm, richtig warm! Wir werden nicht frieren in dieser Nacht.«

»Und so etwas nennt sich schweres Eis«, kommentierte Razamon.

In der Talsenke entdeckten sie den ersten Pflanzenwuchs. Gras und verkrüppelte Bü­sche wuchsen am Rand winziger Bäche, die aus Felsspalten kamen und in anderen wie­der versickerten. Humus war durch den Wind angeweht worden und bot der küm­merlichen Vegetation spärlichen Halt.

In einiger Entfernung glitzerte die Fläche eines kleinen Sees.

»Das ist ja ein richtiges Paradies«, freute sich Razamon. »Und das mitten in einer un­zugänglichen Eiswüste! Es ist unfaßbar!«

Der See war von einem breiten Grasstrei­fen eingeschlossen. Das Gelände stieg nach allen Seiten sanft an. Riesige Felsbrocken boten Schutz vor dem Wind, der über die Senke dahinstrich.

Sie fanden einen günstigen Lagerplatz un­ter einer überhängenden Wand, keine fünf Meter von den Ufern des Sees entfernt. Das Wasser dampfte. Atlan hielt die Hand hin­

ein. »Etwa dreißig Grad, gerade recht für ein

Bad.« Während Razamon nackt im seichten

Wasser lag, brachte Atlan die nasse Klei­dung zum Gipfel eines Hügels, wo der Wind besonders kräftig wehte. Er hing sie über die Äste eines verkrüppelten Baumes. In ein paar Stunden würden Hose und Unterwä­sche getrocknet sein.

Auf dem Rückweg kam er an einer Quelle mit kochendem Wasser vorbei, das sich in einem kleinen Felsbecken sammelte und dann durch eine Rinne abfloß.

»Hier gibt es sogar Fische im See!« emp­fing ihn Razamon. »Die müssen sich an die hohe Temperatur gewöhnt haben. Etwas hei­ßer, und sie würden gleich gekocht.«

Das brachte Atlan auf eine Idee. Aus ei­nem Ast fertigte er sich einen primitiven Speer an, und keine zehn Minuten später hatte er drei ansehnliche Fische aus dem See geholt. Er nahm sie aus und warf sie in die kochende Quelle.

Razamon aß, während er der Länge nach im Wasser lag.

»Auch das passiert mir heute zum ersten­mal«, gab er kauend zu.

Fenrir bekam seinen Anteil und unter­nahm noch einen Streifzug, nachdem er ge­fressen hatte.

»Schlaf nur nicht ein«, riet Atlan und wickelte sich in seinen Pelz. »Nimm das Seil.«

Razamon grinste und band sich fest. Der Gedanke, im Schlaf in tieferes Was­

ser zu rutschen, war ihm unsympathischer als das Seil.

*

Als Atlan am anderen Morgen erwachte, lag Razamon bereits wieder angezogen dicht neben ihm in seinem Pelz und schnarchte, als habe er die ganze Nacht kein Auge zuge­tan. Vorsichtig erhob er sich, um das Früh­stück zu besorgen. Die Kochquelle mußte ausgenutzt werden.

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24

Nun erst sah er, daß sich in dem See nicht nur Fische aufhielten. Zwei Seehunde tum­melten sich in seiner Mitte und spielten mit­einander. Fenrir stand am Ufer und sah in­teressiert zu. Er schien Lust zu verspüren, bei der lustigen Jagd mitzumachen.

Atlan fing diesmal vier Fische, dann weckte er Razamon.

»Faultier, wir müssen bald weiter! Alles trocken geworden?«

»Trocken und sauber!« erwiderte Raza­mon mit anzüglichem Unterton. »Ein Bad hätte dir wahrlich auch nicht geschadet.«

Atlan versicherte, daß er sich noch eini­germaßen frisch fühle, und bereitete die Fi­sche zum Frühstück vor. Mit einem Gefühl der Wehmut nahmen sie dann Abschied von dem warmen See und brachen auf.

Als sie die Senke verlassen hatten, spür­ten sie wieder den kalten Wind aus dem Norden. Die Vegetation hörte auf, das Eis wurde wieder dicker. Nach wenigen hundert Metern Marsch befanden sie sich erneut in der typischen arktischen Landschaft der Eis­küste von Pthor.

Immer mehr Hindernisse mußten umgan­gen werden, was Zeit und Kraft kostete. Meist jedoch waren die Hänge der niedrigen Berge nicht zu steil, so daß sie ohne beson­dere Anstrengung erstiegen werden konnten.

Vom Gipfel eines solchen Berges aus war die Sicht nach Osten zu plötzlich frei. Der über der zerklüfteten Ebene liegende Nebel deutete auf weitere heiße Quellen hin, aber von Vegetation war nichts zu bemerken. Auch nackte und eisfreie Felsen waren nicht zu sehen, dafür jedoch phantastisch anmu­tende Eisformationen, die an erstarrte Skulp­turen und kristallene Burgruinen erinnerten.

»Ein Gebirge?« Razamon deutete unsi­cher in Richtung der bizarren Erhebungen, die aus der Ebene emporragten. »Sieht so aus, als bestünde zwischen den vielen klei­nen Gipfeln ein Zusammenhang. Sie schei­nen durch Mauern aus Eis verbunden zu sein.«

Atlan antwortete nicht. Mit zusammenge­kniffenen Augen sah er hinüber zu dem

Clark Darlton

nicht sehr großen Massiv und versuchte, Razamons Vermutung mit seiner eigenen in Einklang zu bringen. Die Gipfel erinnerten an Türme und Giebel, die durch eine unvor­stellbare Hitzeeinwirkung geschmolzen und dann wieder erstarrt waren. So etwa sahen die Stahlkonstruktionen moderner Bauwerke nach einem atomaren Überfall aus.

»Ein riesiger Eisberg, der mal hier ange­trieben wurde?«

Atlan schüttelte langsam den Kopf. »Das ist kein Eisberg, Razamon. Ich glau­

be, wir haben die geheimnisvolle Eiszitadel­le gefunden.«

»Ja, natürlich!« Der Atlanter schien rich­tig erleichtert zu sein, endlich die Erklärung für die seltsame Erscheinung in der Ebene gefunden zu haben. »Das Ding sieht aus wie eine riesige Burg aus Eis. Dort also hausen die Kerle, die den Wargoons ihre Pelze ab­nehmen …«

»Ganz so sicher scheint mir das nicht zu sein«, sagte Atlan.

Der Wind aus dem Norden war kalt und trieb die Nebelschwaden an der Zitadelle vorbei nach Süden. Manchmal verschwan­den Teile des mächtigen Gebildes im Dunst, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Das Bauwerk mit seinen Türmen und Zinnen schien sich unaufhörlich zu verändern, aber das war natürlich eine optische Täuschung.

»Sie ist uns genau im Weg«, stellte Raza­mon nach einiger Zeit fest. »Wenn wir sie umgehen wollen, müssen wir uns nach Sü­den wenden. Ein ziemlicher Umweg, wenn du mich fragst.«

»Warum sollen wir uns die Festung nicht ansehen? Bemerkst du Anzeichen von Le­ben dort? Ich nicht.«

»Und was hoffst du zu finden?« »Keine Ahnung.« Schweigend und ihrer Sache durchaus

noch nicht sicher, wanderten sie weiter. Das Gelände fiel stetig ab, wenn auch nur lang­sam und ohne größere Hindernisse. Südlich der Burg schossen in unregelmäßigen Ab­ständen gewaltige Rauchsäulen in die Höhe und fielen dann wieder zurück. Das heiße

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Wasser der Geysire schmolz tiefe Löcher und Rillen in das Eis.

Je näher sie der eisigen Festung kamen, desto höher schienen die glitzernden Wälle zu sein, die sie wie ein Ring einschlossen. Auf den ersten Blick wirkte die Burg unein­nehmbar, doch davon ließ Atlan sich nicht entmutigen. Auch Razamon schien nun end­gültig vom Fieber des Entdeckers gepackt worden zu sein. Er schritt kräftiger aus, so daß Atlan Mühe hatte, ihm zu folgen.

Fenrir trottete zwischen ihnen. Sein Nackenfell war gesträubt, und manchmal knurrte er leise und warnend, aber sein gan­zes Verhalten deutete noch nicht auf eine akute Gefahr hin.

Atlan mußte unwillkürlich an den Eisgott Gloophy denken. Der Sage nach ruhte er ir­gendwo unter dem Eis und wartete auf den Tag seines Erwachens. Für einen Gott konn­te es keinen würdigeren Platz als diese Zita­delle geben …

Sollte die Sage hier ihren Anfang genom­men haben?

Das Leben der Wargoons wurde vom Aberglauben geprägt, und sicherlich waren die Priester nicht die einzigen, die das aus­zunutzen verstanden. Nicht umsonst hatten sie die Zone des schweren Eises zum verbo­tenen Gebiet erklärt. Sie mußten zumindest die Wahrheit ahnen und wollten verhindern, daß sie jemals bekannt wurde.

Wer aber waren diese anderen, die mit der Flugmaschine kamen, um die Wargoons auszuplündern? Auch sie sprachen von der Eiszitadelle und behaupteten, sie wohnten in ihr. Taten sie das nur, um sich die Wargoons gefügig zu machen?

Mit jeder Minute, dachte Atlan, gibt es einen Grund mehr, sich um diese Eiszitadel­le zu kümmern und ihr Geheimnis zu ergrün­den.

Über der unwirklich anmutenden Land­schaft lag bedrückendes Schweigen, wenn man von gelegentlichen Ausbrüchen der Geysire absah. Sie wirkte leblos und voller Drohung. Und mitten in ihr wuchtete wie ein schlafender Riese die Festung aus Eis.

»Sie besteht nicht nur aus Eis.« Es war, als hätte Razamon die Gedanken seines Freundes erraten. »An manchen Stellen kommt ein dunkelfarbiges Material zum Vorschein, vielleicht Fels oder Steinquader. Damit wurde sie gebaut, und mit der Zeit vereiste sie, da es hier nur selten taut. Soviel Wärme geben die Geysire auch wieder nicht ab. Sie zieht mit dem Wind nach Süden.«

Sie standen auf der letzten Erhebung der Westseite und befanden sich etwa auf glei­cher Höhe des Eiswalls, der sich um die Zi­tadelle legte. So sehr Atlan seine Augen auch anstrengte, er fand keine einzige Lücke in der etwa zehn Meter hohen Mauer, deren Kern wahrscheinlich ebenfalls aus Fels be­stand. Aber der ganze Komplex war riesig groß. Man würde ihn umrunden müssen, um einen Weg ins Innere zu finden.

Fenrir war ein Stück vorgelaufen, hinab in das hier übersichtliche Vorfeld der Festung. Er blieb stehen und sah zurück zu den Män­nern. Es schien, als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen.

»Er will nach Norden, vielleicht hat er et­was gewittert.« Atlan klopfte Razamon auf die Schulter. »Gehen wir, sonst wird es noch Abend, bis wir etwas gefunden haben.«

Sie näherten sich der Eismauer bis auf fünfzig Meter und hielten sich in dieser Ent­fernung. Sie reichte gerade, um noch die Spitzen der Türme und Zinnen hinter dem Wall sehen zu können. Wenn sie geglaubt hatten, weiter nördlich gäbe es keine heißen Quellen und Geysire mehr, sahen sie sich getäuscht. Die warmen Bäche hatten auch hier das Gelände verformt und schmale Tä­ler gebildet, die durchquert werden mußten.

Der Eiswall setzte sich ohne Unterbre­chung fort.

Erst als sie etwa zehn Minuten nach Nor­den marschiert waren, bog der Wall allmäh­lich in östliche Richtung ab. Sie folgten ihm in der üblichen Entfernung von fünfzig Me­tern. Wieder veränderte sich das Gelände.

Es wurde flacher und übersichtlicher. Von der Zitadelle aus gerechnet mochte der ebe­ne Streifen fast einen Kilometer breit sein,

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dann begannen wieder die üblichen Hügel und Eisschluchten.

Razamon freute sich: »Jetzt kommen wir schneller voran. Ich

glaube ja nicht, daß wir an der Nordseite einen Eingang finden, der Süden wäre wahr­scheinlich günstiger. Aber eine Vermutung ist so gut wie die andere.«

Fenrir war weit vorgelaufen. Es war ein beruhigendes Gefühl, den Wolf als Siche­rung dabei zu haben. Seine Nase war besser als die der beiden Männer, und er würde ei­ne Gefahr lange vor ihnen bemerken.

Sie schritten schneller voran, während hinter ihnen die Sonne langsam nach Westen wanderte. Nicht mehr lange, dann würde es zu dämmern beginnen. Und bis jetzt hatten sie noch nichts erreicht.

Fenrir wartete, bis sie ihn eingeholt hat­ten, dann lief er wieder vor. Als er einen Vorsprung von zwanzig Metern hatte, ge­schah etwas Unheimliches.

Atlan und Razamon sahen es gleichzeitig, da sie zufällig in dieselbe Richtung blickten.

Fenrir knickte plötzlich mit allen vier Bei­nen ein und platschte auf den Bauch. Dabei stieß er ein jämmerliches Jaulen aus und versuchte offensichtlich, wieder auf die Fü­ße zu gelangen. Seine Bewegungen waren so, als hätte er sich sämtliche Knochen ge­brochen.

Razamon begann sofort zu rennen, um dem Tier zu helfen.

»Warte! Sei vorsichtig!« rief Atlan und lief hinter ihm her.

Er konnte sich den seltsamen Vorgang nicht sofort erklären, und die Vermutung, die er hatte, erschien ihm zu phantastisch.

Fenrir arbeitete sich mühsam Zentimeter für Zentimeter voran, dabei heulte er, als sei er in eine Fußfalle geraten. Er lag platt auf dem Eis, als drücke ihn ein unsichtbares Ge­wicht nieder. Selbst den Kopf schien er nicht mehr anheben zu können.

Razamon beherzigte Atlans Warnung nur halb, indem er langsamer als zuvor lief. Die Pekto und die Tragbeutel hatte er fallen las­sen, um die Hände frei zu haben. Er war

Clark Darlton

noch fünf Meter von Fenrir entfernt, als er einen Schrei ausstieß und stürzte.

Unwillkürlich hatte er die Hände vorge­streckt, um den Aufprall abzumildern, aber Atlan sah, daß die Arme wie Gummi ein­knickten. Dann lag Razamon mit dem Ge­sicht nach unten auf der glatten Eisfläche und rutschte langsamer werdend weiter, bis er neben Fenrir endlich zur Ruhe kam.

Atlan war mit einem Ruck stehen geblie­ben, zehn Meter von den beiden Gestürzten entfernt. Wenn er ihnen helfen wollte, durfte er keinen Schritt mehr weitergehen. So un­glaublich es auch schien, aber seine Vermu­tung hatte sich bestätigt. Fenrir und Raza­mon waren in eine Zone höherer Schwer­kraft geraten. Ihr Gewicht mußte sich ver­doppelt oder gar verdreifacht haben. Der Be­griff »Das schwere Eis« hatte plötzlich einen Sinn bekommen.

*

»Ruhig liegen bleiben«, warnte er und be­gann das Seil abzuwickeln. »Jede Bewegung kostet Kraft. Wie fühlst du dich?«

»Schwer!« gab Razamon mühsam zurück und versuchte trotz Atlans Warnung, sich auf dem Eis zu drehen. Es gelang ihm auch. »Das müssen an die drei Gravos sein!«

»Eine hübsche Falle. So, ich werfe dir jetzt das Seil zu. Binde es dir um den Leib und packe Fenrir am Nackenfell. Ich denke schon, daß ich euch beide zugleich heraus­ziehen kann, sind ja nur ein paar Meter. Vielleicht kannst du auch nachhelfen.«

Das Seil flog ein kleines Stück völlig nor­mal durch die Luft, aber dann wurde es von der unsichtbaren Kraft der erhöhten Schwer­kraft fast senkrecht in die Tiefe gerissen. Razamon konnte es nicht erreichen, so sehr er sich auch streckte.

Atlan mußte mehrmals werfen, ehe seine Berechnung stimmte. Razamon zog das Sei­lende zu sich heran und stöhnte vor Anstren­gung bei der geringsten Bewegung. Mühsam gelang es ihm, es unter seinem Bauch durch­zuschieben und zu verknoten.

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27 Zitadelle im Eis

Fenrir lag nun dicht neben ihm. Mit letz­ter Kraftreserve krallte er die rechte Hand in das Fell des Wolfes und blieb dann er­schöpft liegen.

Atlan suchte nach einem festen Halt für seine Füße, was nicht so einfach war. Aber zum Glück lagen Razamon und Fenrir auf einer glatten Eisfläche, die Reibung war nur gering. Immerhin machte sich das erhöhte Gewicht bemerkbar.

Meter um Meter zog Atlan sie hinter sich her, bis er plötzlich ein Nachlassen des Seils spürte. Fenrir sprang auf und bellte freudig, obwohl er sicherlich nicht begriffen hatte, was geschehen war. Auch Razamon erhob sich, band aber das Seil nicht los.

»Erhöhte Gravitation, kein Zweifel. Kann es sich da um eine besonders große An­sammlung reinen Erzes handeln?«

Atlan schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eine Schutzeinrichtung je­

ner, die die Zitadelle bauten. Ein künstliches Gravitationsfeld, um ungebetene Gäste fern­zuhalten. Die Leute müssen technisch ganz schön auf Draht gewesen sein. Du hast recht, wir bleiben besser angeseilt. Ich fürchte, wir werden noch mehr Überra­schungen erleben.«

»Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht so nah an dem Eiswall bleiben. Außerdem wird es bald zu dämmern anfangen. Wir brauchen einen warmen Platz für die Nacht.«

»Willst du schon wieder baden?« Raza­mon grinste.

»Na ja, geschwitzt habe ich eben schon ganz ordentlich:«

Sie wichen nach links aus und folgten dann parallel der Burgmauer in einem Ab­stand von fünfhundert Metern. Das Anseilen erwies sich als überflüssige Vorsichtsmaß­nahme, denn die Schwerkraft veränderte sich nicht mehr. Wahrscheinlich befanden sich diese raffinierten Fallen nur in unmittel­barer Nähe der Zitadelle.

Sie schafften es noch bis zu jener Stelle der Mauer, die am weitesten nordöstlich lag. Hier bog sie wieder nach Süden ab.

Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte bereits stark. Die Sicht war schlecht, und so war nicht mehr zu erken­nen, was sie im Süden erwartete. In der Nä­he eines sprudelnden Geysirs fanden sie eine kahle und von unterirdischen Quellen er­wärmte Felsplatte, die von halb abgeschmol­zenen Eiswänden umgeben war. Da an die­ser Stelle auch kein Wind wehte, konnten sie sogar ihre Pelzjacken ausziehen.

Razamon grub mit den Händen am Rand des Geysirs ein Loch, in das er heißes Was­ser leitete. Es gab wieder Trockengemüse und Dörrfleisch. Dann lagen sie lang ausge­streckt auf dem warmen Felsen und sahen hinauf in den bewölkten Nachthimmel. Nur vereinzelt schimmerten ein paar Sterne durch Wolken und Nebelschwaden.

»Wer hat diese verdammte Burg gebaut«, murmelte Razamon schläfrig. »Das möchte ich doch zu gerne wissen …«

»Vielleicht finden wir morgen einen Durchschlupf. Wir müssen nun so oder so nach Süden und dann wieder nach Osten ge­hen.«

4.

Der Magier Marxos haßte alles, was ihm unbekannt war, und kein einziger Magier in der Großen Barriere von Oth kannte die Herren der FESTUNG. Trotzdem dienten sie ihnen, wenn auch jeder auf seine Art.

Marxos dachte nicht daran, diesen Unbe­kannten sein Wissen mitzuteilen oder zur Verfügung zu stellen. Einsam hauste er in seiner kleinen Felsenburg auf dem Gipfel ei­nes Berges im Westteil der Barriere und widmete sich seinen Studien.

Es mochte auch auf Pthor Leute geben, die Magie mit Zauberei gleichsetzten, und damit unterlagen sie einem grundlegenden Irrtum. Magie war Wissenschaft, die sich mit geheimem Wissen mischte. Magie er­forschte Dinge, die es einst gegeben hatte und die in Vergessenheit geraten waren. Sie befaßte sich mit Kenntnissen fremder Zivili­sationen und Erfahrungen, die einem Unein­

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28

geweihten als Zauberei erscheinen mußten. Von seiner Burg aus sah Marxos weit

nach Norden, wo die Straße der Mächtigen und dahinter die furchtbare Ebene Kalmlech lag, in der die Horden der Nacht hausten. Der Magier hatte viel von den Geschehnis­sen im Norden gehört, aber seine Forschun­gen hinderten ihn daran, sich selbst um diese geheimnisvollen Dinge zu kümmern.

Ihn beschäftigte das Phänomen des Nach­barberges, das er erst kürzlich entdeckt hat­te, als er eine Wanderung unternommen hat­te. Als er einen schmalen Felsgrat entlang­ging, hatte sich sein Gewicht plötzlich ohne jeden Grund verdoppelt, und fast wäre er in den Abgrund gestürzt. Nur der Umstand, daß er sich geistesgegenwärtig an einem Felsvorsprung festklammerte, rettete ihm das Leben.

Auf dem Berg lebte kein Magier, es konn­te sich demnach nicht um eine Falle für Un­befugte handeln. Es mußte sich um ein na­türliches Phänomen handeln, dessen Ge­heimnis er ergründen wollte.

Er mußte sich nach einigen Jahren einge­stehen, daß ihm das nicht gelungen war, wenn er auch weitere Stellen mit erhöhter Schwerkraft gefunden hatte. Aber ein ande­rer Erfolg war ihm beschieden worden.

In mühseliger Arbeit hatte er die Famulka erdacht und gebaut.

Die Famulka war eine zweizackige Gabel aus bestem Stahl, die an eine ganz normale Wünschelrute erinnerte. Marxos brauchte nur die beiden Enden fest in die Hand zu nehmen, und schon deutete der Griff der stählernen Gabel in jene Richtung, in der die Gravitation variierte, ob sie nun geringer oder höher als normal war. Die Stärke des Ausschlags verriet dem Magier die Höhe der Abweichung.

Mit Hilfe der Famulka erforschte Marxos den herrenlosen Berg und stellte große La­ger an Edelmetallen fest. Dieses Wissen be­hielt er für sich und teilte es nicht den gele­gentlich auftauchenden Technos mit, die ebenfalls den Herren der FESTUNG dienten.

Clark Darlton

Vor nicht sehr langer Zeit traf er am Fuß seines Berges einen einsamen Wanderer, der die Barriere durchqueren und zum Südmeer wollte. Marxos warnte ihn vor den Gefah­ren, die überall auf ihn lauerten, aber der Fremde war nicht von seinem Vorhaben ab­zubringen.

Während sie sich unterhielten, erwähnte der Unbekannte, daß er hoch aus dem Nor­den komme und seltsame Abenteuer zu be­stehen gehabt habe. Er sei durch die Senke der verlorenen Seelen gewandert, wo unbe­greifliche Dinge vor sich gingen, die nie­mand enträtseln könne. Aber das größte Ge­heimnis für ihn sei die Zitadelle an der Eis­küste, die von Geistern bewohnt sein müsse.

Geister hatten Marxos schon immer faszi­niert, und so fragte er den Fremden nach Strich und Faden aus. Viel konnte er aller­dings nicht erfahren, aber es genügte, seine Neugier zu wecken und einen Entschluß zu fassen. Insbesondere in dem Augenblick, in dem der Fremde die Gravitationsfallen er­wähnte, die jedem den Zutritt zu der Eiszita­delle verwehrten.

Er hatte sich hastig von dem Fremden verabschiedet und war auf seine Burg zu­rückgekehrt, wo er sofort mit den Vorberei­tungen für seine lange Wanderung quer durch Pthor begann.

Marxos war ein Riese, zwei Meter groß, breit gebaut und muskulös. Aus seinem bronzefarbenen Gesicht leuchteten zwei grü­ne Augen, die jedes Hindernis zu durchdrin­gen schienen. Seine halblangen, schwarzen Haare hingen stets über den Kragen seines weißen Pelzes, den er zum Schutz gegen die Kälte der Berge trug. Im Ledergürtel steckte die Famulka, auf der anderen Seite sein Jagdmesser. Zu seiner Ausrüstung gehörte auch ein Feuerzeug, das er selbst gebastelt hatte.

Er besaß keine Freunde, von denen er sich hätte verabschieden müssen. Im Gegenteil: Er mißtraute den anderen Magiern und zog es vor, seine Burg heimlich bei Nacht zu verlassen, um nicht beobachtet zu werden.

So machte er sich eines Tages auf den

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Weg nach Norden, um das Geheimnis der Eiszitadelle zu ergründen.

Im ersten Jahr seiner Wanderung über­querte er die Straße der Mächtigen und die Ebene Kalmlech, in der er ungeahnte Aben­teuer zu bestehen hatte. Im zweiten Jahr durchschwamm er den Fluß, den man den Regenfluß nannte, und gelangte so in die Senke der verlorenen Seelen, wo er von Technos verfolgt und einmal sogar gefan­gengenommen wurde. Nur mit Mühe gelang ihm die Flucht nach monatelanger Gefan­genschaft.

Im dritten Jahr wanderte er am Ostrand der Wüste Fylln entlang und erreichte end­lich die Zone des ewigen Eises. Nun erst kam ihm sein langer Pelz zustatten, der vor­her oft zur Last geworden war. Die Kälte er­innerte ihn an die Berge im Süden, und sie tat ihm gut.

In diesen Regionen begegnete er nieman­dem mehr. Einmal nur traf er mit einem Trupp von Jägern zusammen, die ihn aber fürchteten und fast wie einen Halbgott be­handelten. Soviel er herausfand, hielten sie ihn für einen gewissen Gloophy, und kluger­weise ließ er sie in diesem Glauben.

Und dazu hatte er auch allen Grund. Weiter südlich, an den Ufern des Regen­

flusses, hatte er ein merkwürdiges Erlebnis gehabt. Auf seiner Wanderung durch die Uferwälder, die vor der Senke der verlore­nen Seelen lagen, war er einem Einsiedler begegnet, der in einem Baumhaus sein Le­ben fristete.

Zwei Tage war er dessen Gast, und der al­te Mann redete viel und gern. Das Gespräch kam unvermeidlich auf die Eiszitadelle, und da wurde der Alte plötzlich recht schweig­sam. Marxos drang in ihn und flehte ihn an, mehr darüber zu verraten, denn die Zitadelle sei aus vielen Gründen sein Ziel.

Endlich kramte der Einsiedler uralte ver­gilbte Schriften aus einer Truhe hervor und breitete sie auf dem roh gezimmerten Tisch der Baumhütte aus.

Am anderen Tag las Marxos sie durch, und er fand vieles von dem bestätigt, was

ihm der Wanderer durch die Barriere ange­deutet hatte. Die ungeheuerlichste Neuigkeit jedoch war die Behauptung, in der Eiszita­delle würde ein Antimateriewesen gefangen­gehalten.

Darunter konnte sich Marxos eine ganze Menge vorstellen, und für ihn war die weite­re Schilderung durchaus verständlich. Die­ses Wesen sollte versehentlich in die Hände der Herren der FESTUNG gefallen sein und konnte nicht mehr unschädlich gemacht werden, ohne daß Pthor vernichtet worden wäre. So hatte man es in der Zitadelle iso­liert und für alle Zeiten gefangengesetzt.

Es war Marxos nicht klar, wie es gelun­gen sein konnte, organische Antimaterie der­art zu neutralisieren, daß sie keinen Schaden mehr anrichtete.

Er wollte es jedoch herausfinden! Und nun traf er die Jäger der Wargoons,

für die das fremde Wesen allem Anschein nach zu einem Gott geworden war. Ihre Re­ligion war aus einer Sage entstanden, deren Ursache tatsächliche Begebnisse sein muß­ten.

Ohne viel zu reden, ließ er sich von den Jägern bedienen, nachdem er ihnen das mühsam gesammelte Holz in Brand gesteckt hatte, was sein Ansehen noch mehr steigerte. Sie sprachen von dem schweren Eis, ohne mehr darüber auszusagen. Auch die Zitadel­le erwähnten sie, schienen sie aber nie in ih­rem Leben gesehen zu haben. Immerhin konnten sie ihm die ungefähre Lage be­schreiben.

Marxos verbrachte die Nacht bei den Wargoons, trennte sich aber dann nach Son­nenaufgang von ihnen. Sie zogen in nord­westlicher Richtung davon, während er nach Norden ging.

Fünf Tage wanderte er durch die Eiswü­ste, bis er endlich am Horizont die bizarren Umrisse der sagenhaften Eiszitadelle sah.

Er hatte sein Ziel erreicht.

*

Das war nun schon einige Wochen her.

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In einer Felsenhöhle unter der Eisdecke hatte er einen guten Unterschlupf gefunden. Seitlich sprudelte eine heiße Quelle aus dem Gestein, die gleich wieder im Boden ver­sickerte und die Höhle erwärmte. Marxos trug seinen Pelz nur noch dann, wenn er sein Versteck verließ, um die Umgebung der Zi­tadelle zu erkunden.

Mit Hilfe seiner Famulka entdeckte er die Zonen der erhöhten Schwerkraft, ohne aller­dings eine befriedigende Erklärung für das Phänomen zu finden. Seiner Meinung nach handelte es sich um künstlich erzeugte Gra­vitationsfelder, die schon vor Urzeiten ange­legt worden sein mußten und noch immer funktionierten.

Er fand außerdem mehrere Lücken in dem riesigen Eiswall, der die Festung umgab. Sie waren allerdings ausnahmslos durch Gravi­tationsfallen abgesichert, in die auch er sich nicht begeben konnte. Seine Famulka warnte ihn immer rechtzeitig vor diesen Gebieten, und es gelang ihm, sie zu umgehen.

Gestern erst stand er zum erstenmal vor einer Tür, die direkt in das Innere der Fe­stung zu führen schien.

Vergeblich hatte Marxos versucht, die schwere eiserne Tür zu öffnen. Mit einem Felsbrocken, den er mühsam durch das Sperrgebiet geschleppt hatte, klopfte er ge­gen die verschlossene Pforte, aber niemand kam, um sie zu öffnen.

Erschöpft, aber nicht entmutigt kehrte er in seine Höhle zurück.

Morgen war auch noch ein Tag, und dann würde er es noch einmal versuchen. Er woll­te das Geheimnis lüften, das über der Eiszi­tadelle lag. Niemand würde ihn daran hin­dern können.

Auch nicht die Toten, die er gesehen hat­te.

*

Nach Süden zu wurde das Gelände erneut schwieriger.

Nach einer erholsamen Nacht waren At­lan, Razamon und Fenrir wieder aufgebro-

Clark Darlton

chen. Tiefe Schluchten erschwerten das Gehen

und zwangen zu Umwegen, hinzu kam die ständige Angst vor neuen Gravitationsfel­dern. Sie kamen nur unendlich langsam vor­an, weil jeder Schritt die plötzliche Ge­wichtszunahme und damit den Sturz bringen konnte. Zum Glück übernahm Fenrir freiwil­lig die Führung.

Gegen Mittag überquerten sie eine zer­klüftete Eisbarriere mit tausend Höhlen und Schluchten. Der Abstand zur Zitadelle be­trug nun fast zwei Kilometer, da auch dort das Gelände unzugänglich schien.

Als die Sonne am höchsten stand, erreich­ten sie den Rand der Barriere. Wortlos sahen sie hinab in das vom Eis eingeschlossene Tal.

Es war nahezu rund und schien keinen zweiten Ausgang zu haben, aber das konnte täuschen. Nach Westen zu, in Richtung der Zitadelle, wurden die Eishänge einladend flach und bildeten fast eine Schneise. Durch sie gelangte man ohne besonders auffällige Hindernisse bis zur Burgmauer.

Aber das war es nicht, was Atlan und Razamon für längere Zeit verstummen ließ. Vielmehr war es der Anblick des Tales selbst.

Die Talsohle war ziemlich eben und wirk­te ungefährlich und harmlos. Daß sie keins von beiden war, bewiesen die regungslos herumliegenden Körper der verschiedensten Lebewesen, von denen die meisten bereits mit einer Eisschicht umgeben waren, die sie für alle Zeiten konservierte.

Das ganze Tal war ein einziger Friedhof. Razamon holte tief Luft, dann sagte er: »Es sind auch Wargoons dabei, sie müs­

sen das Gebot ihrer Priester mißachtet ha­ben. Aber ich sehe auch Angehörige anderer Völker. Sieh dort links! Das war einmal ein Fahrzeug. Die plötzlich einsetzende Schwer­kraft hat es förmlich auseinanderbrechen lassen. Daneben liegen die unglücklichen Passagiere. Sie haben keinen Schritt mehr tun können …«

Atlan nickte.

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»Eine Falle, eine teuflisch perfekte Todes­falle, in die wir ebenfalls hineingerannt wä­ren, hätte uns dieser Anblick nicht rechtzei­tig gewarnt. Die Schwerkraft muß ungleich höher sein als an jener Stelle, die du auspro­biert hast.«

»Vor allen Dingen scheint sie unregelmä­ßig aufzutreten, sonst sähe es da unten an­ders aus.«

»Wie meinst du das?« »Ganz einfach. Würde sie an allen Stellen

gleichmäßig hoch sein, lägen die Gruppen der Verunglückten nicht so verstreut herum. Sie lägen alle am Rand des Tales. Du siehst jedoch, daß es einigen dieser Leute gelungen ist, fast bis zur Talmitte vorzustoßen, dann erst hat es sie erwischt. Es muß also auch im Tal selbst noch Zonen mit normaler Gravita­tion geben.«

»Also Wege?« »Richtig! Bloß – wie findet man sie?« Auf diese Frage gab es vorerst noch keine

Antwort. Nach einigem Überlegen beschlos­sen sie, das Tal einfach im Osten zu umge­hen, sich aber so dicht an seinem Rand zu halten, daß sie es immer unter Beobachtung hatten.

Bald marschierten sie wieder nach Süden. Die Sonne blendete sie, denn sie stand vor ihnen. Ihre Strahlen wurden vom Eis reflek­tiert und trafen mit jedem Schritt ihre Augen in einem anderen Winkel.

So entging ihnen die in einen weißen Pelz gehüllte riesige Gestalt, die weit vor ihnen jenseits des Tales auf einem Hügel stand und sie beobachtete.

Razamon war stehengeblieben und sah hinab ins Tal.

»Was ist das dort?« fragte er und deutete hinab.

Atlan folgte seinem Blick. In einer Einbuchtung und nur schlecht

einzusehen stand eine halb zertrümmerte Flugmaschine auf eingeknickten Landebei­nen. Die drei Rotoren auf dem dosenförmi­gen Körper schienen unbeschädigt zu sein. Die Kabine befand sich seitlich hinter einer transparenten Kuppel.

In ihr saßen zwei reglose Gestalten. Atlan sagte langsam: »Sie ist nicht vereist und kann noch nicht

lange hier sein. Sie erinnert mich an die Er­zählungen der Wargoons. Vielleicht ist es jene Maschine, die ihre Pelze abholt. Ich fra­ge mich nur, wieso sie in diese Falle geriet. Die Besatzung mußte sie doch kennen.«

»Wenn sie, wie behauptet wird, in der Zi­tadelle wohnen, allerdings, aber vielleicht haben sie gelogen. Ob die beiden Kerle in der Kuppel noch leben?«

»Kaum, Razamon. Sonst müßten wir ver­suchen, ihnen zu helfen. Sie sind einge­schlossen und können sich nicht bewegen.«

»Das können sie auch nicht, wenn sie schon tot sind.«

Atlan bückte sich und nahm einen Eis­brocken auf, holte weit aus und schleuderte ihn in Richtung des Wracks. Unter normalen Umständen hätte er es auch getroffen, aber der bogenförmige Flug des Wurfgeschosses wurde plötzlich unterbrochen. Senkrecht stürzte der Eisbrocken in die Tiefe und zer­splitterte in tausend Stücke.

»Ziemlich happig«, stellte Razamon trocken fest. »Das hält niemand aus, schon gar nicht eine Flugmaschine. Ich wundere mich, daß sie nicht total zerstört wurde. Sie muß wie ein Stein heruntergefallen sein.«

»Vielleicht flog sie sehr niedrig, oder die Gravitationsfelder reichen nicht sehr hoch. Jedenfalls kann es nur ein Sturz aus wenigen Metern Höhe gewesen sein. Ich fürchte, hel­fen können wir hier keinem mehr. Und wenn es uns erwischt, wird uns auch keiner hel­fen.«

»Und wie sollen wir in die Zitadelle ge­langen, wenn wir kein Risiko eingehen?«

»Das weiß ich noch nicht, wenn ich ehr­lich sein soll. Aber wir werden es auf jeden Fall versuchen.«

Sie gingen vorsichtig weiter und erreich­ten schließlich die Südseite des Tals. Dahin­ter lag wieder eine zerklüftete Ebene mit Hügeln und Schluchten, aus denen der wei­ße Nebel der Geysire stieg.

Im Westen bog der Schutzwall der Zita­

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delle ab. Ein wenig ratlos machten sie halt. Der

Hang hinab ins Tal war an dieser Stelle be­sonders flach und an einigen Stellen sogar eisfrei. Wären die Zonen der erhöhten Schwerkraft nicht gewesen, so hätte Atlan keine Sekunde gezögert, jetzt das Tal zu er­kunden, um einen Zugang zur Zitadelle zu finden. Aber die vielen Toten waren War­nung genug.

Außerdem näherte sich die Sonne schon wieder den Bergen im Südwesten. In einer Stunde setzte die Dämmerung ein.

Diesmal bückte sich Razamon, um einen Eisbrocken aufzuheben. Er warf ihn mit al­ler Kraft schräg nach oben über das Tal, da­mit er so weit wie möglich flog. Und das tat er auch, ohne seine Flugbahn abrupt zu ver­ändern. Erst als er schon aufgeschlagen war und weiterrollte, blieb er plötzlich wie fest­genagelt liegen.

»Es gibt tatsächlich regelrechte Gravitati­onsschleusen«, murmelte Atlan beeindruckt. »Mit Hilfe solcher Würfe könnten wir sie herausfinden, wir müßten nur einen Plan da­zu machen. Wenn wir dann mit aller Vor­sicht Stück für Stück in das Tal eindringen, könnte es uns gelingen, an die Zitadelle her­anzukommen. Der Zugang wäre frei, denn der Ringwall ist hier unterbrochen.«

»Das ist es ja gerade, was mich stutzig macht«, gab Razamon zu. »Sieht mir zu ein­ladend aus, und die armen Kerle im Tal sind ja auch darauf hereingefallen.«

Atlan nickte, dann meinte er: »Heute ist es schon zu spät, aber wir ha­

ben die ganze Nacht Zeit, es uns zu überle­gen. Morgen sehen wir dann weiter.«

»Hier oben ist es ziemlich kalt, besonders nachts. Suchen wir einen geschützteren Platz.« Er deutete nach Süden. »Da sind Geysire.«

Fenrir hatte die ganze Zeit über ein paar Dutzend Meter abseits gestanden, die Nase hoch in die Luft gestreckt, als wittere er et­was Verdächtiges. Aber er knurrte nicht. Er war sich also seiner Sache noch nicht sicher.

In einer schmalen und tiefen Schlucht, die

Clark Darlton

gut zugänglich war, fanden sie einen geeig­neten Lagerplatz. Fenrir kam zwar mit ih­nen, verschwand dann aber wieder, nachdem er sein Stück Dörrfleisch verschlungen hatte. Das war nicht ungewöhnlich. Vielleicht hat­te er Wild gewittert, von dem niemand wis­sen konnte, wie es in dieser lebensfeindli­chen Umwelt überlebte.

Sie schliefen erst nach einer langen Dis­kussion ein, und als sie am anderen Morgen erwachten, war Fenrir noch immer nicht zu­rückgekehrt.

Dem Wolf mußte etwas zugestoßen sein.

*

Fenrir hatte an diesem Abend eine Witte­rung aufgenommen, aber er konnte sie nicht definieren. Der Wind schlug öfters um, und er bekam den fremdartigen Geruch nur dann in die Nase, wenn er für Sekunden aus dem Süden wehte.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob die Witterung Gefahr bedeutete oder nicht. Es handelte sich auch nicht um ein Kanin­chen oder sonst ein Kleinwild, das in dieser Eiswelt sein Dasein fristete.

Es mußte etwas anderes sein. Fenrir geduldete sich, bis er seine Fleisch­

ration erhalten hatte, dann machte er sich auf die Suche. Meist kam der Wind aus Norden, was seine stille Jagd erschwerte. Seine Beu­te allerdings war südlich von ihm. Wie weit, das allerdings wußte er nicht.

Ihm blieb nur die Möglichkeit, solange nach Süden zu laufen, bis er die Witterung aus dem Norden zugeweht erhielt. Dann würde es leicht für ihn sein, die Quelle des Geruchs aufzustöbern.

Er durchquerte Schluchten und schroffe Eishänge, rutschte mehrmals in der einfal­lenden Dämmerung in steile Täler hinab, kam aber immer wieder heraus, ohne sich zu verletzen. Die lockende Witterung verlor er schließlich ganz, ohne sich jedoch dadurch verwirren zu lassen. Er wußte, daß er sie un­weigerlich wiederfinden mußte, wenn er nur weit genug nach Süden wanderte.

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Inzwischen war es dunkel geworden. Aus dem Trab Fenrirs war ein vorsichtiges Vor­antappen geworden. Er kam nur noch lang­sam vorwärts, und als er zum erstenmal dar­an dachte, die nun aussichtslos erscheinende Suche abzubrechen, erreichte ihn der fremd­artige Geruch genau aus nördlicher Rich­tung.

Und nun blieb sie. Er machte kehrt und witterte. Dann kann­

te er die Richtung. Schon nach wenigen Me­tern mußte er vom bisherigen Pfad abwei­chen, den er gekommen war. Damit geriet er erneut in unbekanntes Gelände. Er konnte sich nur noch auf seinen Geruchssinn verlas­sen, denn viel zu sehen war nicht mehr. Das Eis reflektierte zwar das Licht der Sterne, und er hatte gute Augen, aber auch ihnen entging manches, das ihnen am hellen Tag nicht entgangen wäre.

Die Witterung wurde immer deutlicher. Die Beute konnte nicht mehr weit entfernt sein. Hundert Meter vielleicht oder zweihun­dert.

Fenrir hörte nichts Verdächtiges. Lautlos schlich er durch die Nacht über das hier glat­te Eisfeld dahin. Wasserdampf mischte sich unter die Witterung, weiter vorn mußte ein Geysir sein. Geysire, das wußte der Wolf in­zwischen, waren günstige Lagerplätze …

Nur für den Bruchteil einer Sekunde war er unachtsam, aber sie genügte, ihn in eine natürliche Falle tappen zu lassen.

An dieser Stelle mußte einst eine heiße Quelle gewesen sein, die aus unerfindlichen Gründen wieder versiegte. Vorher jedoch hatte sie einen runden Kessel mit überhän­genden Wänden aus dem Eis geschmolzen, gut sieben oder acht Meter tief.

Fenrir rutschte, verlor den Halt und stürz­te in den perfekten Käfig. Zum Glück erlitt er außer einigen Prellungen keine ernsthaf­ten Verletzungen, aber er saß fest. Ohne fremde Hilfe kam er hier nicht mehr heraus.

Fast eine halbe Stunde saß er auf dem Grund des Kessels, über sich den runden Ausschnitt mit dem Nachthimmel und den Sternen. Er begann zu frieren. Einige Luft­

wirbel brachten ihm wieder die Witterung zu, nah und sehr frisch.

Der Lagerplatz von Atlan und Razamon war zu weit entfernt, sie hätten sein hilfesu­chendes Jaulen nicht gehört, wohl aber der Fremde, den zu suchen er aufgebrochen war. Also blieb Fenrir ruhig.

Um nicht völlig steif zu werden, blieb er in Bewegung. Der Boden des Kessels besaß etwa vier Meter Durchmesser. Wie ein Ge­fangener in seiner Zelle lief er immerzu an seinem Rand entlang.

Es war eine lange Nacht, in der er viele Kilometer zurücklegte, ohne auch nur einen einzigen Meter weiterzukommen.

Dann – endlich – dämmerte der Morgen. Fenrir blickte an den steilen Eiswänden

hoch, sah aber nur den Himmel über sich. Es gab keinen Vorsprung, auf den er hätte springen können, und sieben Meter schaffte er nicht aus dem Stand heraus senkrecht nach oben.

Ihm blieb keine andere Wahl, obwohl die Witterung noch immer vorhanden war. Er mußte das Risiko eingehen, hilflos in einer Falle getötet zu werden. Aber vielleicht hör­ten ihn auch Atlan oder Razamon und ka­men rechtzeitig.

Er stieß die Schnauze in die sich langsam erwärmende Luft und begann mit einem Heulkonzert, das selbst Tote aus ihren Grä­bern geholt hätte.

Fenrir legte eine Pause ein, um sich zu er­holen, dann begann er von neuem. Diesmal noch lauter und viel jämmerlicher.

Und dann sah er plötzlich oben am hellen Rand des Eiskessels einen weißen Schatten auftauchen, der gegen den Himmel aller­dings fast schwarz wirkte. Ein bronzefarbe­nes Gesicht sah zu ihm herab, von einer Pelzkapuze umrahmt. In der Hand hielt das Wesen ein großes Messer.

»Wo kommst denn du her?« fragte der Fremde in Pthora. »So weit im Norden. Un­ten in der Barriere von Oth gibt es Wölfe, aber doch nicht hier oben? Du bist der erste, den ich sehe, und wie es scheint, kennst du die Gefahren dieser verrückten Gegend

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nicht.« Fenrir verstand den Sinn der Worte, aber

er konnte nicht antworten. Die Witterung verriet ihm, daß nicht er sein Opfer, sondern sein Opfer ihn gefunden hatte. Dazu noch in einer hoffnungslosen Lage.

Wenn doch nur Atlan und Razamon kämen!

Erneut begann er zu jaulen, vermischt mit einem hellen Bellen, das Vorsicht gebot. Wenn er seine Freunde warnen wollte, knurrte oder bellte er, je nach Lage der Din­ge. Diesmal mußte er laut bellen, damit sie ihn hören konnten.

»Ruhig, mein Freund«, sagte der Fremde. »Ich werde dir nichts tun, sondern dir hel­fen. Aber sei vorsichtig und greife mich nicht an, wenn ich dich herausgezogen habe. Mein Messer bleibt griffbereit. Und nun warte ein wenig …«

Fenrir hörte auf zu jaulen und heulen. Er setzte sich in die Mitte des Kessels und blickte unentwegt nach oben. Der Fremde war verschwunden. Er hörte ihn oben rumo­ren, und dann erschien wieder sein Gesicht, diesmal allerdings ohne die Pelzkapuze und die weiße Pelzbekleidung. Die hielt er in der Hand, an dem langen Lederriemen befestigt.

»Ich hoffe, es wird reichen«, sagte der Fremde und kniete sich am Rand des Eiskes­sels nieder. »Beiß dich im Pelz fest und laß nicht los. Ich ziehe dich zu mir herauf.«

Fenrir begriff bald, was von ihm erwartet wurde. Selbst wenn er weniger Intelligenz besessen hätte, wäre ihm schon sein Instinkt zu Hilfe gekommen.

Der Pelz des Fremden war gut zwei Meter lang, der Riemen fast drei. Durch eine Le­derschlaufe war er mit dem Pelz verbunden. Das machten insgesamt fünf Meter. Hinzu kam der halbe Meter vom Arm des Frem­den, der am Rand des Kessels auf dem Bauch lag und sich so weit wie möglich vor­geschoben hatte.

Als Fenrir sich auf die Hinterbeine stellte, erreichten seine Zähne gerade den Rand des Pelzes.

»Ja, so ist es richtig!« rief der Fremde zu

Clark Darlton

ihm herab. »Und nun beiße zu und halte dich fest!« Er lachte dröhnend. »Aber hier darfst du dann nicht mehr zubeißen, verstan­den …?«

Fenrir schlug die Reißzähne in den Pelz und stemmte sich mit allen vier Füßen von der Eiswand ab. Als der Fremde zu ziehen begann, half er mit, so gut es ging. Er spürte, wie seine Zähne fast auszubrechen drohten, aber er gab nicht nach.

Zentimeter für Zentimeter wurde er in die Höhe gezogen, ohne daß der Fremde eine Ruhepause eingelegt hätte. Fenrir konnte ihn nun nicht mehr sehen, aber der obere Rand des Kessels kam näher und näher.

Der Riemen verschwand, dann rutschte auch der Pelz über den abgerundeten Rand. Fenrir folgte. Mit letzter Kraft klammerte er sich noch fest.

Und dann, endlich, spürte er wieder festen Boden unter den Füßen.

Er ließ den Pelz los und stand da, an allen Gliedern zitternd, aber diesmal nicht vor Kälte, denn eine plötzliche Schwäche war es, die ihn umzuwerfen drohte.

Vielleicht mißverstand der Fremde ihn, jedenfalls stand er mit dem Rücken gegen einen Eisblock gelehnt, das Messer in der rechten Hand. Aber er griff nicht an, son­dern er wartete.

Fenrir wedelte mit dem Schweif, um ihm zu zeigen, daß er nichts vor ihm zu befürch­ten habe. Das schien sein Retter sofort zu verstehen, denn er lächelte und ließ die Hand mit dem Messer sinken.

In diesem Augenblick hörte der Wolf At­lans Stimme:

»Fenrir! Melde dich! Wo steckst du denn?«

Der Fremde, der den Riemen gelöst und den Pelz wieder angelegt hatte, blieb reglos stehen. Dann schnallte er sich hastig den Gürtel um und schob das Messer in die Scheide. Er hatte den Wolf am Vortag mit zwei Männern gesehen und wußte, daß es sich um ein gezähmtes Tier handelte, darum hatte er ihn auch gerettet.

Aber er wußte nicht, wie sich die beiden

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Männer ihm gegenüber verhalten würden. Woher sollten sie wissen, daß er ihren Wolf vor dem sicheren Tod gerettet hatte?

Fenrir bellte dreimal, dabei sah er Marxos an und wedelte wieder mit dem Schwanz. Eine Geste, die nicht mißverstanden werden konnte.

Marxos stand wieder mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, die Hand am Griff des Messers. Fenrir kam zu ihm und ließ sich demonstrativ zu seinen Füßen nieder. Mar­xos verstand die Geste des Zutrauens und der Dankbarkeit. Er begann sich über die In­telligenz des Tieres zu wundern. So ein Wolf fehlte ihm noch als Begleiter auf sei­nen langen Wanderungen.

Dieser hier aber hatte schon einen Herrn. Oder sogar zwei. Ruhig und gefaßt erwartete er sie.

5.

»Das kann nur Fenrir sein!« Razamon stand etwas oberhalb des Lagerplatzes und lauschte.

Nun hörte auch Atlan das Jaulen des Wolfes, und dazwischen das helle Bellen.

»Er muß etwas entdeckt haben, oder er sitzt in einer Falle. Sonst würde er das nicht tun.« Atlan griff nach seiner Pekto. »Hast du die Richtung?«

»Genau im Süden! Bring meine Harpune mit, das andere Zeug lassen wir hier liegen. Wir holen es später.«

Razamon hatte sich die Richtung an eini­gen markanten Punkten gemerkt, so daß sie den Weg auch fanden, als Fenrir ruhig ge­worden war. Als sie einen flachen Hang er­stiegen hatten, hörten sie den Wolf ganz in der Nähe dreimal bellen.

Sie umrundeten eine niedrige Eiswand und sahen einen gut zwei Meter großen, breitschultrigen Mann in weißem Pelz, der ihnen mit blauen Augen neugierig entgegen­blickte. Fenrir lag schweifwedelnd zu seinen Füßen, als hätte er einen alten Freund nach vielen Jahren wiedergefunden.

Atlan ließ die erhobene Pekto sinken.

Razamon folgte seinem Beispiel. Der Fremde nahm die Hand vom Griff des Mes­sers.

»Ich bin Marxos«, sagte der Mann im weißen Pelz. »Ich habe den Wolf aus der Eisgrube gezogen, sonst wäre er darin ver­hungert.«

Atlan legte seine Harpune auf den eisigen Boden und ging mit ausgestreckter Hand auf Marxos zu. Er stellte sich und Razamon vor und sagte dann:

»Wir sind dir zu großem Dank verpflich­tet, Marxos, denn der Wolf Fenrir ist unser guter Freund. Ohne dich wäre er verloren gewesen, wenn wir ihn nicht gefunden hät­ten. Was tust du hier in dieser Eiswüste?«

»Das ist eine lange Geschichte, aber ich erzähle sie euch gern, wenn ihr mir die eure berichtet. Vielleicht haben wir das gleiche Ziel und könnten uns gegenseitig helfen. Ich bin nun schon seit einigen Wochen hier und kenne einige der Gefahren, die uns erwarten. Gestern sah ich euch bereits, darum wußte ich auch, daß der Wolf nicht wild ist.«

»Darum hast du ihn gerettet?« »Wahrscheinlich hätte ich es auch getan,

wenn er wild wäre, nur hätte ich dann vor­sichtiger sein müssen. Er heißt also Fenrir? Ein seltsamer Name.«

»Aber kein unbekannter, Marxos. Man kennt diesen Namen auf vielen Welten.«

»Du willst die Eiszitadelle erkunden?« fragte Razamon geradeheraus, und als Mar­xos nickte, gab er zu: »Wir auch! Aber wir sind erst seit gestern hier. Die Wargoons hatten uns gefangen und wollten uns ihrem Gott Gloophy opfern. Zum Glück gelang uns rechtzeitig die Flucht.«

Marxos lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Sie wollten euch opfern …? Das ist zu

komisch, denn als ich ihnen vor langer Zeit begegnete, hielten sie mich für diesen Gloo­phy. Wahrscheinlich sehe ich ihm ähnlich.«

»Kein Wunder, bei dem weißen Pelz.« Atlan streichelte Fenrir, der sich erhoben hatte. »Du wirst hungrig sein.« Er stand auf und klopfte Marxos auf die breiten Schul­tern. »Komm mit, wir haben noch genug zu

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essen für alle.« »Auch ich besitze noch eingefrorene

Fleischvorräte. Wenn wir uns zusammentun, halten wir es schon eine Weile aus.«

Er führte sie zu seiner Höhle und zeigte ihnen stolz seine Kühlkammer im Hinter­grund. Fenrir leckte sich genießerisch das Maul, als er die Kaninchen, Vögel und Fi­sche sah, die ausgenommen und tischfertig auf dem Eis lagen. Marxos grinste und lud sich eine Riesenportion auf den Arm.

»Zuerst ein Festmahl, dann reden wir über die Zukunft.«

Dann erst zeigte er ihnen seinen mühsam, weit im Süden eingesammelten Holzvorrat, der bei den beiden Männern noch mehr Be­wunderung hervorrief als die Kaninchen, Vögel und Fische.

Fenrir war das Holz gleichgültig. Er hätte seinen Anteil an dem bevorstehenden Fest­mahl auch roh verzehrt.

*

Das Feuer, das sie auf einer Felsplatte ent­zündet hatten, brannte langsam nieder. Sie mußten sparsam mit dem Holz umgehen, denn hier im Norden gab es kaum Baum oder Strauch.

»So habt ihr auch nicht mehr entdeckt als ich«, sagte Marxos nach langem Austausch ihrer bisherigen Erfahrungen. »Natürlich kenne ich die Gravitationsfallen – etwas an­deres sind sie nicht. Die Erbauer haben sie angelegt, um Besucher von der Zitadelle fernzuhalten. Das Interessanteste von allem ist aber das Todestal.«

»Wir haben es gesehen«, warf Razamon ein.

»Ich weiß, denn ich habe euch gestern be­obachtet. Wahrscheinlich seid ihr zum glei­chen Schluß gekommen wie ich: Wenn es überhaupt einen Weg in die Zitadelle gibt, dann durch das Tal! Ich habe keinen anderen Eingang entdecken können.«

»Eingang? Es gibt einen?« »Ja, es gibt einen. Ein eisernes Tor, mas­

sig und massiv. Ich habe es zu öffnen ver-

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sucht, aber es ist mir nicht gelungen.« Atlan schüttelte den Kopf. »Du bist durch das Tal gegangen, ohne

getötet zu werden? Wie ist das möglich?« Marxos lächelte sein breites und freundli­

ches Lächeln. »Ich habe meine Famulka«, eröffnete er

seinen neuen Freunden und zog die metalle-ne Gabel aus seinem Gürtel. »Sie hat mir den Weg gezeigt.«

Ausführlich berichtete er nun über seine Wünschelrute und wie sehr sie ihm schon von Nutzen gewesen war.

»Sie kann natürlich keine Wunder voll­bringen, wenn sie mir auch die gefährlichen Zonen rechtzeitig verrät. Aber diese Zonen treten spontan auf.«

»Spontan?« wunderte sich Razamon. »Ja, allerdings. Sie bleiben daher auch

nicht konstant. Wenn ich also einen Weg mit viel Mühe markiere, so kann ich ihn nicht einfach wieder zurückgehen, weil sich in­zwischen die Felder mit erhöhter Schwer­kraft verlagert haben könnten. Sie sind nicht konstant und bleiben nicht an derselben Stel­le. Sie wandern.«

»Das macht alles noch komplizierter«, be­merkte Razamon enttäuscht. »Wenn es keine konstanten Gravitationsschneisen gibt, ist ein Durchkommen unmöglich.«

»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Marxos aus Erfahrung. »Ich habe es doch selbst ausprobiert. Wichtig ist nur, daß man mit der Famulka nicht nur in einer Richtung sichert, sondern nach allen Seiten. So wird man vor einer herannahenden Gravitations­zone rechtzeitig gewarnt und kann auswei­chen.«

»Das Tor, hat es ein Schloß?« fragte At­lan.

Marxos nickte. »Ja, ein seltsames Schloß. Wenigstens

nehme ich an, daß es eins ist.« »Wie sieht es aus?« »Eigentlich ist es nur ein kleines, quadra­

tisches Loch auf der rechten Seite. Ich neh­me an, man braucht einen Schlüssel, um in­nen einen Riegel zu lösen.«

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37 Zitadelle im Eis

Atlan erkundigte sich sehr eingehend nach Größe und Tiefe des Loches, bis es Razamon zu bunt wurde.

»Man könnte glauben, du wolltest ins nächste Kaufhaus gehen und dir einen Schlüssel bestellen.«

»So ähnlich, aber vielleicht haben wir den Schlüssel schon jetzt bei uns. Wir werden ja sehen.«

Als es dunkel geworden war, sagte Mar­xos plötzlich:

»Kommt mit, ich will euch etwas zeigen.« Erstaunt folgten sie ihm hinauf zum südli­

chen Talhang, auf dem sie gestern schon ge­standen hatten. Links blinkte der Eiswall im matten Licht der Sterne, dahinter waren die verschwommenen Umrisse der Zitadelle un­deutlich zu erkennen.

Atlan entsann sich, bei Tageslicht an der Frontseite des Hauptgebäudes eine vereiste Figur gesehen zu haben, die einst ein Künst­ler dort verewigt haben mußte. Sie war rie­sengroß und hatte nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn. Auf dem pyramidenför­migen Aufbau stand eine zwanzig Meter ho­he »Antenne«, die allerdings mehr wie eine gigantische Lanze aussah.

Jetzt allerdings war nicht viel zu erken­nen. Die länglichen Fensterhöhlen waren wie dunkle Löcher in einem Eisberg. Atlan hätte sich nicht gewundert, wenn hinter ih­nen plötzlich Licht geschimmert hätte.

»Nicht die Zitadelle wollte ich euch zei­gen«, unterbrach Marxos das erwartungsvol­le Schweigen der beiden Männer. »Seht hin­ab ins Tal. Bemerkt ihr da etwas?«

Sie folgten der Aufforderung ihres neuen Freundes, konnten aber außer einigen Nebel­schleiern, die in der Dunkelheit schwach zu leuchten schienen, nichts sehen. Dazwischen gab es völlig schwarze Regionen, lichtlos und voller Drohung.

»Der Nebel …«, flüsterte Razamon. »Es ist kein Nebel«, unterbrach ihn Mar­

xos. »Es hat lange gedauert, bis ich es her­ausgefunden habe. Es ist ein schwacher Lichtschimmer, der die Zonen erhöhter Gra­vitation markiert. Nachts also sind sie zu er­

kennen, bei Tage jedoch unsichtbar. Fällt euch auf, daß die Dunkelzonen sehr schmal sind und Wegen gleichen? Das sind die be­gehbaren Schneisen, aber ihr seht, daß es auch Sackgassen gibt. Wehe, wenn man da hineingerät und sie schließen sich hinter ei­nem. Dann gibt es kein Entkommen mehr.«

Unendlich langsam nur veränderten sich die schimmernden Felder, wurden größer und kleiner, und wanderten in unterschiedli­chen Richtungen durch das Tal. Manchmal kreuzten sie die sicheren Dunkelzonen und ließen sie so zu Todesfallen werden.

Wieder ergriff Marxos das Wort: »Ich habe das alles von hier oben aus lan­

ge genug beobachtet und festgestellt, daß in den Veränderungen eine gewisse Methodik liegt, so als geschähen sie nach einem ganz bestimmten und vorprogrammierten Muster. Wenn man es sich einprägen kann und wenn man in der Lage ist, das Wandern der Gravi­tationszonen genau vorauszuberechnen, hat das Tal seine Schrecken verloren. Aber dazu braucht man sehr viel Zeit.«

»Ist es dir gelungen?« fragte Razamon leicht erregt.

»Leider noch nicht, aber ich werde es trotzdem heute wieder versuchen. Für euch ist es noch zu früh.«

»Wir kommen mit«, protestierte Atlan. »Ich werde allein gehen«, lehnte Marxos

kategorisch ab. Behutsam zog er die Famul­ka aus seinem Gürtel. »Versteht doch, Freunde, es soll nur ein Test sein, der meine bisherigen Berechnungen bestätigt. In zehn Minuten etwa beginnt dort unten im Tal das neue Programm der wandernden Lichtfelder. Ich kenne diesen Teil fast auswendig. Er wiederholt sich alle fünf Stunden.«

»Es ist zu riskant bei Nacht …« »Im Gegenteil: Nur nachts ist es einiger­

maßen sicher, weil die optische Orientierung hinzukommt. Tagsüber glaubt man zwar, mehr zu sehen, aber in Wirklichkeit ist man blind. Ich werde in einer Stunde zurück sein.«

Vergeblich versuchte Atlan, Marxos zu überreden, wenigstens ihn mitzunehmen,

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während Razamon mit dem Seil in Bereit­schaft blieb.

»Es ist sinnlos, mein Entschluß steht fest. Wenn mein Versuch gelingt, werden wir morgen gemeinsam gehen und das Tor zur Zitadelle öffnen. Bleibt hier und beobachtet die leuchtenden Zonen. Prägt euch ihre Be­wegung ein und achtet vor allen Dingen dar­auf, welche dunklen Schneisen von den Lichtzonen überlagert werden. Sie sind es, die den Tod bringen.«

»Wenn wir uns alle drei anseilen«, be­gann Razamon, aber eine Handbewegung Marxos ließ ihn verstummen.

»Noch fünf Minuten …« »Also gut.« Atlan griff in Fenrirs Nacken­

fell, damit er dem Magier nicht folgen konn­te. »Dann geh allein. Wir halten das Seil be­reit. Rufe uns, wenn du in Gefahr bist.«

»Es kann sein, daß es länger als nur eine Stunde dauert«, erwiderte Marxos nur.

Dann stieg er den flachen Hang hinab und tauchte in der weit nach oben reichenden Dunkelzone unter. Ein paarmal noch sahen die Zurückgebliebenen seinen weißen Pelz aufschimmern und hörten, wie seine Stiefel über das Eis rutschten, dann war er ver­schwunden. Eine unheimliche Stille lag plötzlich über dem Tal.

*

Sie mußten Fenrir festbinden, um zu ver­hindern, daß er Marxos folgte. Der Wolf witterte die Gefahr, und sein Instinkt drängte ihn, seinem Retter beizustehen. Aber er wäre nicht weit gekommen.

Atlan beobachtete das sich langsam ver­schiebende Muster der schimmernden Gra­vitationsfelder und versuchte, ein System hineinzubringen. Es dauerte auch nicht lan­ge, bis er es gefunden hatte.

Die Zonen höherer Schwerkraft schnitten in bestimmten Zeitabständen die ungefährli­chen Dunkelschneisen ab und überlagerten sie oft völlig, so daß es für den, der sich in ihnen aufhielt, kein Entkommen mehr geben konnte. Andererseits bildeten sich immer

Clark Darlton

wieder Lücken, durch die man zur nächsten Schneise gelangte, wenn man schnell und geschickt genug war – und den Weg kannte.

Der Zweck war sonnenklar: Das Tal war ein ungefährlicher Zugang zur Eiszitadelle für jeden, der das Geheimnis kannte und von dem periodisch wiederkehrenden Muster wußte. In dieser Hinsicht hatte Marxos sich nicht getäuscht. Die Frage war nur, ob er es lange und sorgfältig genug studiert hatte, um sich nicht zu irren.

Nach drei Stunden war er noch immer nicht zurück.

»Er hätte gerufen«, versuchte Razamon sich zu beruhigen.

»Vielleicht …« Fenrir zerrte an seinem Seil und winselte

leise. Gegen Mitternacht hielt Razamon es nicht

mehr aus. »Wir müssen ihn suchen! Wir können

nicht einfach hier herumstehen und nichts tun.«

»Es wäre in der Dunkelheit sinnlos und gefährlich. Wir würden ihn niemals finden. Morgen, wenn es hell wird, können wir ihn vielleicht schon von dieser Stelle aus sehen und ihm helfen. Er ist kräftig und wird die höhere Gravitation schon aushalten, auch wenn er sich nicht mehr von der Stelle be­wegen kann.«

»Und warum ruft er nicht um Hilfe, wenn er noch lebt?«

»Weil ihm die Schwerkraft die Lungen zusammenpreßt – oder weil er so klug ist, uns nicht unnötig gefährden zu wollen. Wenn auch wir in die Falle geraten, ist er mit Sicherheit ebenfalls verloren.«

Razamon biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß Atlan recht hatte.

Dann, als er etwas sagen wollte und in At­lans Richtung sah, bemerkte er weit im Osten einen kleinen Lichtpunkt, der sich be­wegte. Es konnte kein Stern sein. Aber es war auch kein Feuer, denn der Lichtschein, der von ihm ausging, war stetig und ruhig, ohne zu flackern.

»Was ist das?« fragte er heiser. »Dort

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…!« Atlan schwieg lange, dann meinte er: »Jemand kommt, vielleicht mit einem

Fahrzeug. Es wird wohl besser sein, wir zie­hen uns in Marxos' Höhle zurück. Hier kön­nen wir im Augenblick nichts mehr tun.«

»Geh vor, ich behalte das Licht im Au­ge.«

Atlan zerrte Fenrir mit sich, der absolut am Talrand bleiben wollte. In der Höhle band er das Seil um einen schweren Eis­block, um die Hände frei zu haben. Er schob die noch warmen Aschenreste beiseite und streckte sich auf dem Felsen aus.

Später würde er Razamon ablösen.

*

Razamon beobachtete das näherkommen­de Licht, aus dem allmählich zwei wurden, je näher es kam. Atlans Vermutung schien sich zu bestätigen. Von Osten her näherte sich der Zitadelle zielbewußt ein Fahrzeug, dessen Lenker die Landschaft der Eisküste genau kennen mußte, sonst hätte er die Fahrt in der Dunkelheit kaum gewagt.

Oder hatte er einen anderen Grund, nicht bei Tageslicht zu reisen?

Razamon fand immer wieder zwischen­durch Zeit, ins Tal hinabzuschauen, konnte aber nichts von Marxos entdecken. Viel­leicht war es dem Magier inzwischen sogar gelungen, das Tor zu öffnen und in die Zita­delle einzudringen.

Die Lichter des Fahrzeugs tauchten manchmal in einer Senke unter, um dann – ein gutes Stück näher – wieder aufzuleuch­ten. Sie kamen in fast gerader Linie direkt auf das Tal zu.

Dann, noch gut tausend Meter entfernt, hielt das Fahrzeug an.

Razamon hörte gedämpfte Stimmen an sein Ohr dringen. Der Wind stand günstig und kam von Norden. Er konnte nicht ver­stehen, was gesprochen wurde, aber es muß­te ein Dialekt sein.

»Etwa ein halbes Dutzend«, murmelte er vor sich hin. »Zuviel für uns, wenn sie be­

waffnet sind …« Als ein Feuer drüben am jenseitigen Tal­

rand aufflackerte, erloschen die beiden Lich­ter. Razamon konnte undeutlich einige Ge­stalten erkennen, die sich um das Feuer be­wegten. Dann wurde es ruhiger, aber jemand schien Wache zu halten, denn die Flammen loderten stets auf, wenn Brennmaterial nach­gelegt wurde.

Die Neuankömmlinge warteten auf den Anbruch des Tages.

Razamon schrak zusammen, als Atlan kam, um ihn abzulösen.

»Nichts?« »Wenn du Marxos meinst – nichts. Die

Kerle mit dem Fahrzeug lagern einen Kilo­meter von hier entfernt am Talrand. Sie ha­ben uns gerade noch gefehlt!«

»Sobald es hell wird, werden wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Vielleicht können sie uns helfen.«

»Ich mißtraue jedem hier«, knurrte Raza­mon. »Marxos war eine Ausnahme. Wo ist übrigens Fenrir?«

»Angebunden und schläft. Du verschwin­dest jetzt besser auch. In zwei Stunden wird es hell.«

»Dann bin ich wieder hier«, versprach Razamon und ging.

Atlan sah ihm nach, dann widmete er sich wieder der Beobachtung des Tals mit den wandernden Leuchtzonen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob er das augenblickliche Muster schon einmal gesehen hatte oder nicht.

Als es dämmerte, flackerte das Lagerfeuer drüben am Talrand wieder auf. Das Fahr­zeug schälte sich allmählich aus der Dunkel­heit und wurde sichtbar. Es handelte sich um eine Art Raupenschlepper mit großer Lade­fläche, die mit Pelzen überdacht war. Sieben oder acht Gestalten lagen dicht beim Feuer, unförmig und undefinierbar in ihren dicken Pelzmänteln, mit denen sie sich zugedeckt hatten.

Atlan stand hinter einem Eisblock ge­duckt, um nicht gesehen zu werden. Jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Tal.

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Die leuchtenden Felder waren nicht mehr ausfindig zu machen, und die dunklen Schneisen normaler Gravitation blieben ebenfalls verschwunden, als habe die Sonne sie verscheucht. Vergeblich hielt Atlan nach einem weißen Pelz Ausschau. Marxos war nirgends zu sehen.

Razamon kam herbei, Fenrir an der Leine. Die Nackenhaare des Wolfes waren ge­sträubt. Er knurrte leise und witterte in Rich­tung des fernen Lagerfeuers.

»Wer kann das sein?« fragte Atlan. »Keine Ahnung, es gibt zuviel Völker­

stämme auf Pthor. Es hat wenig Sinn, wenn wir uns bemerkbar machen. Sie würden nur über uns herfallen.«

»Warum sollten sie?« »Weil niemand, der sich in dieser ver­

rückten Gegend herumtreibt, ein reines Ge­wissen haben kann – uns eingeschlossen. Die Kerle da drüben haben etwas vor, und wir werden sie dabei beobachten. Kann sein, daß sie uns den Weg in die Burg zeigen.«

»Und Marxos?« Razamon sagte, und es sollte gleichgültig

klingen: »Der sorgt schon für sich selbst. Ich neh­

me an, er ist bereits im Innern der Zitadel­le.«

»Na schön.« Atlan sah noch einmal hin­über zum rauchenden Lagerfeuer der Frem­den, dann ging er hinter den Eisblock und reckte sich. »Es genügt, wenn einer von uns Wache hält. Ich bereite inzwischen das Frühstück vor.«

»Guter Gedanke«, versicherte Razamon und tätschelte Fenrir. »Wir haben nämlich einen Bärenhunger …«

Als Atlan in der Höhle war, kam sie ihm merkwürdig leer und verlassen vor.

Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie sehr Marxos fehlte, obwohl sie ihn erst einen Tag kannten.

6.

Eine Familie der Wargoons war vor Jahr­zehnten durch das Gebiet der Eisküste nach

Clark Darlton

Osten gezogen und hatte sich am Rand der Dunklen Region niedergelassen. Niemand war vor ihren Piratenzügen sicher, und mit der Zeit verwilderten sie völlig. Das Gesetz der Gastfreundschaft hatte für sie keine Gül­tigkeit. Sie töteten jeden, der ihnen begegne­te, auch wenn er sich ihnen friedfertig näher­te.

In der ersten Zeit ihres freiwilligen Exils hatte die Familie, etwa dreißig Personen ins­gesamt, noch den alten Eisgott Gloophy ver­ehrt und ihm Opfer dargebracht, dann er­losch allmählich das Interesse an ihm. Als die zweite Generation heranwuchs und die Geschichten ihrer Väter zu begreifen be­gann, starb der alte Gott endgültig.

Gloophy war nichts als eine Sage, und um das den letzten Zweiflern zu beweisen, muß­te das Geheimnis der Eiszitadelle gelüftet werden, die von der ersten Generation weit im Süden umgangen worden war.

Einmal waren drei entschlossene, junge Wargoons nach Westen gezogen, zu Fuß und nur mit ihren Pektos bewaffnet. Sie wa­ren nie mehr zurückgekehrt.

Nun, Jahre später, entschloß sich Karel Wargoon, der Spur der Verschollenen zu folgen. Er fand sieben Freunde, die ihn be­gleiten wollten.

Die Aussichten waren heute besser als da­mals. Seitdem der Zugor mit drei Insassen notgelandet war, besaßen die Ost-Wargoons deren Waggus, weitreichende Lähmstrahler, mit denen sich jeder Gegner gefahrlos erle­digen ließ.

Der Zugor war bei der Landung so be­schädigt worden, daß er nicht mehr fliegen konnte. Keiner der Wargoons besaß genü­gend technische Kenntnisse, um die Flug­scheibe zu reparieren, also nahm man sie kurzerhand auseinander und verteilte die einzelnen Teil an die Mitglieder der Familie.

Die drei Technos aber erlebten das nicht mehr. Sie waren kurz nach der Gefangen­nahme getötet worden.

Bei einem anderen Beutezug in südlicher Richtung hatte man das Raupenfahrzeug mitgehen lassen. Niemand wußte, wie es

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funktionierte, aber man fand heraus, wie es zu bedienen war. Die Energiequelle schien unerschöpflich zu sein. Die Aufregung im Dorf war verständlich, als die jungen Jäger mit dem Beutefahrzeug heimkehrten.

Von diesem Augenblick an kannte Karel Wargoon seine Aufgabe.

Gemeinsam mit seinen sieben Vertrauten bereitete er die Expedition in aller Heimlich­keit vor, um dann den Familienrat vor die vollendete Tatsache zu stellen. Es gab tage­lange Diskussionen, bis die Mehrheit end­lich dem gewagten Unternehmen zustimmte. Karel bekam das Fahrzeug und zwei der drei Lähmwaffen. Natürlich fehlten Lebensmittel und genügend Pektos auch nicht, selbst ge­trocknetes Holz wurde mitgenommen, da je­der wußte, daß im Norden der Eisküste kein Brennmaterial gefunden werden konnte.

Endlich, nach zwei Tagen Fahrt, tauchte im Westen die Silhouette der Zitadelle auf. Man machte Rast und wartete die Nacht ab, um von eventuellen Bewohnern der Festung nicht gesehen zu werden. Dann fuhr man weiter, bis dicht an den Rand des Tales, das in den Berichten der Väter stets eine beson­dere Rolle gespielt hatte.

Hier verbrachten die acht Wargoons den Rest der Nacht.

Karel Wargoon schlief nicht. Immer wie­der wanderte sein Blick über das in der Dun­kelheit der Nacht liegende Tal hinüber zu den gut erkennbaren Umrissen der Eiszita­delle, deren Geheimnis ihn von Kind an fas­ziniert hatte. Der Gott Gloophy sollte dort in einem Eisblock schlafen und auf den Tag seiner Wiederkehr warten.

Karel war entschlossen, diesen falschen Gott eigenhändig aufzuwecken. Es wurde höchste Zeit, mit dem alten Aberglauben aufzuräumen. Vor allen Dingen schon des­halb, weil dieser Aberglaube den Herren der FESTUNG mehr nützte als allen anderen.

Als es dämmerte, schälten sich Einzelhei­ten aus dem aufsteigenden Nebel, der das Tal ausfüllte. Der zehn Meter hohe Wall um die Zitadelle bereitete Karel Wargoon keine Sorgen. Er war sicher, daß sie eine günstige

Stelle zum Überklettern finden würden. Nach und nach erwachten seine Begleiter.

Das Feuer wurde wieder angefacht und dann der bevorstehende Einsatz besprochen.

Inzwischen wurde auch der Talboden ne­belfrei und die Sicht klar. Karel Wargoon ging mit zwei Männern bis zum Rand der Ebene vor und blieb dann wie erstarrt ste­hen. Langsam nur dämmerte ihm die Er­kenntnis, daß die im Dorf erzählten Schauer­geschichten einen wahren Kern besaßen. Dort unten im Tal war etwas, das jeden Ein­dringling erbarmungslos tötete.

»Wir werden es an einer anderen Stelle versuchen müssen«, entschied er, nachdem er zum Feuer zurückgekehrt war. »Vier von uns bleiben hier und lassen das Tal und die Schneise zur Zitadelle nicht aus den Augen. Ich selbst werde mit den restlichen drei Männern um die Burg herumfahren, um sie zu erkunden.«

Da niemand einen besseren Vorschlag hatte, setzte sich das Fahrzeug wenig später in Bewegung und verschwand in nördlicher Richtung. Obwohl die Grundmauern der Zi­tadelle insgesamt kaum einen halben Kilo­meter im Quadrat maßen, zwangen tiefe Schluchten und Risse im Eis zu gewaltigen Umwegen. Als Karel sich zwei Stunden nach Beginn der Erkundungsfahrt von We­sten her wieder dem Lager näherte, wußte er, daß der Weg in die Zitadelle nur vom Tal her möglich war.

*

Atlan und Razamon hatten sich ein wenig vom Rand des Tales zurückgezogen, um ein besseres Versteck zu finden, von dem aus sie gefahrlos die Fremden beobachten konn­ten, ohne selbst entdeckt zu werden.

Fenrir verhielt sich ruhig, mußte aber fest­gebunden bleiben. Sein ganzes Benehmen deutete darauf hin, daß ihm die Neuan­kömmlinge überhaupt nicht sympathisch waren.

»Ich wundere mich«, sagte Atlan, als sie sich in einer Mulde auf dem flachen Hügel

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südlich das Tales niedergelassen hatten, »daß diese Burschen da drüben so vorsichtig sind. Sie müssen also Kenntnisse von den Gefahren haben, die ihnen drohen.«

»Kein Wunder, denn sie haben ja Augen im Kopf. Eine deutlichere Warnung als die Toten im Tal kann es überhaupt nicht ge­ben.« Razamon wirkte nervös. »Ich mache mir ernstliche Sorgen um Marxos. Vielleicht hat er aber auch die Fremden bemerkt und bleibt in einem Versteck.«

»So wird es sein«, stimmte Atlan nur zu gern zu. »Aha, sie haben sich geteilt. Die Hälfte bleibt beim Feuer zurück, die anderen werden eine Erkundungsfahrt unternehmen. Hoffentlich geraten sie mit dem Kasten nicht in eine Gravitationsfalle. Aber vielleicht ist der Motor stark genug und schafft es.«

»Von mir aus können sie hängenbleiben«, knurrte Razamon böse. »Sie hindern uns daran, Marxos zu suchen. Überhaupt brin­gen sie unser ganzes Konzept durcheinan­der. Warum gehen wir nicht einfach hin und sagen ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren?«

Atlan antwortete nicht sofort. Er wußte, daß Razamon in gewisser Hinsicht recht hat­te. Die acht Wargoons konnten sich Tage und Wochen hier aufhalten, und dann war eine Begegnung der beiden Gruppen unver­meidlich.

»Wir warten, bis das Fahrzeug mit den anderen vier zurückkommt. Wenn sie eine bessere Stelle gefunden haben, werden alle von hier verschwinden.«

»Und wenn nicht?« »Nehmen wir Kontakt auf.« »Mit den vier Kerlen dort würden wir

leichter fertig als mit acht.« »Mag sein, ist aber nicht sicher. Wir ken­

nen ihre Bewaffnung nicht. Eine Waggu ge­nügt, und wir kommen niemals nahe genug an sie heran, um unsere Pektos wirksam ein­zusetzen.«

Razamon knurrte etwas Unverständliches und schwieg. Selten war er mit einer Situati­on so unzufrieden gewesen wie mit dieser.

Zwei Stunden später kam das Fahrzeug

Clark Darlton

von Westen her zurück und ratterte dicht an ihrem Versteck vorbei. Zum Glück übertön­te das Geräusch das plötzliche Aufheulen Fenrirs, der die Witterung der Wargoons voll in die Nase bekam. Der Raupenschlep­per bog nach Norden ab und hielt beim La­gerfeuer. Die vier Männer sprangen ab und gesellten sich zu den übrigen. Man schien zu beraten.

Fenrir hatte sich wieder beruhigt. Razamon fingerte an seiner Harpune her­

um. Ursprünglich war der schwere Pfeilbol­zen mit einem Seil befestigt, damit das Ge­schoß nicht verlorengehen konnte, wenn ein verletztes Tier damit floh. Wahrscheinlich stammte die Waffe aber auch noch aus jener Zeit, als die Wargoons auf dem Meer jagten.

Razamon und Atlan hatten die Seile abge­schnitten, um den Aktionsradius der Pekto nicht einzuschränken, außerdem besaßen sie einige Ersatzpfeile. Die im Inneren des Holzrohrs angebrachte Feder war ungemein stark. Sie konnte das Geschoß bis zu achtzig Meter weit ziemlich zielsicher schleudern.

Eine Waggu hingegen wirkte noch auf mehr als hundert Meter.

Atlan sagte: »Um unserer eigenen Sicherheit willen

müssen wir uns abwartend verhalten, Raza­mon, werde also nicht nervös. Natürlich könnten wir uns auch einfach nach Süden absetzen, um dann außer Sichtweite der Wargoons wieder nach Osten abzubiegen, aber ich gebe zu, daß mich die Eiszitadelle reizt. Jetzt mehr denn je. Außerdem müssen wir uns um Marxos kümmern. Im Augen­blick jedoch …«

»Schon gut, ich verstehe dich ja.« Er sah wieder hinüber zu der Gruppe. »Sie steigen in ihr Fahrzeug. Was haben sie vor?«

Die Beratung war zu Ende, man schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. Ohne das noch schwach brennende Feuer zu löschen, warfen die acht Männer ihr Gepäck auf die Ladefläche und stiegen auf. Zwei saßen vorn bei den Kontrollen. Dann setzte sich der Raupenschlepper in Be­wegung.

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43 Zitadelle im Eis

Er fuhr genau auf das Tal zu, erreichte den flachen Hang – und fuhr weiter.

Sie mußten sehen, was unten im Tal auf sie wartete, aber allem Anschein nach be­griffen sie nicht, welcher Natur die Gefahr war, die alle ihre Vorgänger getötet hatte. Sie fuhren in ihr sicheres Verderben.

»Wollen wir sie nicht wenigstens war­nen?« fragte Razamon.

Atlan nickte. »Jetzt haben wir keine andere Wahl, als

uns bemerkbar zu machen. Komm! Du auch, Fenrir, aber du bleibst an der Leine.«

Sie kamen aus ihrem Versteck und beeil­ten sich, ihren alten Beobachtungsposten auf dem Südhang zu erreichen. Von hier aus konnten sie das ganze Tal bis zum Nordrand übersehen. Das Fahrzeug der Wargoons kam von Osten und war nur noch wenige Dut­zend Meter über der eigentlichen Talsohle. Es wich dem seltsamen Fluggerät aus, das ihm im Weg stand.

Atlan richtete sich auf und begann mit beiden Armen zu winken.

In diesem Augenblick legte Fenrir den letzten Rest von Gehorsam ab. Razamon, der die Leine übernommen hatte, war auf den plötzlichen Ruck nicht vorbereitet, mit dem der Wolf sich losriß. Die lange Leine hinter sich herschleppend, rannte das Tier mit weiten Sätzen auf dem Talrand entlang auf die Stelle zu, an der die Wargoons gela­gert hatten.

»Komm zurück!« brüllte Razamon er­schrocken. »Fenrir!«

Die Wargoons wurden erst jetzt auf die Tatsache aufmerksam, daß sie nicht allein waren. Sie sahen die beiden Männer oben auf dem Hügel stehen, dann erblickten sie den Wolf, der ihnen jedoch nicht mehr folg­te.

Karel hielt das Fahrzeug an. Atlan und Razamon gingen nun ebenfalls

in Richtung des nur noch glimmenden La­gerfeuers der Wargoons, hielten sich jedoch außer der nicht genau bekannten Reichweite eventuell vorhandener Lähmstrahler.

»He, ihr da!« rief Razamon, so laut er

konnte. »Kommt heraus aus dem Tal und fahrt nicht weiter! Ihr seht doch, was pas­siert.«

Es war nicht sicher, ob sie ihn verstanden, ihre Reaktion jedenfalls war nicht gerade freundlich. Einer der Wargoons auf der La­defläche des Raupenschleppers erhob sich und zielte mit seiner Waggu auf Fenrir, der kaum hundert Meter entfernt war. Eine Se­kunde später fiel der Wolf um, als habe ihn der Schlag getroffen. Er lag da und rührte sich nicht mehr.

Ein zweiter Wargoon nahm sich Atlan und Razamon vor, aber die Entfernung war wohl zu groß. Die beiden Männer spürten das unangenehme Kribbeln in ihren Glie­dern, als die abgeschwächten Lähmstrahlen sie durchdrangen.

»Diese Hornochsen!« schimpfte Razamon und riß seine Pekto hoch. »Wenigstens einen Gruß will ich ihnen zurückschicken …«

Er zielte zwar in Richtung des Fahrzeugs, aber die Spitze des Pfeilbolzens zeigte mit einer Neigung von fünfzig Grad hinauf in den Himmel. So hoffte er, die dreihundert Meter zu überwinden, die ihn von seinem Ziel trennten.

Das Geschoß surrte aus dem hölzernen Lauf, stieg ein gutes Stück in die Höhe, wur­de dann aber urplötzlich und noch hundert Meter von dem Fahrzeug entfernt jäh senk­recht nach unten gerissen. Es hatte eine Zo­ne überhöhter Gravitation nicht überqueren können.

Die Wargoons brüllten vor spöttischer Begeisterung, obgleich sie selbst auch kei­nen Erfolg zu verzeichnen hatten. Immerhin fuhren sie nicht weiter, obwohl es nicht mehr weit bis zur Talsohle war. Wahr­scheinlich wollten sie verhindern, daß die beiden Fremden ihnen folgten und so eben­falls den erhofften Eingang zur Zitadelle fanden.

»Ich hole Fenrir«, sagte Razamon, aber Atlan hielt ihn am Ärmel fest.

»Nein, bleib hier. Ihm ist nichts gesche­hen. In ein oder zwei Stunden ist er wieder auf den Beinen. Wenn du zu ihm gehst, ge­

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rätst du in den Wirkungsbereich der Lähm­strahler.«

»Und was sollen wir tun? Hier warten, bis wir schwarz werden?«

Atlan nickte in Richtung Tal. »Sie scheinen einen Plan gefaßt zu haben.

Sieh nur …!«

*

Karel Wargoon steckte in der Klemme. Er sah die vereisten Toten und zertrüm­

merten Gegenstände im Tal, ohne dafür eine Erklärung zu finden. Kein Gegner war zu entdecken, also konnte auch keine akute Ge­fahr bestehen. Und dann, als sie fast die Tal­sohle erreicht hatten, tauchten die beiden Fremden mit ihrem Wolf auf.

Das Tier war schnell außer Gefecht ge­setzt, aber die beiden Männer hielten sich außerhalb der Reichweite der Waggus auf. Allerdings konnten sie mit ihren Pektos auch nicht viel ausrichten.

»Ihr bleibt im Fahrzeug«, entschied er endlich und bezeichnete vier seiner Beglei­ter. »Rührt euch nicht von der Stelle, bis wir zurück sind. Wir müssen die beiden Kerle da oben unschädlich machen, und zwar sofort.«

»Vielleicht gehören sie zur Zitadelle und könnten uns den Eingang zeigen«, wagte je­mand einen Einwand. »Töten können wir sie dann immer noch.«

Karel nickte. »Vielleicht hast du recht«, stimmte er zu.

»Kommt!« Zusammen mit seinen drei Begleitern

ging er den Weg zurück, den sie mit ihrem Fahrzeug gekommen waren. Nur Karel trug eine Lähmwaffe, die andere blieb bei den vier Wargoons im Tal.

Atlan und Razamon hatten die Zwischen­zeit genutzt, geduckt und außer Sichtweite der Wargoons zu der Stelle zu laufen, an der Fenrir immer noch reglos lag. Sie zogen ihn hinter einen großen Eisbrocken und unter­suchten ihn hastig. Der Wolf lebte und atme­te gleichmäßig, aber er war paralysiert.

»Er kommt bald wieder zu sich«, hoffte

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Atlan und band das Seil fest. »Komm, wir dürfen die Wargoons nicht aus dem Auge verlieren.«

Rechtzeitig erreichten sie den Talrand, um die vier Männer den Hang heraufkommen zu sehen. Drei von ihnen hielten ihre Pektos schußbereit, während der vierte eine Waggu trug.

Sie waren jetzt noch hundert Meter ent­fernt.

»Ich rufe sie an«, flüsterte Atlan Razamon zu, der seine Pekto ebenfalls gespannt hatte. »Wenn sie feindlich reagieren, müssen wir den Wargoon mit der Lähmwaffe sofort au­ßer Gefecht setzen. Mit den anderen werden wir dann notfalls leicht fertig.«

Razamon nickte stumm und zielte auf Ka­rel Wargoon.

Atlan erhob sich aus der Deckung, aber nur so weit, daß er sofort wieder untertau­chen konnte.

»Kommt nicht weiter!« rief er. »Wir wol­len mit euch verhandeln.« Tagsüber schie­nen die Zonen höherer Gravitation nicht so zahlreich zu sein wie in der Nacht, oder die Wargoons hatten unverschämtes Glück. Die Fallen hatten sie bisher verschont.

Karel Wargoon rief seinen Begleitern et­was zu, die sofort seitwärts hinter einigen Erhebungen Deckung suchten. Er selbst blieb stehen, seine Waggu bis in Brusthöhe erhoben. Er sah den Fremden oben am Hang, wenn auch nur den Kopf. Aber das spielte für die Lähmwaffe keine Rolle. Sie durchdrang so lächerliche Hindernisse wie Eis oder nicht zu starke Felsen.

»Wer bist du?« fragte er, die Finger bereit zum Feuerdruck.

»Nicht dein Gegner. Verlaßt das Tal, es birgt furchtbare Gefahren für euch.«

Karel lachte spöttisch. »Gefahren? Ihr beide bedeutet keine Ge­

fahr für uns. Selbst wenn ihr Waggus be­sitzt, so könnt ihr uns nichts anhaben, denn unsere vier Gefährten unten im Tal würden uns decken. Sie befinden sich außer Reich­weite.«

»Die Gefahr droht von der Zitadelle.«

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45 Zitadelle im Eis

»Was wißt ihr von ihr?« »Darüber wollten wir mich euch reden.« »Einverstanden, aber nur zu meinen Be­

dingungen.« »Was verstehst du darunter?« »Ich möchte euch gefesselt an meinem

Feuer sitzen sehen.« Nun mußte Atlan lachen. Neben ihm flü­

sterte Razamon: »Sei vorsichtig, er bereitet sich zum

Lähmschuß vor. Ich habe ihn genau im Vi­sier und kann nur hoffen, daß meine Berech­nung richtig ist. Die Flugbahn des Bolzens wird gestreckter sein, also fliegt er auch wei­ter.«

»Dann versuche uns zu fesseln«, rief At­lan hinunter.

»Nichts leichter als das«, gab Karel War­goon zurück und betätigte seine Waffe.

Das war der Augenblick, den Razamon vorausberechnet hatte. Noch bevor sich der Lauf der Waggu um Zentimeter anheben konnte, um sein Ziel zu treffen, löste er den Bolzenpfeil aus seiner Federverankerung.

Das schwere Geschoß raste aus dem Holzrohr schräg nach unten. Die Flugbahn veränderte sich kaum und überquerte zum Glück auch keine Gravitationszone. Die stählerne Doppelspitze traf Karel Wargoons Brust, durchdrang den Pelz und schleuderte den Mann zu Boden, noch während das Bündel der Lähmenergie vergeblich ver­suchte, ein Ziel zu finden.

Karel Wargoon war sofort tot. Für einige Sekunden waren die drei ande­

ren Wargoons vor Entsetzen starr und unfä­hig zum Handeln. Dann ließ einer von ihnen seine Pekto fallen und stürzte sich auf die Waggu, die Karels Händen entglitten war.

Atlans Pfeil traf ihn in den Nacken. Im Todeskampf schleuderte er die Waggu ins Tal hinab.

Die restlichen zwei Wargoons, führerlos und verwirrt, gaben auf. Schreiend rannten sie hinab ins Tal zu ihrem Fahrzeug und den zurückgebliebenen Gefährten, die Zeuge des Vorgangs geworden waren und nicht wuß­ten, wie sie sich verhalten sollten.

Da Karel tot war, übernahm sein engster Freund Segmel Wargoon die Führung der Gruppe.

»Weiterfahren, in Richtung Zitadelle!« Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung,

kaum daß die beiden Männer auf die Lade­fläche gesprungen waren. Oben auf dem Hang hatten sich nun die beiden Fremden aufgerichtet und winkten mit den Armen. Sie riefen etwas, das im Tal nicht mehr ver­ständlich war. Ihre Gesten besagten jedoch eindeutig, daß die Wargoons sofort umkeh­ren sollten.

»Den Gefallen tun wir ihnen nicht«, sagte Segmel wütend. »Und wehe, wenn wir hier fertig sind, dann werden sie für Karels Tod büßen, und wenn ich sie mit den Händen er­würgen müßte …«

Das Wrack der Flugmaschine lag nun hin­ter ihnen. Sie hatten die Einbuchtung umfah­ren und erreichten endlich die eigentliche Talsohle.

»Sie sind verrückt!« sagte Razamon. »Sie fahren in ihr sicheres Verderben.«

»Wir haben es zu verhindern versucht, uns trifft keine Schuld.«

Atlan ging zu Fenrir, der sich zu regen be­gann. Er redete ihm gut zu und rieb den Brustkorb, um die Luftzufuhr zu erhöhen. Der Wolf erholte sich erstaunlich schnell und war bald wieder auf den Beinen.

Inzwischen näherte sich der Raupen­schlepper der breiten Schneise, die direkt in Richtung der Zitadelle führte.

»Es muß jeden Augenblick passieren, oder die Fallen sind abgeschaltet worden.« Razamons Gesicht verriet Unsicherheit, und so etwas wie eine schwache Hoffnung. »Wenn wir es nur wüßten, dann könnten wir ihnen folgen.«

»Reiner Zufall«, vermutete Atlan. »Sie werden ihr Ziel nicht erreichen.«

Das Fahrzeug wich einigen vereisten Kör­pern aus, die keine humanoiden Formen be­saßen. Dieser kleine Umweg besiegelte das Schicksal der restlichen sechs Wargoons.

Atlan und Razamon studierten den schrecklichen Vorgang mit nur scheinbarer

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Gelassenheit und Sorgfalt, um daraus ihre Lehren zu ziehen. Sie hatten alles versucht, die Wargoons von ihrem Vorhaben abzu­bringen, aber es war ihnen nicht gelungen.

Das Fahrzeug schien plötzlich vorn schwerer zu werden. Eine unsichtbare Last drückte die Frontseite der Raupenkette tief in das splitternde Eis hinein, ohne die Fahrt merklich zu verlangsamen. Der Schwung des Gewichts verhinderte ein schnelles Bremsen.

Nach zehn Metern erst hielt das Gefährt an, aber da war es bereits zu spät.

Als die beiden Männer hinter den Kon­trollen auf ihren Sitzen zusammensackten, als das Führerdach der Kabine eingedrückt wurde, begriffen die vier Wargoons auf der Ladefläche noch immer nicht, was geschah. Eine Sekunde später befanden auch sie sich in der Zone der erhöhten Schwerkraft und wurden zu Boden geschleudert. Ein unge­heures Gewicht senkte sich blitzschnell auf sie herab und erdrückte sie.

7.

Atlan holte tief Luft und setzte sich. »Ein Teufel muß diese tödliche Falle ent­

wickelt haben«, murmelte er erschüttert. »Ich überlege, ob wir unser Vorhaben nicht besser aufgeben sollen. Ziehen wir weiter nach Osten, denn dort wollten wir ja auch eigentlich hin.«

Razamon schüttelte den Kopf. »Jetzt erst recht nicht! Außerdem: Vergiß

Marxos nicht! Vielleicht braucht er unsere Hilfe.«

»Wenn er in eine Falle geraten ist, kommt jede Hilfe zu spät, das hast du selbst gese­hen. Und wenn er in die Festung eingedrun­gen ist, hat er sein Wort nicht gehalten. Was also willst du?«

»Na schön, lassen wir Marxos aus dem Spiel, aber glaubst du nicht auch, daß die Geschichte mit dem gefangenen Antimate­riewesen auch wichtig für uns ist? Natürlich ist es gefährlich, das Tal zu durchqueren, aber schließlich hat Marxos uns einen wich-

Clark Darlton

tigen Tip gegeben. Nachts sind die Dunkel­schneisen sichtbar, und außerdem wissen wir, daß sie nach einem ganz bestimmten System wandern.«

»Es gibt mehrere Programme, aber eins von ihnen kenne ich ziemlich genau«, gab Atlan zu, schon wieder halb überzeugt. »Vielleicht würden wir es tatsächlich schaf­fen …«

»Wir werden es schaffen!« sagte Raza­mon in einem Ton, der kaum Widerspruch duldete.

Atlan nickte langsam. »Also gut, dann heute nacht.« Er sah hin­

ab ins Tal zu dem halb ins Eis gedrückten Fahrzeug der Wargoons. »Wir sind wieder allein und haben keine Ablenkung zu be­fürchten. Fenrir wird sich bis dahin auch wieder erholt haben.«

Sie erreichten Marxos' Höhle und ver­suchten zu schlafen, um bei Anbruch der Nacht frisch und ausgeruht zu sein.

Was vor ihnen lag, war alles andere als ein Spaziergang.

*

Noch bevor sich die Dämmerung in Dun­kelheit verwandelte, standen sie auf dem Südhang und warteten. Fenrir war wieder ans Seil gelegt worden und sollte die Füh­rung übernehmen. Razamon hielt ihn und würde ihn sofort aus der Gefahrenzone zer­ren, wenn er in eine solche hineingeriet. Den Abschluß sollte Atlan übernehmen, eben­falls angeseilt. So würde einer dem anderen helfen können, ohne sich selbst in Gefahr begeben zu müssen.

Allmählich wurde es dunkel, und gleich­zeitig hoben sich die matt schimmernden Todesfallen immer deutlicher hervor. Da­zwischen lagen die harmlosen Dunkelzonen, meist nur sehr eng und schmal.

Bis Mitternacht beobachteten sie das ab­rollende Programm der wandernden Leucht­zonen und waren sicher, daß sie eins von ih­nen einigermaßen kannten. Es würde in zehn Minuten wieder beginnen.

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»Es sind drei gefährliche Fallen einge­baut«, sagte Atlan. »Dreimal schließt sich die Gasse der normalen Schwerkraft, und dann gibt es kein Entkommen mehr. Es ist wichtig, daß wir diese Strecken so schnell wie möglich hinter uns bringen. Notfalls mußt du Fenrir antreiben, wenn er zu lang­sam geht. Oder du gehst vor.«

»Er weiß genau, worum es geht«, vertei­digte Razamon den klugen und tapferen Wolf. »Wir haben noch fünf Minuten …«

Das alte vorprogrammierte Muster löste sich allmählich auf, um dem neuen Platz zu machen. Wie bei einer Lightshow wanderten die nebelhaft und bizarr geformten Zonen scheinbar unwillkürlich und ohne jede Ord­nung durch das Tal, überschnitten sich oder trennten sich derart, daß sie zufällige Gassen bildeten. Gassen, von denen die meisten nichts als tödliche Fallen waren.

Es war wie ein sich ständig verändernder Irrgarten.

»Gleich kommt die richtige Schneise«, sagte Atlan und deutete hinab auf den Hang. »Wir müssen den schmalen Ausläufer neh­men, der wie ein Schlauch nach unten führt. Wir haben Zeit, denn er schließt sich nicht so schnell. Siehst du weiter unten den run­den dunklen Fleck? Von ihm aus werden drei Dunkelpfade in verschiedene Richtun­gen wegführen. Wir nehmen den zur Talmit­te. Dort biegt er scharf nach links ab. Die anderen beiden schließen sich nach wenigen Sekunden.«

Razamon nickte in der Dunkelheit und hielt Fenrir kurz an der Leine. Er sah die Schneise näherkommen, und als sie den Hang erreichte, ging er los. Fenrir übernahm die Führung und zog ungestüm an dem Seil, so daß Razamon ein Stück mitgeschleift wurde, ehe er wieder festen Fuß auf dem Eis fassen konnte.

Atlan wartete, bis sich das Seil straffte, dann folgte er.

Es war eine Wanderung durch sich lang­sam bewegende Nebelschwaden, die knapp einen Meter über dem eisigen Boden des Ta­les endeten. Der Dunkelpfad war so schmal,

daß er zwei nebeneinander gehenden Män­nern keinen Platz geboten hätte. Ein Schritt abseits bedeutete schon Gefahr.

»Nach links!« rief Atlan, als sie den run­den Fleck Sicherheit erreichten. Razamon dirigierte Fenrir, der sofort begriff, was von ihm verlangt wurde. Instinktiv mied er den Nebel, wenn er auch keine Übersicht über das vorprogrammierte Wandern der gefährli­chen Zonen haben konnte. Er befolgte jeden Druck und jeden Zug der Leine, die ihn mit Razamon verband. Von hinten gab Atlan seine Anweisungen:

»Jetzt den rechten Pfad, aber schnell. Es sind etwa fünfzig Sekunden, dann schließt er sich, weil er zugleich von zwei Leuchtfel­dern überlappt wird.«

Sie hasteten durch die Gasse und erreich­ten abermals einen nahezu dreißig Meter durchmessenden Kreis absoluter Dunkelheit. Um sie herum wogte der Nebel und folgte seiner Programmierung.

Der Dunkelpfad, durch den sie hierher ge­langt waren, hatte sich längst wieder ge­schlossen.

Vor ihnen lagen drei weitere. »Welcher ist es?« fragte Razamon etwas nervös.

Atlan zögerte. »Ich glaube, der in der Mitte.« »Du glaubst?« fauchte Razamon ihn wü­

tend an. »Wir müssen ganz sicher sein …!« »Ganz ruhig bleiben!« ermahnte ihn At­

lan. »Es war irgendwo eine raffinierte Falle eingebaut … das hier muß sie sein. Ja, sie ist es, ich erkenne es an den drei toten Wargo­ons dort, die immerhin bis hierher gelang­ten.«

Die vereisten Leichen schimmerten schwach im Nebel der Gravitationszonen.

»Die Schneisen schließen sich!« rief Raz­amon entsetzt. »Wir sind abgeschnitten!«

»Sehr richtig«, gab Atlan ohne jede Erre­gung zu. »Wir sind also richtig.«

»Das verstehe ich nicht!« Razamon hielt Fenrir eisern fest, der unbedingt weiter woll­te. »Die unbekannten Konstrukteure wollten, daß ein unbefugter Eindringling überhastet einen der drei Gänge wählt. Ich habe mir das

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Programm genau gemerkt. Alle drei Gänge werden in wenigen Minuten von der über­höhten Gravitation überlagert. Es gibt kein Entkommen für jene, die ihnen folgten.«

»Und wir …?« »Abwarten. Es dauert keine drei Minuten

– jetzt noch zwei.« »Und dann?« »Und dann Beeilung!« In Richtung Zitadelle wichen die Nebel

plötzlich auseinander; eine neue Gasse ent­stand, aber nur diese einzige.

»Los, weiter!« rief Atlan drängend. »Sie bleibt nur zehn Sekunden geöffnet.«

Fenrir und Razamon stürmten in die Dun­kelzone hinein und folgten ihr. Sie war brei­ter als die anderen und führte genau auf die Zitadelle zu – oder zumindest direkt in Rich­tung der plötzlich wieder sichtbaren Mauer. Vom Talrand aus hatte es so ausgesehen, als gäbe es sie hier nicht.

»Halt!« rief Atlan, als die Dunkelgasse zu Ende war. Die Nebelfelder lagen nun hinter ihnen. »Ab hier ist es gefahrlos. Wir müssen nur das letzte Hindernis abwarten.«

»Ein letztes Hindernis?« fragte Razamon, ziemlich entnervt.

»Ein Feld, das ohne jede Ankündigung al­le drei Minuten unmittelbar vor uns entsteht und uns den Weg abschneidet. Es bleibt et­wa sechzig Sekunden, dann verschwindet es wieder.«

»Warum umgehen wir es nicht einfach?« »Weil es das ganze Tal umgibt.« Knapp dreißig Sekunden später schim­

merte es vor ihnen auf. Nach beiden Seiten dehnte es sich aus, soweit man sehen konn­te. In Richtung der Festung allerdings nur knapp ein Dutzend Meter. In den drei Minu­ten normaler Schwerkraft eine leicht zu überwindende Strecke.

Fünfzig Meter weiter schimmerte der Eis­wall, der die Zitadelle einschloß.

Aber rechts schimmerte noch etwas ande­res durch den Nebel hindurch. Es war ein weißer Fleck, etwa zwei Meter lang, und er hatte die Umrisse eines großen menschli­chen Körpers.

Clark Darlton

»Marxos!« rief Razamon, als er ihn sah. »Er scheint es nicht geschafft zu haben,

der arme Kerl. Und dafür ist er jahrelang un­terwegs gewesen und hat alle Gefahren auf sich genommen. Er hätte das Programm sorgfältiger studieren sollen.«

»Ob er noch lebt?« »Unmöglich! Wir können ihm nicht mehr

helfen.« »Verdammt!« sagte Razamon wütend.

»Ich habe ihn gern gehabt. Und Fenrir auch.«

»Vorsicht! Der Nebel teilt sich wieder! Weiter!«

An dem reglosen Körper Marxos' vorbei gelangten sie in eine Senke, die in der Art einer flachen, hohlen Gasse direkt zum Eis­wall führte.

Auf einen dunklen, rechteckigen Fleck zu. »Das muß das Tor sein, das Marxos er­

wähnte.« Atlan drehte sich um und sah, daß sich die Nebel wieder vereinigten. Der Rückweg war erneut für eine halbe Minute abgeschnitten. »Es liegt unter dem Niveau der Zitadelle, wenn mich nicht alles täuscht. Dahinter liegt vielleicht ein Gang.«

»Ein kompliziertes Türchen«, knurrte Razamon und betrachtete die Eiswände rechts und links. »Wir können nur durch das Tor, oder zurück durch das Tal.«

Als sie vor dem Tor standen, begriffen sie, was Marxos gemeint hatte.

*

Gut zweieinhalb Meter hoch und andert­halb breit schien die metallene Wand im Eis des Walls verankert zu sein, was natürlich unsinnig gewesen wäre. Sie mußte einen ebenfalls eisernen Rahmen besitzen, der sie hielt.

Der Boden vor der Tür war glatt, so als sei das Eis mehrmals geschmolzen und im­mer wieder gefroren. Die Füße der beiden Männer fanden kaum einen Halt.

»Und wie sollen wir das Ding öffnen?« fragte Razamon und löste Fenrir vom Seil. »Sagte Marxos nicht etwas von einem

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Loch?« »Hier ist es«, erwiderte Atlan, der mit den

Fingern die Tür abgetastet hatte. »Auf der rechten Seite. Ziemlich groß, aber mit der Hand komme ich nicht hindurch.«

»Du erwähntest doch etwas von einem Schlüssel …«

»In zwei Stunden dämmert es«, murmelte Atlan, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Wir werden uns beeilen müssen, wenn wir es noch schaffen wollen.«

Er nahm den Vorratsbeutel ab und legte ihn auf das Eis. Auch die Pekto schien ihn bei seinem Vorhaben zu stören, denn er pla­zierte sie neben den Beutel. Dann nahm er einen Bolzenpfeil, prüfte ihn mit den Finger­spitzen und näherte sich wieder der Tür.

Razamon konnte in dem schwachen Licht nur undeutlich sehen, was Atlan tat. Aber er ahnte, was sein Freund vorhatte.

Atlan fummelte mit der Pfeilspitze an dem Loch herum, bis es ihm endlich gelang, sie in schräger Haltung einzuführen. Der er­ste Widerhaken rastete hörbar ein. Die bei­den folgenden waren zu groß, aber der Ab­stand zwischen dem ersten und den beiden anderen genügte vollauf, um aus dem Bol­zenpfeil einen perfekten Dietrich zu machen.

Trotzdem dauerte es eine geschlagene halbe Stunde, bis ein knackendes Geräusch den ersten Erfolg ankündigte.

»Drücken, mit aller Kraft!« keuchte At­lan. »Ja, auf der rechten Seite, wo der Riegel ist. Ich glaube, ich konnte ihn zurückschie­ben.«

Razamon stemmte sich mit der Schulter gegen das eiserne Tor, aber es rührte sich nicht. Erst als er für einen Augenblick nachließ, um neue Kräfte zu sammeln, knackte es erneut in dem Schloß. Atlan hatte die Pfeilspitze um neunzig Grad drehen kön­nen. Geistesgegenwärtig drückte Razamon.

Langsam ging die Tür nach innen auf. Im Osten begann es zu dämmern. In die­

sem Augenblick geschah etwas Unvorherge­sehenes.

*

Atlan wollte einen Schritt zurücktreten, um Razamon mehr Platz zu lassen, und rutschte aus.

Unwillkürlich griff er zu und erwischte die rechte Kante der sich öffnenden Tür. Razamon sprang hinzu, um ihn festzuhalten und vor einem Sturz zu bewahren. Er zog ihn nach außen, und Atlan hielt weiter fest. Im letzten Moment ließ er die Tür los, damit seine Finger nicht zerquetscht wurden.

Mit einem dumpfen Laut schloß sich die Tür wieder.

Razamon und Atlan standen wieder drau­ßen, ohne den dunklen Gang betreten zu ha­ben, der hinter der Tür schräg in die Tiefe führte.

Fenrir knurrte, als fühle er sich um eine Beute betrogen.

Die Dämmerung im Osten wurde heller. Im Tal verblaßten die schimmernden Zo­

nen allmählich und vermischten sich mit den heller werdenden Dunkelgassen, die nun un­kenntlich wurden.

Der Rückzug war damit abgeschnitten. »So ein Pech!« schimpfte Razamon, aber

Atlan zuckte nur die Schultern und meinte: »Es spielt keine Rolle, ob wir tagsüber

oder bei Nacht in die Zitadelle eindringen. Wir wissen nun, daß wir das Tor öffnen können, warum also sollten wir den gefahr­vollen Weg durch das Tal zurückgehen?«

»Da hast du auch wieder recht«, gab Raz­amon zu. »Möchte wissen, warum ich mich immerzu völlig umsonst ärgere. Scheint eine meiner Angewohnheiten zu sein.«

»Trotzdem möchte ich noch kurz nach Marxos sehen. Jetzt ist es hell.«

»Richtig, den hätten wir in der Aufregung fast vergessen.«

Sie gingen zurück bis zu der Stelle, an der sie nachts den leuchtenden Ring gesehen hatten, der nun unsichtbar geworden war.

Marxos lag lang ausgestreckt, aber merk­würdig flach und zusammengedrückt auf dem Eis und rührte sich nicht. Er mußte den Weg durch die Gravitationszonen bis hierher gefunden haben, war dann jedoch vom si­cheren Pfad abgewichen und von dem letz­

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ten Sicherungsriegel überrascht worden. In dieser Zone war die Schwerkraft offen­

sichtlich besonders hoch, eine letzte Sperre für jene, die es bis hierher geschafft hatten.

»Da ist nichts mehr zu machen«, murmel­te Razamon bedrückt. »Wir müssen ihn dort liegen lassen.«

Atlan biß sich auf die Lippen. Dann nick­te er.

»Nein, nichts mehr. Wir haben ihm eini­ges zu verdanken und können nichts für ihn tun.« Er holte tief Luft. »Komm, Razamon, vor uns liegt das Geheimnis der Eiszitadelle. Marxos wollte es lüften, wir handeln also in seinem Auftrag, wenn wir es tun.«

Ohne weitere Worte kehrten sie zum Tor zurück, wo Fenrir sie erwartete.

Diesmal gingen sie systematischer vor. Die Pfeilspitze, Atlans provisorischer

Nachschlüssel, steckte noch in dem Loch, aber der Widerhaken hatte die Nute in dem Riegel verloren, der wieder zugeschnappt war. Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis er endlich mit hörbarem Knacken einrastete.

Atlan versuchte, die Hand nicht zu bewe­gen.

»Jetzt mußt du drücken, vorsichtig und mit Gefühl. Aber erst dann, wenn ich dir das Zeichen gebe.«

Behutsam drehte er den Bolzen, dann nickte er Razamon zu.

Dreimal verpaßten sie den richtigen Au­genblick, dann hatten sie es geschafft. Die Tür quietschte in ihren Angeln und ging langsam nach innen auf. Jetzt erst hatte At­lan Zeit, ihre Dicke festzustellen. Es waren mindestens zwölf bis fünfzehn Zentimeter massives Metall. Sie mußte einige Zentner wiegen.

Während Razamon sich gegen sie stemm­te und festhielt, rollte Atlan einen schweren Eisbrocken heran und schob ihn zwischen Türkante und Rahmen. Nun konnte sie sich nicht mehr von selbst schließen.

Inzwischen war es hell geworden. Im Osten ging die Sonne auf, war aber des Tal­hangs wegen noch nicht zu sehen. Fenrir schnüffelte an den abgelegten Vorratsbeu-

Clark Darlton

teln und jaulte leise. »Er hat Hunger«, sagte Razamon. »Ich

übrigens auch. Wie wäre es mit einem klei­nen Frühstück, ehe wir in die Zitadelle ein­dringen?«

Atlan schätzte den durch den Eisblock ge­haltenen Spalt auf fünfzig Zentimeter Breite, bequem genug jedenfalls, um sie durchzu­lassen. Was dahinter lag, war nicht zu erken­nen, jedenfalls führte der Gang schräg in die Tiefe, nicht besonders steil. Der Boden schi­en eisfrei zu sein.

»Einverstanden. Wer weiß, wann wir wie­der Zeit dazu haben.«

Sie mußten sich mit einer kalten Mahlzeit begnügen, denn es gab keine heiße Quelle in der Nähe.

»Vielleicht gibt es eine Alarmanlage, und wenn jemand in der Zitadelle haust, dann weiß er bereits von uns. Er weiß, daß wir das Tal durchquert und das Tor geöffnet ha­ben.«

Atlan nickte kauend. »Natürlich ist er informiert, aber das müs­

sen wir in Kauf nehmen. Zu dumm, daß der eine Wargoon die Lähmwaffe noch wegwer­fen konnte. Sie rollte den Talhang hinunter, für uns unerreichbar.«

»Die Pektos sind auch nicht schlecht, das haben wir ja gesehen.« Als sie fertiggeges­sen hatten, packten sie alles wieder in die Vorratsbeutel.

Nun, da sie ihr Ziel erreicht hatten und vor dem geöffneten Eingang zur Eiszitadelle standen, zögerten sie wie auf geheime Ab­sprache, ihn zu betreten. Das Gefühl, einer unfaßbaren und grauenhaften Gefahr entge­genzugehen, hatte sich der beiden Männer bemächtigt.

Auch Fenrir schien diese Gefahr zu ah­nen. Unschlüssig strich er an dem Torspalt vorbei, zögerte – und ging weiter.

»Pthor hat viele Geheimnisse«, murmelte Razamon. »Ich habe es dir von Anfang an gesagt.«

»Wir müssen sie lösen, oder die Erde ist verloren. Was glaubst du, wieviel Zeit in­zwischen vergangen ist? Auf der Erde, mei­

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ne ich.« »Du meinst außerhalb von Pthor? Was

dort Stunden sind, können hier Tage und Wochen sein. Das genaue Verhältnis ist mir nicht bekannt, außerdem variiert es, soweit ich mich erinnere. Sonst hätten auf Pthor Jahrmillionen vergehen müssen, während auf der Erde seit dem letzten Auftauchen von Atlantis nur zehntausend Jahre verstri­chen.« Er lächelte flüchtig. »Ich muß fest­stellen, daß meine verlorengegangene Erin­nerung nach und nach zurückkehrt. Leider aber nicht in dem Maß, wie es für uns beide gut wäre. Es ist noch immer so, als taste ich mich im Halbdunkel durch ein fremdes Land.«

»Immerhin haben wir schon einige Lich­tungen gefunden«, philosophierte Atlan, »die uns bei der Orientierung halfen.«

Razamon deutete auf das Tor und den da­hinterliegenden Gang.

»Ob das auch so eine Lichtung ist? Sieht mir viel eher wie der lichtlose Weg in die Unterwelt aus.«

Fenrir stand breitbeinig zwei Meter vor dem finsteren Spalt und knurrte leise und drohend.

Atlan sagte: »Ich glaube, wir sollten nicht noch mehr

Zeit verlieren. Machen wir uns doch nichts vor, Razamon. Wir haben beide Angst, in die Zitadelle einzudringen. Aber es wäre sinnlos, jetzt umkehren zu wollen.«

»Wer spricht von Umkehr, mein Freund?« Razamon stand auf, nahm seinen Vorrats­beutel und die Pekto. Den Beutel hing er sich um, dann spannte er die Feder der Har­pune. »Ich bin bereit.«

Atlan erhob sich langsam. Auch er nahm Beutel und Pekto.

»Fenrir, wir sind soweit. Bleibe bei uns, wir nehmen dich jetzt nicht an die Leine.« Atlan rollte das Seil zusammen, es paßte noch in den halbleeren Beutel. »Also dann los …«

Sie warfen einen letzten Blick hinauf zum Himmel und zu der höhergestiegenen Sonne, und es war wie ein Abschied für eine lange Zeit.

Der Gang führte in Nacht und Finsternis. Razamon ging voran, dicht hinter ihm

Fenrir mit gesträubtem Nackenfell. Atlan atmete noch einmal tief die frische

Schneeluft ein, dann nahm er die Pekto in die Armbeuge und folgte den beiden.

Über ihren Köpfen war die zehn Meter dicke Eisdecke des Walls, der die Zitadelle umgab.

Ein Hindernis, das sie nun überwunden hatten.

Was aber lag vor ihnen …?

ENDE

E N D E