166
Nomos Herausgegeben von / Edited by Joachim Jens Hesse Aus dem Inhalt / Contents Abhandlungen / Analyses Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid! Die politische Ökonomie der europäischen Integration in der Krise Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis: ein herausfordernd prekäres Verhältnis Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei“ Die Neuregelung der Finanzverfassung im Zuge der Föderalismusreform II Berichte / Reports Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik: Nationale Wissenschaftssysteme im Vergleich Dokumentation / Documentation Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review 2010 8. Jahrgang/Volume 8 Seiten/Pages 1–161 ISSN 1610-7780 1 ZSE ZEITSCHRIFT FÜR STAATS- UND EUROPAWISSENSCHAFTEN JOURNAL FOR COMPARATIVE GOVERNMENT AND EUROPEAN POLICY Der öffentliche Sektor im internationalen Vergleich The Public Sector in Comparative Perspective

ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

  • Upload
    votu

  • View
    212

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Nomos

Herausgegeben von / Edited byJoachim Jens Hesse

Aus dem Inhalt / Contents

Abhandlungen / AnalysesWerner AbelshauserIt’s not the economy, stupid! Die politische Ökonomie der europäischen Integration in der Krise

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens HesseStaatswissenschaften und Staatspraxis: ein herausfordernd prekäres Verhältnis

Torsten Niechoj„Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei“ Die Neuregelung der Finanzverfassung im Zuge der Föderalismusreform II

Berichte / ReportsJoachim Jens HesseDie Internationalisierung der Wissenschaftspolitik: Nationale Wissenschaftssysteme im Vergleich

Dokumentation / DocumentationThomas FehrmannThe European Union in 2009: a Review

20108. Jahrgang/Volume 8 Seiten/Pages 1–161 ISSN 1610-7780

1

ZSE

n 2

010

n N

r./N

o. 1

ZSE ZEITSCHRIFT FÜR STAATS- UND EUROPAWISSENSCHAFTEN

JOURNAL FOR COMPARATIVE GOVERNMENT AND EUROPEAN POLICY

Der öffentliche Sektor im internationalen VergleichThe Public Sector in Comparative Perspective

RECHTSWISSENSCHAFT Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung

Die neue Zeitschrift für den fachgebietsübergreifenden wissenschaftlichen Diskurs.

Neu bei Nomos!

RECHTSWISSENSCHAFTZeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung1. Jahrgang 2010, erscheint 4 x jährlichJahresabo: 98,– €*Jahresabo mit Online-Zugang: 118,– €* * Preis zzgl. Vertriebs-/Direktbeorderungsgebühren Inland

(7,92 €/1,61 €) 9,53 € inkl. MwSt., jährlich. Kündigung 3 Monate vor Kalenderjahresende möglich.

Bitte bestellen Sie bei Frau Hohmann: Telefon 07221/2104-39 | Fax 07221/2104-1139 | [email protected]

Die RECHTSWISSENSCHAFT stellt die Bezüge zwischen den einzelnen juristischen Fachgebieten in den Mittelpunkt. Die neue Zeitschrift bildet damit einen Gegenpol zur zunehmenden Spezialisierung und verschaff t den Lesern einen Überblick über den Stand der rechts wissenschaftlichen Forschung.

Die RECHTSWISSENSCHAFT steht für Beiträge auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. Über die herausragende Qualität wacht zum einen ein hochkarätig besetzter Kreis von Herausgeberinnen und Herausgebern aus allen Fachgebieten. Zum anderen durchlaufen die Abhandlungen ein echtes Peer-Review-Verfahren nach internationalen Standards, bei dem die Beiträge durch einschlägig aus gewiesene Fachkollegen anonym begutachtet werden.

Weitere Informationen fi nden Sie unter www.rechtswissenschaft.nomos.de

Page 2: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Inhalt / Contents

Abhandlungen / AnalysesWerner AbelshauserIt’s not the economy, stupid! Die politische Ökonomie der europäischen Integration in der Krise . . . . . . . . . . . . . 1

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens HesseStaatswissenschaften und Staatspraxis: ein herausfordernd prekäres Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Torsten Niechoj„Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei“ Die Neuregelung der Finanzverfassung im Zuge der Föderalismusreform II . . . . . 59

Berichte / ReportsJoachim Jens HesseDie Internationalisierung der Wissenschaftspolitik: Nationale Wissenschaftssysteme im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Dokumentation / DocumentationThomas FehrmannThe European Union in 2009: a Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

1 /20108. Jahrgang/ Volume 8 Seiten/Pages 1–161

Herausgegeben von / Edited by Professor Dr. Joachim Jens Hesse, BerlinUnter Mitwirkung von / In Cooperation withRechtswissenschaften / Law: Prof. Dr. Udo Di Fabio, Karlsruhe/Bonn | Prof. Dr. Horst Dreier, Würzburg | Prof. Dr. Peter M. Huber, Erfurt/München | Prof. Dr. András Sajó, Budapest/New York | Prof. Dr. Joachim Wieland, SpeyerWirtschaftswissenschaften / Economics: Prof. Dr. Werner Abelshauser, Bielefeld | Sir Anthony B. Atkinson, Oxford | Prof. Dr. László Csaba, Budapest | Prof. Dr. Bruno S. Frey, Zürich | Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, FreiburgStaats- und Politikwissenschaften / Political Science: Prof. Dr. Stefano Bartolini, Florenz | Prof. Dr. Jan-Erik Lane, Genf/Freiburg | Prof. Dr. Fritz W. Scharpf, Köln | Prof. Dr. Manfred G. Schmidt, Heidelberg | Prof. Dr. Wolfgang Wessels, KölnGeschichtswissenschaften / History: Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, München | Prof. Dr. Harold James, Princeton | Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Tübingen | Prof. Dr. Paul Nolte, Berlin | Prof. Dr. Brendan Simms, Cambridge

ZSE ZEITSCHRIFT FÜR STAATS- UND EUROPAWISSENSCHAFTEN

JOURNAL FOR COMPARATIVE GOVERNMENT AND EUROPEAN POLICY

Der öffentliche Sektor im internationalen VergleichThe Public Sector in Comparative Perspective

Page 3: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Kommentierte Buchanzeigen / Book ReviewJürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Christian Tomuschat (Hrsg.): Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert. Völkerrechtliche Perspektiven / Volker Rittberger (Hrsg.): Wer regiert die Welt und mit welchem Recht? Beiträge zur Global Governance-Forschung . . . . . . . . . . . 155Richard Münch: Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Michael Stolleis: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Stefan Bernhard: Die Konstruktion von Inklusion. Europäische Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive / Kiran Klaus Patel: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955-1973 / Frank Pitzer: Interessen im Wettbewerb. Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955-1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Am Rande oder: Zu guter Letzt / At Long LastRechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung . . . . . . . . . 160

Impressum Redaktion: Professor Dr. Joachim Jens Hesse (V.i.S.d.P.) / Thomas Fehrmann, M.A.Internationales Institut für Staats- und Europawissenschaften (ISE) | Behrenstr. 34 | D-10117 Berlin | Telefon: ++49(0)30 20 61 399-0 | Telefax: ++49(0)30 20 61 399-9 | [email protected] gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeber oder des Ver-lages wieder. Alle Einsendungen erbeten an die Redaktion. Eine Haftung bei Beschädigung oder Verlust wird nicht übernommen. Bei unverlangt zugesandten Rezensionsstücken keine Garantie für Bespre-chung oder Rückgabe. Alle Rechte sind vorbehalten. Fotomechanische Vervielfältigungen der Beiträge und Auszüge sind nur im Einvernehmen mit dem Verlag möglich. Erscheinungsweise vierteljährlich.Bezugsbedingungen: Bezug durch alle Buchhandlungen oder unmittelbar durch den Verlag. Preis des Einzelheftes 42,– €; Jahresbezugspreis 159,– €; Vorzugspreis für Studierende 129,– € (Jährliche Vorlage einer Studienbescheinigung erforderlich); Online auf Anfrage. Die Preise verstehen sich incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Kündigung: Drei Monate vor Kalenderjahresende. Die zur Abwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes verwaltet. Bestellungen und Studienbescheinigungen bitte an: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, D-76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Druck: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Anzeigen: sales_friendly, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 78 98-0, Fax 02 28 / 9 78 98-20, [email protected]. 1610-7780

Page 4: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

1

________________________________________________________ ABHANDLUNGEN / ANALYSES

It’s not the economy, stupid! Die politische Ökonomie der europäischen Integration in der Krise

von Werner Abelshauser

Von Anfang an haben es die Teilnehmer am europäischen Einigungsprozess versäumt, ihr Verhältnis zum europäischen Souverän zu klären. Der supranationale Status der Montan-union war auf der strukturellen Diskriminierung des deutschen Partners gegründet. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft fiel deshalb fast zwangsläufig weit hinter diesen frühen Standard zurück. Sie stützte sich umso mehr auf die funktionalistische Theorie der Integration. Das Vertrauen auf die Zwangsläufigkeit wirtschaftlich-technokratischer Integrationsprozesse wurde somit zur politischen Lebenslüge der Gemeinschaft. Dies gilt in hohem Maße auch für die Europäische Währungsunion. Nach Lissabon könnte es der Europäischen Union schwer fallen, der Souveränitätsfrage weiter auszuweichen. Sei es, weil es nationale Gerichte, wie das Bundesverfassungsgericht, nicht zulassen oder die innere Dynamik der Währungsunion zum Handeln zwingt.

From the very beginning, the participants in the process of European integration failed to clarify their relationship with the European sovereign. The supra-national status of the European Community for Coal and Steel was based on a structural discrimination of the German partner. Therefore, the European Economic Community almost inevitably fell short of this early standard and, a fortiori, leaned on the functionalist theory of integra-tion. This strengthened the belief in the inevitability of technocratic integration – an ideology full of political self-deception. This is true for the rules of the European Mone-tary Union in particular. In the wake of the Treaty of Lisbon, the European Union might find it difficult to continue evading the question of European sovereignty. National courts, such as the German Federal Constitutional Court, might no longer tolerate this state of affairs or the inner dynamics of the Monetary Union could force the European Union into action.

I. Einleitung

Die Schockwirkung globaler Wirtschaftskrisen löst in der Regel zwei Effekte aus, die geeignet sind, die Welt zu verändern: Zuerst den Inspektionseffekt, der verborgene Probleme sichtbar macht und den Blick für notwendige Änderungen

Page 5: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

2

schärft. Ihm folgt, wenn auch nicht zwingend,1 der Verwerfungseffekt: Erkannte Fehlentwicklungen führen unter Leidensdruck zur sprunghaften Veränderungen politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse. Bewähren sich dagegen bestehende Institutionen vor der Herausforderung, werden Zweifel obsolet, denen sie zuvor ausgesetzt waren. Die derzeitige Wirtschaftskrise macht da keine Ausnahme, wenn sie die alte Streitfrage nach der Zukunft des Nationalstaates und seiner Herrschafts- und Lenkungsverhältnisse, der Westphalian governance, neu be-antwortet. Der Ablauf des Geschehens hat Fakten geschaffen: Der Souverän, der über den wirtschaftlichen Ausnahmezustand gebietet, ist weder die UNO mit ihren Internationalen Finanzinstitutionen noch die Europäische Union (EU). Allein der Nationalstaat zeigte sich im Ernstfall handlungsfähig. Darauf kommt es aber an: das Normale beweist nichts, die Ausnahme alles.2 Alle Mutmaßungen über die Aufhebung der Westphalian governance im europäischen oder gar weltweiten Integrationsprozess haben sich im Ernstfall als falsch erwiesen.

Das (vorläufige) Ergebnis der Kriseninspektion taucht damit auch eine spezielle Forschungsfrage in ein neues Licht. Sind die europäischen Institutionen darauf ausgelegt, dem Zeitalter der Nationalstaaten ein Ende zu machen, oder bedienen sich – ganz im Gegenteil – die europäischen Nationalstaaten des Mittels der wirtschaftlichen Integration, um selbst zu überleben? Diese Frage gewinnt durch den Vertrag von Lissabon noch an Aktualität. Gewiss, das europäische Verfas-sungsprojekt ist, wie schon Anfang der fünfziger Jahre, am Widerstand des Sou-veräns gescheitert, der ihm dort, wo er in der Lage war zu entscheiden, eine Absage erteilte. Aber auch das Lissabonner Vertragswerk stellt die EU früher oder später vor die Entscheidung, im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten die Souveränitätsfrage zu klären. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts fand dafür in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 folgende Formel: Auf der Grund-lage einer Vertragsunion souveräner Staaten dürfe die europäische Vereinigung nicht so verwirklicht werden, „dass in den Mitgliedsstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“.3 Offenbar steht die EU nach Lissabon an der

1 So hat die Kleine Weltwirtschaftskrise der siebziger Jahre das Problembewusstsein zwar geschärft,

Problemlösungen aber nicht hervorgebracht. 2 Schmitt, C.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 2. Aufl., Mün-

chen und Leipzig, 1934, 22. 3 BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz Nr. 3, http://www.bverfg.de/entscheidungen/

es20090630_2bve000208.html.

Page 6: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 3

Grenze zur Übernahme von Kernbereichen nationalstaatlicher Souveränität, ohne sie bereits überschritten zu haben.4

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht in Übereinstimmung mit dem mainstream des wissenschaftlichen Diskurses dabei von einem linearen Prozess zunehmender Vergemeinschaftung aus. Dieser habe 1951 mit der Gründung der supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ-ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“5 zur Grün-dung der Europäischen Gemeinschaft (EGKS, EWG, EURATOM)6, den Römi-schen Verträgen, eine neue Qualität erreicht. Mit dem Maastrichter Vertrag (1992) über die Europäische Union seien diese Gemeinschaftsverträge „grundle-gend fortentwickelt“ worden, um schließlich im Vertrag von Lissabon zu mün-den, der die Säulenstruktur der EU auflöst und der Union formell Rechtspersön-lichkeit verleiht.7 Mit dem funktionalistischen Ansatz, der sich in dieser Gesamtsicht widerspiegelt, ist freilich untrennbar die offene oder verdeckte In-tention der Aufhebung des Nationalstaates verbunden. Es lohnt sich daher, diese Vorstellung aus historischer Perspektive zu überprüfen – zumal viele Indizien dafür sprechen, die Wirksamkeit des funktionalistischen Ansatzes in Zweifel zu ziehen. Das offenkundige Problem der EU im Umgang mit dem europäischen Souverän schlägt sich gegenwärtig auch und gerade in den Schwierigkeiten ihrer Währungsunion nieder, die in Maastricht vertraglich vereinbarte finanzpolitische Disziplin gegen den Souveränitätsanspruch der betroffenen Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Dies ist nicht allein eine wirtschaftliche oder juristische Frage. Sie ist vielmehr eng mit den Besonderheiten der politischen Ökonomie der euro-päischen Integration verknüpft, die sich vor allem aus ihrer Entstehungsgeschich-te erschließen. Es geht dabei nicht um Petitessen. Mit dem Schicksal ihrer Wäh-rungsunion stehen der politische Charakter und der Zusammenhalt der EU selbst auf dem Spiel. Auch hier könnte daher ein Blick auf die Gründungsgeschichte des Euro hilfreich sein.

4 Siehe dazu jüngst: Wessels, W.: Der (National-)staat und die Europäische Union – die EU auf dem

Fusionspfad? In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 7/3-4 (2009), 404f. 5 BVerfG, a.a.O., Abs. 10. 6 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BGBl 1952 II 445; Europäische Wirtschaftsgemein-

schaft, BGBl 1957 II 766; Europäische Atomgemeinschaft, BGBl 1957 II 753. 7 BVerfG, a.a.O., Abs. 2, 9.

Page 7: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

4

II. Supranationalität als strukturelle Diskriminierung

1. Frankreichs Dilemma

Der Ausgangspunkt des europäischen Integrationsprozesses lag nach 1945 zweifel-los im deutsch-französische Verhältnis. Für Frankreich bedeutete Integration zu diesem Zeitpunkt freilich nicht die Fortsetzung eines allgemeinen Liberalisie-rungskurses. In Paris verstand man darunter vor allem die Einbindung eines friedlichen und demokratischen deutschen Teilstaates in ein französisch be-stimmtes Europa. Mit den Mitteln der indirekten Kontrolle, die über gemeinsa-me, der nationalen Verfügung entzogene Institutionen ausgeübt werden konnte, wollte Paris sicherstellen, dass das (west-)deutsche Rüstungspotential nicht er-neut gegen Frankreich eingesetzt würde und wichtige strategische Rohstoffe – wie die Kokskohle des Ruhrgebiets – dem französischen Zugriff offen blieben. Natürlicher Ansatzpunkt einer solchen Strategie musste die Montanwirtschaft des Ruhrgebietes sein, nachdem das Saargebiet bereits unter französische Kon-trolle geraten war. Voraussetzung dazu schien jedoch die Errichtung eines supra-nationalen Regimes zu sein, um das deutsche Rüstungspotential der nationalen Verfügungsgewalt zu entziehen.8 Für den Preis der Sicherheit vor Deutschland konnten Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten ihre relativ schwache Mon-tanindustrie unbesehen denselben strikten Kontrollen unterwerfen, die auf die Ruhr angewandt werden sollten, zumal Frankreich seine neue Erzbasis in Nord-afrika ausdrücklich ausklammerte. Aber auch für die Bundesrepublik hatte es durchaus einen Sinn, diese strukturelle Diskriminierung hinzunehmen. Schließ-lich wurden gleichzeitig direkte Kontrollen der Internationalen Ruhrbehörde abgebaut und boten sich Vorteile in der Saarfrage.

Die USA hatten 1946/47 ihren europapolitischen Kurs geändert und strebten die Stabilisierung Westeuropas nicht mehr zu Lasten, sondern mit Hilfe westdeut-scher Ressourcen an. Wenn Frankreich weiter amerikanische Wirtschaftshilfe empfangen wollte, konnte es sich daher auf seinem großen Sprung in die Indust-riegesellschaft nicht länger gegen den Willen der Deutschen auf Reparationen stützen. Auf sich allein gestellt war Frankreichs Stahlindustrie aber der britischen und deutschen Konkurrenz unterlegen, weil sie neben höheren Kosten für den Faktor Arbeit doppelt so hohe Kosten für den Kokseinsatz je Tonne Stahl kalku-

8 Milward, A. S.: The Reconstruction of Western Europe 1945-51, Berkeley, Los Angeles, 1984, 471;

neuerdings auch: Gillingham, J.: European Integration, 1950-2003. Superstate or New Market Econ-omy? Cambridge, 2003; Brunn, G.: Die Einigung Europas, Stuttgart, 2009.

Page 8: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 5

lieren musste.9 In diesem Dilemma musste sich Frankreich entscheiden: Sollte es sich durch Konzessionen an Deutschland Einfluss auf das Wirtschaftspotential des Ruhrgebiets sichern oder das Risiko laufen, von der Dynamik des westdeut-schen Rekonstruktionsprozesses überrollt zu werden und seinen Großmachtstatus zu gefährden, noch ehe er wirtschaftlich abgesichert war? Frankreich entschied sich dafür, seine Ziele, die gegen Westdeutschland nicht mehr erreichbar waren, nunmehr zusammen mit dem Nachbarn anzustreben.

2. Großbritanniens Distanz

Für Großbritannien, das der französische Außenminister Robert Schuman eben-falls eingeladen hatte, die Montanunion mitzugründen, lag in der Aufgabe von Souveränität ein unüberwindliches Hindernis, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) beizutreten. Es waren neben der noch immer engen Verflechtung mit dem Sterling-Block vor allem die schwerindustriellen Interes-sen selbst, die Großbritanniens Zurückhaltung erklären. Das britische Revier hätte mit einer Rohstahlerzeugung von 16,6 Millionen Tonnen im Jahr 1950 mehr als die Hälfte der Stahlproduktion der Schumanplan-Länder einbringen müssen. Es wäre damit – zunächst noch vor Westdeutschland – am stärksten den Kontrollen einer supranationalen Hohen Behörde ausgesetzt gewesen. Für die kleineren kontinentaleuropäischen Montanstaaten galt diese Überlegung nicht. Warum aber sollte Großbritannien seine noch immer bedeutende Montanindust-rie denselben Reglementierungen unterwerfen wie das besiegte Deutschland?

Zwar war die britische Stahlindustrie nicht abgeneigt, sich nach den guten Erfah-rungen der dreißiger Jahre erneut an einer Kartellierung des europäischen Stahl-marktes zu beteiligen. Aber in einem wichtigen Punkt unterschied sich die zu gründende Montanunion von der Rohstahlgemeinschaft der Vorkriegszeit.10 Die in Luxemburg etablierte supranationale Hohe Behörde sollte den Primat der Politik gegenüber den partikularen Interessen der Schwerindustrie durchsetzen. Für die britische Industrie musste es aber unter den Bedingungen der fünfziger Jahre ganz unannehmbar erscheinen, autonome unternehmerische Entscheidun-gen einer europäischen Behörde unterzuordnen. Das Problem der Souveränitäts-übertragung auf eine ausländische Exekutive warf in Großbritannien nicht nur grundsätzliche Verfassungsfragen auf. Der Konservative Harold Macmillan

9 UN Economic Commission for Europe: Economic Survey of Europe since the War, Genf, 1953, 228. 10 Zur Kontinuität des Kartelldenkens s. Gillingham, J.: Coal, Steel and the Rebirth of Europe, 1945-1955:

The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge, 1991.

Page 9: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

6

erklärte im August 1950 vor der Beratenden Versammlung des Europarates un-umwunden: „Eines ist sicher, und wir sollten uns deshalb darüber im Klaren sein: Unsere Leute werden keiner supranationalen Behörde das Recht übertragen, unsere Gruben oder Stahlwerke zu schließen.“11

In dieser Bürokratie musste notwendigerweise der kontinentale Einfluss über-wiegen, selbst wenn die personelle Repräsentanz in den Gremien nach den Pro-duktionsquoten bemessen worden wäre. Daran war aber nicht zu denken, weil eine solche Regelung auch Deutschlands Position im Vergleich zu den anderen Mitgliedsländern über das politisch zumutbare Maß hinaus gestärkt hätte. Lon-don sah also keinen Grund, sich an einem schwerindustriellen Kartell zu beteili-gen, das notwendigerweise mit den politischen Kosten der deutschen Frage be-lastet war. 1952 war es, bei aller formalen Gleichheit der Vertragspartner, vor allem Westdeutschland gewesen, das auf nationale Verfügungsrechte von Ge-wicht verzichten musste. Erst als im Laufe der fünfziger Jahre die Bedeutung der Montanwirtschaft für die Länder der Gemeinschaft zurücktrat und sich die Dau-erhaftigkeit der westeuropäischen Nachkriegsordnung erwies, verloren die dis-kriminierenden Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses für alle Be-teiligten an Gewicht.

3. Funktionalistische versus realistische Integration

Gerade im Zusammenhang mit der Praxis und Zielsetzung des supranationalen Status der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gewann der Begriff der Integration funktionale Bedeutung im Prozess der Überwindung des Natio-nalstaatsprinzips und der Anreicherung eigener europäischer Souveränität. Weil die Befürworter und Praktiker eines vereinigten Europas das Beharrungsvermö-gen nationalstaatlichen Denkens fürchten mussten, sahen sie in einem handlungs-theoretischen Ansatz die Chance einer allmählichen, schrittweise Annäherung an eine souveräne europäische Gemeinschaft, ohne dass es dazu vorab großer Grundsatzentscheidungen bedurft hätte. Sowohl die Europapolitiker der ersten Stunde als auch die Anhänger der funktionalistischen Theorie viele Jahre später setzten auf die Karte des funktionalen, in gewisser Weise subversiven Födera-lismus, der von ersten, kleinen Schritten ausgehend, schließlich zum Ziel der europäischen Souveränität gelangen würde. Auf die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl folgten deshalb die Entwürfe weiterer Pläne für eine sektora-

11 Zit. bei Warner, G.: Die britische Labour-Regierung und die Einheit Westeuropas 1949-1951, in: Viertel-

jahrshefte für Zeitgeschichte, 28 (1980), 322, 324.

Page 10: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 7

le Integration der europäischen Landwirtschaft, des Transportwesens und der Energiewirtschaft. Pläne für eine europäische Armee samt Rüstungsgemeinschaft und politischer Union (EPU) schlugen sich 1952 im Vertrag über die Europäi-sche Verteidigungsgemeinschaft (EVG) nieder. Europapolitiker der ersten Stun-de wie Dirk Stikker oder Paul-Henri Spaak vermieden so den frontalen Angriff auf den Nationalstaat, wie ihn die Föderalisten führten,12 weil sie ihm keine Er-folgschancen einräumten.13 Das Verhältnis der Funktionalisten – und damit der europäischen Funktionseliten – zu ihrem Souverän war daher von Anfang an gestört. Sie hatten demokratische Partizipation zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Die Politikwissenschaft lieferte später eine theoretische Rechtferti-gung für diese Salamitaktik der frühen Europapolitik. Ernst B. Haas, der Be-gründer der funktionalistischen Theorie,14 sah in der Zwangsläufigkeit technolo-gischer Entwicklungsprozesse den Treibstoff und in der Logik des Marktes den Motor der Integration: Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung musste nach seiner Überzeugung früher oder später auch zur politischen Einheit führen. Anhänger der funktionalistischen Theorie haben dabei die von ihnen angestrebte supranationale Praxis der Europapolitik keineswegs naiv als eine entpolitisierte Form technischer Entscheidungsfindung verstanden. Vielmehr schätzten sie an ihr in erster Linie den spill over auf das politische Verhalten zur Realisierung politischer Interessen: „The supra-national style stresses the indirect penetration of the political by way of the economic because the purely economic decisions always acquire political significance in the minds of the participants.”15

Der funktionalistische Ansatz hatte sich bewusst über eine realistische Betrach-tung der Determinanten internationaler Politik hinweggesetzt, indem er die Tren-nung zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre aufhob und im Gegenteil gerade in der List des principle of the hiding hand (Albert O. Hirschman) pluralistischer Wirtschaftsinteressen das Charakteristikum des sup-ranationalen Stils des westeuropäischen Integrationsprozesses sah. Die von Hans Morgenthau begründete realistische Schule in der Wissenschaft von der Politik hatte auf dieser Trennung noch ausdrücklich bestanden und das Bewegungsge-

12 Siehe dazu Macmahon, A. W. (Hrsg.): Federalism – Mature and Emergent, New York, 1955. 13 Spaak, P.-H.: The Integration of Europe: Dreams and Realities, in: Foreign Affairs, October 1950, 97; Stikker,

D. N.: The Functional Approach to European Integration, in: Foreign Affairs, April 1951, 440. 14 Haas, E. B.: The Uniting of Europe: Political, Economic and Social Forces, 1950-1957, Stanford, 1958; ders.,

Beyond the Nation-State: Functionalism and International Organisation, Stanford, 1964. 15 Ders.: Technocracy, Pluralism and the New Europe, in: Graubard, S. R. (Hrsg.): A New Europe?, Boston,

1964, 65.

Page 11: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

8

setz internationaler Politik hauptsächlich mit der Machtfrage verknüpft. Diese sei nicht nur eng mit der menschlichen Natur verbunden, sondern mache auch die Ratio des Nationalstaates aus.16 Alle Politik spitze sich deshalb auf die Frage zu: „How does this policy effect the power of the nation?“ Dagegen geht die funkti-onalistische Theorie implizit vom „Ende der Ideologien“ aus, zu deren zentralem Bestand sie die Phänomene „Nationalstaat“ und „Nationalismus“ rechnet.17 Die neorealistische Schule, die den Morgenthauschen Ansatz von seinen anthropolo-gischen Prämissen befreit hat, erscheint diese Annahme dagegen zumindest voreilig, wenn nicht gar grundsätzlich falsch. Sie sieht daher in den Handlungen von Staaten weder das Ergebnis einer Politik der abstrakten Ethik und der guten Absichten, noch die implizite Folge funktionalistisch-technologischer Sach-zwänge, sondern eine von realen Interessenlagen geprägte rationale Politik der Ressourcenmaximierung, die darauf abzielt, in einem anarchischen internationa-len System Macht auszubauen oder zu bewahren.18 Die politische Praxis der Integration war freilich von wirtschaftlicher Rhetorik dominiert, mit der Europa-politiker die Zwangsläufigkeit des Integrationsprozesses im Übergang von der nationalen zur supranationalen Ebene suggerierten. Das war und ist politisch bequem: Integration wurde den Europäern scheibchenweise abgerungen, so dass bis auf wenige Ausnahmen keine Entscheidung des Souveräns nötig war, um den Integrationsprozess voranzubringen.

III. Supranationalität – eine Episode

1. Die unbehagliche Vereinsamung der Hohen Behörde

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war wirtschaftlich erfolg-reich genug, um in vieler Hinsicht ein Modell für die Integration weiterer Sekto-ren des westeuropäischen Marktes zu werden. Schon in der Erklärung vom 5. Mai 1950, mit der Robert Schuman seinen Plan einer überraschten Öffentlich-keit vorgestellt hatte, wurde dieses Ziel ins Auge gefasst: „Das Zusammenlegen der Kohle- und Stahlerzeugung wird zwangsläufig zur ersten Etappe des europäi-schen Staatenbundes, der sofortigen Schaffung gemeinsamer Grundlagen für den

16 Morgenthau, H. J./Thompson, K. W.: Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace (1948), 6.

Aufl., New York, 1985, 13f. 17 Haas, E. B.: Uniting, a.a.O, XIV. 18 Shimko, K. L.: Realism, Neorealism, and American Liberalism, in: Review of Politics, 54 (1992), 281-301.

Page 12: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 9

Ausbau der Wirtschaft [...].“19 Der Prozess der europäischen Integration, der politischen wie der wirtschaftlichen, blieb aber nicht ohne Rückschläge und Stockungen, insbesondere nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungs-gemeinschaft. Der EVG-Vertrag sah zwar wie die Montanunion ein supranatio-nales Regime vor und erleichterte den partiellen Souveränitätsverzicht durch die strukturelle Diskriminierung des deutschen Partners.20 Anders als in der Mon-tanwirtschaft trafen bestimmte Beschränkungen der politischen Handlungsfrei-heit jedoch gerade auch Frankreich, wie z. B. beim Besitz von spaltbarem Mate-rial zum Bau von Atomwaffen, die schließlich im August 1954 die Ratifizierung des EVG-Vertrages in der französischen Nationalversammlung scheitern ließen. Zuvor hatte sich schon gezeigt, dass der supranationale Anspruch der Luxem-burger Hohen Behörde, so groß er im Prinzip auch war, seine Grenzen in der ungebrochenen wirtschaftlichen Prärogative der Nationalstaaten fand. Die EGKS hatte von ihren vertraglichen Befugnissen daher nur sehr sparsam Gebrauch machen können. Im August 1954, als die französische Nationalversammlung das EVG-Projekt ablehnte, geriet die Montanunion vollends in eine Position der unbehaglichen Vereinsamung. Sie fand ihren sichtbaren Ausdruck in der Resig-nation ihres ersten Präsidenten und eigentlichen Architekten, Jean Monnet, den Paris zur persona non grata erklärte.21 Als ein neuer Anlauf 1957 zum Abschluss der Römischen Verträge führte, fielen die integrationspolitischen Zielsetzungen deutlich bescheidener aus. Die beteiligten Regierungen waren nun nicht mehr bereit, nationale Souveränitätsrechte nach dem Muster der Montanunion auf eine supranationale Behörde zu übertragen. Zur Debatte stand eine Vertragsgemein-schaft souveräner Staaten, die noch dazu fest entschlossen waren, „dauerhaft die Herren der Verträge“ zu bleiben.22

Nach dem EVG-Debakel diente der Plan des niederländischen Außenminister Willem Beyen dem Versuch einer relance européenne als Grundlage. Auf der Konferenz von Messina im Juni 1955 bekräftigten die sechs Staaten der Montan-

19 Bundesanzeiger 120 vom 26.6.1951, 8. 20 Den Deutschen oblag zwar der Löwenanteil der Finanzierung, doch sollte die Rüstungsproduktion nur

westlich einer „Pulverlinie“ vom Rhein zum Bodensee erlaubt sein. Zum Scheitern der EVG siehe aus-führlicher Abelshauser, W.: Wirtschaft und Rüstung in den Fünfziger Jahren, München, 2001, 25-36, auch erschienen als ders.: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. v. Militärge-schichtlichen Forschungsamt, Bd. 4/1, 2001.

21 Aufzeichnung über die Besprechung zwischen Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer und Herrn Außenmi-nister Pinay am 29. April 1955, Auswärtiges Amt/Politisches Archiv (AA/PA), B 2 (Büro Staatssekre-tär), Bd. 87, betr. Aufzeichnungen des Bundeskanzlers, Bd. II.

22 So die richtige Einschätzung des BVerfG (a.a.O., Abs. 231).

Page 13: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

10

union grundsätzlich ihre Absicht, die Möglichkeit der Gründung einer europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft auszuloten. Noch im Oktober 1956 ging die Außenministerkonferenz der Sechs in Paris aber nach mehreren Verhandlungs-runden auseinander, ohne zu einer Entscheidung in Sachen westeuropäischer Zollunion zu kommen. Aus deutscher Sicht scheiterte die Konferenz, weil wegen „unüberwindliche[r] Gegensätze […] kein weiterer wesentlicher Fortschritt“ zu erwarten war.23 Es waren vor allem die Interessenvertreter der deutschen und französischen Wirtschaft, die dem neuen Anlauf skeptisch gegenüber standen.24 Frankreichs Industrie fühlte sich noch nicht stark genug, um im Wettbewerb mit ihrem deutschen Konkurrenten auf einem gemeinsamen Binnenmarkt zu beste-hen. Wichtige deutsche Exporteure befürchteten höhere Außenzölle, die ihrem Geschäft mit den außenstehenden Handelsnationen abträglich gewesen wären. Noch immer übertraf der Anteil dieser Märkte am Gesamtexport den geplanten Binnenhandel mit den fünf Staaten der Montanunion.

2. Der Primat der hohen Politik

Zwei Ereignisse des Jahres 1956, der amerikanische Radford-Plan und die bünd-nispolitische Doppelkrise von Suez und Budapest, machten jedoch jedes wirt-schaftliche Kalkül zur Makulatur und unterwarfen den weiteren Gang der euro-päischen Integration dem Primat der hohen Politik. Es stand in der Tat mehr auf dem Spiel als wirtschaftliche Interessen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten waren seit 1955 insgeheim dabei, über die Köpfe der Europäer hinweg in der NATO eine neue militärische Strategie durchzusetzen, die den Lebensinte-ressen Deutschlands und Frankreichs diametral zuwiderlief. Die neue strategi-sche Planung des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der amerikanischen Streitkräfte, Admiral Arthur W. Radford, beruhte nicht zuletzt auf Überlegungen zu einer kostengünstigen Verteidigungswirtschaft. Der Plan zog die wirtschaftli-chen und strategischen Konsequenzen aus dem New Look für die US-Militärstrategie für Europa, der sich unter dem Eindruck neuer, auf dem Ge-fechtsfeld einsetzbarer nuklearer Waffen seit Beginn der Eisenhowerschen Präsi-dentschaft entwickelt hatte. Der Plan, die auf dem Kontinent stationierten anglo-amerikanischen Streitkräfte zugunsten atomarer Feuerkraft massiv zu reduzieren,

23 AA/PA, Aufzeichnung des Ministerialdirigenten Dr. Carstens, Bonn, den 29. Oktober 1956, Bestand B

2, Bd. 203. 24 Vgl. dazu Rhenisch, T.: Europäische Integration und industrielles Interesse. Die deutsche Industrie und

die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Stuttgart, 1999.

Page 14: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 11

ließ sich auf die Alternative thermo-nuclear bomb or nothing verkürzen und musste daher katastrophale Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Lage Europas haben.25 Vor allem erschütterte es das Vertrauensverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und ihren kontinentaleuropäischen Verbündeten.

Die sich zuspitzende sicherheitspolitische Lage ließ die Europäer im Herbst 1956 noch enger zusammenrücken. Frankreich musste ebenso wie Großbritannien die bittere Erfahrung machen, wie eng europäischen Mächten die Grenzen nationaler Handlungsfähigkeit gezogen waren. Vor allem aber zeigte die Haltung der USA in der Suezkrise, dass es auch in fundamentalen Machtfragen zu offenen Kon-flikten innerhalb des Bündnisses kommen konnte und die Europäer dann in völ-liger Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten standen.26 Frankreich und Groß-britannien, die mit Unterstützung Israels die Eigentumsrechte der Suezkanal-Aktionäre gegen ägyptische Nationalisierungspläne verteidigen wollten, wurden nicht von Ägypten oder dessen Verbündetem, der Sowjetunion, zum militäri-schen Rückzug gezwungen, sondern von den USA. Frankreich sah sich durch diese Erfahrung nur noch in seiner auf nationale Unabhängigkeit zielenden Au-ßenpolitik bestätigt. Sie verstärkte zugleich aber auch die auf anderen Gebieten schon früher gewonnene Einsicht, dass nationale Unabhängigkeit nur in der Kooperation mit anderen europäischen Staaten – wenn auch möglichst unter der Führung Frankreichs – erhalten werden konnte.27 Im Mittelpunkt der Überlegun-gen, die die Suezkrise bei den betroffenen europäischen Regierungen ausgelöst hatte, stand die jeweilige Haltung zur Frage der Atomwaffen. In Frankreich wur-de die schon vom Kabinett Mendès France getroffene Entscheidung, mit oder ohne amerikanische oder britische Hilfestellung Atommacht zu werden, bestärkt und nach neuen Wegen gesucht, Entwicklung und Herstellung der neuen Waffen in ein Konzept der europäischen Integration einzufügen. Aber auch die Bundes-regierung war Ende 1956 fest entschlossen, früher oder später Atomwaffen in Deutschland herzustellen.28

25 Abelshauser, W.: Wirtschaft und Rüstung, a.a.O., Kap. III. 26 Zu den Krisen von Suez und Budapest siehe Thoß, B.: Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur WEU

und NATO im Spannungsfeld von Blockbildung und Entspannung (1954-1956), in: Ehlert, H. et al. (Hrsg.): Die NATO-Option, München, 1993, 224-231.

27 Zur Dialektik von Nationalstaat und europäischer Integration s. vor allem Milward, A. S.: The European Rescue of the Nation-State, London ,1992.

28 Beschluss des Bundeskabinetts vom 21. Dezember 1956 (geheim), Bundesarchiv-Militärarchiv, BW 1/48957, Bd. 2, p. 389.

Page 15: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

12

IV. Eine Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten

Die Lösung dieser sicherheitspolitischen Probleme machten eine relance euro-péenne möglich – auch gegen handfeste wirtschaftliche Interessen. Dabei waren es nicht allein die zollpolitischen Bedenken der Industrie, die überwunden wer-den mussten. Auch Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard leistete Wider-stand gegen eine kleineuropäische Präferenzzone. Für ihn drohten die von Frank-reich geforderten Privilegien, wie das Recht auf Vertragsrevision im Übergang von der ersten zur zweiten Etappe, die vorübergehende Beibehaltung der Aus-fuhrbeihilfen und Einfuhrabgaben, die Schutzklauseln im Falle von Zahlungsbi-lanzschwierigkeiten oder die Einbeziehungen der überseeischen Gebiete, die Probleme der übrigen Mitglieder in einer „kaum erträglichen Weise [zu] ver-schärfen,“ so dass ihm der ganze Vertrag „unbillig und nicht annehmbar“ er-schien.29 Das Bundeswirtschaftsministerium folgte lieber einer Vorstellung von wirtschaftlicher Integration, die „in Gestalt einer immer weiter fortschreitenden Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, einem Abbau der Zölle sowie anderer protektionistischer Schranken, also OEEC-gemäß fort-schreiten wird.“ Aus dieser Perspektive musste die „Integration“ der Sechs tat-sächlich „eine Insel der Desintegration in einer mittlerweile freier gewordenen Welt“ werden. Deutschland wäre dann, wie es Erhard im September 1956 Bun-deskanzler Konrad Adenauer darlegte, in seiner Freizügigkeit gehemmt und in seinen lebenswichtigen Verbindungen zu den übrigen Weltmächten durch die drückende Ehe mit dem protektionistischen Frankreich gefährdet.30

Das Auswärtige Amt (AA) und mit ihm der Bundeskanzler teilten diesen „wirt-schaftlichen Welteroberungsplan des Bundeswirtschaftsministers“ nicht.31 Ade-nauer musste Erhard unter ausdrücklichem Einsatz seiner Richtlinienkompetenz im Januar 1956 sogar anweisen, sich an die Entscheidung von Messina zu halten. Das AA hielt Erhard den Primat der Politik entgegen, „weil ein derart ungestü-mer weit auslaufender Vorstoß in den freien Raum einmal eine Grenze finden muss, sei es an einer Wirtschaftskrise oder sonstigen Erschütterungen.“ Bestand habe nur, „was politisch organisiert ist.“ Angesichts der drohenden Blockade der wirtschaftlichen Integrationspolitik durch hochgesteckte gegenseitige Forderun-gen und einseitige Schutzklauseln, die scheinbar aus wirtschaftlichen Sachzwän-gen resultierten, bestand das Auswärtige Amt auf der Forderung, dass die euro-

29 Kabinettsvorlage für die Sitzung am 4. Oktober 1956, AA/PA, B 2, Bd. 155, betr. gemeinsamer Markt. 30 Erhard an Adenauer am 25. September 1956, zit. ebenda. 31 Kabinettsvorlage, a.a.O.

Page 16: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 13

päische Wirtschaftsintegration „im gegenwärtigen Stadium noch in einer rein politischen Sphäre stehe und daher als Politikum betrachtet werden müsse.“ Für einen wirtschaftlich induzierten Integrationsprozess, wie ihn der funktionalisti-sche Ansatz unterstellt, bleibt da kein Raum.

Wirtschaftliche Anreize, wenn es sie denn gab, waren zwar notwendige Voraus-setzungen, um den Plan einer westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft über-haupt auf die Tagesordnung der europäischen Politik zu bringen, hinreichend für seine Umsetzung in konkrete Verträge waren sie aber nicht. Erst als die Doppel-krise von Suez und Budapest vor dem Hintergrund der Radford-Affäre ein deut-liches Signal deutsch-französischer Gemeinsamkeit in der Europapolitik erfor-derlich zu machen schien und rasch nach einem Rahmen für einen neuen Anlauf in der Rüstungskooperation gesucht wurde, spielten wirtschaftliche Bedenken keine große Rolle mehr. Adenauer und der französische Ministerpräsident Guy Mollet setzten sich über die Einwände ihrer Experten souverän hinweg und nutz-ten den Plan einer Zollunion und Wirtschaftsgemeinschaft als Vehikel umfas-sender europapolitischer Visionen, die nicht zuletzt auch die Rüstungskooperati-on einschlossen.32 Damit waren es sicherheitspolitische Motive und gerade nicht wirtschaftliche Sachzwänge des Binnenmarktes, die die Entscheidung herbei-führten, die schließlich den Abschluss der Römischen Verträge ermöglichte.

V. Das währungspolitische Dilemma

1. Nach Bretton Woods

Zu den Desiderata der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zählte von Anfang an eine gemeinsame Währungspolitik. Außer der Gründung eines Währungsaus-schusses im März 1958 und des Ausschusses der Zentralbankgouverneure 1964 geschah jedoch auf diesem Gebiet sehr wenig. Eine Initiative für eine dreistufige Währungsunion bis 1971, die der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein 1962 angestoßen hatte, verlief im Sande. Ähnlich erging es dem Plan des luxem-burgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner, der angesichts wachsender Tur-bulenzen auf den internationalen Devisenmärkten 1970 die stufenweise Einfüh-rung der Wirtschafts- und Währungsunion bis 1980 vorsah. Schon zu Beginn dieser Periode war aber abzusehen, dass das hochgesteckte Ziel einer politischen

32 Aufzeichnung vom 31. Oktober 1956 betr. Gespräch zwischen Bundeskanzler Adenauer und Minister-

präsident Guy Mollet am 6. November 1956, AA/PA, B 2, Bd. 203.

Page 17: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

14

Union, das Werner in der dritten Stufe erreichen wollte, nicht realisierbar war. Der Plan sah nicht nur ein europäisches Zentralbanksystem vor, sondern auch ein gemeinsames wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium, das dem Europäi-schen Parlament verantwortlich sein sollte.33 Während die deutsche Seite dies für unverzichtbar hielt, war Frankreich nicht bereit, den EWG-Vertrag in dieser Richtung zu erweitern. Bald nach der Verabschiedung der ersten Stufe des Wer-ner-Plans überschlugen sich aber die Ereignisse auf dem internationalen Wäh-rungsparkett und stellten die Europäer vor große Herausforderungen. Im Mai 1971 hob die Bundesregierung die bestehende Parität der D-Mark zum Dollar auf, ohne die französische Regierung zuvor zu konsultieren. Im August mussten die USA die Goldbindung des Dollars aufgeben, weil es ihnen immer schwerer fiel, den Verpflichtungen aus dem Bretton-Woods-Abkommen von 1944 nach-zukommen.34 Die Europäer verabredeten zur Stabilisierung ihrer Handelsbezie-hungen für die Paritäten ihrer eigenen Währungen im März 1972 eine enge Schwankungsbreite von ± 2,25 %. Dieser Regelung, dem Europäischen Wech-selkursverbund, schlossen sich auch die designierten neuen Mitglieder der EG, Dänemark, Großbritannien und Irland an. Damit hatten die Europäer einen wich-tigen ersten Schritt zur währungspolitischen Emanzipation von den Vereinigten Staaten gemacht.

Die Funktionsfähigkeit dieser Absprachen beruhte freilich auf einem Grundkon-sens monetärer Disziplin, der in den siebziger Jahren nicht leicht zu finden war. Noch immer beharrten die meisten Staaten auf der keynesianischen Vorstellung, Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit nicht zuletzt mit den Instrumenten der Geld- und Währungspolitik zu bekämpfen. Vor die Wahl gestellt, entweder die Wechselkursstabilität auf Kosten der konjunkturpolitischen Handlungsfähigkeit des Nationalstaats zu stärken oder weiterhin selbstständige Beschäftigungspolitik betreiben zu können, entschieden sich die meisten Mitgliedstaaten der EG für die Autonomie nationaler Wirtschaftspolitik. Großbritannien und Irland schieden deshalb schon im Sommer 1972 wieder aus dem Verbund aus. Der Druck auf die

33 Report to the Council and the Commission on the Realization by stages of Economic and Monetary

Union in the Community (Werner-Report), in: Bulletin of the European Communities, Supplement II, Luxembourg, October 1970.

34 In Bretton Woods (New Hampshire/USA) legten die USA (Harry D. White) und Großbritannien (John M. Keynes) auf einer Konferenz der „Vereinten Nationen“ die Grundzüge einer neuen Weltwirtschafts- und Währungsordnung fest. Daraus ging 1945 der Internationale Währungsfonds hervor, der die Stabili-tät fester, auf den Dollar bezogener Wechselkurse garantieren sollte. Kern der neuen Ordnung war die freie Gold-Konvertibilität des Dollar, die schon 1934 im Gold-Reserve-Act der USA festgelegt worden war.

Page 18: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 15

europäische „Währungsschlange“ nahm noch zu, als die USA im Februar 1973 den Dollar um weitere 10 % abwerteten und zu freien, nach Angebot und Nach-frage schwankenden Wechselkursen (floating) übergingen. Jetzt war der Wech-selkursverbund auf sich allein gestellt und ebenfalls zum „Gruppen-Floating“ seiner verbundenen Währungen gezwungen. Wegen der negativen Auswirkun-gen der Ölpreiskrise auf die Arbeitsmärkte waren die Bedingungen für eine dis-ziplinierte Währungspolitik seiner Mitglieder nicht gerade günstig. De facto übernahm stattdessen die Deutsche Bundesbank allmählich die Rolle eines zent-ralen währungspolitischen Akteurs in Europa, dessen Entscheidung sich andere europäische Zentralbanken – nicht immer freiwillig – von Fall zu Fall anschlos-sen. Dem entsprach die Entwicklung der Deutschen Mark zu einer Ankerwäh-rung der Gemeinschaft. Andere Länder wollten und mussten sich der stabilitäts-orientierten Führung der Deutschen Bundesbank nicht anschließen, so dass Ende 1978 der D-Mark-Block aus Westdeutschland, Dänemark und den Beneluxstaa-ten allein in der selbst auferlegten europäischen Währungsdisziplin verharrte,35 während sich die Währungen der übrigen EG-Mitglieder frei am Markt beweg-ten. Über die Tatsache der währungspolitischen Spaltung hinaus wuchs damit auch die Gefahr eines Scheiterns der Gemeinschaft.

2. Das Europäische Währungssystem

Bundeskanzler Helmut Schmidt suchte daher nach verlässlichen Partnern, um in Europa eine Zone der Währungssicherheit zu schaffen, die dem fragilen Europäi-schen Wechselkursverbund mehr Halt und Perspektive geben und die währungs-politische Spaltung der europäischen Gemeinschaft überwinden sollte. Schon kurz vor dem Beginn seiner Kanzlerschaft war Schmidt fest davon überzeugt, dass „die Schaffung und Anwendung gleicher ökonomischer Instrumentarien für eine Wirtschaftsunion“ auf längere Sicht unerlässlich bleibe.36 Zugleich überwog aber seine Skepsis hinsichtlich der Machbarkeit einer weiteren „supranationalen Koordination der ökonomischen Politiken.“ Italien und England sah er nicht dazu in der Lage, Frankreich nicht willens. Theoretisch hielt er es zwar für denk-bar, „dass unter Angebot sehr hoher deutscher Opfer (volle Bereitstellung und Hingabe unserer Währungsreserven, hohe finanzielle Beiträge unter Inkaufnah-

35 Österreich, das der EG nicht angehörte, verhielt sich ebenfalls konform. 36 Schmidt, H.: Exposee zur aktuellen ökonomischen Problematik unter dem Gesichtspunkt ihrer außen-

wirtschaftlichen Bedingtheiten. 15. April 1974 (amtlich geheimgehalten). Archiv der sozialen Demokra-tie (AdsD), Depositum Matthöfer (DM) 014.

Page 19: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

16

me von Reallohn-Einbußen in der BRD, Aufgabe des Preisstabilitätszieles) in den anderen EG-Hauptstädten neue Regierungen oder Regierungspersonen von der Notwendigkeit zum Sprung ins kalte Wasser überzeugt werden könnten.“ Ein Fehlschlag einer solchen waghalsigen zweiten Stufe erschien Schmidt jedoch wahrscheinlicher als ihr Erfolg.

Der Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS), das 1978 auf der Bremer Ratstagung zwischen Schmidt und dem französischen Präsidenten Valery Giscard d´Estaing verabredet wurde und im Frühjahr 1979 in Kraft trat, kam deswegen vor allem politische Bedeutung zu. Es galt, ein Auseinanderdriften der Gemeinschaft abzuwenden und neuen Elan in die europäische Integrationsbewe-gung zu bringen. Wirtschaftlich gesehen beeindruckte das EWS weniger. Im Prinzip blieb nämlich währungspolitisch alles beim Alten; von einer Währungs-union war nicht mehr die Rede. Dies wäre angesichts der anhaltenden Unsicher-heit und Instabilität des europäischen Währungsverbunds auch nicht angemessen gewesen. Allein bis 1983 kam es zu sieben Leitkursanpassungsrunden mit 21 Auf- und Abwertungen beteiligter Währungen, darunter vier Aufwertungen der D-Mark und drei Abwertungen des französischen Francs.37 Dann trat im Prinzip eine Trendwende ein, ohne dass dies auch schon ein Ende der währungspoliti-schen Unsicherheit bedeutet hätte.

3. Die monetaristische Wende

Der entscheidende Impuls zur Implementierung des neuen, monetaristischen Paradigmas in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ging von den USA aus. Nach der Inauguration des Republikaners Ronald Reagan im Januar 1981 kam es zu einer umfassenden Neuorientierung der amerikanischen Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik. Reagan folgte konsequent den Ratschlägen der Chicagoer Schule Milton Friedmans und stellt die Geldpolitik auf eine monetaristische Basis. Dies setzte eine völlige Abkehr von interventionistischen Praktiken an den Devisen-märkten voraus, nach der Devise: „control the money supply, and everything else will fall into place.“ Gleichzeitig vollzog die neue Administration eine strikte Wende hin zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Auf dem Weltwirt-schaftsgipfel der G7 in Ottawa (1981) machte der neue US-Präsident deshalb unmissverständlich klar, „dass traditionelle keynesianische Rezepte nicht weiter-

37 Deutsche Bundesbank: Internationale Organisationen und Gremien im Bereich von Währung und

Wirtschaft (Sonderdrucke der Deutschen Bundesbank 3), 5. Aufl., Frankfurt/M., 1997, 120f.

Page 20: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 17

helfen“.38 Vor dem Wirtschaftsgipfel hatte der kanadische Premierminister Pier-re Trudeau in seiner Rolle als guter Gastgeber die deutsche Delegation geradezu angefleht, „dass kein ‚öffentlichkeitswirksamer’ Versuch unternommen werde, Präsident Reagan zu isolieren.“39 Neben Schmidt stand vor allem auch Gipfel-Neuling François Mitterrand im Verdacht, den auf internationalem Parkett noch unerfahrenen amerikanischen Präsidenten Mores lehren zu wollen. Tatsächlich stellte sich die befürchtete „6:1 Position“ zu Ungunsten Reagans dann in der Konferenzwirklichkeit auch ein. Isoliert waren am Ende jedoch nicht Reagan und die Vereinigten Staaten, sondern seine sechs Partner, die vergeblich versuch-ten, ihn zu einer pragmatischen Handhabung der US-Wirtschaftspolitik zu bewe-gen. Deutschland und seine wichtigsten Handelspartner mussten erkennen, dass sie im System der Reaganomics nur noch Plätze an der Peripherie einnahmen. Sie würden sich – so die amerikanische Überzeugung – langfristig der Einsicht in die wirtschaftliche Notwendigkeit nicht entziehen können. Jedenfalls änderte Frankreich 1983 seine währungspolitische Strategie. War Paris seit dem Wahl-sieg des Sozialisten Mitterand von 1981 in der Konjunktur- und Beschäftigungs-politik vollends auf politischen Keynesianismus eingeschworen, schloss sich dieselbe Regierung jetzt in einer Grundsatzentscheidung dem eher stabilitätsori-entierten Kurs der Bundesbank an.40 Die neue Prioritätensetzung zog auch ande-re Länder mit sich, so dass es in einer zweiten Phase bis 1987 „nur“ noch fünf Leitkursanpassungen mit 15 neuen nationalen Wechselkursen gab und damit eine gewisse Konsolidierung des Systems.

Nach 1987 trat das EWS in eine entscheidende Phase, in der Leitkursanpassun-gen kaum noch notwendig wurden und – wenn überhaupt – lediglich für das System weniger wichtige klassische südeuropäische Weichwährungen betrafen. 1990 trat auch Großbritannien dem EWS bei. Optimismus machte sich breit, ließ Insider von einem „regime of frozen parities“ sprechen41 und weckte im Publi-kum die Illusion einer de facto bereits bestehenden Währungsunion. Tatsächlich war der Einsatz der nationalen Geld- und Währungspolitik zur Überwindung von Konjunktur- und Arbeitsmarktproblemen in den meisten Mitgliedsstaaten seit

38 Vermerk über das Gesprächs des Bundeskanzlers mit Präsident Reagan am 19. Juli 1981 in Montebello,

Montebello, den 20. Juli 1981, AdsD, DM 031. 39 Vermerk betr. Arbeitsessen auf Einladung Premierminister Trudeaus am Freitag, den 17. Juli 1981,

Montebello, den 19. Juli 1981, AdsD, DM 031. 40 Ungerer, H.: The EMS 1979-1990: Policies – Evolution – Outlook, in: Konjunkturpolitik 36 (1990),

329-362. 41 Bank of International Settlements: Annual Report 1993, 7.

Page 21: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

18

Jahren aus der Mode gekommen. Monetaristische Theorien, die in einer stabilen und langfristig kalkulierbaren Entwicklung der Geldmenge die Grundvorausset-zung für stetiges wirtschaftliches Wachstum sahen, hatten sich an den Universi-täten durchgesetzt und machten sich mit großem Erfolg auf den Weg durch die Institutionen. Sie etablierten auch dort, wo Geldwertstabilität bis dahin nicht im Rang eines wirtschaftspolitischen Leitziels gestanden hatte, neue Spielregeln der Geldpolitik. Begünstigt wurde dieser Ausbruch neuer Denkweisen aus dem El-fenbeinturm der Wirtschaftswissenschaft in die Welt der Banker und Politiker durch das offensichtliche Versagen der vertrauten keynesianischen Rezepte. Seit den Ölpreiskrisen der siebziger Jahre blieben kreditfinanzierte staatliche Ausga-benstöße in den Wirtschaftskreislauf auf dem Arbeitsmarkt nicht nur weitgehend wirkungslos, sondern verringerten über ihre Verschuldungswirkung auch drama-tisch den Handlungsspielraum der nationalen Wirtschaftspolitik. In dem Maße, in dem die Globalsteuerung der Nachfrage versagte, verlagerte die staatliche Wirtschaftspolitik nun ihr Einsatzgebiet auf die Angebotsseite. Geldwert- und Währungsstabilität, bisher zumeist der Arbeitsmarktpolitik nachgeordnet, gerie-ten nun in den Ruf unverzichtbarer Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns, die der Staat bereitstellen musste. Eine neue Institution war geboren, neue Spielregeln durchgesetzt und damit erstmals realistische Grundlagen ge-schaffen, um einen Erfolg versprechenden Plan einer europäischen Währungs-union zu verfolgen. Insoweit verdankt der Euro seinen Aufstieg zur westeuropäi-schen Gemeinschaftswährung der kollektiven Abkehr von den Prinzipien keynesianischer Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik.

VI. It’s not the economy, stupid!

1. Ein lockerer Verbund globaler Akteure

Der Bericht, den der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der Konferenz der EU-Regierungschefs in Maastricht vorlegte, machte sich die-sen Wandel der wirtschaftspolitischen Landschaft zu Nutzen. Neben der Einfüh-rung der Unionsbürgerschaft, der Gründung von Regionalausschüssen, der Stär-kung des Subsidiaritätsprinzips im Verhältnis von Union und Nationalstaaten und der Institutionalisierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit stan-den Währungsfragen und die Entwicklung eines Systems europäischer Zentral-banken im Vordergrund. Der Vertrag von Maastricht ging im Ergebnis aber weit über die Forderung nach der Vollendung des Binnenmarktes hinaus. Er öffnete

Page 22: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 19

die Europäische Union dem globalen Wettbewerb, indem er den Mitgliedsstaaten auferlegte, den Kapitalverkehr auch gegenüber Drittstaaten zu liberalisieren. Damit kehrte der internationale Kapitalmarkt in Europa wieder zu dem Zustand zurück, der hier bis 1914 gegolten hatte, als Europa Kern einer offenen, multila-teralen und dynamischen Weltwirtschaft gewesen war. Der Vertrag von Maast-richt war dazu bestimmt, die letzten Hindernisse zu beseitigen, die einer Fortset-zung der Globalisierung der Märkte noch im Wege standen. Er riss aber auch den letzten Damm ein, der die uneingeschränkte und unkontrollierte Herrschaft des globalen Finanzmarktkapitalismus noch verhindern konnte. Damit gab die Euro-päische Union eine Bastion auf, die zum Zeitpunkt der Gründung der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft gerade für die Bundesregierung wichtig gewesen war, um der eigenen Weltmarktorientierung eine sichere Basis zu geben – und eine Fluchtburg im Falle einer Weltwirtschaftskrise. Die umfassende Öffnung des europäischen Binnenmarktes machte aber auch aus funktionalistischer Sicht eine zwangsläufige Hinwendung zur Supranationalität weniger wahrscheinlich. In Maastricht mauserte sich die Union von einer Schutzgemeinschaft nationaler Volkswirtschaften zu einem lockeren Verbund globaler Akteure, der die offene Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Wettbewerber nicht länger scheuen wollte, ohne freilich die eigenen, europäischen Interessen und Spielregeln auf dem Weltmarkt zu definieren.

Die Idee, Westeuropa eine gemeinsame Währung zu stiften, die dem Dollar in allen Funktionen einer Leitwährung Paroli bieten konnte, passte folgerichtig in diesen Rahmen. Es wäre dafür nicht zwingend notwendig gewesen, die Deutsche Bundesbank zu entmachten, die schon bisher – mit wechselndem Erfolg – auf die Einhaltung der Spielregeln für eine einheitliche Geld- und Wechselkurspolitik gedrungen hatte. Vor 1914 oblag diese Aufgabe der Bank of England, ohne dass dies von den Teilnehmern am Goldstandard je in Frage gestellt worden wäre. Allerdings ließ sich die Notenbank des Vereinigten Königreichs ganz von den Notwendigkeiten der globalen Märkte leiten, zumal diese mit den britischen Welthandelsinteressen weitgehend übereinstimmten. Die Bundesbank rückte hingegen nicht selten binnenwirtschaftliche deutsche Interessen in den Vorder-grund, an deren Prärogative sie gesetzlich gebunden war. Dies machte sich nicht zum ersten Mal – aber besonders störend – während des Wiedervereinigungspro-zesses bemerkbar. Nicht alles, was die Frankfurter Zentrale unternahm, um der Bundesrepublik die Finanzierung jenes säkularen Ereignisses zu erleichtern, ließ sich mit den Interessen der europäischen Nachbarn vereinbaren. Paradoxerweise war es aber gerade die Chance der Rückgewinnung gesamtdeutscher Souveräni-

Page 23: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

20

tät, die die Bundesregierung geneigt machte, der französischen Forderung nach Eingliederung der Bundesbank in eine europäische Zentralbank nachzugeben. Wieder war es der deutsche Gulliver, der seine Vormacht in der europäischen Währungspolitik zur Disposition stellte, um sich in Mehrheitsentscheidungen der Zwerge von Frankfurt einbinden zu lassen. Auch als Erklärungsmuster für die Einführung des Euro versagt also der funktionalistische Ansatz: it’s not the eco-nomy, stupid!

2. Rohdiamant Euro

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die großen wissenschaftlichen Kontroversen, die das Zustandekommen der europäischen Währungsunion be-gleitet haben, für die politische Entscheidung kaum eine Rolle spielten. Schlech-te Erfahrungen mit früheren europäischen Währungszusammenschlüssen wurden nicht aufgearbeitet.42 Fragen, ob die Eurozone ein optimaler Währungsraum sei oder der Währungsunion zwingend eine politische Union vorausgehen müsste, blieben offen.43 Die bekannten EU-Konvergenzkriterien von Maastricht und der „Stabilitätspakt“ von Amsterdam sollten das Fehlen eines einheitlichen politi-schen Steuerungswillen wenigstens teilweise kompensieren.44 Die Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Konvergenz des Währungsraums ruhten im Wesentli-chen auf dem monetaristischen Konsens in der Geld- und Konjunkturpolitik, der – wie es schien – das keynesianische Politikmuster dauerhaft abgelöst hatte. Die Sicherheit der Konvergenzkriterien erwies sich rasch als trügerisch, weil zahllose Verstöße und sogar offener Betrug – wie im Fall Griechenland – toleriert wur-den.45 Der 1997 in Amsterdam vereinbarte Sanktionsmechanismus lässt sich im Ernstfall nicht nutzen, weil er gegen souveräne Staaten nur schwer durchzuset-zen ist. Wie der Fall Griechenland zeigt, wäre die Verhängung empfindlicher Geldstrafen, die als ultima ratio bis zu 0,5 % des BIP betragen können, gegen zahlungsunfähige Mitglieder sogar kontraproduktiv. Da ein Ertrinkender nicht

42 Vanthoor, W. F. V.: European Monetary Union Since 1848. A political and historical analysis, Chelten-

ham, 1996. Die erfolgreiche Ausnahme der belgisch-luxemburgischen Wirtschaftsunion (BLEU) bestä-tigt eher diese Regel.

43 De Grauwe, P.: Economics of Monetary Union, 4. Aufl., New York, 2000. Zur klassischen Problemana-lyse siehe Mundell, R.: A Theory of Optimum Currency Areas, in: The American Economic Re-view, 51/4 (1961), 657–665.

44 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt (Amsterdam, 17. Juni 1997), in: Amtsblatt C 236 vom 2.8.1997.

45 Caesar, R./Kösters, W.: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion : Europäische Verfassung versus Maastricher Vertrag, in: Integration, 27/4 (2004), 289-300.

Page 24: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 21

freiwillig die Leinen los lassen wird, wären Ausschlusskriterien nötig, deren Durchsetzung gegenüber souveränen Staaten wiederum schwer vorstellbar ist. Aber auch der zweite institutionelle Pfeiler der Europäischen Währungsunion wankt. Die Rückkehr zu keynesianischen Krisenstrategien stellt die Konvergenz nationaler Stile der Wirtschaftspolitik ebenso in Frage wie die Annäherung der Finanzierungsregeln von Staatsausgaben, der Struktur der nationalen Finanz-märkte oder der Arbeitsmarktpolitik. Damit gelten erneut die Rahmenbedingun-gen, die vor 1987 die Umsetzung des Ziels einer einheitlichen europäischen Währung verhindert haben. Bis dahin hatte der Primat keynesianischer Arbeits-marktstrategien das EWS in einen Taubenschlag verwandelt. Seine Mitglieder kamen und gingen, wie es ihnen konjunkturpolitisch geboten schien. Nachdem dieser Ausweg versperrt ist, müssen sich die Fliehkräfte des europäischen Bin-nenmarktes andere Wege suchen. Gewiss hat der Euro mit seinem Potential als Reservewährung und globaler Liquidität auch das Zeug zu einem notwendigen Requisit europäischer Weltpolitik, doch bleibt er solange ein Rohdiamant, bis ihn die EU in den Dienst einheitlicher Interessen stellen kann.

VII. Europas schwieriges Verhältnis zur Souveränität

1. Status quo minus

Die Anfänge der europäischen Integration enthüllen ein Lehrstück in Machtpoli-tik. Nicht wirtschaftliches Kalkül oder Gewinnmaximierung im engeren wirt-schaftlichen Sinne, sondern rationale Ressourcenmaximierung im Rahmen natio-naler Interessenpolitik gehörte zu den Grundsätzen dieser Politik. Die Römischen Verträge atmeten – wie immer ihre rechtliche Qualität zu beurteilen ist – ausdrück-lich nicht den Geist „supranationaler Verträge“. Dies folgt aus dem Verzicht auf supranationale Herrschaftsstrukturen, über die die Montanunion noch so üppig verfügte. Aber auch die Beteiligten selbst machten keinen Hehl daraus, wie dies Charles de Gaulle gegenüber Adenauer deutlich machte: „Es gäbe heute nur eine supranationale Organisation (Montanunion), die übrigen machten sich dazu. Sie müssten aber […] den Weisungen der Regierungen unterliegen.“46 Dieser intentio-nale Bruch unterstreicht umso mehr den Willen der Beteiligten, eine Vertragsge-meinschaft souveräner Staaten zu bilden. Der demonstrative status quo minus im

46 Ausführungen Präsident de Gaulles in seinen Gesprächen mit Bundeskanzler Dr. Adenauer, 30. Juli

1960, Auszüge aus der Dolmetscheraufzeichnung, Bonn den 12. März 1969, Bundeskanzleramt, VS-B 136/490.

Page 25: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

22

Verhältnis von EWG und EGKS erlaubte es schließlich sogar Großbritannien, die Mitgliedschaft im Brüsseler Club anzustreben. Auch der Vertrag von Maastricht hat die Grenze zu supranationalen Herrschaftsstrukturen in der EU nicht überschritten, wohl aber auf zentralen Politikfeldern perspektivisch überdehnt. Gerade dort wird jetzt der Inspektionseffekt der Weltwirtschaftskrise am deutlichsten spürbar. In vorderster Front steht dabei die Währungsunion. Sie lebte in normalen Zeiten recht gut vom Vertrauen auf die Zwangsläufigkeit marktgesetzlicher Integrationsprozes-se – ganz so wie der funktionalistische Ansatz als ideologisches Schmiermittel den Prozess der europäischen Einigung von Anfang an begleitet und erleichtert hat. Nach der Kriseninspektion kündigt sich jetzt Revisionsbedarf an – auch wenn der Verwerfungseffekt ausbleiben sollte. Dies wird nicht ohne Folgen für das Ganze bleiben. Die Europäische Union vermied, wo immer es möglich war, die Konfronta-tion mit dem Souverän und verschaffte den Mitgliedstaaten größere Handlungsfrei-heit, als sie demokratisch legitimiert war. Der Nationalstaat und seine Westphalian governance haben sich aber resistenter gegenüber supranationalen Surrogaten erwiesen, als dies Theoretiker der europäischen Integration vorhergesagt haben. Dies muss man nicht bedauern, ist doch der europäische Nationalstaat der histo-risch gewachsene Ort politischer Partizipation, rechtlichen Vertrauens, kulturel-ler Autonomie und nicht zuletzt auch wirtschaftlicher Institutionen, die mit der Vielfalt ihrer komparativen Kostenvorteile nach innen und außen in einem pro-duktiven Wettbewerb stehen. Diesen institutionellen Wettbewerb zu fördern und seine kreativsten Angebote für Europa auf dem Weltmarkt zu nutzen, könnte gegenüber supranationalen Einheitsregelungen die bessere Strategie sein.

2. Produktive Ordnungspolitik

Es geht im Kampf der Wirtschaftskulturen um weit mehr als um einen ökono-misch-technologischen Kräftevergleich auf den Märkten. Im Hintergrund steht vielmehr – wie ihre Sprengkraft im Streit um die europäische Verfassung gezeigt hat – die Frage, ob es sich die Europäer erlauben können, nach ihren eigenen Regeln zu leben und zu arbeiten, ohne im globalen Wettbewerb den Kürzeren zu ziehen. Voraussetzung dazu wäre zuvörderst die „Vergemeinschaftung“ jener produktiven Ordnungspolitik, die die Nationalstaaten in der Vergangenheit auch unter Globalisierungsbedingungen mit Erfolg eingesetzt haben, um die spezifi-sche Wettbewerbsfähigkeit ihres jeweiligen Produktionsregimes zu verbessern. Die Eigenheiten des europäischen Wirtschafts- und Sozialsystems auf einen Nenner zu bringen, ist sicher ein hoffnungsloses Unterfangen. Aus der Nähe betrachtet, löst sich der europäische Wirtschaftsraum in ebenso viele varieties of

Page 26: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Werner Abelshauser It’s not the economy, stupid!

ZSE 1/2010 23

capitalism auf, wie es dort historisch divergente Wege in die Moderne gibt. Im Vergleich mit anderen wirtschaftlichen Großräumen lassen sich aber dennoch Gemeinsamkeiten finden, die die komparativen Wettbewerbsvorteile der europä-ischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt ausmachen. Sie sind von Skandinavien bis Norditalien und von der Seine bis an die Oder weit verbreitet und lassen sich in drei organisatorische Besonderheiten zusammenfassen:

• eine technologie- und exportorientierte Kultur der Zusammenarbeit auf Bran-chenebene, für die der Kapitalmarkt mit „geduldigem“ Kapital und Netzwerk-bildung eine langfristige unternehmerische Perspektive ermöglicht, während Staat und Verbände als interessenpolitische Moderatoren auftreten;

• eine große Zahl funktionsfähiger regionaler Cluster von Unternehmen, die durch enge Verflechtung ihrer Lieferbeziehungen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmarktsegmenten für Qualitätsprodukte erhöhen;

• eine dichte, historisch gewachsene Landschaft wirtschaftlicher Institutionen und Spielregeln, die von den Akteuren freiwillig akzeptiert werden, um die Transak-tionskosten niedrig zu halten und das principal-agent-Problem durch Annähe-rung der Nutzenfunktionen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu lösen.

Dazu gehören mitbestimmte Arbeitsbeziehungen, aber auch gemeinsame Regeln der corporate governance, des Finanzsystems, der Berufsausbildung und der wirtschaftlichen Interessenpolitik. Zu den Charakteristika dieses Kernraumes der europäischen Wirtschaft zählen darüber hinaus vor allem zwei Eigenschaften, die in nachindustrieller Zeit von wachsender Bedeutung für die Erhaltung und Ver-besserung von Innovation und Wettbewerb sind: die Fähigkeit zur diversifizier-ten Qualitätsproduktion (Wolfgang Streeck) und zur vertrauensbildenden Sozia-bilität (Francis Fukuyama). Sie werden in Europa seit mehr als 100 Jahren entwickelt und sind tief in seinem sozialen System der Produktion verwurzelt. Sie bieten wichtige Vorraussetzungen für die Fähigkeit zur nachindustriellen Maßschneiderei für den Weltmarkt. Sie sind aber auch Voraussetzungen für die weitere Demokratisierung der Wirtschaft, die Nachhaltigkeit der nachindustriel-len Produktionsweise und die Erhaltung eines vorsorgenden Sozialstaates, alle wiederum wichtige Rahmenbedingungen für den Kern einer europäischen Pro-duktionsweise. Auf dieser Grundlage ließen sich Grenzüberschreitungen zur Supranationalität, die die Zustimmung des Souveräns finden, durchaus vorstel-len. Die politische Ökonomie der europäischen Integration lässt sich nicht von ihren wirtschaftskulturellen Voraussetzungen lösen.

Page 27: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

24

________________________________________________________ ABHANDLUNGEN / ANALYSES

Staatswissenschaften und Staatspraxis: ein herausfordernd prekäres Verhältnis

von Horst Dreier, Friedrich Wilhelm Graf und Joachim Jens Hesse

Das nie einfache und einer kontinuierlichen Diskussion ausgesetzte Verhältnis von Staatswissenschaften und Staatspraxis findet aufgrund zweier komplementärer Entwick-lungen neue Aufmerksamkeit: endogen durch jene Herausforderungen tradierter Staat-lichkeit, die sich mit Veränderungen der demographischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen verbinden, sowie exogen durch jene Grenzüberschrei-tungen, die im Gefolge von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen (samt damit einhergehender Souveränitätsverluste) erkennbar werden. Der nachfolgende Beitrag summiert die theoretischen und empirisch-analytischen Schlussfolgerungen, die die Auto-ren aus den Beiträgen des vorangehenden ZSE-Themenhefts (3-4/2009) ziehen. Im Er-gebnis erweist sich das Verhältnis von Staatswissenschaften und Staatspraxis als glei-chermaßen prekär wie herausfordernd. Prekär, weil die heutigen Anforderungen an das deutsche Regierungssystem von einer – trotz stabiler Ausgangssituation – „gefährdeten Stabilität“ sprechen lassen, und herausfordernd, weil die schnellen Veränderungen der Rahmenbedingungen oberste Bundesorgane wie gebietskörperschaftliche Einrichtungen unter einen kontinuierlichen Anpassungs-, in Teilen auch Reformdruck stellen.

The ongoing debate on the development of the public sector and according forms and functions of traditional “statehood” has gained renewed attention due to two complemen-tary developments: the endogenous challenge of rapidly changing economic, demo-graphic and socio-cultural framework conditions, and the exogenous pressures due to the ongoing processes of Europeanisation and globalisation. The following paper summarises theoretical and empirico-analytical conclusions drawn from the theme-specific contribu-tions to a special issue of the ZSE (3-4/2009). The relationship between the performance of the public sector and the analytical reflections among lawyers, economists and social scientists is seen as both precarious and challenging: precarious due to a situation de-scribed – despite stable pre-conditions – as “endangered stability”, and challenging as a result of the considerable pressures to adapt to an ever-changing environment and to seek solutions that demand a closer interaction of academic analyses and practical adjustment.

I. Einleitung

Der nachfolgende Beitrag summiert die im Themenheft 3-4/2009 der ZSE vorge-legten Analysen, die unter dem Titel „Staatswissenschaften und Staatspraxis: endogene und exogene Herausforderungen tradierter Staatlichkeit“ führende

Page 28: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 25

Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler auf eine gemeinsame Fragestel-lung verpflichteten.1 Dieses Unterfangen steht unter einem zweifachen Vorbe-halt: zum einen der notwendigen Konzentration auf einige zusammenfassende Erkenntnisse, die in den jeweiligen Einzelbeiträgen dann um vieles ausführlicher diskutiert werden, und zum anderen einer ungewöhnlichen Ausgangssituation, die sich mit den spezifischen Denk- und Arbeitsmustern der drei Autoren (die gleichzeitig als Herausgeber der gesondert erscheinenden Buchpublikation fun-gieren) verbindet. Während die angesprochenen Herausforderungen zunächst unter der eher staatstheoretischen Frage nach der „Wiederkehr des Staates“ dis-kutiert werden (II), richtet sich die nachfolgende Argumentation aus staatsprakti-scher Sicht auf aktuelle wie strukturelle Handlungsbedarfe (III); der abschlie-ßende Verweis auf ideengeschichtliche Entwicklungslinien erinnert an die nur vermeintliche Stabilität des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Staatsver-ständnisses (IV). Die Autoren eint die Hoffnung, in der Zusammenführung rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer dem Gegenstand angemessenen Sichtweise beizutragen, um so eine dringlich benötig-te Staatsdiskussion fortzuführen, die wiederum einer kontinuierlichen theoreti-schen wie empirisch-analytischen Rückbindung bedarf.

II. Staatstheoretische Grundlegungen

1. Schwindende Bedeutung des Nationalstaats?

Der Staat ist schon des Öfteren totgesagt worden. Als besonders prominent darf einmal mehr die Stimme Carl Schmitts gelten, der im Vorwort zu seinem „Beg-riff des Politischen“ 1963 dekretierte, die Epoche der Staatlichkeit gehe zu Ende; darüber sei kein weiteres Wort mehr zu verlieren. Ende der Staatlichkeit wurde hier mit steigender Macht der Verbände sowie der politischen Parteien gleichge-setzt und kündete letztlich nur von einer tiefsitzenden Fremdheit gegenüber einer offenen pluralistischen Gesellschaft mit demokratischer Staatsorganisation. Die Abgesänge auf den Staat, die man in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten vernehmen konnte, stimmen eine andere Tonart an. Hier geht es nicht um den von Konservativen beklagten, aber in einer demokratischen Gesellschaft gerade-zu konstitutiven Umstand, dass der Staat eine Art Selbstorganisation der Gesell-

1 Vgl. ZSE 7/3-4 (2009): „Staatswissenschaften und Staatspraxis. Endogene und exogene Herausforde-

rungen tradierter Staatlichkeit“. Eine ergänzte Fassung erscheint im Mai dieses Jahres in einer gesonder-ten Buchpublikation des Nomos-Verlags.

Page 29: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

26

schaft ist. Vielmehr erscheint der Staat selbst als fossiles Relikt. Daher konnte er in ambitionierten Theorien einer ganz neuen Welt des Rechts und in entspre-chenden Systementwürfen kaum mehr Platz mehr finden. Er schien zu alt, auch zu alteuropäisch, zu starr, zu monolithisch, zu national zu sein, um in der mehr oder minder schönen Welt der Globalisierung mit ihren polyglotten Akteuren und ihren weltumspannenden Handlungsfeldern noch an seine frühere Glanzrolle als Zentralgestirn politischen Handelns und Orientierungspunkt politischer Phi-losophie wie Staatstheorie anknüpfen zu können. Auf die Frage: Weltstaat oder Staatenwelt? antworteten Vertreter der politischen Philosophie schon einmal mit einem entschieden autosuggestiven: Weltstaat, genauer: Weltrepublik. Und in Politik- und Systemtheorie ist die Rede von Weltgesellschaft, Globalisierung des Rechts, Zerfaserung des Staates oder gleich Abschied von demselben ohnehin seit längerem an der Tagesordnung.

Ganz von ungefähr kam das nicht. Denn es fehlt ja keineswegs an Indizien für einen massiven Relevanzverlust. So schien der Staat zunehmend zerrieben zwi-schen den schicksalhaft anmutenden Prozessen der Supra- und Internationalisie-rung auf der einen und Privatisierungsmaßnahmen auf der anderen Seite, und so wurde auch zunehmend unklarer, wo genau er seinen früheren Zentralpart noch spielen sollte. Besonders im Verlauf der europäischen Integration waren immer mehr und immer wichtigere Kompetenzen, die man früher als eindeutig und geradezu identitätsprägend national eingestuft hätte, an die beständig enger zu-sammenrückende Union der Staaten der Europäischen Gemeinschaft abgegeben worden. Doch nicht allein das: Neben der Europäischen Union als der supranati-onalen ist immer stärker und intensiver die internationale Ebene mit ihren man-nigfaltigen Akteuren und Entscheidungsträgern in Rechnung zu stellen – und sind auch hier entsprechende Regelungs- und Kompetenzverluste des Staates zu registrieren. Im Fokus der Debatte stand dabei von jeher die WTO, deren Ent-scheidungen in der Tat und ganz unbestritten tief in die nationalen Rechtsord-nungen einschneiden können. Am empfindlichsten aber empfand man zumindest in Deutschland den Verlust einer der vermeintlich härtesten und essentiellsten staatlichen Hoheiten, nämlich der Währungshoheit. Das lag womöglich nicht nur an der besonderen Symbolträchtigkeit und war von daher auch nicht nur als Phantomschmerz zu verbuchen. Die Befürchtung, dass es sich bei dieser Aufga-be um einen geradezu existentiellen Vorgang mit unabsehbaren Folgen gehandelt haben könnte, ist bei weitem nicht endgültig zerstreut. Jede Nachricht aus Grie-chenland verschafft ihr in diesen Tagen neue Nahrung.

Page 30: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 27

Mit supra- und internationaler Expropriation des alten Nationalstaates hatte und hat es aber noch nicht sein Bewenden. Denn als zweites Merkzeichen, wenn nicht gleich Menetekel, trat spätestens seit den 1980er Jahren die nicht selten europarechtlich induzierte Privatisierung auf den Plan. Dieser umfassende, in sich vielfach zu differenzierende Prozess bildet sozusagen den zweiten Dezimie-rungsfaktor vermeintlicher staatlicher Omnipotenz. Aufgabenprivatisierung bedingt Staatlichkeitsverlust nicht durch Abgabe der hoheitlichen Aufgabe an andere Hoheitsträger, sondern durch ihre Transformation in eine von Privaten erbrachte Marktleistung. Im Telekommunikationsbereich war das mit Händen zu greifen und bis in die Grundrechtsdetails zu verfolgen. Je mehr private und marktrechtsförmige Erledigung, desto weniger Staat – auf diese (freilich viel zu einfache) Formel wurde es gerne gebracht. Und selbst dort, wo jedenfalls formell die nationalstaatliche Gesetzgebungs- oder Verwaltungshoheit ungebrochen fortbestand, ließen sich zum Teil besorgniserregende Vorgänge einer zunehmen-den Entformalisierung, sei es des Legislativverfahrens (Stichwort: Atomkon-sens), sei es der Verwaltungspraxis (Stichwort: informales oder kooperatives Verwaltungshandeln), ausmachen. Weicher Konsens statt harten Rechtsbefehls, der Staat nicht hoheitliche Anstalt, sondern Partner, der Bürger nicht gewaltun-terworfenes Subjekt, sondern (möglichst Englisch sprechender) Kunde, die Ge-sellschaft eher ein erweiterter Freizeitpark als eine politische Schicksalsgemein-schaft – so ungefähr bot sich das neue Gesamtbild dar.

In der Summe ergab sich in den Augen vieler der nur schwer widerlegbare Ein-druck wenn schon nicht einer vollkommenen Auflösung, so doch einer unaufhalt-samen Auszehrung des Staates durch sukzessiven Aufgabenverlust mit entspre-chend sinkender Gesamtrelevanz für die politisch-gesellschaftliche Ordnung: einerseits durch Etablierung anderer Hoheitsträger auf supranationaler Ebene, andererseits durch gezielt herbeigeführte oder ungezielt eingetretene Abwande-rung vormals staatlicher Agenden auf den Markt oder sonstige Selbstregulati-onsmechanismen nationaler wie transnationaler Art.

2. Wiederaufnahme der Debatte

Zwei Ereignisse, die miteinander weder in einem kausalen noch systematischen Zusammenhang stehen, haben den Staat jedenfalls dem ersten Anschein nach zurückgebracht, um auf eine vielzitierte englische Publikation („Bringing the State Back In“) anzuspielen. Durch die anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre sowie den Paukenschlag des Lissabon-Urteils des Bundesver-fassungsgerichts wurde der Staat auf jeweils ganz eigene, aber zunächst einmal

Page 31: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

28

sehr eindrucksvolle Weise auf die Hauptbühne des Geschehens zurückgeholt, sozusagen erneut ins Rampenlicht gestellt. Seit 2007 hat die Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise den „Ruf nach dem Staat in lange nicht gehörter Intensität erschallen lassen“ (Werner Heun). Und er wurde erhört. Es war die Bundesrepu-blik Deutschland (und nicht transnationale zivilgesellschaftliche Netzwerke oder globale Wirtschaftskonsortien), die der deutschen Unternehmenstochter eines amerikanischen Automobilkonzerns mit Milliardenbeiträgen in Gestalt von Ü-berbrückungskrediten und Kreditbürgschaften unter die Arme griff und eine mittlerweile wieder aufgelöste Opel-Treuhandgesellschaft gründete. Es war vor allem die Bundesrepublik Deutschland (und nicht die Europäische Union, auch nicht der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die WTO), die innerhalb dieses ohne Zweifel größten und gefährlichsten Krisensektors gleich mehrere Banken mit kurzfristigen staatlichen Garantien stützte, ihnen Liquiditätserleich-terungen verschaffte und in Gestalt einer per Eilgesetz etablierten Anstalt zu Finanzmarktstabilisierung staatliches Kapital im Wert von über € 100 Mrd. be-reitstellte. Eine der Banken, die Hypo Real Estate, wurde inzwischen vollständig verstaatlicht, bei der Commerzbank beläuft sich der Staatsanteil auf 25 Prozent plus eine Aktie. Auch an der Westdeutschen Landesbank ist die Bundesrepublik Deutschland nun in erheblichem Umfang beteiligt. Wer solche Vorgänge vor zehn Jahren zu prognostizieren gewagt hätte: Bankenverstaatlichung in Deutsch-land unter einer CDU-geführten Bundesregierung, wäre schlicht nicht ernstge-nommen worden. Heute aber ist der Staat Bankier, wenn auch nur „wider Wil-len“ (Joachim Wieland) – aber bis auf weiteres bleibt er es und steht vor der Frage, wie er mit dieser ungewohnten Rolle umgehen soll.

Den zweiten Hauptschauplatz für ein re-entry des Staates bildet die Beschrän-kung der Fortentwicklungsmöglichkeiten der Europäischen Union, wie sie aus Sicht des deutschen Grundgesetzes in der Interpretation des Bundesverfassungs-gerichts erfolgt ist. Denn mit einem von manchen nicht für möglich gehaltenen Nachdruck fixierte das Gericht in seinem Lissabon-Urteil vom Juni 2009 Gren-zen weiterer Integrationsschritte. Dem Urteil zufolge ermächtigt Art. 23 GG (nur) zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund ausgestalteten Europäischen Union, deren Grundordnung aber allein der Verfügung der Mit-gliedstaaten unterliege. Ausgeschlossen ist demzufolge ein Standard der europäi-schen Integration, der den Mitgliedstaaten keinen ausreichenden Raum zur poli-tischen Gestaltung ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensver-hältnisse mehr belässt. Ein klarer Riegel wird zudem dem Übergang des Staaten-verbundes hin zu einem europäischen Bundesstaat vorgeschoben, den sich bis-

Page 32: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 29

lang viele in Gestalt eines inkrementalen oder iterativen Prozesses vorstellen konnten. Ein solcher Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland kann dem Bundesverfassungsgericht zufolge nicht auf Grundlage und im Rahmen des Grundgesetzes stattfinden. Diese setze vielmehr einen Akt der Verfassungge-bung voraus, für dessen Genese Art. 146 GG den Weg weise. Eine ungewöhnlich ausführlich ausfallende, grundgesetzlich nicht verankerte und geradezu schema-tisch-katalogartig ausfallende Liste angeblich unaufgebbarer zentraler Staatsauf-gaben rundet das Bild eines Urteils ab, dem in kritischer Intention vorgehalten wurde, so etwas wie ein „Recht auf Staatlichkeit“ generiert zu haben – von sons-tiger, oft ungewöhnlich scharfer und beileibe nicht immer unberechtigter Kritik an Duktus, Fundierung, Programmatik und Stringenz der Entscheidung einmal ganz abgesehen.

3. Unverzichtbare Ordnungs- und Stabiliserungsleistungen

Der Staat, so hat es den Anschein, ist also zurück auf der Agenda – aber war er eigentlich jemals fort? Weitgehend entschwunden oder schlicht irrelevant ge-worden war er womöglich für jene, deren Aufmerksamkeitsspektrum ganz auf Gebiete wie das internationale Wirtschaftsrecht, das Internet, das transnationale Copyright oder ähnliche Felder gerichtet war oder die sich ohnehin vornehmlich in den luftigen Höhen hochspekulativer Theorien über die Autopoiesis des Rechts mit seinen Hyperzyklen, rekursiven Schleifen und Netzwerkstrukturen bewegt hatten. Von dieser vielleicht nicht allzu repräsentativen Warte aus sah man in der Tat keine Hierarchien mehr, sondern nur noch Heterarchien, kannte statt (durchaus dezisionistischer) heteronomer Rechtssetzung nur noch die Eigen-rationalitäten merkwürdig subjektloser autonomer Rechtsregimes; von hier aus erblickte man im globalen Recht einschließlich internationaler gerichtsförmiger Spruchkörper die Zukunft und erspürte in global governance den Zug der Zeit. Nationale Gesetzgebung, Verwaltung oder Judikatur erschienen da als eher old-fashioned, der Nationalstaat insgesamt als bedauernswertes Relikt einer im Grun-de zum Untergang verurteilten Epoche.

Im Gegensatz hierzu hatten allerdings nüchterne Naturen mit etwas stärkerer Bodenhaftung beharrlich festgehalten, dass die Gesamtheit hoheitlicher Ord-nungs- und Leistungsaufgaben nach wie vor ganz überwiegend nationalstaatlich geprägt ist. Das gilt, bei allen grenzüberschreitenden Aspekten und supranationa-len Einwirkungen, für die Gefahrenabwehr ebenso wie für die Strafverfolgung, für die Erbringung von Sozialleistungen wie für die Versorgung mit Kindergär-ten, es gilt für die staatlichen Schulen wie für die Finanzämter, es gilt für die

Page 33: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

30

Durchsetzung der Wehr- und Ersatzdienstpflicht nicht anders als für den nach wie vor ganz überwiegend von deutschen Gerichten gewährten Rechtsschutz. Bei der Sicherung des inneren Friedens, der Realisierung staatlicher Schutzpflichten, der Justizgewährleistung oder der Garantie eines materiellen Existenzminimums für alle in Deutschland lebenden Menschen – ganz unabhängig von ihrer Natio-nalität – ist von den in akademischen Oberseminaren und ihnen vergleichbaren Literaturgattungen gern zitierten Prozessen der Transnationalisierung, Globali-sierung und Selbstregulierung relativ wenig zu spüren. Zugegebenermaßen fehlt hier, gerade bei präziser politikwissenschaftlicher und juristischer Betrachtung, durchweg der Charme des visionär Ausgreifenden, der juristisch-politischen Weltformel, des ganz neue Perspektiven eröffnenden Wurfes, es mangelt am kühnen Ausgriff ins Große und Ganzheitliche. Es sind eher die Mühen der Ebene zu bewältigen, nicht die Ausblicke vom Berggipfel zu genießen. Doch nur so schreitet man voran. Und nur so kann man auch die nationalen, supranationalen und internationalen, die wirtschaftlichen, politischen und ökonomischen Rah-menbedingungen adäquat erfassen, die die Voraussetzungen für staatliches Han-deln bilden und es in vielfältiger Weise beeinflussen.

4. Lissabon und Wirtschaftskrise: Staatstheorie vor neuen Herausforderungen

Wenn der Staat also möglicherweise wieder etwas stärker in den Blickpunkt gerückt ist, so ließe sich das vielleicht für eine etwas differenziertere Rückbesin-nung auf Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen, auf Macht und Ohnmacht staatlicher Handlungsmöglichkeiten nutzen. Man erläge ja einem schweren Irr-tum, wenn man die hier plakativ konstatierte „Rückkehr“ umstandslos interpre-tieren würde als Re-Inthronisation eines Staates im Sinne einer omnipotenten und autonomen Größe mit praktisch unbegrenzter Regelungskompetenz und Steuerungsfähigkeit. Über eine solche Allmacht verfügte der Staat in seiner mehrhundertjährigen Geschichte ohnehin noch nie. Souveränität hat niemals Omnipotenz, Omnipräsenz und Omnikompetenz bedeutet. Selbst auf dem Höhe-punkt des absolutistischen Fürstenstaates waren doch immer Faktoren des „Nichtabsolutistischen im Absolutismus“ (Gerhard Oestreich) wirksam. Stets ging es bei der Entfaltung staatlicher Souveränität um die relative, im Laufe der Geschichte mehr oder minder große Unabhängigkeit von gewichtigen sozialen Kräften und konkurrierenden politischen Mächten, unter demokratischen Vorzei-chen dann vor allem auch um die Koppelung von Volkssouveränität und Rechts-staatlichkeit unter dem Dach einer Verfassung, die auf der „verfassunggebenden

Page 34: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 31

Gewalt des Volkes“ beruht, von der die Präambel des Grundgesetzes spricht. Souveränität bedeutet begrifflich Verdichtung und Monopolisierung von Herr-schaftsbefugnissen in einem Punkt, rechtlich mehr oder minder virtuelle Letz-tentscheidungsgewalt des Staates und seine Kompetenz-Kompetenz bei der Auf-gabenerfüllung. In Bezug auf die europäische Integration hat das Bundesverfassungsgericht dem im Lissabon-Urteil eine klare, wenn auch in der Wissenschaft stark umstrittene Konkretion verliehen: Unzulässigkeit eines euro-päischen Bundesstaates, Mitgliedstaaten als Herren über die Verträge, Austritts-recht, ein Kern der Staatsverfassung als unantastbares Reservat.

Das klingt allerdings durchweg schneidiger als es ist. Denn natürlich lassen sich Supranationalisierung (wie auch Internationalisierung) nicht bannen. Dafür sind diese Prozesse schon viel zu weit und durchweg mit dem Segen des Gerichts fortgeschritten. Andererseits werden wir schon aus rein politischen und ökono-mischen Gründen auf absehbare Zeit von einem europäischen Bundesstaat ent-fernt bleiben. Doch ungeachtet dessen bestimmt sich schon heute in vielen As-pekten die konkrete Gestalt der Rechtsordnung in einem Staat nicht mehr allein nach der Rechtsordnung dieses Staates. Nur sollte man eben nicht so tun, als gelte das mittlerweile flächendeckend und überall in gleichem Intensitätsgrad. Zudem wird der Staat als zentraler Akteur durch diese Prozesse ja keineswegs überflüssig oder praktisch inexistent – schließlich ist er es ja in Ermangelung entsprechender internationaler oder supranationaler Behörden und Institutionen, der diese Einwirkungen um- und durchsetzen muss. Wenn transnationale Ho-heitsgewalten neben den Staat treten, erhöht sich die Komplexität des Gesche-hens und der Gesamtarchitektur, die in der Bundesrepublik Deutschland wegen der föderalen Struktur ohnehin schon kompliziert genug ist. Die Schulung in Bundesstaatlichkeit erleichtert zugleich das Verständnis für die komplexe Mehr-ebenenstruktur der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Hinzutritt, dass die Staats- und vor allem die Verwaltungsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (und nicht erst sie) seit jeher durch ein besonders hohes Maß an verselbständigten Verwaltungseinheiten gekennzeichnet ist. Was in aktuellen, eher politikwissen-schaftlich geprägten Kontexten kritisch als vermeintlich junges Phänomen der „Zerfaserung“ des Staates angesprochen wird, stellt insofern seit jeher gleichsam die Normallage dar – auch wenn diese gravierende verfassungs- wie verwal-tungsrechtliche Fragen aufwirft.

Und wie steht es bei der Privatisierung? Hier gewinnt man seit geraumer Zeit den Eindruck, dass die Markteuphorie mittlerweile deutlich nachgelassen hat – ohne dass die damit verbundenen Flexibilisierungsleistungen und die Effizienz-

Page 35: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

32

und Freiheitsgewinne, die mit den einschlägigen Maßnahmen erzielt worden sind, unterschätzt oder kleingeredet werden sollten. Auch ändert sich dadurch, dass der Staat in der Finanzkrise einige Banken übernommen und gewaltige finanzielle Stützungsanstrengungen übernommen hat, nicht gleich das Gesamtge-füge der Wirtschaftsordnung – einmal ganz abgesehen davon, ob und inwieweit das Handeln aus einer Position neuer Stärke oder nicht eher aus nackter Not erfolgte, aber mit einem kräftigen Schuss an Symbolik versehen wurde. Wichti-ger ist da schon die ganz grundsätzliche Einsicht, dass ein Markt überhaupt erst einmal konstituiert werden muss und auf einen entsprechenden Rechtsrahmen angewiesen ist. Und für die speziellere Frage nach der Rolle des Staates ange-sichts vergangener und vielleicht zukünftiger Privatisierungsvorgänge ist der gern übersehene Umstand von weit reichender Bedeutung, dass Privatisierung keineswegs stets vollumfänglich Entstaatlichung bedeutet. Man muss sich von der Vorstellung lösen, Privatisierung führe zum ersatzlosen Fortfall von Verwal-tungstätigkeit oder staatlicher Ingerenz. Was eintritt, ist ein Wandel der Aufga-benstrukturen: eher ein Umbau als ein Abbau staatlicher Verwaltung, wie er beispielsweise im Bereich von Post und Telekommunikation zu registrieren war. Gewährleistungsstaat im Allgemeinen und Regulierungsverwaltung im Besonde-ren wurden so zu vergleichsweise geläufigen (wenn auch nicht immer definier-ten) Bezeichnungen, unter denen die vielfältigen Prozesse in der Rechtswissen-schaft diskutiert und dogmatisch eingefangen werden (sollten). Die Staatswissenschaften täten gut daran, auch und gerade solche Phänomene nicht zu übersehen. Manch steile These könnte so vielleicht durch materialgesättigte Erklärungskonzepte ersetzt werden.

Man sollte das durch Wirtschaftskrise und Lissabon-Judikatur möglicherweise neu erwachte Interesse an Staat und Staatlichkeit als Chance für eine verstärkte Konzentration auf eine Staatstheorie begreifen, die diese Konstellation unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts mit Realismus und analytischer Kraft unter-sucht und so die Lage des Staates jenseits nebelhafter Visionen oder verfrühter Nachrufe etwas genauer in den Blick nimmt. Wir müssen uns, so ließe sich viel-leicht resümieren, nicht vom Staat verabschieden, sondern nur von einem zu einfachen Bild, das manche sich von ihm gemacht haben. Darin liegt die eigent-liche Herausforderung.

II. Staatswissenschaften und Staatspraxis

Die Autoren des von uns herausgegebenen ZSE-Themenheftes haben sich dieser Herausforderung gestellt, wobei der unterschiedliche disziplinäre Zugriff und das

Page 36: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 33

heterogene Verhältnis zur Staatspraxis sich als produktive Anregungen erwiesen. Während die jeweilige disziplinäre Herkunft die theoretischen, empirisch-analytischen und methodischen Vorgehensweisen dokumentierte, mithin die Reichweite und den Ertrag der die Staatswissenschaften konstituierenden Diszip-linen widerspiegelte, war der Zugang zur Staatspraxis durch eine interessante Mischung aus Nähe und Distanz gekennzeichnet: Einige Autoren konnten Erfah-rungen als „handelnder Akteur“ einbringen, andere führte die (in Teilen bewuss-te) Distanz zu Erkenntnissen, die nicht selten in anregende „Grenzüberschreitun-gen“ mündeten. Dies gilt nicht nur für jene Beiträge, die die „Ehrbarkeit des Staates“ oder die „Herausforderungen des Naturrechts“ in das Zentrum Ihrer Ausführungen stellten, sondern auch für (nur vermeintlich periphere) Ansätze wie den, der den „Staat als Glücksmaximierer“ diskutierte.

1. Nationalstaat und Europäische Union

Folgt man der von den Herausgebern angebotenen deduktiven Logik, so wird man nach Durchsicht der Beiträge zum Themenbereich „Nationalstaat und Euro-päische Union – Lissabon und die Folgen“ eine staats- wie europawissenschaft-lich interessante Auseinandersetzung wahrnehmen. Sie richtet sich in Ergänzung der in der Einführung angebotenen Orientierungen zum einen auf die alles ande-re als gradlinige Entwicklung des Verhältnisses der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten, sucht zum zweiten die Konsequenzen des „Lissabon-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts zu umreißen und wird aufgrund neuerer Entwick-lungsprozesse schließlich zu einem Testfall dessen, was von den handelnden Akteuren heute als sinnvoll und „machbar“ einschätzt wird. Letzteres richtet sich vor allem auf die im Zuge der streitigen Finanzhilfen für Griechenland erwartba-ren erneuten Vertragsänderungen, die insbesondere darauf zielen, ein „zweites Athen“ zu vermeiden, zumal auch die Haushalte Portugals, Spaniens und Italiens vergleichbare Verwerfungen beinhalten. Dies mag erklären, weshalb sich die deutsche Bundeskanzlerin damit durchzusetzen suchte, bilaterale Hilfen von Euro-Staaten nur für den Fall vorzusehen, dass alle anderen Optionen ausge-schöpft wurden und zudem eine substantielle Beteiligung des IWF gewährleistet ist. Mit der jetzt unter Vorsitz des Ratspräsidenten Van Rompuy eingesetzten Arbeitsgruppe geht es vor allem um eine Verschärfung des EU-Stabilitätspakts – bis hin zu der von der Kanzlerin eingebrachten, allerdings strittigen Konsequenz eines etwaigen Ausschlusses stabilitätsgefährdender Länder aus dem Euro-Raum. Zudem wird angestrebt, dass die Arbeitsgruppe sich nicht nur aus Reprä-sentanten der die Euro-Gruppe bildenden Staaten zusammensetzt, sondern auch

Page 37: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

34

weitere Mitgliedstaaten, die EZB und die Kommission einbezieht. Schließlich strebt man an, die auch vom Präsidenten der EZB, Trichet, eingeforderte Ver-antwortung zur gegenseitigen Überwachung der Wirtschaftspolitiken innerhalb der Euro-Gruppe und des Europäischen Rats umzusetzen.

Im Übrigen machen die Bedingungen für etwaige Finanzhilfen deutlich, dass die Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe bilaterale Kredite in der Tat nur als ultima ratio ansehen. Die Mittel fließen nur dann, wenn Griechenland am Markt als nicht mehr kreditwürdig eingeschätzt wird; zudem dürfen die in die-sem Fall gewährten Kredite kein Subventionselement enthalten, müssen mithin zu hinreichend hohen Zinsen gewährt werden. Auch gilt, dass jeder Beschluss zur Hilfestellung in der Euro-Gruppe einstimmig erfolgen und eine Beurteilung der EZB einbeziehen muss, die Beteiligten sich also eine Veto-Position vorbe-halten. Im Ergebnis steht ein Kompromiss, der die hochspekulativen Märkte beruhigen, aber auch einer Denk- und Interpretationsrichtung entgegentreten sollte, die von einer allmählichen Zweiteilung der Europäischen Union in North and South of Paris spricht. Dahinter verbirgt sich ein zunehmendes Bewusstsein, dass die nord- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anderen Rationalitätsvorstellungen, Organisationsprinzipien und Verhaltensmus-tern folgen als dies für einige der südeuropäischen Mitgliedstaaten erkennbar ist. Verstärkt durch Diskussionen, die den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens inzwischen als „erkennbar zu früh“ einschätzen, verdichten sich hier Wahrneh-mungen, die eine europapolitische Solidarfunktion der Beteiligten zwar nicht in Abrede stellen, sie allerdings für zunehmend voraussetzungsvoll halten. Im Üb-rigen verweist die laufende Diskussion um Griechenland-Hilfen auf die die Ak-teure seit bald 40 Jahren beschäftigende Frage nach der Bildung einer europäi-schen Wirtschaftsregierung. So fanden sich bereits im Abschlussbericht der vom damaligen luxemburgischen Premier- und Finanzminister Pierre Werner geleite-ten Sachverständigengruppe zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungs-union bis 1980 Vorstellungen, die den heutigen Diskussionen ähneln: „Da hin-sichtlich der Verwirklichung des Wachstums- und Stabilitätsziels zwischen den Mitgliedstaaten auch deutliche Unterschiede bestehen, ist ohne eine effektive Harmonisierung der Wirtschaftspolitik die Gefahr der Entstehung von Ungleich-gewichten weiterhin gegeben.“2 Zwar wurde diesen Vorstellungen in Ihrer Ge-samtheit – und vor allem operativ – nicht gefolgt, doch kam es im Verlauf des

2 Pierre Werner et al.: Report on the Realisation by Stages of Economic and Monetary Union, in: Bulletin

of the European Communities, 11/70 (1970), 5-29.

Page 38: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 35

weiteren Integrationsprozesses zu wichtigen Einzelschritten, von der Bildung der sog. „Währungsschlange“, also des Europäischen Wechselkursverbunds von 1972, über die Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) 1979 und den ab 1995 in Angriff genommene Binnenmarkt bis hin zu der 1999 vereinbar-ten Obergrenze für die öffentliche Verschuldung.

Eine Angleichung oder auch nur Abstimmung von Wirtschafts-, Haushalts- und Beschäftigungspolitiken verband sich damit freilich nicht, da die in Aussicht genommene einheitliche Währung als ausreichender Katalysator für die wirt-schaftliche und politische Union eingeschätzt wurde. Der Vertrag von Maastricht folgte dem dann aufgrund der vereinbarten Architektur: hier ein gemeinschaftli-ches Standbein mit einer unabhängigen, der Preisstabilität verpflichteten EZB, dort eine stärkere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik unter Achtung der allei-nigen Befugnisse der Mitgliedstaaten. 1997 schließlich wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt verabschiedet, der ein gedeihliches Nebeneinander von Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken ermöglichen sollte. Seitdem bemühen sich die Finanzminister im Rahmen der Euro-Gruppe um eine verbesserte wirtschaftpoli-tische Abstimmung, deren Wirkungsweise außerhalb von Krisen als durchaus ausreichend eingeschätzt wurde. Erst seit dem Jahr 2008, also mit Einsetzen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, erfuhr die Diskussion eine neue Qualität, die sich jetzt mit erweiterten Strategien zur Förderung der europäischen Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit verbindet. Bislang scheint sich dabei die deutsche Seite insofern durchzusetzen, als man hier die Staats- und Regierungs-chefs der 27 EU-Staaten als „Wirtschaftsregierung“ begreift, die nach dem Lis-sabonner Vertrag die für die Entwicklung der Union „erforderlichen Impulse“ gewährleisten sollte. Der Vertrag selbst beschränkt sich in Art. 121 AEUV auf die Möglichkeit einer „Verwarnung“ wirtschaftspolitisch säumiger Regierungen. Allerdings ist die Diskussion damit erkennbar nicht beendet: Während die Bun-desregierung eine lediglich verbesserte wirtschaftspolitische Koordination an-strebt, zielt Frankreich weiter auf eine enge materielle und wie zeitliche Verzah-nung von Stabilitätspakt wie den im Zuge des Projektes „Europa 2020“ geplanten wirtschafts- und strukturpolitischen Empfehlungen.3

Im Übrigen ist nicht wirklich absehbar, dass die schwierige Ratifizierung des Lissabon-Vertrages ein nachhaltiges Umdenken auf Seiten der europäisch wie

3 Europäische Kommission: Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives

Wachstum, Mitteilung der Kommission, KOM (2010) 2020, Brüssel, 2010, http://ec.europa.eu/growth andjobs/pdf/complet_de.pdf.

Page 39: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

36

nationalstaatlich Handelnden bewirkt hätte. Zwar bestätigt man allenthalben eine gewisse Entfremdung zwischen den europäischen Einrichtungen und dem Souve-rän, doch werden daraus kaum auch operative Konsequenzen gezogen. Während die Besetzung der im Vertrag vorgesehenen europäischen Spitzenämter mit Herman Van Rompuy und Baroness Ashton darauf hindeutet, dass man die ange-strebte „Sichtbarkeit“ nun denn doch nicht gegen die (größeren) Nationalstaaten ausfallen lassen wollte, wird auch in der Weiterentwicklung wichtiger Aufgaben- und Politikfelder sowie bei der Schaffung neuer Einrichtungen ein seit langem erkennbares Grundmuster deutlich.

So finden sich mit Blick auf die bereits angesprochene Wachstumsstrategie „Eu-ropa 2020“ nicht nur ein déjà-vu-Effekt hinsichtlich der reputationsschädigend gescheiterten sog. „Lissabon-Agenda“, in deren Verfolgung die EU sich be-kanntlich bis zum Jahr 2010 zur „wettbewerbsfähigsten Region der Welt“ ma-chen wollte, sondern auch Zielvorstellungen, die auf beträchtlichen Widerstand unter den EU-Mitgliedstaaten stoßen. Hier sind es erneut die Nord- und Mitteleu-ropäer, die die von der Kommission beabsichtigte Festlegung von Bildungszielen und Vorgaben für die Armutsbekämpfung materiell wie im Verfahren kritisieren. Formal wird darauf verwiesen, dass die Kommission damit die im Vertrag von Lissabon aufgeführten Kompetenzen überschreitet, materiell gelten die Beden-ken den vorgestellten „fünf Kernzielen“ der „2020-Strategie“: Verringerung der Zahl der von Armut betroffenen Menschen in der EU um 20 Mio., Erhöhung des Anteils von Hochschulabsolventen in der Gruppe der Dreißig- bis Vierunddrei-ßigjährigen von heute durchschnittliche 31 % auf künftig 40 %, Anhebung der Beschäftigungsquote der Zwanzig- bis Vierundsechzigjährigen von 68 % auf 75 % und schließlich Anstieg der Forschungsausgaben auf 3 % des BIP. Wäh-rend die letztbenannten Ziele wohl insofern konsensfähig sind, als sie sich in fast allen politischen Absichtserklärungen der Mitgliedstaaten finden, stehen die „Vorgaben“ für das Bildungsniveau und den Abbau der Armut nach Angaben der Beteiligten erheblicher Kritik. Die hier von der Kommission verfolgte Stra-tegie, konkrete Empfehlungen für die einzelnen Mitgliedstaaten zu formulieren, einen Zeitrahmen für ihre Umsetzung vorzugeben und bei Verfehlen der Vorga-ben Verwarnungen auszusprechen sucht, muss in der Tat erstaunen. Zudem erin-nert das vom Kommissionspräsidenten Barroso vorgeschlagene Verfahren, sich zunächst auf grundsätzliche Ziele einer solchen Wachstumsstrategie zu einigen, um dann über Detailziele in den darauf folgenden Monaten zu verhandeln, an den schon mehrfach eingeschlagenen Weg, über breit formulierte Absichtserklä-

Page 40: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 37

rungen eine self-fulfilling prophecy in Gang zu setzen, um so die eigene Bedeu-tung und das Steuerungspotential gegenüber den Mitgliedstaaten zu erhöhen.

Auch der Aufbau des künftigen Auswärtigen Dienstes der EU dokumentiert – neben mangelnder Lernfähigkeit – jene sattsam bekannten Auseinandersetzun-gen zwischen den Beteiligten, die die „Völker Europas“ dem Europäisierungs-prozess durchaus entfremden. So ist weiterhin strittig, wie sich der Auswärtige Dienst zusammensetzen wird und wer ihn letztlich führt, ob und wie man die absehbaren Doppelstrukturen der Außenvertretung abbauen könnte und wer schließlich – mit Blick auf materielle Politiken – die Federführung übernehmen soll: Nationalregierungen, die Kommission oder die „Hohe Vertreterin“. Zudem ist umstritten, wer das Weisungsrecht gegenüber den künftigen „EU-Botschaftern“ ausübt und selbst das Verfahren zur Ernennung dieser Botschafter bleibt offen. Immerhin geht es nach Vorstellungen der Kommission mit dem Auswärtigen Dienst um bis zu 1.200 Diplomaten im höheren Dienst, unter Ein-schluss von Ortskräften wird (auf der Basis von heute 137 Delegationen in Dritt-ländern) von insgesamt etwa 8.000 Mitarbeitern ausgegangen. Selbst die formale Beschlussfassung zur Gründung des Dienstes unterliegt geradezu EU-typischen tagespolitischen Aktualitäten und „Anpassungsprozessen“: So war ursprünglich geplant, die Begründung des Dienstes im April 2010 vorzunehmen, also noch vor der Wahl in Großbritannien, da man im Fall eines Regierungswechsels eine Blockade befürchtet. Auch bleibt mit Blick auf das legitimatorische Potential solch strukturell bedeutsamer „Innovationen“ darauf hinzuweisen, dass der Sou-verän, vertreten durch das Europäische Parlament, bislang nicht am Gründungs-verfahren beteiligt ist; das EP erwägt deshalb, seine Vorstellungen über die Haushaltsberatungen und das Personalstatut einzubringen.

Im Ergebnis fällt es schwer, in der derzeitigen Entwicklungsphase der Europäi-schen Union jene Stabilisierung und Konsolidierung auszumachen, auf die man sich während und nach der langwierigen Ratifikation des Vertrages von Lissabon zu einigen schien. Statt das noch immer problematische Verhältnis zum Souve-rän in das Zentrum der Bemühungen zu stellen, werden neue Auseinanderset-zungen erkennbar, die das europäische Projekt sicher nicht gefährden, aber seiner erweiterten Legitimation und unabwendbaren Professionalisierung entgegenzu-stehen drohen. Ob Krisenbewältigung, Verfahrensvereinfachung oder institutio-nelle Reform, es finden sich unverändert Verhaltensmuster, die eher von einem Gegeneinander denn einem Miteinander der europäischen und der nationalstaat-lichen Ebenen geprägt scheinen. Hier sollten sich EU-Einrichtungen inzwischen doch in einer deutlichen „Bringschuld“ sehen, die vor allem darin bestehen könn-

Page 41: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

38

te, sich eher in einer den „Völkern Europas“ dienenden Rolle denn als „Innovati-onsmotor“ zu verstehen, dessen legitimatorische Basis und operative Kompetenz fragwürdig bleiben. Hinzu treten die restringierenden Wirkungen der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

2. Der Staat in der Krise

Ließen die Beiträge zum Verhältnis von Nationalstaat und Europäischer Union bereits erkennen, dass sich – bei durchgehender positiver europäischer Grundhal-tung – eine Reihe von Vorbehalten stellen, die sich entweder mit dem Selbstver-ständnis oder dem faktischen Wirken der europäischen Einrichtungen verbinden, erbrachten auch die Beiträge zum Themenbereich „Der Staat in der Krise“ eine Reihe von Monita: Während Wirtschaftshistoriker den wirtschaftswissenschaftli-chen Erkenntnisprozess wie die dabei meist eingesetzte Methodik kritisieren und aufgrund der Marginalisierung von Faktoren wie menschliches Verhalten, Moral und Naturrecht den Wirtschaftswissenschaften nicht weniger als empirisches Versagen und eine Beschädigung ideeller Werte vorwerfen, wird dies bei Ergän-zung um Kategorien der politischen Ökonomie noch durch die Aussage zuge-spitzt, dass das Vertrauen auf die Zwangsläufigkeit wirtschaftlich-technokra-tischer Integrationsprozesse zur politische Lebenslüge der Gemeinschaft gewor-den sei und dies in hohem Maße auch für die heutige Europäische Union gelte; die systematische Vernachlässigung des Verhältnisses zum europäischen Souve-rän könnte danach zu einer Schlüsselfrage der weiteren Entwicklung werden.

Darüber hinaus stehen die erkennbaren Muster der Krisenbewältigung im Vor-dergrund, wobei die künftige Rolle und Funktion des Staates im Rahmen von Wirtschafts- und Finanzkrisen sowie vor allem das eingesetzte Instrumentarium einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Sehen die einen den Staat als gleichsam „Aktionär der letzten Instanz“, der im Gefolge der Finanzkrise eben zum Bankier wider Willen geworden sei, fragen andere nach der „Ehrbarkeit“ eben dieses Staates angesichts des größten Konjunkturprogramms der deutschen Geschichte und der sich damit verbindenden Folgewirkungen für die öffentlichen Haushalte. Selbst das eingesetzte Instrumentarium wird in weiten Teilen kritisch beurteilt; dies gilt für den Ruf nach verstärkter Regulierung ebenso wie für jene Steuerung der Staatsverschuldung, auf die man sich seitens der Politik als Ergeb-nis der Empfehlungen der Föderalismuskommission II einigte. Schließlich kommt es zu einer kompakten Evaluation der eingesetzten Konsolidierungsstra-tegien samt sich damit verbindender Empfehlungen, die auch ausgabenseitige Überprüfungen, eine in diesem Kontext zu verfolgende politische road map, ein

Page 42: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 39

erweitertes politisches commitment und schließlich nur vermeintlich technische Hinweise, etwa die Einführung von Doppelhaushalten oder die Vornahme von Sicherheitsabschlägen, einbeziehen.

Im Ergebnis erweist sich, dass die ablaufende Krise nicht mehr nur als gleichsam situatives Problem, sondern als grundlegende Herausforderung begriffen werden sollte, die eine Überprüfung rechtlicher Regelungen, erweiterte Steuerungsmodi, einen veränderten institutionellen Rahmen sowie prozessuale und materielle Verbesserungen nahelegt. Dabei wird man zwischen dem, was „nach außen“ und dem, was „nach innen“ vorgeschlagen wird, unterscheiden können.

Nach außen geht es vor allem um eine als dringend erforderlich bezeichnete Abstimmung nicht nur nationalstaatlicher Geld- und Fiskalpolitiken, sondern auch und gerade jener internationalen Steuerungs- und Stabilisierungsleistungen, wie sie im Rahmen der seit Ende des Zweiten Weltkrieges aufgebauten Architek-tur der Internationalen Organisationen erbracht werden. Die Erkenntnis, nach der die Entwicklung der Finanzmärkte ohne grenzüberschreitende Regulierung eine inzwischen „systemische Bedrohung“ darstellt, findet in diesem Kontext breiten Konsens. So geht es mit Blick auf den Bankensektor nicht mehr nur um eine wirksame Aufsicht und Steuerung, sondern auch um die finanzielle Mitverant-wortung für die von diesem Wirtschaftsbereich ausgehenden Risiken. Vor die-sem Hintergrund erstaunt, dass das seit langem geplante Gesetz zur Finanzmarkt-regulierung noch immer nur in Umrissen erkennbar ist. Zwar besteht weitgehender Konsens darin, über eine Bankenabgabe Lehren aus der Finanzkri-se zu ziehen, um zu verhindern, dass der Staat auch künftig im Krisenfall Banken mit Steuergeldern retten muss (weil die Geldinstitute nicht abgewickelt werden können, ohne das Finanzsystem zum Einsturz zu bringen), doch unterliegen Einzelheiten unverändert streitiger Diskussion. Danach wird das Bemühen, Ban-ken und Versicherungen aus Ihrer Mitverantwortung heraus „zur Kasse zu bit-ten“ und ihnen zu untersagen, mit dem Geld der Zentralbank oder der Sparer auf Währungen, Rohstoffe oder Aktien zu spekulieren, von den einen begrüßt, von den anderen hingegen als „reines Placebo“ bezeichnet. Zudem sei erkennbar, dass die handelnden Akteure sich hintereinander „zu verstecken“ suchten, die Bundesregierung bei der Bestimmung ihres eigenen Vorgehens etwa auf ein vorangehendes europäisches Votum sowie eine greifbare Entscheidung des ame-rikanischen Präsidenten warte. Im Ergebnis spricht man sich heute, sicher auch mit Blick auf bevorstehende Landtagswahlen, für einen Notfallsfonds der Ban-ken in Höhe von € 1 Mrd. aus, eine angesichts der vom Bankensektor ausgehen-den Probleme fraglos unangemessene Größenordnung, vor allem in Anbetracht

Page 43: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

40

der bislang für die Bankenrettung aufgebrachten Kapitalhilfen in Höhe von na-hezu € 30 Mrd., ergänzt um jene knapp € 150 Mrd. an Garantie- und Bürg-schaftsleistungen, von denen nicht abzusehen ist, ob sie staatlicherseits auch tatsächlich erbracht werden müssen oder nicht.

Zudem bleibt offen, ob Vorstände und Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften künftig länger als bisher für Fehlentscheidungen haften müssen. So wird seitens des Bundesfinanzministeriums geprüft, die bislang fünfjährige Verjährungsfrist für die aktienrechtliche Haftung im Fall von Pflichtverletzungen bei der Ge-schäftsführung auf zehn Jahre zu verlängern. Begründet wird dies damit, dass so Ersatzansprüche auch dann noch durchgesetzt werden können, wenn sie erst später deutlich werden. Schon länger bekannt sind demgegenüber Vorstellungen, nach denen systemrelevante Teile einer Bank künftig abgespalten werden kön-nen, um sie fortzuführen, während der verbleibende Rest abgewickelt wird. Für diese Banken soll es in Ergänzung ein Reorganisationsverfahren geben, um sie in Anlehnung an bestehende Insolvenzverfahren ggf. sanieren zu können. Für die Bankenabgabe selbst ist vorgesehen, dass sie in einen Fonds fließen sollte, der im Krisenfall die Restrukturierung oder Abwicklung von Finanzinstituten finan-zieren könnte, wobei die Zahlungen je nach Engagement und Vernetzung auf den Finanzmärkten zu staffeln wären, eine für Sparkassen und Genossenschaftsban-ken wichtige Differenzierung. Gegen solche Vorstellungen wenden sich erwart-bar die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, wobei die Bankenabgabe mit Blick auf eine mögliche Einschränkung der Kreditvergabe besonders kritisch gesehen wird; zudem bemängelt man etwaige nationale Alleingänge und offeriert als „bessere Krisenvorsorge“ eine erweiterte Absicherung risikoreicher Geschäf-te durch zusätzliches Eigenkapital.

Im Übrigen konzentrieren sich die Diskussionen auf die Besteuerung von Fi-nanztransaktionen, das Verbot von Hedgefonds und einen multilateral vereinbar-ten Rahmen für Bonuszahlungen. Zumindest bei letzterem wird ein gewisses Umdenken der Angesprochenen erkennbar; dies dokumentieren das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsbezüge sowie die Vorgabe, die Entlohnung am längerfristigen Erfolg einer Bank auszurichten. Auch enthalten eine Reihe von Vergütungssystemen inzwischen einen sog. Malus-Faktor, nach dem Boni zu einem Teil in einen „Topf“ fließen, der im Falle schlechterer Geschäftsergebnis-se sich wieder leert. Erst nach drei bis vier Jahren stellt sich dann heraus, ob der Bonus vollständig oder nur in Teilen zu zahlen ist. Die Auflagen, nicht nur rein betriebswirtschaftliche Faktoren bei der Entlohnung zu berücksichtigen, finden dagegen nur begrenzt Eingang in die Diskussion. Hier geht es etwa um Indizes

Page 44: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 41

für die Zufriedenheit von Kunden und Mitarbeitern; auch könnten die vorgese-hene Offenlegung der Vorstandsgehälter und die Erläuterung der Kriterien für die in den Konzernen gezahlten Boni durchaus versachlichend wirken. Mit der Forderung der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz nach einem materiellen Einbezug der Aktionäre in Entscheidungen über Gehaltsstrukturen und Sondervergütungen anlässlich der jährlichen Hauptversammlungen wird ein weiterer Weg zu verstärkter Transparenz und Offenheit aufgezeigt. Allerdings bleiben die diskutierten Politiken bislang strikt nationalstaatlich ausgerichtet, eine internationale Initiative befindet sich lediglich „in Vorbereitung“ – dies nun freilich seit bereits zwei Jahren.

In der Zusammenfassung bleibt zu hoffen, dass veränderte und aufeinander ab-gestimmte Regulierungs- und Aufsichtsformen sich künftig sowohl auf nationa-ler wie internationaler Ebene finden. Sollte der deutliche „Schock“, der sich im Gefolge der subprime crisis für die Finanz- und Realmärkte erkennen ließ, aller-dings konsequenzlos bleiben, wird man jenen Negativszenarien nähertreten müs-sen, die im Falle einer sich verstärkenden oder neuen Finanzkrise den Zusam-menbruch der nationalen wie internationalen Finanzarchitektur voraussagen und dies mit einer möglichen Renaissance nicht-kapitalistischer Steuerungs- und Wirtschaftsformen verbinden. Alle Marktteilnehmer, Anbieter wie Nachfrager, sollten sich dessen bewusst sein und zu Reformmaßnahmen beitragen, die das erfahrene „Übermaß“ auf den Finanzmärkten eindämmen und den Primat der Politik wiederherstellen.

3. Veränderungen der Staatlichkeit im Zeitablauf

Schließlich mündeten die Beiträge zum ZSE-Themenheft in eine Reihe von Analysen, die sich in Vermeidung allzu aktualitätsbezogener Reaktionen der „Veränderung der Staatlichkeit im Zeitablauf“ anzunehmen suchten. Sie reichen von einem Blick auf ein zeitgemäßes Verständnis der Formen und Funktionen des öffentlichen management über die Folgen des Zusammentreffens von trans-nationalen Rationalitäten und nationalen Traditionen bis hin zur Frage nach der Entscheidungs- und Reformfähigkeit demokratischer politischer Systeme. Die entsprechenden Ausführungen fanden zum einen eine sektorale Konzentration, so mit Blick auf die erkennbare parlamentarische Entwicklung oder die Verände-rungen öffentlicher Meinung im System polyzentrischer Herrschaft, bevor zwei weiter ausgreifende Beiträge eine für die Veröffentlichung wichtige Transzen-denz herstellten: einerseits durch den Blick auf die Rolle von Kirchen und Chris-ten im demokratischen Verfassungsstaat samt des sich damit verbindenden Dis-

Page 45: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

42

kursverständnisses, das die rational vorgetragene Haltung des jeweils anderen ernst nimmt und davon absieht, Alleinvertretungsansprüche zu erheben, anderer-seits über die Diskussion des Staates als „Glücksmaximierer“ mit dem Ausweis der Implikationen politischen Handelns für die Determinanten menschlichen Wohlbefindens. Beide Beiträge, ganz gewiss nicht nur addenda im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung, sind für die Zukunftsfähigkeit und die Akzeptanz des öffentlichen Handelns von beträchtlicher Bedeutung.

Jenseits der bereits aufgezeigten exogen begründeten Beeinflussungen wird man für die künftige Rolle und Funktion von „Staatlichkeit“, also des über politisch-administrative Einrichtungen erbrachten öffentlichen Handelns, zunächst auf die Bedeutung der jeweiligen Rahmenbedingungen abstellen müssen. Hier machten etwa die Veröffentlichungen zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes deut-lich, dass für Deutschland trotz neuer Knappheiten und eines bislang unbewältig-ten demographischen Wandels von einer vergleichsweise stabilen Ausgangssitu-ation gesprochen werden kann, zumal sich das Land nicht mehr als „klassische Einwanderungsgesellschaft“, sondern als ein Land moderner Zuwanderung ver-steht. Zwar ergeben sich zahlreiche neue Anforderungen, wie die nach Nachhal-tigkeit oder Inklusion, doch haben sich Verfassung wie ordnungspolitischer Rahmen als eine entwicklungsfähige Basis erwiesen; sie lässt Veränderungen zu, erlaubt flexible Reaktionen und sieht, wo nötig, strukturelle Anpassungen vor. Dabei wurde im Zeitablauf allerdings auch deutlich, dass sich die positive Aus-gangssituation immer dann als „gefährdete Stabilität“ erwies, wenn das Vermö-gen zur Anpassung und Veränderung (mithin die Fähigkeit zur Selbstreform) nicht mehr in ausreichendem Maß gegeben war. Dies galt und gilt in Deutsch-land vor allem für die Ausformung des politischen Institutionenrahmens, der über die Föderalismusreformen I und II bestenfalls punktuelle Veränderungen einer als defizitär gekennzeichneten Ausgangssituation erfuhr. Hier wurde ein-mal mehr erkennbar, dass das bundesstaatliche Regierungs- und Verwaltungs-handeln ungewöhnliche Kooperations- und Koordinationsleistungen voraussetzt, denen man über Jahrzehnte hinweg zwar cum grano salis zu entsprechen ver-mochte, die heute aber nachhaltigere Reformen nahe legen; sie müssten erkenn-bar über eine eben nur punktuell angepasste Kompetenzordnung und die Auf-nahme eines Verschuldungsverbots in das Grundgesetz hinausgehen. Zudem gelten die Kooperationspotentiale innerhalb wie zwischen den Gebietskörper-schaften als deutlich unausgeschöpft. Während auf Bundesebene Art. 65 GG auch weiterhin als Exkulpation dafür dient, dass es zu keinen wirklich nennens-werten Abstimmungsprozessen zwischen den „Häusern“ kommt (obwohl sich

Page 46: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 43

damit sub-optimales politisches Handeln und ein beträchtlicher Zeit- und Res-sourcenverschleiß verbinden), ist aus vertikaler Sicht auf die in Haushaltsnotla-gen immer schwieriger werdenden Abstimmungsprozesse zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu verweisen. Während der Bund als steue-rungsstarke Zentralinstanz sich von nachhaltigeren verwaltungspolitischen Kon-sequenzen bislang weitgehend ausnahm (sieht man von überfälligen IT-bezogenen Anpassungsprozessen und einer eher technischen Entbürokratisierung ab), waren die dezentralen Gebietskörperschaften, also die Länder und der kom-munale Bereich, schon aufgrund ihrer Haushaltssituation gezwungen, sich um-fassenderen Reformvorhaben zu stellen. Sie folgten einer nicht nur logischen Trias von Aufgabenkritik, Funktionalreform und Strukturreform, nach der Län-der wie Kommunen heute ungleich reagibler und flexibler agieren als der Bund. Dies mag die beträchtliche Ungleichzeitigkeit wie Asymmetrie zwischen den Reformvorhaben erklären, wobei auch wechselseitige Vorurteile eine Rolle spie-len; die von vielen erwünschte „Reform der Reform“ im Bereich der Bildungs-politik oder auch die wenig funktional ausgerichtete Lösung der Trägerschafts-frage nach dem SGB II (vulgo „Hartz IV“) seien als Beispiele benannt. Im letzten Fall ging man sogar so weit, einen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuften Sachverhalt (eine sog. „Mischverwaltung“) nicht etwa durch das Abstellen eben dieses Sachverhalts, sondern durch eine Verfas-sungsänderung „heilen“ zu wollen. Über solche Verhaltensweisen kommt es dann zu jener verfassungspolitisch bedenklichen Praxis, nach der einzelne Arti-kel des Grundgesetzes (in diesem Fall Art. 91 GG) zu einer „Müllhalde“ zu wer-den drohen, auf die hin man ungelöste oder nur teilgelöste, in jedem Fall aber eher durch Absichtserklärungen denn materielle Politiken gekennzeichnete Prob-leme abzuwälzen sucht.

Gilt mangelhafte und unausgeschöpfte Kooperation und Koordination innerhalb wie zwischen den Gebietskörperschaften daher als ein zentrales Defizit des deut-schen Regierungssystems, ist hinsichtlich der obersten Bundesorgane dagegen von einer in weiten Teilen stabilen Ausgangssituation zu sprechen. Hier hat man sich mit Blick auf den Bundestag, die Bundesregierung, den Bundesrat, das Bun-desverfassungsgericht und schließlich den Bundespräsidenten auf punktuelle Anpassungen der jeweiligen rechtlichen und organisatorischen Grundlagen ver-ständigt, die zu einer weiteren Stabilisierung dieser Organe beitrugen. Während der Bundestag in seinen Routinen gefestigt scheint, allerdings des „Weckrufs“ des Bundesverfassungsgerichts in der Frage weiterer, vor allem europapolitisch motivierter Souveränitätsabgaben bedurfte, steht die Bundesregierung trotz eines

Page 47: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

44

letztlich stabilen Leistungsrahmens in der Gefahr, zunehmend reaktiv und damit nur noch situativ zu verfahren. Die erkennbaren Schwierigkeiten der seit Oktober des vergangenen Jahres amtierenden Koalition, strittige politische Fragen inner-halb vertretbarer Zeiträume zu beantworten und den vom Souverän übertragenen Gestaltungsauftrag auch wahrzunehmen, sind primär selbstverschuldet. Dies gilt vor allem für eine handwerklich erkennbar unzureichende Koalitionsvereinba-rung, die in dieser Intensität ungewöhnliche Fixierung auf einen anstehenden Landtagswahltermin (die die materielle Gesetzgebungstätigkeit fast zum Erlie-gen brachte) sowie ein politisches Führungsverhalten, das der Moderationsrolle im Rahmen einer Großen Koalition, nicht aber der gegenwärtigen soliden Mehr-heitskonstellation angemessen erscheint.

Der Bundesrat sucht demgegenüber nach den durch die Arbeit der Föderalismus-kommissionen ermöglichten (punktuellen) Reformen zu einem neuen Selbstver-ständnis zu finden, kämpft aber in sich um eine verstärkte Kohärenz. So ist es dem Bund noch immer ein vergleichsweise Leichtes, bei strittigen Fragen über die Parteigrenzen hinweg Mehrheiten „einzukaufen“. Dies wird solange der Fall sein – und damit latent die bundesstaatliche Ordnung beschädigen –, als die Betroffenen territorial, demographisch, ökonomisch und soziokulturell sehr un-terschiedlich geprägte Länder repräsentieren. Die angestrebte „Einheit in der Vielfalt“ verbleibt im Alltag des deutschen Föderalismus doch meist eher auf dem Papier; hier durch ein weiteres Insistieren auf der föderalstaatlichen Solidar-funktion und eine Wiederbelebung der Frage nach einer Länderneugliederung motivierend zu wirken, erscheint zumindest mittelfristig angezeigt.

Das Bundesverfassungsgericht schließlich steht zunehmend in der Gefahr, zu einer Einrichtung politischer Letztentscheidungen zu werden. Der Trend, poli-tisch ungelöste Konflikte dem Gericht zuzuweisen oder eine Niederlage auf parlamentarischer Ebene durch Anrufung des Gerichtes zu mildern, hat sich deutlich verstärkt und droht im letztbenannten Fall missbräuchlich zu werden. Dabei wird man dem Gericht das Kompliment machen können, dass es trotz einzelner strittiger Urteile meist zu einer dem Grundrechtsschutz und der Stabili-tät der bundesstaatlichen Ordnung angemessenen Spruchpraxis fand. Dass sich damit künftig auch wieder eine gewisse öffentliche Zurückhaltung (also jenes immer wieder angeführte judicial restraint) anbietet, sei in Erinnerung gerufen.

So verbleibt beim Blick auf die obersten Bundesorgane das Amt des Bundesprä-sidenten, das unter dem derzeitigen Amtsinhaber eine weitere Stabilisierung, in Teilen aber auch ungewöhnlich kritische Diskussion erfährt. Letzteres bezieht sich auf eines jener wenigen materiell wirkungsvollen Instrumente, über die das

Page 48: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 45

Staatsoberhaupt verfügt: die öffentliche Stellungnahme in Reden und Schriften. Hier vergleicht man den Präsidenten kritisch mit seinen Vorgängern und sieht ihn in krisenhafter Zeit als zu wenig aktiv und inspirierend. Gerade aufgrund seiner ökonomischen Primärqualifikation würde es ihm in der Tat wohl gut an-stehen, auf die mit der Finanz- und Wirtschaftskrise verbundenen Herausforde-rungen hinzuweisen und schnellere als die bislang erkennbaren Reaktionen ein-zufordern.

„Gefährdete Stabilität“ bleibt mithin eine Metapher, die die Veränderung der Staatlichkeit im Zeitablauf adäquat zu kennzeichnen scheint. Sie mahnt weitere institutionelle Reformen und ein flexibleres, proaktiveres Handeln der politi-schen Einrichtungen und ihrer Akteure an – wohlwissend, dass ein solches Han-deln voraussetzungsvoll ist: Da Demokratie sich eher selten jene Rahmenbedin-gungen schafft, auf denen sie basiert, ist ein Grundkonsens über die Rolle und Funktion von „Staatlichkeit“ unabdingbar. Ein erinnernder Blick auf die gesell-schaftlich-historische Entwicklung des Staatsbegriffs und seiner Teleologie mag in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass ein entsprechender Konsens ideengeschichtlich eher die Ausnahme denn die Regel darstellt und folglich im Rahmen staatswissenschaftlicher wie staatspraktischer Analysen stets berück-sichtigt werden sollte.

III. Illusion der Stabilität: Der Staat als Politikum

Theorien des Staates und seiner Funktionen wurden in Deutschland traditionell nicht nur in jenen Wissenschaften entworfen, für die sich seit dem späten 18. Jahrhundert der Begriff der Staatwissenschaften durchsetzte. Zwar hatten am deutschen Staatsdiskurs Juristen, vor allem die sog. Staatsrechtslehrer, immer einen hohen Anteil, doch wurde seit der Frühen Neuzeit auch in vielen anderen Disziplinen gelehrte akademische Staatsdeutung betrieben. Eine besonders wich-tige Rolle kam dabei der Philosophie zu, aber auch den konfessionellen Theolo-gien, weil hier wie dort Ethik als relativ autonome Teildisziplin institutionalisiert war; im Rahmen der Ethik als normativ orientierter Leitdisziplin zur Deutung aller Basiseinrichtungen des menschlichen Weltumgangs gewannen unausweich-lich die Politische Ethik und hier speziell die Staatsethik eigene hohe Bedeutung. Mit dem Auseinandertreten von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wie es so-wohl in der klassischen schottischen Ethik und Ökonomie, besonders folgenreich bekanntlich bei Adam Smith, als auch im deutschen theologischen und philoso-phischen Diskurs um 1800, begrifflich besonders prägnant bei Schleiermacher und Hegel, analysiert wurde, wurden dann überkommene Deutungsmuster des

Page 49: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

46

Staates und seiner Funktionen zunehmend von normativ orientierten Analysen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft abgelöst. Galt dabei die bürgerliche Gesellschaft als ein Ort von Markt, Austausch, Konkurrenz und legitimem Kon-flikt, so wurde der Staat vorrangig als jene Ordnungsmacht gedacht, die die bür-gerliche Gesellschaft durch Recht und starke Institutionen der Durchsetzung des Rechtsgehorsams pazifiziert. Die Frage nach der inneren Einheit des Gemeinwe-sens, nach seiner Integration, gewann dabei besondere Bedeutung.

In idealtypischer Vereinfachung hoher argumentativer und positionspolitischer Komplexität lassen sich für den deutschen Diskus zwei miteinander konkurrie-rende Antworten unterscheiden. An sie zu erinnern kann in der gegenwärtigen Diskussion über „die Wiederkehr des Staates“ und mit Blick auf die vielfältigen Krisenphänomene zentraler gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen hilfreich sein, um zu erkennen, dass derzeit im Kern keine prinzipiell neuen Fragen diskutiert werden, sondern angesichts eines zweifelsohne verstärkten Problemdrucks und vielfältig veränderter kultureller Bedingungen nur sehr alte Fragen nach dem inneren Zusammenhalt des „Gemeinwesens“ wieder auf die politische Agenda zurückgekehrt sind. Auch wenn nun ganz andere politische und ökonomische Rahmenbedingungen – insbesondere die Prozesse weiterer europäischer Integration und kapitalistischer Globalisierung – sowie grundlegend neue kulturelle Voraussetzungen des Politischen – weltweite Migration, neue Kommunikationstechnologien und eine radikale Vielfalt höchst unterschiedlicher Lebensstile und Lebensentwürfe – zu berücksichtigen sind, bleibt doch die alte Frage nach den gesellschaftlichen wie kulturellen Voraussetzungen effektiven Staatshandelns aktuell.

Die Diskussion politisch relevanter öffentlicher Moral und innerer Einheit des Gemeinwesens gehören zu den klassischen Themen politischer Ethik. Idealty-pisch lassen sich für den deutschen Diskurs zwei Antworten unterscheiden: die von den konsequent liberal denkenden Kantianern verfochtene Integration des politischen Verbandes allein durch Recht und die von den christlichen Konserva-tiven sowie von vielen Sozialdemokraten verfochtene Integration durch überin-dividuell verbindliche Kulturwerte. Natürlich gab es und gibt es im deutschen politischen Denken zwischen diesen beiden Konzepten vielfältige Positionen der Vermittlung, schon seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aber zur präziseren Be-stimmung der gegenwärtigen Herausforderungen von Staatlichkeit dürfte es hilfreich sein, zunächst die gegensätzlichen Modelle zu skizzieren, um dann ihre je eigene Leistungskraft sowie ihre je besonderen Schwächen zu bezeichnen.

Page 50: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 47

1. Das liberale Modell: Immanuel Kant und das Grundgesetz

Das liberale Modell des Politischen ist mit hoher begrifflicher Prägnanz von Immanuel Kant entwickelt worden. Es hat im deutschen akademischen Staatsdis-kurs allerdings seit dem frühen 19. Jahrhundert eine deutlich geringere Präge-kraft entfaltet als die organologischen Staatstheorien der Romantiker und die Staatsmetaphysik im sog. „deutschen Idealismus“. Zwar haben Kulturtheoretiker wie Max Weber, seiner Ausbildung nach Jurist, und kluge metaphysikkritische Weimarer Staatsrechtslehrer, wie insbesondere Hans Kelsen, den entscheidenden Kantischen Impuls aufgenommen, sowohl um der Freiheit der Bürger als auch um der Effizienz des Staates willen von ihm nicht allzu hoch zu denken, also den Staat ohne metaphysischen Ewigkeitsglanz zu entwerfen. Aber erst im Staat des Grundgesetzes wurde in Philosophie, Jurisprudenz und auch protestantischer Theologie die spezifische Leistungskraft der Kantischen Politischen Ethik er-kannt. Sie lässt sich in gebotener Kürze so skizzieren: Um der menschenrechtlich garantierten, insoweit prinzipiell vorstaatlichen Freiheit der Einzelnen willen wird der Staat auf die äußere Rechtssphäre beschränkt. Der freiheitliche Rechts-staat ist religiös oder weltanschaulich radikal neutral und darf sich deshalb nicht als eine moralische Anstalt, als ein Sittenstaat oder aktiver Sinnstifter verstehen. So wenig er seinen Bürgern irgendeinen religiösen Glauben vorschreiben darf, so wenig darf er Gesinnungskonformität oder Zivilreligion einklagen. Für eine freie Gesellschaft sei die strikte Unterscheidung von innen und außen, privat und öffentlich, Legitimität und Legalität sowie die institutionell gesicherte Differen-zierung von Politischem und Religiösem konstitutiv. Die offene Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger dürfe deshalb nicht durch eine für gemeinschaft-lich erklärte, folgerichtig dann als gemeinverbindlich behauptete Idee des Guten integriert werden. Allein das formale Recht verbinde freie Subjekte zum freiheit-lichen politischen, demokratischen Verband. Recht wird in der Kantischen Tradi-tion mit großer gedanklicher Stringenz als ein rein formales Regelsystem gedeu-tet und der Staat, im Gegenüber zu den Kirchen, Synagogengemeinden und sonstigen moralischen Sinnstiftungsagenturen, auf die Fiktion konsequenter weltanschaulicher Neutralität verpflichtet - auch wenn seine Repräsentanten, wie sich immer wieder zeigen lässt, in ihrem politischen Handeln und auch in ihren Rechtsakten von je besonderen kulturellen oder religiösen Prägungen und welt-anschaulichen Gewissheiten nicht völlig frei sind. Für die Kantische Tradition des deutschen Staatsdenkens gilt: Der Staat soll keine Werte predigen oder Sinn stiften wollen, sondern sich in freiheitsdienlicher Selbstbeschränkung damit begnügen, die äußeren Freiheitssphären der Bürger voneinander abzugrenzen

Page 51: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

48

und den Rechtsfrieden zu garantieren. In dieser prägnanten Selbstbegrenzung liegt die Stärke des liberalen Staates. Seine selbst gewollte konstitutive Schwä-che, oder anders formuliert: sein Metaphysikverzicht macht seine grandiose Stärke aus.

Der moralminimalistische Rechtsstaat will die Gesellschaft, den Ort von Tausch, Konkurrenz und Kommunikation der freien Subjekte, nur mit einem relativ lo-ckeren Integrationsband, dem Recht, überziehen, bloß den unverzichtbaren „Ordnungsrahmen“ dafür bilden, dass Gesellschaft funktionieren kann. Macht-phantasien der starken Steuerung gesellschaftlicher Tauschprozesse und Interes-senkonflikte liegen diesem Staat fern. Er will, dass es in der Gesellschaft, bei aller legitimen Vielfalt, Konkurrenz und Interessengegensätzlichkeit, zivil, also rechtlich geordnet zugeht. Aber er maßt sich nicht an, in den innergesellschaftli-chen Auseinandersetzungen für einen der partikularen Akteure, etwa ihre je besonderen Interessen oder ihre individuelle Weltsicht, Partei zu ergreifen. Er hält sich hier vornehm zurück. Und daran tut er gut. Er weiß in seiner „formalis-tischen“ Bescheidenheit und antimetaphysischen Selbstbegrenzung um die Gren-zen seines Wissenkönnens. Der Staat könnte nur dann mehr als die Gesellschaft wissen, wenn er an gleichsam metaempirischer göttlicher omniscientia, dem Allwissen eines das Ganze der Wirklichkeit und die Fülle der Zeiten wahrneh-menden Beobachtergottes jenseits aller (unausweichlich relativierenden) Per-spektivität teilhaben könnte - wie auch immer. Aber er weiß, dass er dies nicht kann, und deshalb weiß er auch, dass er niemals weiter blicken kann als die Ge-sellschaft oder genauer: der wahrnehmungssensibelste, jeweils blickstärkste Akteur in der Gesellschaft. Der konsequent liberale Staat ist deshalb immer dar-auf angewiesen, sich das in der Gesellschaft von ganz unterschiedlichen Akteu-ren – Wissenschaftlern, Wirtschaftseliten, Intellektuellen etc. – produzierte Wis-sen zu eigen zu machen – nicht um allemal illusionärer Steuerung willen, sondern im Interesse, den „Rahmen“, den er auf der Grundlage der besonders fest (aber nicht „ewig“) definierten Basis der Verfassung immer neu zu entwer-fen hat, um gesellschaftlicher Produktivität willen realitätsnah zu konstruieren. Die bisweilen zu lesende Behauptung, dieser konsequent liberale Staat sei des-halb ethisch defizitär und gleichsam morallos gedacht, ist allerdings falsch. In-dem er darauf verzichtet, selbst als Sinnstifter oder moralischer Akteur aufzutre-ten, muss er von den Bürgern unausweichlich eine spezifische Bürgertugend erwarten: die entschiedene Bereitschaft, sich im individuellen Verhalten the rule of law zu eigen zu machen. In ethischer Hinsicht ist von den Bürgern einschließ-lich der Inhaber politischer Ämter nur eine Tugend zu fordern: die Bereitschaft,

Page 52: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 49

strikten Rechtsgehorsam zu internalisieren. Andere Bürgertugenden mag man im Interesse einer zivilen politischen Kultur wünschen und erhoffen. Aber der Staat darf sie nicht einklagen wollen, um der vorstaatlichen Freiheit der Bürger und um seiner eigenen Funktionsfähigkeit willen.

3. Der christlich-konservative Gegenentwurf

Gegen Kants Rechtsphilosophie wurden schon in den 1790er Jahren und ver-stärkt dann seit 1800 Einwände formuliert, die die politischen und speziell staats-theoretischen Diskurse bis in die zyklisch wiederkehrenden Werte- oder „Grundwerte“-Debatten des Bundesrepublik hinein bestimmten. Noch immer fehlen diskurshistorische Studien über die Kantrezeption im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Deutlich ist bisher nur, dass Kant in protestantischen Theologischen Fakultäten deutlich früher als in Juristischen Fakultäten gelesen wurde. Klare disziplinäre Grenzen zwischen Theologie und Philosophie gab es damals insoweit nicht, als die Mehrzahl der Inhaber philosophischer Professuren auch Theologie studiert hatten und durchaus wieder in Theologische Fakultäten zurückkehren wollten, aus ökonomischen Gründen, waren hier Lehrstühle doch deutlich höher dotiert, die Hörerzahlen (mit entsprechendem Hörergeld) deutlich größer und sehr häufig mit lukrativen kirchlichen Pfründen – freien Wohnungen, Einkommen aus Grundbesitz etc. – bei vergleichsweise geringen kirchenbezoge-nen Aufgaben, etwa der Pflicht, einmal im Monat zu predigen, verbunden. In diesem sehr intensiven theologischen Kant-Diskurs wurden sowohl die spezifi-sche Leistungskraft als auch die möglichen Schwächen seiner Konzeption früh schon kontrovers diskutiert. Als entscheidend erwiesen sich hier zunächst die Argumente vieler entschieden christlicher frühkonservativer Kant-Kritiker.

Diese Theoretiker des frühen Konservativismus hatten gegen den als abstrakt erlittenen „Formalismus“ der Kantischen praktischen Philosophie aristotelische Denkfiguren reformuliert und wieder substantielle Gemeinschaftswerte geltend gemacht. Ihr entscheidendes Argument lautete: Eine bloß äußerliche Integration durch das formale Recht leiste nur einer brutalen Konkurrenz- und Ellenbogen-gesellschaft Vorschub, in der sich die Stärkeren erbarmungslos über die Schwä-cheren, auf Solidarität und Gemeinsinn angewiesenen Hilfsbedürftigen hinweg-setzten. Das freie Individuum der Liberalen deuteten sie mit den Sprachmustern der alten christlichen Sündenlehre als egozentrischen und um sich selbst kreisen-den Sünder, der in der Fixierung auf seine unmittelbaren Interessen weder Ge-meinsinn noch sonstige Solidartugenden entwickeln könne. In diesen Debatten über „den Einzelnen“ und „die Gemeinschaft“ waren die Morallasten von vorn-

Page 53: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

50

herein zugunsten „der Gemeinschaft“, „des größeren Ganzen“, „des Sozialen“ und des „Gemeinwohls“ – wohl der ideologieanfälligste Begriff der modernen politischen Sprache – verteilt. Ein protestantischer Konservativer, wie etwa Friedrich Julius Stahl, und frühe Theoretiker der dezidiert restaurativen katholi-schen Soziallehre, wie etwa Adam Müller und Franz von Baader, betonten Na-turrechtsüberlieferungen, nach denen niemand rein aus sich und für sich lebe. Jeder Mensch sei von Geburt an immer schon eingebunden in bergende sittliche Gemeinschaften, wie insbesondere die Familie. Stark geprägt durch Traditionen der lutherischen Ständeethik und der überkommenen römisch-katholischen Na-turrechtstradition insistierten die christlichen Konservativen des vormärzlichen Deutschland darauf – nicht selten mit Rekurs auf Hegels etatismusfreundliche Hochschätzung des Staates als Inkarnation des „objektiven Geistes“ –, dass die Bürger in mehr als nur äußerlichen, rechtlichen Beziehungen zueinander stehen müssten, solle die moderne bürgerliche Gesellschaft nicht zu einem brutalen Kampfplatz von Egoisten pervertieren und humane Solidarität mit den Schwä-cheren verloren gehen. Über die nur äußere Verbindung der Bürger hinaus klag-ten sie deshalb auch eine innere Vergemeinschaftung ein: die Bindung an eine gemeinsame Idee des Guten, an verbindliche Normen und Kulturwerte, an über-kommene sittliche Traditionen. Nur eine solche vorrechtliche, sittliche Einheit könne verhindern, dass die Gesellschaft durch Interessenkonflikte und Gruppen-kämpfe zersetzt und die gewachsene Ordnung durch eine verabsolutierte Freiheit der Einzelnen zerstört werde.

In der Perspektive der christlich Konservativen ist der Staat ein sozialer Sitten-staat, der über äußeren Rechtsgehorsam hinaus auch innere Loyalität, eine zivil-religiöse Gesinnungstreue und Solidarität mit den Schwächeren beanspruchen soll. Deshalb sprachen sie in sehr hohen Tönen gern vom Kulturstaat oder vom Sozialstaat, beschworen das bonum commune bzw. Gemeinwohl und verstanden ihre christlichen Parteien als Weltanschauungsparteien und religiös-sittliche Gesinnungsgemeinschaften. Seit der Formierung des deutschen politischen Ka-tholizismus in der Revolution von 1848/49 und der Gründung konservativer Parteien, in denen Lutheraner das Sagen hatten, und seit der Gründung der Zent-rumspartei, der Partei des katholischen Milieus, pflegen die christlichen Konser-vativen eine Werterhetorik, in der altehrwürdige Begriffe des Neuen Testaments, etwa der Begriff der Nächstenliebe, zur Rechtfertigung starker staatlicher Institu-tionen diente, mit denen die Freiheitsräume der Individuen begrenzt werden sollten. Ihre Parteiprogramme ließen immer eine Tendenz zur Übermoralisierung des Politischen erkennen. Dies zeigte sich zunächst in den Visionen eines

Page 54: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 51

„christlichen Staates“, in dem politische Institutionen mit den Kirchen zum Zwe-cke der Versittlichung der Gesellschaft eng kooperieren.

Im frühen 19. Jahrhundert wurden die „Kulturwerte“ zunächst durch christliche Sprache legitimiert. Als die hohen sozialen Kosten der industriellen Modernisie-rung sichtbar wurden und sich die deutsche Gesellschaft in antagonistische Klas-sen und heterogene sozialmoralische Milieus ausdifferenzierte, gewann auch das Moralische eine plurale Gestalt. Die deutschen Parteien konkurrierten nicht nur um die politische Macht, sondern wollten jeweils auch ihre Weltanschauung durchsetzen. Neben den christlich Konservativen und den Sozialdemokraten, die ihre Grundwerte zunächst bei Marx und Engels fanden, setzten auch die liberalen Parteien im Kaiserreich zunehmend auf Werteproduktion. Über „Werte“ suchte man die eigene Klientel an sich zu binden, und zugleich konnte man die harten Kämpfe um politische Macht und Einfluss als Veranstaltungen inszenieren, die primär um der wahren Gemeinschaftswerte willen zu führen seien.

4. Staatsfunktionen und Zeitgeist

Die Dauerdiskussionen um Bürgerfreiheit, Grundkonsens und politische Moral bewegen sich bis heute im Spannungsfeld von formaler Rechtsintegration und materialer Wertintegration. Seit den amerikanischen Kontroversen zwischen Neoliberalen und Kommunitaristen stehen mögliche Vorzüge und Schwächen beider Modelle im Vordergrund der politisch-ethischen Debatte. Kann die par-lamentarische Demokratie allein durch Legalität und Verfahrenslegitimität funk-tionieren? Bedarf sie nicht auch einer moralischen Grundhaltung der Bürger, etwa Tugenden wie Gemeinsinn und elementarer Solidarität mit dem schwachen anderen? Ein freiheitlicher Staat darf solche „moralische software“ nicht bilden wollen. Ein Tugendstaat wird schnell zur Hölle des zivilreligiösen Gesinnungs-terrors, kann man seit Hölderlin wissen: „Beim Himmel! Der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ Aber dies bedeutet nicht, dass der liberale Staat ohne Bürgertugend zu funktio-nieren vermag. Die entscheidende Frage an konsequent liberale Theoretiker der Integration allein durch Recht lautet deshalb: Wie und wo sollen jene Bürgertu-genden gebildet werden, die allererst die Bereitschaft zum Rechtsgehorsam er-möglichen und zur Stärkung von Gemeinsinn beitragen?

Demgegenüber lautet die entscheidende Frage an die Wertintegrationstheoreti-ker: Wie soll in einer modernen, posttraditionalen Gesellschaft, die von einem

Page 55: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

52

breiten ethischen Pluralismus und der Koexistenz gegensätzlicher religiöser und ethisch-weltanschaulicher Grundhaltungen geprägt ist, politische Integration durch Werte erfolgen können? Ist es nicht illusionär, angesichts des geschichtlich nun einmal gegebenen Pluralismus der religiösen Grundhaltungen, moralischen Optionen und individuellen Lebensentwürfe noch auf allgemein verbindliche Werte zu setzen? Sind nicht auch die sog. „Grundwerte“ bloß partikulare Wert-orientierungen, die einzelne Gruppen für allgemeinverbindlich erklären? Ver-sucht nicht jede Weltanschauungsgemeinschaft, ihre besonderen Wertorientie-rungen zu verallgemeinern? Wenn dies der Fall ist, dann droht Integration über Werte politisch destruktiv zu werden und Desintegration noch zu verschärfen. Wer bloß seine besonderen Wertorientierungen politisch allgemeinverbindlich machen will, verschärft nur die permanenten Wertkonflikte in pluralistischen Gesellschaften. Sind Wertintegrationsprogramme also politisch kontraproduktiv?

Fragen dieser Art gewinnen an Gewicht, sieht man die bei vielen Bürgern in der Bundesrepublik zu beobachtende wachsende Skepsis gegenüber großen, pathe-tisch verkündeten Wertbegriffen. Wer etwa ein „christliches Menschenbild“ oder „freiheitliche Werte“ beschwört, droht nur reale Verschiedenheit durch hyposta-sierte Einheitsbegriffe abzublenden. In einer historischen Perspektive lässt sich beobachten: Je fragmentierter und konfliktreicher moderne Gesellschaften sind, desto lauter wird nach Werten und neuer Moral gerufen. Neue Werte und mehr Gemeinsinn haben in den letzten Jahren keineswegs nur konservative Intellektu-elle oder Politiker von CDU und CSU gefordert. In den aktuellen Diskussionen um das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft sowie in den Debatten um globalisierte Finanzmärkte und die Weltfinanzkrise haben sich auch viele Sozi-aldemokraten, Grüne und Liberale die Leitbegriffe der Kommunitaristen zu eigen gemacht und in stark moralisierender Sprache die Krise auf die mangelnde ethische Verantwortung und asoziale Unmoral der Banker, ihre Habgier, zurück-geführt. Viele politische Akteure und Intellektuelle, die in den sechziger und siebziger Jahren in pathetischer Emanzipationssprache mehr Selbstverwirkli-chung einklagten, treten in den Feuilletons nun für die Wiederkehr der Tugend ein. Manche rufen nach einem neuen preußischen Ethos, um den Standort Deutschland zu stärken, andere fahnden nach jenen sozialmoralischen Ressour-cen, die den Gemeinsinn stärken sollen, und wieder andere beschwören mit Blick auf die vielfältigen Korruptionsskandale in der Republik neue Dekaloge. An moralischen Pathosformeln herrscht in der Berliner Republik wahrlich kein Mangel. Aber Werte fallen nicht vom Himmel, und Moral entsteht nicht dadurch, dass man nach ihr ruft.

Page 56: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 53

Integrationsprozesse scheinen in posttraditionalen Gesellschaften einem rapiden sozialen Strukturwandel zu unterliegen. Die großen, zentralistischen Integrati-onsmuster verlieren zunehmend an Bedeutung. Staatliches Recht stiftet häufig keinen sozialen Frieden mehr, und Bürokratien, für Max Weber noch die Garan-ten zweckrational effizienten öffentlichen Handelns, produzieren nicht selten, wie man gerade am Beispiel der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sehen kann, dysfunktionale, insoweit irrationale Entscheidungen, deren desaströse Folgewir-kungen sich kaum noch beheben lassen. Oft lassen sich demokratisch legitimier-tes Recht und gesellschaftliche Vorstellungen von Gerechtigkeit gar nicht mehr aufeinander beziehen, was zur Schwächung des Rechts beiträgt.

Angesichts der globalen Herausforderungen von Klimawandel, Kampf gegen den Terrorismus, Friedenssicherung und Nord-Süd-Problematik scheinen auch die Möglichkeiten zu schwinden, politischen Konsens in den überkommenen Formen demokratischer Willensbildung bzw. über Verfahrenslegitimität zu er-zeugen. Die Muster politischer Partizipation haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt. Die Mitgliederpartei, in der man sich für alle möglichen Themen an ein politisches Milieu bindet, kann in einer Kultur der vielfältig fragmentierten patchwork-Identitäten nur noch kleine Gruppen integ-rieren. Politische Partizipation wird zum „widerspruchsvollen Vielengagement“ (Ulrich Beck): Die konfessorische Bindung an eine Partei wird bei einer wach-senden Zahl von Menschen abgelöst von zeitlich überschaubaren, thematisch konkreten und vorrangig lokalen politischen Engagements in Bürgerinitiativen, Netzwerkgruppen oder auch Kirchengemeinden. Diese Gruppen erzeugen in der Konkurrenz zu Parteien und Verbänden vielfältige Konflikte. Sie tendieren, wie der neue Öko-Pietismus zeigt, zur Übermoralisierung des Politischen und wirken so polarisierend. Aber sie stellen auch kleine Konsensinseln dar, Orte, an denen thematisch begrenzte Teilkonsense ausgehandelt werden. Insoweit lassen sie sich als Kräfte partieller Homogenisierung deuten. Viele Sozialwissenschaftler ver-muten, dass solche kleinen „zivilgesellschaftlichen“ Integrationsmuster, die intermediären Stadien von wechselseitiger Abstimmung und Einheitsbildung, zukünftig noch an Bedeutung gewinnen werden. Zentrale politische Integration, die Entscheidungsproduktion in den klassischen demokratischen Einrichtungen, wird dadurch aber keineswegs überflüssig, auch wenn dies in den institutio-nentheoretisch wenig prägnanten governance-Diskursen gern suggeriert wird. Denn der in den heterogenen „Netzwerken“ neuer sozialer Bewegungen oder durch transnational agierende NGOs erzeugte politische Druck macht Koordina-tion, Steuerung und Entscheidungsproduktion nicht obsolet, sondern dürfte,

Page 57: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

54

genau umgekehrt, einen höheren Bedarf an zentraler Koordination und Steuerung erzeugen. Weil zivilgesellschaftliche Integration in intermediären Gruppen Integ-ration über das politische Institutionensystem ergänzen, aber nicht ersetzen kann, sind diese Gruppen immer auch danach zu fragen, wie sie es mit Regelkonsens und Mehrheitsregel halten.

Auf steigende soziale Differenzierung, moralischen Pluralismus, neue religiöse Vielfalt und postmoderne Pluralität selbstbestimmter individualistischer Lebens-stile reagieren Gruppen der Gesellschaft mit dem Rückzug in homogene Ghettos und autoritäre Fundamentalismen. Je unübersichtlicher die soziale Welt wird, desto stärker klammern sich viele Menschen an neue Autoritäten und einfache Wahrheiten. Solche Fundamentalismen haben seit den siebziger Jahren in allen westlichen Gesellschaften an Einfluss gewonnen. Sie stellen zunehmend auch eine gewichtige ethische Herausforderung für die großen Volkskirchen dar.

Wer die offene Gesellschaft mündiger Bürger und Bürgerinnen verteidigen will, muss sich mit diesen Fundamentalismen auseinandersetzen. Solche Auseinander-setzung ist konfliktträchtig. Denn sie konfrontiert mit Fragen, für die es in den überkommenen Modellen der Definition des liberal-parlamentarischen Rechts-staates keine zureichenden Antworten gibt. Wie wollen wir auf Dauer mit religi-ös-weltanschaulichen Akteuren politisch umgehen, die aufgrund ihrer Wertorien-tierungen konsequent die freiheitsdienliche Differenzierung von Recht und Moral, Politik und Religion verweigern? Dies gilt besonders für solche funda-mentalistischen islamischen Gruppen in unserer Gesellschaft, die zentrale Ele-mente ihrer Identität aus einer prinzipiellen Kritik „des Westens“ gewinnen, aber für ihre Angehörigen gleichwohl ein Recht auf Einbürgerung beanspruchen. Sollen auch solchen Einwanderern aus muslimischen Ländern Staatsbürgerrechte zuerkannt werden, die eine neue Einheit von Religion und Politik fordern sowie die Idee von Menschenwürde und vorstaatlicher Freiheit des Einzelnen aus reli-giösen Gründen bekämpfen? Dabei geht es um einzelne, in Deutschland bisher marginale muslimische Gruppierungen, nicht um den Islam, den es so wenig wie das Christentum gibt. Bessere Integration lässt sich langfristig nur erreichen, wenn die politisch Verantwortlichen die Ressourcen für erheblich gesteigerte Bildungsprogramme zur Verfügung zu stellen bereit sind. Noch immer weiß die deutsche Öffentlichkeit nur relativ wenig über die häufig sehr geschlossenen Lebenswelten islamischer Bürger und ihre besonderen Wertorientierungen. Bil-dungsdefizite aber verstärken Ängste und diffuse Vorurteile. Mehr Verschieden-heit bedeutet in aller Regel auch: mehr Konflikt. Desto wichtiger ist die Stärkung

Page 58: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 55

der demokratischen Einrichtungen, in denen Konflikte nach geordneten Verfah-ren zu bewältigen versucht werden.

Seit dem späten 18. Jahrhundert war gesellschaftliche Modernisierung immer von „Sittenverfall“ begleitet. Überkommene moralische Selbstverständlichkeiten wurden kritisch negiert oder verloren an lebensdienlicher Plausibilität. Wo es keine Stände mehr gibt, lassen sich auch keine Standesethiken bewahren, und die vielen „Leitbilder“ und Ethik-Codices, mit denen sich viele Firmen und Organi-sationen heute eine moralische corporate identity zu geben versuchen, sind nur ein sehr schwacher Ersatz für jene substantielle Sittlichkeit, die traditionell durch religiösen Glauben erzeugt oder zumindest gestärkt wurde. Tugend und Moral sind in posttraditionalen komplexen Marktgesellschaften deshalb notorisch knappe Güter. Dies ist politisch langfristig prekär. Denn den Wissensgesellschaf-ten eignet ein bisher ungekanntes Maß an Selbstgefährdungspotentialen. Sie benötigen gerade in den Funktionseliten hohe moralische Selbstreflexionskapazi-tät. Je größer die Handlungsmöglichkeiten, desto größer ist auch der Bedarf an moralischer Selbstbegrenzung des Menschen. Doch solche Moral wird durch fortschreitende Modernisierung permanent zersetzt.

5. Exkurs: Kirchen als Moralproduzenten im demokratisch-liberalen Staat?

Gerade demokratisch verfasste offene Gesellschaften benötigen deshalb Organi-sationen und Institutionen, in denen dem fortwährenden Moralverzehr entgegen-gewirkt wird. Als solche Institutionen der Erinnerung an moralische Überliefe-rungen und der damit verknüpften Akkumulation moralrelevanter Ressourcen galten im deutschen Diskurs über Staat und Gesellschaft traditionell vor allem die Kirchen und sonstigen religiösen Gemeinschaften. Man schrieb ihnen ein moralisches Mandat zu, das sie sehr gern auch wahrnahmen, und deutete die religiöse Vergemeinschaftung in Kirchen und Glaubensgemeinden trotz aller tiefen Differenzen und Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken letzt-lich als eine sozialintegrative Leistung. Gerade den beiden großen Volkskirchen wurde deshalb immer attestiert, unverzichtbare vorpolitische Ligaturen in der pluralistischen Gesellschaft zu bilden. Man sah sie als moral communities, denen dank der ritualisierten kollektiven Erinnerung an ihre je besondere religiöse Überlieferung und moralische Tradition die Funktion zukam, genau jene Bürger-tugenden zu bilden, die die Erosion der offenen Gesellschaft zum bloßen Kampf-platz rücksichtsloser Individuen verhindern. Der berühmte Böckenförde-Satz von den sozialmoralischen Voraussetzungen des freiheitlichen Staates, die dieser selbst nicht garantieren könne, ist im bundesdeutschen Diskurs von Politikern

Page 59: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

56

wie von Kirchenvertretern so oft wiederholt worden, dass er große suggestive Überzeugungskraft gewann. Eine entscheidende Frage wurde darüber vergessen: Sind religiöse Akteure, wie insbesondere die beiden großen Volkskirchen, denn tatsächlich dazu imstande, ihre religiösen Symbolbestände so zu pflegen, dass die politische Verantwortungsbereitschaft der Bürger, ihr Gemeinsinn und ihre Bereitschaft zu Rechtsgehorsam gestärkt wird?

Der im politischen Diskurs übliche Hinweis darauf, dass knapp zwei Drittel aller Deutschen den beiden großen Kirchen angehören, kann nicht über die vielen Krisenphänomene in den Kirchen selbst hinwegtäuschen. Ihre geistliche wie moralische Strahlkraft hat in den letzten Jahren dramatisch abgenommen, und das intellektuelle sowie theologische Niveau der in den Kirchen geführten Debat-ten lädt Nachdenkliche, argumentativ Orientierte – welcher weltanschaulichen Herkunft auch immer – nicht dazu ein, hier engagiert mitzustreiten. Das peinlich schlechte Krisenmanagement, das führende Kirchenvertreter in der Missbrauchs-krise besonders der römisch-katholischen Kirche gezeigt haben, lässt einen er-heblichen Mangel an Professionalität in den kirchlichen Funktionseliten erken-nen. Eine relevante sozialwissenschaftliche Forschung zu den Kirchen gibt es in der Bundesrepublik nicht, und so lässt sich die Frage, ob die Kirchen denn zu leisten vermögen, was von ihnen politisch erwartet wird, nicht auf Grundlage methodisch seriös erhobener Daten beantworten. Deutlich ist jedoch, dass beide großen Kirchen seit Jahren erodieren und sich insbesondere die römisch-katholische Kirche sehr schwer damit tut, elementare Prinzipien der parlamenta-rischen Demokratie und diskursive Spielregeln der offenen Gesellschaft anzuer-kennen. Dass von ihnen eine Stärkung der Demokratie zu erwarten ist, kann man aus guten Gründen bezweifeln. Sie leisten derzeit keinen relevanten Beitrag zur Förderung von Bürgertugenden wie Respekt, politische Partizipationsbereit-schaft, Gemeinsinn und auch Transparenz, das wichtigste Mittel zur Bekämp-fung von Misswirtschaft und Korruptionsanfälligkeit, sondern tragen, genau umgekehrt, dazu bei, die Akzeptanzkrise von Politik bei vielen Bürgern noch zu verstärken. Kirchen, die sich dem Gemeinwesen als Moralagenturen empfehlen, bringen sich selbst nur in Misskredit, wenn sie den von ihnen selbst definierten hohen moralischen Ansprüchen ans Politische nicht zu genügen vermögen. Mo-ralagenturen, in denen es viel Misswirtschaft, Verlogenheit, Schweigekartelle und die systematische Verschleierung von Straftatbeständen gibt, machen sich nicht nur selbst unglaubwürdig, sondern tragen zu einem langfristig gefährlichen, Bürgerengagement und Zivilität unterminierenden Zynismus bei, nach dem in der Politik sowieso nur gelogen und betrogen wird.

Page 60: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Horst Dreier / Friedrich Wilhelm Graf / Joachim Jens Hesse Staatswissenschaften und Staatspraxis

ZSE 1/2010 57

Insoweit besteht eine wichtige Aufgabe der Staats- und Gesellschaftswissen-schaften in den kommenden Jahren unter anderem darin, endlich die Kirchen und die mit ihnen verbundenen Sozialholdings von Caritas und Diakonie mit Blick auf die Frage zu erforschen, inwieweit sie überhaupt noch Ligaturen bilden und bürgerschaftliche Tugenden zu fördern vermögen, die durchaus als Vorausset-zungen demokratischer Staatlichkeit verstanden werden dürfen.

V. Res publica revisited: Zur Rolle und Funktion der Staatswissen-schaften im 21. Jahrhundert

Im Ergebnis wird deutlich, dass wir mit unserer Diskussion über das Verhältnis von Staatswissenschaften und Staatspraxis in einer durchaus beeindruckenden Kontinuität stehen. Sie erlaubt „Überschussenergien“ auf ein historisch infor-miertes Maß abzusenken, trennt das nicht selten „Modische“ vom Wichtigen und ermöglicht einen vergleichenden Blick auf die die Staatswissenschaften konstitu-ierenden Disziplinen. Dabei wird erkennbar, dass die rasante Entwicklung der das öffentliche Handeln beeinflussenden Rahmenbedingungen nicht nur das politische Steuerungspotential, sondern auch den wissenschaftlichen Erkenntnis-prozess nachhaltig beeinflusst. Während die Politik große Schwierigkeiten do-kumentiert, sich jenseits situativer Anpassungen auch mit mittel- und langfristig erwartbaren Entwicklungen zu beschäftigen, muss für die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ebenfalls ein zunehmend reaktives Verhalten diagnos-tiziert werden. Dies ist zunächst dann nicht schädlich, wenn sich damit angemes-senes Urteil und „Augenmaß“ verbinden und es auch im historischen wie territo-rialen Vergleich möglich wird, etwa unterschiedliche Problemlösungen miteinander zu konfrontieren. Diese Haltung wird allerdings dann diskussions-würdig, wenn Wissenschaft nur noch nachvollzieht und darüber hinaus eher selbstreferentiell agiert, während der politisch-administrative Prozess ohne kom-petente Kritik und Beratung „von außen“ bleibt. In diesem Spannungsfeld erge-ben sich erkennbar neue Handlungsmöglichkeiten für beide Seiten, bis hin zu einer erweiterten Kooperation. Auch diese freilich bleibt voraussetzungsvoll: So sollte der akademische Bereich wissen, dass „Politikberatung“ sich auf die Funk-tionsbedingungen politischer Prozesse einzulassen hat, will sie nicht nur wohlfei-le Empfehlungen abgeben, und muss die Politik akzeptieren, dass wissenschaftli-cher Rat meist „unter Unsicherheit“ steht, gerade deshalb aber einbezogen werden sollte, wenn es um neue und veränderte Reaktionen auftretenden Prob-lemstellungen gegenüber geht. Sich dieser wechselseitigen Bezogenheit (und gleichzeitig Begrenzung) bewusst zu sein und daraus Konsequenzen für das je

Page 61: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

58

eigene Handeln abzuleiten, erscheint einige Mühen wert sein, zumal die Ge-schwindigkeit von Veränderungsprozessen beide Akteursgruppen zu überfordern droht. Insofern bietet es sich an, Erkenntnis- wie Handlungspotentiale verstärkt aufeinander zu beziehen, gewiss nicht im Sinne einer wechselseitigen „Arrondie-rung“, aber im Sinne eines „Aufeinanderhörens“, das Austauschprozesse nahe legt. Dass diese wiederum nicht mehr nur nationalstaatlich zu begrenzen sind, sondern immer auch eine regionale, gelegentlich globale Dimension bergen, sollten die im Themenheft vorgelegten Beiträge deutlich gemacht haben. Die ZSE wird den weiteren Diskussionsprozess begleiten.

Page 62: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

59

________________________________________________________ ABHANDLUNGEN / ANALYSES

„Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei“ Die Neuregelung der Finanzverfassung im Zuge der Föderalismusreform II

von Torsten Niechoj1

Trotz gesetzlicher Vorkehrungen und staatlicher Konsolidierungsanstrengungen ist die Staatsverschuldung in den letzten Jahrzehnten weiter angewachsen. Die Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts verstärkten den Druck, eine Bund wie Länder umfas-sende Lösung zu finden. Die Föderalismuskommission I brachte noch wenig handfeste Ergebnisse; die ihr nachfolgende Reformkommission hat jedoch 2009 einen Kompromiss für eine „Schuldenbremse“ erarbeitet, der die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat fand. Diese Einigung kam jedoch überraschend, da angesichts der Finanz- und Wirt-schaftskrise von Konsolidierung keine Rede sein kann. Wichtiger noch ist, dass die Län-der mit der Neuregelung einen signifikanten Teil ihrer fiskalischen Handlungsautonomie aufgeben. Zur Erklärung wird die Ausgangslage zu Verhandlungsbeginn rekonstruiert und es wird aufgezeigt, welche institutionellen Restriktionen, strategischen Interaktionen und Interessenasymmetrien zur verfassungsändernden Mehrheit führten.

Despite legal regulations and political efforts, public debt has continued to rise over the past decades. The Stability and Growth Pact added pressure to find an overarching solu-tion for both the federal and Länder levels. No results were achieved by the Föderalis-muskommission I, but a subsequent effort in 2009 let to a compromise that was ratified by both Bundestag and Bundesrat. This result is, however, rather puzzling, as the financial and economic crisis led to sharp increases in public debt. More importantly, the Länder, by accepting this new framework, abandon a significant part of their fiscal autonomy. In this paper, a solution to this puzzle is suggested by outlining the initial situation at the outset of negotiations and detailing the institutional restrictions, strategic interactions and interest asymmetries that led to a constitutional amendment.

I. Einleitung

Am 5. März 2009 hat sich die aus Vertretern von Bund und Ländern zusammen-gesetzte Föderalismuskommission II auf die Einführung einer Schuldengrenzen-

1 Für Anregungen und Hinweise danke ich Achim Truger und Heike Joebges.

Page 63: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

60

regelung für Bund und Länder geeinigt.2 Die Gesetzentwürfe passierten Ende März und Ende Mai erfolgreich den Bundestag, auch die Zustimmung des Bun-desrates erfolgte Mitte Juni 2009. Die neue Schuldenregel wird 2011 in Kraft treten, wobei für den Bund eine Anpassungsfrist bis Ende 2015 und für die Län-der eine Übergangsphase bis Ende 2019 vorgesehen ist. Für hochverschuldete Bundesländer wird es zudem Konsolidierungshilfen geben.

Die Einigung zu diesem Zeitpunkt kommt überraschend. Zum einen standen die Verhandlungen schon mehrfach kurz vor dem Scheitern, zum anderen scheint das Frühjahr 2009 ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, eine Schuldenbremse zu beschließen. Angesichts der Folgen der Finanzmarktkrise und verschiedener staatlicher Programme zur Dämpfung der Krisenfolgen ist die Verschuldung drastisch gestiegen. Die Erwartungen des Frühjahrs 2009 – im 2. Nachtragshaus-halt der Bundesregierung war eine Nettokreditaufnahme von € 49,1 Mrd. einge-plant – haben sich letztlich nicht ganz erfüllt, doch die Nettokreditaufnahme wird laut Zahlen des Bundesministeriums für Finanzen 2009 immer noch bei etwa € 34 Mrd. liegen. Zudem ist 2010 mit einem weiteren starken Anstieg der Neu-verschuldung in Bund und Ländern zu rechnen.3

Dennoch soll es mit der neuen Schuldenregel zukünftig gelingen, über eine insti-tutionelle Selbstbindung der Politik nahezu ausgeglichene Haushalte zu errei-chen. Denn, wie es Jürgen Rüttgers formuliert hat, „[e]s muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei.“4 Trotz durchaus guten Willens und Konsoli-dierungsversuchen in der Vergangenheit ist die gesamtstaatliche Verschuldung (Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen) über die Zeit hinweg immer mehr gestiegen. 2008 betrug die Schuldenstandsquote, d. h. das Verhältnis von Schulden zu Bruttoinlandsprodukt (BIP), noch knapp 66 %. Mit der Finanz-marktkrise ist sie im Laufe des Jahres 2009 voraussichtlich auf etwa 73 % ange-wachsen. 2010 wird sie weiter steigen, die Europäische Kommission rechnet für

2 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen:

Beschlüsse der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Beschlussdatum: 5. März 2009), Kommissionsdrucksache 174, 2009, http://www. bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/drucksachen/kdrs174.pdf.

3 Bundesministerium für Finanzen: Monatsbericht des BMF, Januar 2010, http://www.bundesfinanz ministerium.de/nn_91648/DE/BMF__Startseite/Aktuelles/Monatsbericht__des__BMF/2010/01/inhalt/M onatsbericht-Januar-2010,templateId=raw,property=publicationFile.pdf, hier 7 u. 43f.

4 „Länderfinanzausgleich: Finanzminister wollen Kontrollsystem“, in: Der Tagesspiegel vom 20.10.2006, http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Laenderfinanzausgleich;art122,1870128.

Page 64: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 61

Deutschland mit einem Anstieg auf fast 77 %.5 Der Finanzierungssaldo des Staa-tes wird nach Schätzungen der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2010 -5,2 % des BIP betragen, was € 127 Mrd. entspricht.6 Auch wenn diese Werte die Handlungsfähigkeit des Staates nicht per se gefährden, kann es Schuldenstände geben, die über die Zins- und Tilgungslasten den Staat stark belasten; eine ge-naue Beobachtung der Verschuldung und eine wachstumsorientierte Politik sind also geboten. Die neue Schuldenregel soll hierzu beitragen, indem – anders als beim europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) – nicht einfach ein starres Defizitziel vorgeschrieben wird, ab welchem eine weitere Verschuldung unzulässig ist. Vielmehr lässt die neue Schuldenbremse die zulässige Verschul-dung gegenläufig zur konjunkturellen Lage schwanken, um prozyklische Effekte auf das Wachstum zu vermeiden, und sieht eine Konsolidierung im Aufschwung vor. Die Hoffnung ist, ein Verfahren gefunden zu haben, das gleichsam automa-tisch (mithin ohne besondere politische Kraftakte) für annähernd ausgeglichene Haushalte sorgt und damit in der langen Frist die Schuldenstandsquote zurück-führt. Das Verfahren ist so gewählt, dass es – jedenfalls der Intention nach – wachstumsneutral ist, aber die Schuldenaufnahme effektiv und nachhaltig ein-grenzt.

Was gerade in der momentanen Krisensituation die Länder und den Bund dazu bewegt hat, Handlungskompetenzen abzugeben und sich einer Regel zu unter-werfen, die ihr Ausgabeverhalten massiv verändern und einschränken wird, soll im Folgenden analysiert werden. Dazu rekapituliert Abschnitt II Gründe für staatliche Verschuldung. Eine potentielle Erklärung für die Einführung einer Schuldengrenze liegt in den Anforderungen des europäischen SWP. Inwieweit diese trägt, klärt Abschnitt III. Nachfolgend werden, ausgehend von der Prob-lemdefinition, die Verhandlungen zur Schuldenbremse im Rahmen der Födera-lismuskommission II nachgezeichnet und analysiert (Abschnitt IV). Dieser Blick auf die Motive, bewussten Ausblendungen und Konflikte des politischen Prozes-ses plausibilisiert nicht nur den gefundenen Kompromiss zur Schuldenbremse. Er hilft gleichfalls abzuschätzen, ob eine – ökonomisch und politisch – sinnvolle institutionelle Ausgestaltung gefunden wurde, welche die Politik künftig effektiv binden wird (Abschnitt V).

5 AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission: Update vom 22.10.2009, http://ec.europa.eu/

economy_finance/db_indicators/ameco/index_en.htm. 6 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Zögerliche Belebung – steigende Staatsschulden. Gemein-

schaftsdiagnose Herbst 2009, Essen, 2009, 37.

Page 65: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

62

II. Rationalität der Schuldenbegrenzung

Die bislang eingeführten fiskalischen Regeln konnten einen Anstieg der Staats-verschuldung häufig nicht vermeiden. Dies gilt sowohl für Schuldenregeln in Deutschland, wie die bislang in Art. 115 GG verankerte Bestimmung, dass die Neuverschuldung die Nettoinvestitionen nicht überschreiten darf (mit analogen Regelungen in den Verfassungen der Länder), als auch für ähnliche Vorgaben in anderen Staaten. Die Gründe hierfür können sowohl in unsachgemäßem Handeln der Politik als auch in ökonomischen Erfordernissen liegen.

Normalerweise wird – angelehnt an die Theorie politischer Konjunkturzyklen7 und public-choice-Ansätze8 – als Grund für Defizite das unkontrollierte Ausga-beverhalten von Politikerinnen und Politikern angeführt, die insbesondere vor Wahlen besonderen Wert auf günstige Arbeitsmarktzahlen legen, auch wenn dies inflationstreibende Politiken nach sich zieht. Fiskalische Geschenke in der Vor-wahlzeit versprechen die Sicherung von Beschäftigung und sollen so die Wie-derwahl befördern. Auch wenn die empirische Evidenz einige Fragezeichen setzt,9 ist es plausibel und durch politikwissenschaftliche Forschung gedeckt, dass Politikern nicht einfach eine Gemeinwohlorientierung unterstellt werden kann.10 Der Versuch, Schulden begrenzende Regeln einzuführen, führt jedoch zu dem Problem, dass genau die Akteure, die an einem „lockeren“ Ausgabenverhal-ten interessiert sind, sich selbst binden sollen. Sie würden damit nicht nur ihre Wiederwahlchancen mindern, sondern zudem ihre eigene Handlungskompetenz beschneiden, einen Teil der eigenen Macht abgeben. Dabei handelt es sich nicht um eine Kollektivgutsituation, in der sich alle besserstellten, könnten sie nur abweichendes Verhalten unterbinden. Aus gesellschaftlicher Sicht mag ein Di-lemma vorliegen, aus Politikersicht impliziert eine Schuldenrestriktion aber eine Schlechterstellung – individuell und als Kollektiv. Einzelne Politiker oder Partei-en könnten sich dennoch für eine solche Regel einsetzen, um sich so zu profilie-ren und abzusetzen. Ohne zusätzliche Anreize ist dann aber immer noch unplau-sibel, dass sich eine Mehrheit für die Einschränkung der eigenen Handlungs-autonomie ergeben wird. Wenn es doch zu einer Schuldeneingrenzung kommt,

7 Nordhaus, W. D.: The Political Business Cycle, in: Review of Economic Studies 42/130 (1975), 169–

190. 8 Mueller, D. C.: Public Choice III, Cambridge, 2003. 9 Alesina, A./Roubini, N.: Political Cycles in OECD Economies, in: Review of Economics Studies 59

(1992), 663–688. 10 Niechoj, T.: Kollektive Akteure zwischen Wettbewerb und Steuerung. Effizienz und Effektivität von

Verhandlungssystemen aus ökonomischer und politikwissenschaftlicher Sicht, Marburg, 2002, 216–220.

Page 66: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 63

ist folglich die zentrale Frage, wie einige politische Akteure von einer solchen Regelung profitieren konnten – und als Folgefrage: wie sie sich durchsetzen konnten.

Verschuldung kann ihre Ursache aber auch nicht im politischen Prozess selbst, sondern in der – möglicherweise unzureichenden – Verarbeitung ökonomischer Probleme durch die Politik haben. Die aktuelle Finanzmarktkrise und die fiskali-schen Belastungen im Zuge der deutschen Einheit zeigen, dass hohe Ausgaben (und nachlaufend: hohe Defizite) in Sondersituationen durchaus ihren Sinn ha-ben können. Mehr noch: Will man kurzfristig drastische Steuererhöhungen ver-meiden, sind sie unumgänglich, um die Folgen einer schweren Krise zu dämpfen oder, wie im Fall Ostdeutschlands, um eine nachholende Entwicklung einzulei-ten. Doch auch wenn eine solche Krisensituation nicht vorliegt, kann Verschul-dung zulässig und sinnvoll sein: zum einen, um Investitionen zu finanzieren und zum anderen, um die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.11 Hinzu tritt das Problem, dass Konsolidierungsbemühungen in der Situation eines konjunktu-rellen Abschwungs durchaus kontraproduktiv ausfallen und aufgrund nicht in-tendierter Nebeneffekte neue Probleme schaffen können. Die Minderausgaben entlasten nicht einfach den Staat, sie senken auch die staatliche Nachfrage und führen so zu negativen Einkommens- und Beschäftigungseffekten.12 In der Folge können die Steuereinnahmen sinken, so dass die Konsolidierungserfolge zum Teil wieder zunichte gemacht werden und nicht im erhofften Umfang zur Rück-führung der Schulden führen. Dies lässt sich etwa für Deutschland zwischen 2001 und 2005 nachzeichnen.13

Insofern muss eine neue Finanzverfassung für Deutschland nicht nur gegen Ei-geninteressen in der Politik durchsetzbar, sondern später auch umsetzbar und

11 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung: Staatsverschuldung wirksam

begrenzen. Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden, 2007; Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung: Die Finanzkrise meis-tern – Wachstumskräfte stärken. Jahresgutachten 2008/09, Wiesbaden, 2009; Heun, W.: Steuerung der Staatsverschuldung durch Verfassungsrecht im Widerstreit, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissen-schaften, 7/3-4 (2009), 552–571.

12 Oberhauser, A.: Das Schuldenparadox, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 200/4 (1985), 333–348; Scherf, W.: Finanzpolitik: Sparen und Konsolidieren ist nicht dasselbe, in: Wirtschaftsdienst 4 (2002), 212–218.

13 Bibow, J.: Haushaltskonsolidierungsstrategien im Vergleich. Warum die deutsch-europäische Fiskalpo-litik versagt, in: Intervention. Zeitschrift für Ökonomie 1/2 (2004), 75–106; Hein, E./Truger, A.: Ger-many’s Post-2000 Stagnation in the European Context – A Lesson in Macroeconomic Mismanagement, in: Arestis, P./Hein, E./Le Heron, E. (Hrsg.): Aspects of Modern Monetary and Macroeconomic Poli-cies, Basingstoke, 2007, 223–247.

Page 67: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

64

dauerhaft verpflichtend für Bund und Länder sein. Sie muss auch dem Kriterium genügen, konjunkturneutral (oder besser noch: konjunkturstabilisierend) zu wir-ken und sowohl bei normalen konjunkturellen Schwankungen anwendbar als auch für Sondersituationen gewappnet zu sein. Eine institutionelle Ausgestaltung zu finden, die dem genügt, ist nicht trivial. Sie im politischen Prozess durchzu-setzen, ist es noch weniger. Entsprächen Politikerinnen und Politiker tatsächlich der Modellvorstellung der Theorie politischer Konjunkturzyklen, wäre die Ein-führung einer effektiven Schuldenregel kaum zu erklären. Insbesondere bei einer Frage wie dieser, die den Kern föderaler Ordnung berührt, trifft ein Verände-rungsimpuls auf eine potentielle institutionelle Blockadesituation. Wie zu Recht immer wieder von Fritz W. Scharpf betont,14 besteht hier die Gefahr, sich in einer Politikverflechtungsfalle zu verfangen: Für eine durchgreifende Reform müssten sowohl die Länder unter sich eine Einigung erzielen, die Koalitionspar-teien im Bund müssten sich verständigen und beide Ebenen zusammen müssten gleichfalls noch einen tragfähigen Kompromiss trotz vieler Vetopositionen fin-den – und das zudem mit einer verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit. Nicht zuletzt deswegen wurde der Weg einer Kommission gewählt, um eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Doch auch die Föderalismuskommission I konnte die Politikverflechtungsfalle nicht überwinden.15 Dennoch ist es, obschon die Ausgangslage kaum besser aussah als zu Beginn der Reformkommission I, im Zuge der zweiten Kommission zu einem wirklich umfassenden und nicht nur graduellen Wandel gekommen.16

Damit stellt sich die Frage, welche treibende Kraft (oder welche Kombination aus Kräften und Gelegenheiten) es war, die ein Interesse an der Einführung hatte und die die entstehenden Kosten auf andere abwälzen konnte bzw. deren Interes-se so hoch war, dass es die Kosten überkompensierte. Einen Baustein zur Erklä-rung liefert der SWP. Aufbauend auf einer Rekonstruktion der Ausgangslage der Interessen und fiskalischen Rahmenbedingungen im europäischen und föderalen Mehrebenensystem werden anschließend die strategischen Interaktionen der

14 Scharpf, F. W.: No Exit from the Joint Decision Trap? Can German Federalism Reform Itself?, MPIfG

Working Paper, Nr. 05/08, MPI Köln, 2005. 15 Benz, A.: Kein Ausweg aus der Politikverflechtung? – Warum die Bundesstaatskommission scheiterte,

aber nicht scheitern musste, in: Politische Vierteljahresschrift 4/2 (2005), 204–214. 16 Streeck, W./Thelen, K.: Introduction: Institutional Change in Advanced Political Economies, in: dies.

(Hrsg.): Beyond Continuity: Explorations in the Dynamics of Advanced Political Economies, Oxford, 2005, 1–39.

Page 68: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 65

Akteure anhand öffentlich zugänglicher Dokumente und Presseberichte rekon-struiert und das gefundene Verfahren der Schuldenbegrenzung wird analysiert.

III. Die Schuldenregel – eine Folge des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts?

Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach. Mit dem SWP existiert auf europäi-scher Ebene seit 1996 bereits eine Fiskalordnung, die eine Begrenzung von Ver-schuldung und Neuverschuldung festschreibt und ggf. Konsolidierungsauflagen und Sanktionen beinhaltet. Mit Eingehen des Paktes hat sich Deutschland ver-pflichtet, diese Regeln einzuhalten. Eine nationalstaatliche Fortführung und Institutionalisierung des SWP liegt damit nahe. Dazu hätten Bund und Länder etwa die Kriterien und das Verfahren der EU übernehmen können. Wie eine nähere Auseinandersetzung mit dem SWP zeigt, greift diese funktionalistische Argumentation jedoch zu kurz – das Verhältnis von deutscher Schuldenbremse zu europäischem SWP ist komplizierter. Dazu sollen im Folgenden kurz Entste-hung und Entwicklung des Paktes rekapituliert werden.

Mit maßgeblichem Einfluss der damaligen Regierung Kohl und Unterstützung der Bundesbank wurde 1996 auf europäischer Ebene der SWP eingeführt, um die im Vertrag von Maastricht festgeschriebene Haushaltsüberwachung der EU-Mitgliedsstaaten auszubauen und stärker zu institutionalisieren.17 Die Idee dahin-ter war, ein Verfahren zu finden, welches für die Zeit bis zur Schaffung einer einheitlichen Währung, aber vor allem auch für die Zeit danach, garantieren sollte, dass einzelstaatliche übermäßige Defizite keinen Druck auf das – mit der Einführung des Euro – gesamteuropäische Zinsniveau ausüben können. So soll-ten Störungen der Geldpolitik der im Entstehen begriffenen Europäischen Zent-ralbank vermieden werden.18 Konkret beinhaltet der Vertrag von Maastricht eine Obergrenze für die Neuverschuldung der Mitgliedsstaaten von 3 % pro Jahr und eine Grenze der Gesamtverschuldung von 60 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die im Rahmen des Pakts in ein konkretes Überwachungsverfahren mit dem Ziel

17 Dyson, K.: Economic and monetary union in Europe. A transformation of governance, in: Kohler-Koch,

B./Eising, R. (Hrsg.): The Transformation of Governance in the European Union, London/New York, 1999, 98–118; Dyson, K./Featherstone, K.: The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Mone-tary Union, Oxford, 1999; Garrett, G.: The Politics of Maastricht, in: Eichengreen, B./Frieden, J. (Hrsg.): The Political Economy of European Monetary Unification, Boulder, 2001, 111–130.

18 Stark, J.: Genesis of the Pact, in: Brunila, A./Buti, M./Franco, D. (Hrsg.): The Stability and Growth Pact. The Architecture of Fiscal Policy in EMU, Houndmills/Basingstoke/Hampshire/New York, 2001, 77–105.

Page 69: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

66

mittelfristig ausgeglichener oder sogar überschüssiger Haushalte überführt wur-den:19 Überschreiten Staaten diese Grenzen, können von der EU-Kommission und dem europäischen Ministerrat im Rahmen eines Defizitverfahrens (excessive deficit procedure) Konsolidierungsempfehlungen an das Mitgliedsland gerichtet und letztlich auch Strafzahlungen verhängt werden, wobei ausgeglichene Haus-halte und die Begrenzung der Staatsschuld auf 60 % des BIP zwar explizit Ziel des Verfahrens sind, beides jedoch in der öffentlichen und politischen Debatte hinter dem Drei-Prozent-Kriterium in den Hintergrund getreten ist.20

Defizitverfahren sind bereits früh gegen mehrere kleinere europäische Länder eröffnet worden. Entscheidenden Einfluss für die weitere Entwicklung hatten aber die von 2003 bis 2007 laufenden Verfahren gegen Deutschland und Frank-reich. Auf deutscher Seite bemühten sich die Finanzminister Eichel und Steinbrück (beide SPD), durch Einsparungen den Regeln des Pakts zu genügen. Die Bund und Länder umfassenden Staatsausgaben sind zu dieser Zeit teilweise deutlich gesunken; aufgrund sinkender Staatseinnahmen durch den konjunkturel-len Einbruch und massive Steuersenkungen sowie flaches Wachstum blieb der Finanzierungssaldo dennoch negativ, und die Defizitgrenze wurde weiterhin überschritten.21 War es immerhin vorstellbar, dass auf kleinere Länder politi-scher Druck zur Konsolidierung ausgeübt werden konnte, fällt es schwer, sich ähnlich starken Druck gegenüber den beiden größten Ökonomien der EU vorzu-stellen. Deswegen, aber auch aus Einsicht in die Inflexibilität des Pakts – schon 2002 prägte Romano Prodi, damals Kommissionspräsident, das Bonmot „I know very well that the stability pact is stupid“ – wurde eine Reform eingeleitet, die im Ergebnis vier wichtige Änderungen mit sich brachte: eine Anpassung der Konsolidierungsempfehlungen an länderspezifische Erfordernisse; eine zeitlich gestreckte Konsolidierungsperiode; Defizitzahlen, die nun konjunkturbereinigt wurden und damit im Abschwung höher als bis dato ausfallen konnten; sowie eine Vorgabe für das strukturelle, d. h. konjunkturbereinigte Defizit von maximal

19 European Council: Resolution of the European Council on the Stability and Growth Pact – Amsterdam,

17 June 1997 in: Official Journal of the European Union, No. C 236 of 02.08.1997, 1–2; Council of Ministers: Council Regulation (EC) No. 1466/97 of 7 July 1997 on the strengthening of the surveillance of budgetary positions and the surveillance and coordination of economic policies, in: Official Journal of the European Union, No. L 209 of 02.08.1997, 1–5; Council of Ministers: Council Regulation No. 1467/97 on the speeding up and clarifying the implementation of the excessive deficit procedure, in: Of-ficial Journal of the European Union, No. L 209 of 02.08.1997, 6–11.

20 Huber, B./Runkel, M.: Das Finanzsystem und der Stabilitätspakt als Schlüssel zur europäischen Ent-wicklung, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 3/4 (2005), 573–593.

21 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2009, a.a.O., 61.

Page 70: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 67

0,5 % des BIP.22 Damit ist es möglich geworden, mehr Rücksicht auf die kon-junkturelle Lage und Situation in einem Land zu nehmen. Gleichzeitig kann dies aber auch höhere Defizite mit sich bringen.

Die seit 2006 wieder anziehende Konjunktur und die Umgestaltung des Regel-werks führten dazu, dass die Einhaltung der Regeln des SWP für Deutschland wieder möglich wurde. Der akute Druck auf die deutsche Regierung, national-staatlich gleichfalls Regeln analog dem SWP einzuführen, hat damit eher abge-nommen. Dennoch offenbarte das Defizitverfahren auch ein Dilemma der Bun-desregierung. Selbst wenn der Bund sich paktkonform verhält, kann Deutschland als Ganzes die Regeln verletzen, falls die Verschuldung in den Ländern zu hoch ausfallen sollte. Einen Zugriff auf die Ausgaben der Länder hat der Bund auf-grund der föderalen Struktur Deutschlands nicht,23 er wird aber von der EU für alle Defizite verantwortlich gemacht. Daher besteht ein hoher Anreiz für den Bund, die Länder in eine Schuldenregelung einzubinden. Im föderalen System der Bundesrepublik ist der Bund dabei immer auf die Mitarbeit und Unterstüt-zung der Länder zur Einführung und Umsetzung solcher fiskalischer Regeln angewiesen, da die Länder bei zustimmungspflichtigen Gesetzen, wie etwa einer Neuordnung der Fiskalverfassung, über den Bundesrat an der Gesetzgebung beteiligt sind. Gleiches gilt auch für die anschließende Implementierung, da die Länder ihre eigenen Haushalte verantworten und eigene Schulden aufnehmen können. Für den Bund trifft also zu, dass der SWP einen Anstoß zur Einführung der Schuldenbremse geliefert hat. Auch, dazu weiter unten mehr, greift die letzt-lich realisierte deutsche Schuldenbremse auf Berechnungsmethoden der EU zurück, um die Kompatibilität mit dem SWP zu wahren. Dennoch sollte die Rolle der EU nicht überbewertet werden, denn zum einen hat die Reform des Pakts bereits Druck vom Bund genommen und zum anderen zeigt das Beispiel der Schweiz, dass die europäischen Regelungen nicht allein die Einführung einer solchen Regel erklären können. Die Schweiz führte bereits 2001 nach positiven Voten von National- und Ständerat sowie einer Volksabstimmung (bei einer Zustimmung von 85 %) eine ähnliche Regelung ein, ohne Mitglied der EU zu

22 European Council: Presidency Conclusions of the European Council Brussels 22 and 23 March 2005,

Annex II: Improving the implementation of the Stability and Growth Pact, 7619/1/05 REV 1 CONCL 1, URL: http://ec.europa.eu/economy_finance/about/activities/sgp/conclusions-march-2005_en.pdf.

23 Es existiert zwar ein Finanzplanungsrat aus Bund und Ländern, der auch konkrete Absprachen zur Konsolidierung treffen kann und getroffen hat, doch hat dies nicht die bindende Kraft einer Verfas-sungsregelung, und der Bund ist im Finanzplanungsrat auch immer auf die Kooperationsbereitschaft der Länder angewiesen.

Page 71: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

68

sein und dem SWP zu unterliegen.24 Ein weiteres Argument ist, dass in den we-nigsten EU-Ländern bisher eine Schuldenbremse oder ähnliches eingeführt wur-de. Die Hauptursachen, die zur Einführung der deutschen Schuldenbremse ge-führt haben, sind also auf nationaler Ebene zu suchen.

IV. Die Neugestaltung der deutschen Finanzverfassung

Nicht immer wird in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union registriert und diskutiert, was auf europäischer Ebene an Direktiven und Leitlinien entwickelt wird. Anders sieht es im Fall des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts aus. Die fiskalische Regel, die Mitgliedsstaaten sollten auf ausgeglichene oder überschüssige Haushalte abzielen und dürften ihre Neuverschuldung nur auf maximal 3 % des BIP ausdehnen, wurde auch in Deutschland umfassend und kontrovers in Politik und Medien diskutiert, nicht zuletzt weil diese Maximal-grenze von 2002 bis 2005 regelmäßig überschritten wurde und bereits Strafzah-lungen an die EU drohten.25 Danach und bis zur Finanzmarktkrise lagen die Defizite unterhalb des Kriteriums; leicht überschüssige Haushalte wurden 2007 und 2008 erreicht. Zugleich musste die Bundesregierung mehrfach eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausrufen, wenn die Neuverschuldung wieder die Höhe der staatlichen Investitionen überschritten hatte, um so wenigs-tens formal dem bundesrepublikanischen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 gerecht zu werden. Diese Situation wollte der Bund nutzen, um auch gegenüber den Ländern auf eine neue Fiskalordnung zu drängen.

1. Die Ausgangslage

Schon seit mehreren Jahren war versucht worden, eine Neuordnung der Fiskal-verfassung zwischen Bund und Ländern auszuhandeln. Die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (kurz: Föderalismuskommission I) aus Vertretern von Bund und Ländern beschäftigte sich seit 2003 nicht nur,

24 Colombier, C.: Eine Neubewertung der Schuldenbremse, Working Paper der Eidgenössischen Finanz-

verwaltung, Bern, 2004; Colombier, C.: Die Schweizer Schuldenbremse – nachhaltiger und konjunktur-gerechter als der neue Stabilitäts- und Wachstumspakt? in: Schmollers Jahrbuch 126/4 (2006), 521–533.

25 Le Cacheux, J./Touya, F.: The Dismal Record of the Stability and Growth Pact, in: Linsnmann, I./Meyer, Ch. O./Wessels, W. T.: Economic Government of the EU. A Balance Sheet of New Modes of Policy Coordination, Houndsmills u.a., 2007, 72–90.

Page 72: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 69

aber auch mit dem Thema Finanzen, was in einer Föderalismusreform mündete, die am 1. September 2006 in Kraft trat.26

Die Ausgangslage deutete eigentlich auf Handlungsbedarf hin. Einige Bundes-länder wiesen seit Jahren einen hohen Schuldenstand und hohe Neuverschul-dungszahlen auf, mitunter durchaus auch über 3 %. Während der Beratungen der Föderalismuskommission I hat sich die Schuldensituation von Bund und Ländern nicht unbedingt zum Besseren hin entwickelt. Der Gesamtstaat hat im Vorfeld der Währungsunion seine Defizite zurückgeführt, dann aber seit 2002 wiederholt die Kriterien des SWP nicht einhalten können (Abbildung 1). Erst 2006 lag er wieder unter dieser Grenze. Dabei ist der Bund für den größeren Teil der Defizite verantwortlich, er trägt allerdings auch einen höheren Anteil an den Gesamtaus-gaben als die Länder.

Aus den gegenüber dem Bund moderateren Defiziten der Bundesländer könnte nun gefolgert werden, die Einführung von Schuldengrenzen wäre für die Länder ohne Probleme umsetzbar gewesen. Dies vernachlässigte aber das geringere Haushaltsvolumen der Länder gegenüber dem Bund und insbesondere die sehr unterschiedlichen Verschuldungssituationen der Länder, siehe Tabelle 1. Vor allem die Stadtstaaten Berlin und Bremen wiesen für den Zeitraum bis zur Föde-ralismusreform 2006 sowohl einen hohen Schuldenstand als auch eine hohe jährliche Neuverschuldung auf. Solche Defizite müssen jedoch nicht Folge schlechten Wirtschaftens sein, sie können auch schlicht darauf beruhen, dass entsprechend der Größe und Wirtschaftsstruktur eines Landes sich sowohl die Einnahmen als auch die Ausgaben im Ländervergleich stark unterscheiden kön-nen. Entsprechend haben Bund und Länder Instrumente geschaffen, um solche Disparitäten auszugleichen: die Bundesergänzungszuweisungen und den hori-zontalen Länderfinanzausgleich, also den Umsatzsteuervorwegausgleich und den Finanzausgleich im engeren Sinne. Insbesondere letzterer dürfte für die Wahr-nehmung der Länder untereinander eine besondere Rolle spielen, da nicht alle Länder Gelder erhalten, sondern finanzstärkere Länder Mittel an finanzschwä-chere abführen müssen. Abbildung 2 zeigt für das Jahr 2006, welche Zahlungen im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs zwischen den Ländern flossen. Fünf Geberländern mit überdurchschnittlicher Steuerkraft je Einwohner steht eine Reihe von Nehmerländern gegenüber.

26 Holtschneider, R./Schön, W.: Die Reform des Bundesstaates. Beiträge zur Arbeit der Kommission zur

Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 2003/2004, Baden-Baden, 2006.

Page 73: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

70

Abbildung 1: Defizitquoten der staatlichen Akteure 1991 bis 2006 (in %)

-2

0

2

4

6

8

10

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Bund Länder Gemeinden und Sozialversicherung Staat gesamt

3%-Defizitgrenze

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus Sachverständigenrat: Staatsverschuldung wirksam be-grenzen, a.a.O., 17. Anmerkungen: Defizitquoten (Finanzierungssaldo zu nominalem Bruttoinlandsprodukt) nach Ab-grenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechung. Die Jahre 1995 und 2000 werden durch Einmal-effekte – Übernahme von Schulden der Treuhand und der ostdeutschen Wohnungswirtschaft im Fall des Jahres 1995 sowie Einnahmen aus dem UMTS-Lizenzverkauf im Jahr 2000 – verzerrt. Negative Werte entsprechen Überschüssen.

Die Verschuldungspositionen sind nicht in Stein gemeißelt. Eine erfolgreiche Rückführung von Defiziten ist bei einem positiven wirtschaftlichen Umfeld und entsprechenden Einnahmen möglich, wie die Budgetüberschüsse in Bremen (in den Jahren 1994 bis 1999) und dem Saarland (1994 bis 2000) zeigen (Tabelle 1). Da sich die Konjunktur in Deutschland aber von 2000 bis 2005 nur schwach entwickelte, konnte der Verschuldungstrend nicht umgekehrt werden.27 Während die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau stagnierte und hohe Kosten für Sozialleis-tungen beim Staat anfielen, blieb die Einnahmeseite schwach und litt unter Steu-ersenkungen, die der Konjunkturbelebung dienen sollten. Die Einnahmeseite wurde weiter untergraben, die positiven Wachstumseffekte der Steuersenkungen blieben weitgehend aus. Der private Konsum entwickelte sich weiterhin nur schwach. Zudem waren immer noch Belastungen aus dem Prozess der Deutschen Einheit zu spüren und zu finanzieren.

27 Hein, E./Truger, A.: a.a.O.

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

70

Abbildung 1: Defizitquoten der staatlichen Akteure 1991 bis 2006 (in %)

-2

0

2

4

6

8

10

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Bund Länder Gemeinden und Sozialversicherung Staat gesamt

3%-Defizitgrenze

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus Sachverständigenrat: Staatsverschuldung wirksam be-grenzen, a.a.O., 17. Anmerkungen: Defizitquoten (Finanzierungssaldo zu nominalem Bruttoinlandsprodukt) nach Ab-grenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechung. Die Jahre 1995 und 2000 werden durch Einmal-effekte – Übernahme von Schulden der Treuhand und der ostdeutschen Wohnungswirtschaft im Fall des Jahres 1995 sowie Einnahmen aus dem UMTS-Lizenzverkauf im Jahr 2000 – verzerrt. Negative Werte entsprechen Überschüssen.

Die Verschuldungspositionen sind nicht in Stein gemeißelt. Eine erfolgreiche Rückführung von Defiziten ist bei einem positiven wirtschaftlichen Umfeld und entsprechenden Einnahmen möglich, wie die Budgetüberschüsse in Bremen (in den Jahren 1994 bis 1999) und dem Saarland (1994 bis 2000) zeigen (Tabelle 1). Da sich die Konjunktur in Deutschland aber von 2000 bis 2005 nur schwach entwickelte, konnte der Verschuldungstrend nicht umgekehrt werden.27 Während die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau stagnierte und hohe Kosten für Sozialleis-tungen beim Staat anfielen, blieb die Einnahmeseite schwach und litt unter Steu-ersenkungen, die der Konjunkturbelebung dienen sollten. Die Einnahmeseite wurde weiter untergraben, die positiven Wachstumseffekte der Steuersenkungen blieben weitgehend aus. Der private Konsum entwickelte sich weiterhin nur schwach. Zudem waren immer noch Belastungen aus dem Prozess der Deutschen Einheit zu spüren und zu finanzieren.

27 Hein, E./Truger, A.: a.a.O.

Page 74: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 71

Tabelle 1: Verschuldungsentwicklung der Bundesländer bis zum Abschluss der Föderalismuskommission I

Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit1992 8,9 0,4 5,5 0,1 15,1 2,4 10,0 7,4 44,3 1,9 17,7 1,7 10,0 0,3 4,3 2,61993 9,3 0,3 5,6 0,1 18,3 4,4 16,3 8,0 46,1 3,5 19,3 2,0 10,4 0,5 8,9 4,91994 9,2 0,3 5,0 0,0 20,9 5,8 20,3 6,5 43,6 -0,8 20,4 2,1 10,9 0,7 11,3 5,31995 9,2 0,7 4,7 0,0 27,0 7,1 21,6 4,0 42,5 -0,1 20,6 1,3 11,2 0,9 14,6 3,91996 9,7 0,7 5,2 0,6 31,6 7,2 24,6 3,2 41,9 -0,1 21,6 1,3 11,3 0,7 17,7 4,21997 9,9 0,3 5,6 0,4 34,9 1,6 26,4 3,4 41,2 -0,3 21,4 1,3 12,2 0,9 20,6 2,71998 10,0 0,1 5,6 0,1 37,9 3,3 27,7 3,6 39,9 -0,6 21,3 0,9 12,4 0,3 23,0 2,31999 9,9 0,0 5,3 -0,5 40,4 2,3 27,4 2,4 37,7 -1,3 22,2 0,9 11,8 0,3 23,9 1,72000 9,9 0,2 5,0 -0,3 42,7 3,3 28,5 1,7 38,5 1,8 22,9 1,0 11,8 0,2 24,9 1,22001 10,3 0,9 4,9 0,1 48,7 6,6 29,4 0,3 39,1 1,6 23,1 1,8 12,1 0,6 26,6 1,32002 10,7 0,8 5,1 0,5 56,7 6,1 31,5 3,2 41,2 2,8 23,4 0,3 13,0 1,1 28,1 2,72003 11,3 0,7 5,3 0,7 62,5 5,6 34,6 2,2 44,7 3,4 24,6 1,7 14,0 1,0 30,5 2,92004 11,8 0,6 5,4 0,2 68,8 3,7 33,9 1,3 46,8 3,7 25,2 1,1 14,4 0,9 32,3 1,92005 12,1 0,5 5,8 0,3 72,8 4,0 35,2 1,1 50,0 4,3 25,5 0,4 15,1 0,3 34,0 1,2

Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit Stand Defizit1992 15,2 1,1 13,6 0,3 15,7 0,7 31,8 1,9 5,5 4,0 9,9 5,7 19,9 1,1 7,0 4,81993 16,4 1,5 14,1 0,6 16,3 0,8 34,9 2,4 8,8 3,0 14,3 5,4 21,1 1,3 10,5 5,01994 17,0 1,4 14,1 0,8 16,6 1,0 31,9 -0,9 8,7 1,9 16,2 5,3 21,2 1,3 14,4 5,21995 17,7 1,4 14,8 0,7 16,8 1,0 29,7 -0,6 10,7 1,8 19,0 4,7 21,8 1,4 17,2 3,01996 18,6 0,8 15,5 0,9 18,2 1,2 30,1 -0,9 11,8 1,4 23,9 3,0 22,5 1,4 19,8 3,61997 19,2 0,8 16,3 1,2 19,1 1,2 28,4 -1,0 12,7 1,0 26,0 4,0 23,2 1,0 21,9 2,71998 19,2 0,6 16,6 0,7 19,9 1,1 26,9 -1,0 13,3 0,1 28,2 2,5 23,6 0,8 23,9 2,31999 19,1 0,6 16,8 0,5 20,1 0,7 26,5 -0,5 13,0 0,0 29,9 1,9 23,7 0,5 25,4 2,32000 18,9 0,5 16,9 0,5 20,2 0,5 24,8 -0,4 13,3 0,3 31,4 1,8 23,9 0,5 26,8 1,82001 20,3 1,5 18,0 1,5 21,5 1,1 24,5 0,2 13,1 0,1 32,8 1,7 24,3 1,1 27,8 1,92002 22,0 2,1 18,9 1,0 22,3 1,6 25,9 1,5 13,1 0,8 34,2 3,0 26,3 1,7 28,7 2,22003 23,6 1,7 20,2 1,5 23,6 1,3 27,5 1,7 13,7 0,7 36,0 2,2 28,0 1,8 30,1 2,22004 25,1 0,9 21,4 1,4 24,1 1,2 27,9 1,6 13,8 0,5 38,0 1,6 28,9 1,2 31,6 2,32005 25,0 1,4 22,4 1,4 25,2 0,9 29,6 2,8 14,2 0,2 39,9 2,2 30,5 2,2 33,8 2,3

Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-

Vorpommern

Niedersachsen Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-

AnhaltSchleswig-Holstein Thüringen

Quote Quote Quote Quote Quote Quote Quote Quote

Quote Quote Quote Quote Quote Quote Quote Quote

Quelle: Sachverständigenrat: Staatsverschuldung wirksam begrenzen, a.a.O., 15 u. 176–183. Hori-zontaler Länderfinanzausgleich im Jahr 2006 (in Mio. Euro) Anmerkung: Schuldenstand in Relation zum jeweiligen nominalen Bruttoinlandsprodukts in %; Defizite in % des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts.

Kein Land – mit Ausnahme des Saarlandes – hat seinen Schuldenstand im Zeit-ablauf von 1992 bis 2005 reduzieren können. Zwei Länder – Berlin und Bremen – weisen trotz Länderfinanzausgleich am Ende einen Schuldenstand über oder gleich 50 % auf. Hohe Zins- und Tilgungszahlungen erschweren in einer solchen Situation eine Umkehr aus eigener Kraft. Zudem besteht die Gefahr, dass Ein-sparungen bei öffentlichen Investitionen ansetzen. Es besteht der Anreiz, sich fiskalischen Spielraum zu erhalten, indem der Anteil der Investitionen an den Gesamtausgaben zurückgenommen wird, da die negativen Effekte des Nichtin-vestierens erst später zum Tragen kommen, wenn die aktuelle Regierung mögli-cherweise nicht mehr in der Verantwortung ist.28 Damit konsistent zeigt sich

28 Dur, R. A. J./Peletier, B. D./Swank, O. H.: The Effect of Fiscal Rules on Public Investment If Budget

Deficits Are Politically Motivated, Working Paper No. TI97-125/1, Rotterdam, 1997; Peletier, B.

Page 75: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

72

empirisch ein rückläufiger Trend beim Investitionsanteil an den Ausgaben (Ab-bildung 3). Solche ungetätigten öffentliche Investitionen wirken in mittlerer Frist jedoch wachstumsbeschränkend: zukünftige Erträge aus Investitionen fallen nicht an.

Abbildung 2: Horizontaler Länderfinanzausgleich im Jahr 2006 (in Mio. Euro)

2701

1071

613

608

588

472

416

344

241

123

115

-3000 -2000 -1000 0 1000 2000 3000

Berlin

Sachsen

Thüringen

Brandenburg

Sachsen-Anhalt

Mecklenburg-Vorpommern

Bremen

Rheinland-Pfalz

Niedersachsen

Schlesw ig-Holstein

Saarland

Geberländer Nehmerländer

HessenBayern

Baden-Württemberg

Hamburg

Nordrhein-Westfalen

Quelle: Statistisches Bundesamt: Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 2008, 103.

Angesichts dieser Lage zu Beginn und während der Verhandlungen der Födera-lismuskommission I hätte man – ginge es alleine nach dem Bedarf – eine um-fangreiche Reform zur Verbesserung der Finanzsituation erwarten können, denn das Problem – die Verschuldung – war virulent und ist virulent geblieben. So-weit es die Finanzverfassung betrifft, zeitigte die Arbeit der Kommission jedoch nur wenige Ergebnisse. Art. 109 (5) GG weist seit der Reform dem Bund 65 % anfallender Sanktionszahlungen nach dem SWP zu und bezieht die Länder mit

D./Dur, R. A. J./Swank, O. H.: Voting on the Budget Deficit: Comment, in: American Economic Review 89/5 (1999), 1377–1381.

Page 76: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 73

35 % in die Haftung ein – was im Großen und Ganzen auch den Anteilen von Bund und Ländern an den Defizitüberschreitungen der letzten Jahre entspricht. Die Aufteilung unter den Ländern erfolgt dabei nach dem Verursacherprinzip sowie der jeweiligen Einwohnerzahl. Wer also hohe Defizite und viele Einwoh-ner aufzuweisen hat, muss mehr zahlen als kleine Niedrigdefizitländer. Dennoch löste diese Regelung das eigentliche Verschuldungsproblem nur ansatzweise. Zwar war nun die Haftung auch auf die Länder ausgeweitet, sonstige Anreize und Instrumente zur präventiven oder aktiven Begrenzung von Länderdefiziten wurden jedoch nicht geschaffen. Auch die anderen rechtlichen Regelungen der deutschen Finanzverfassung boten hier keine Handhabe. Im Haushaltsgrundsät-zegesetz (§51a) ist zwar das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts (für Bund und Länder als Ganzes) verankert, und das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 in Verbindung mit Art. 115 GG führt aus, dass die Nettoneuverschuldung die Höhe der Investitionen außer bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht überschreiten darf. Falls die Länder jedoch trotzdem Defi-zite anhäufen, kann der Bund dies kaum verhindern. Es sind auch durch die Re-form der Föderalismuskommission I keine Verfahren einer verpflichtenden ge-meinsamen Planung und keine Maßnahmen bei dauerhaft hoher Verschuldung definiert worden. Im Finanzplanungsrat können nun zwar Empfehlungen an die Länder gerichtet werden, diese sind jedoch nicht bindend, da dem die im Grund-gesetz festgelegte Haushaltsautonomie der Bundesländer entgegensteht (Art. 109 Abs. 1). Gleichfalls relativiert wird die Neuregelung der Sanktionszahlungen dadurch, dass bis heute noch kein Mitgliedsstaat der EU Strafzahlungen beibrin-gen musste und somit dieser Punkt für die Fiskalverfassung als eher nachrangig behandelt werden kann. Zudem wurde Entscheidendes in der Föderalismuskom-mission I ausgespart, wie etwa eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs oder die Definition eines Verfahrens, wie genau übermäßige Budgetdefizite vermieden werden sollen.29

Angesichts der geringen Änderungen der Finanzverfassung durch die Föderalis-musreform und weiterhin hoher Schuldenstände bei einigen Ländern und auch beim Bund bestand unverändert Bedarf für eine Fiskalneuordnung, die Wachs-tum fördert, Asymmetrien zwischen den Ländern abbauen hilft und übermäßige Verschuldungen vermeidet. Es zeichnete sich also sehr deutlich ab, dass das

29 Hrbek, R./Eppler, A.: Deutschland vor der Föderalismus-Reform – Eine Dokumentation, EZFF Occasi-

onal Papers Nr. 28, Tübingen, 2003; Bräuer, C.: Finanzausgleich und Finanzbeziehungen im vereinten Deutschland, Wiesbaden, 2005.

Page 77: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

74

Inkrafttreten der Föderalismusreform 2006 nicht das letzte Wort in Sachen Fis-kalverfassung sein konnte.

Abbildung 3: Prozentualer Anteil der Investitionen an den Gesamtausgaben der Bundesländer

0,0

5,0

10,0

15,0

20,0

25,0

1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus Sachverständigenrat, Staatsverschuldung wirksam be-grenzen, a.a.O., 184. Anmerkung: Investitionen nach Abgrenzung der Finanzstatistik, Ausgaben der Bundesländer inklusi-ve Gemeinden.

2. Interessenkonstellationen in den Beratungen der Föderalismus- kommission II

Bereits während der Beratungen der Föderalismuskommission I hatte es weiter-gehende Vorstöße gegeben, eine Verschuldungsgrenze festzuschreiben. Seit 2005 wurden immer wieder Vorschläge für nationale Entschuldungspakte und Nulldefizite in die politische Debatte eingebracht. Einige Ministerpräsidenten CDU-geführter Länder – Wulff (Niedersachsen), Koch (Hessen), Oettinger (Ba-den-Württemberg) und Rüttgers (Nordrhein-Westfalen) – riefen Ende 2006 be-reits wieder nach einem Schuldenpakt als Kern einer neuen Finanzverfassung.30

30 „Zuversicht und leise Zweifel. Die Reaktion in den Ländern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.10.2006,

S. 2; Wulff, C.: Wir brauchen einen nationalen Entschuldungsplan, in: Zeitschrift für Staats- und Euro-pawissenschaften 4/2 (2006), 181–187.

Page 78: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 75

Ähnlich dem europäischen SWP sollte ein Verfahren für die Begrenzung der öffentlichen Nettoneuverschuldung oder sogar ein generelles Verschuldungsver-bot definiert und in die zu reformierende Finanzverfassung aufgenommen wer-den. Hierzu wurde die Schweizer Schuldenbremse häufig als Vorbild genannt, nicht nur von Mitgliedern der Großen Koalition, sondern auch von Seiten der Opposition. So gab die Bundestagsfraktion Bündnis ’90/Die Grüne eine Simula-tionsstudie31 zur Schuldenbremse für Deutschland in Auftrag. Entsprechend richtete sich im späteren Verlauf der Diskussionen die Kritik der Opposition zumeist nicht gegen die Einführung einer Schuldenregel, sondern drängte eher auf eine Verschärfung der Verschuldungsregeln.32 Auch von Seiten der wissen-schaftlichen Politikberatung gab es immer wieder Lob für eine Verschuldungs-grenze und das Schweizer Modell. So hat der Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2006 sowie in einer zusätzlichen Expertise für die Bundesregierung aus dem Jahr 2007 auf Reformbedarf verwiesen und die Schweizer Schuldenbremse als sinnvolle Basis einer neuen Finanzverfassung diskutiert.33 Ebenso gab es vom Wissen-schaftlichen Beirat des BMWI Unterstützung für das Schuldenbremsenkonzept.34

Rückhalt für eine weitere Reform seitens der Parteien und der Politikberatung sowie Bedarf existierte also; die Einsetzung einer neuen Kommission zur Lösung der verbliebenen Probleme erschien folgerichtig. Entsprechend schloss auch an die Föderalismuskommission I fast nahtlos eine Föderalismuskommission II an. Am 15. Dezember 2006 berief der Bundestag eine Kommission aus Vertretern von Bund und Ländern, die Vorschläge für eine neue Finanzverfassung im Rah-men einer weiteren Föderalismusreform vorlegen sollte. Als Vorsitzende fun-gierten für den Bund der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck und für den Bundesrat der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günther Oettinger

31 Müller, C./Hartwig, J./Frick, A.: Eine Schuldenbremse für den deutschen Bundeshaushalt. Ein Vor-

schlag zur Reform der Haushaltsgesetzgebung, Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bünd-nis ’90/Die Grünen der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, Zürich, 2007.

32 „Union will noch schärfere Schuldenregel“, in: FAZ vom 13.02.2008, S. 12. 33 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung: Widerstreitende Interessen –

ungenutzte Chancen. Jahresgutachten 2006/07, Wiesbaden, 2006; Sachverständigenrat: Staatsverschul-dung wirksam begrenzen, a.a.O.

34 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach Art. 115 GG und zur Aufgabe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Gut-achten Nr. 01/08, 2008.

Page 79: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

76

(CDU). Die Kommission nahm ihre Arbeit am 8. März 2007 auf. Hauptthema der konstituierenden Sitzung war dann auch das Schweizer Modell.35

Wenngleich für die Vertreter des Bundes plausibel ist, dass sie die Länder in eine Regelung zur Verschuldungsbegrenzung einbinden wollten, gilt dies für die Ministerpräsidenten nicht. Sie mussten auf ihre Handlungsautonomie bedacht sein und Wählerstimmenverluste fürchten. Auch das noch bei der Einführung des SWP angeführte Argument, staatliche Verschuldung schüre Inflation und störe die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank – mag es für die EU richtig sein oder nicht – dürfte für die eher europaferne Landespolitik keine Rolle gespielt und keinen Handlungsdruck erzeugt haben. Warum wollten dann Ministerpräsi-denten wie Wulff oder Rüttgers strengere fiskalische Defizitregeln?

Hier ließe sich die Überlegung formulieren, dass die Ministerpräsidenten voraus-schauend gesehen haben, dass die Zinslast langfristig zur fiskalischen und fakti-schen Handlungsunfähigkeit der Länder hätte führen können. Um später nicht in eine ausweglose Situation zu geraten, wären Konsolidierungslasten in Kauf ge-nommen worden. Soviel Gemeinwohlorientierung würde jedoch auch wieder überraschen, da positive Auswirkungen erst einige Dekaden später eintreten können. Die Ministerpräsidenten hätten selbst nicht mehr davon profitieren kön-nen. Außerdem wäre dann ein konzertiertes Vorgehen unnötig gewesen, jedes Land hätte alleine die Konsolidierung angehen und seine Schuldenlast mindern können. Zudem hätten – nach dieser Logik – insbesondere die bereits mit hohen Schulden kämpfenden Länder besonders konsolidierungsfreudig sein müssen, was jedoch nicht der Fall war.

Als alternative Erklärung drängt sich die Parteizugehörigkeit auf. Es fällt ins Auge, dass alle Ministerpräsidenten, die sich im Vor- und Verlauf der Beratun-gen der Kommission öffentlich für einen Schuldenpakt ausgesprochen haben, den Unionsparteien angehören. Zudem war zu Zeiten der Kommission in drei dieser Länder die FDP an der Regierung beteiligt, die traditionell für eine Ein-schränkung der Staatstätigkeit und ausgeglichene Haushalte eintritt. Somit könn-te gefolgert werden, die Dringlichkeit der Schuldenbegrenzung werde innerhalb des konservativ-liberalen Lagers eher als in den sozialdemokratisch regierten Ländern gesehen. Dies stimmt in der Tendenz, kann allerdings nur eine Teiler-klärung sein, nimmt man zur Kenntnis, dass die Ministerpräsidenten des Saar-

35 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen:

Stenografischer Bericht der 1. Sitzung vom 08. März 2007, Kommissionsprotokoll 1,: http://www. bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/protokolle/prot01.pdf.

Page 80: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 77

landes, Peter Müller, und Schleswig-Holsteins, Peter Harry Carstensen, eben-falls aus dem konservativen Lager stammen, jedoch einer Schuldenbegrenzung reserviert gegenüber standen, solange diese nicht mit einer vorherigen Entschul-dung der Länder kombiniert würde.36 Ebenso muss bei alleiniger Orientierung an der Parteizugehörigkeit irritieren, dass sich Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und der Ko-Vorsitzende der Föderalismuskommission Struck (beide SPD) vehement für eine Schuldengrenze der Länder eingesetzt haben.37 Des Weiteren wurden die bisherigen Regelungen zur Schuldenbegrenzung auf Bun-desebene – Art. 115 GG, der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die Aufteilung etwaiger Sanktionen des Pakts gemäß den Bestimmungen der Föderalismusreform I – mit einer breiten überparteilichen Mehrheit verabschie-det; ein nicht nur in der Union konzentrierter Konsens zur Begrenzung fiskali-scher Defizite war erkennbar.38

Lenkt man den Blick auf die aktuelle Verschuldungssituation der unterschiedli-chen Länder, so rückt eine andere Erklärung in den Vordergrund: Alle Länder in Finanzschwierigkeiten zum Ende der Föderalismuskommission I – Bremen, Berlin, das Saarland und Schleswig-Holstein – haben sich gegen einen Schul-denpakt ausgesprochen. Einsicht in die Notwendigkeit eines Umsteuerns ist es also gerade nicht – die hochverschuldeten Länder wehrten sich gegen eine fiska-lische Defizitgrenze. Für fiskalische Restriktionen setzten sich vorrangig die Länder ein, die – wie Hessen, Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen – selbst kaum Schwierigkeiten mit ihrer Haushaltslage haben. Dies waren zugleich auch finanzstarke Länder, die im System des Finanzausgleichs die höchsten Lasten, sprich: Ausgleichszahlungen an die finanzschwachen Län-der, tragen. Trotz eigener Konsolidierung, so die Wahrnehmung der Geberlän-der, mussten sie Schulden aufnehmen, um die Zahlungen im Rahmen des Län-derfinanzausgleichs leisten zu können. In den Worten des Hessischen Ministerpräsidenten und seines Innenministers Bouffier liest sich dies in einem offenen Brief an die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes so: „Ohne den Län-derfinanzausgleich würden wir in Hessen Überschüsse erzielen, so aber haben

36 Ehrenstein, C.: Mehrwertsteuer soll Schuldenkrise lösen, in: Die Welt vom 21.06.2007, S. 4. 37 „Steinbrück fordert harte Schuldengrenze“, in: Handelsblatt vom 28.11.07, S. 4; Struck, P./Deubel, I.:

Jetzt erst recht eine Schuldenregel, in: FAZ. vom 04.12.2008, S. 8. 38 Einmal abgesehen von der im Land Berlin mitregierenden Partei „Die Linke,“ die einseitig auf Einnah-

meverbesserungen setzte; Linke.PDS Landersverband Berlin: Bund-Länder-Finanzbeziehungen sozial gerecht neuordnen. Beschluss der Linksfraktion zur Föderalismusdebatte (Pressemitteilung vom 25.04.2007), http://www.linkspartei-berlin.de/nc/politik/presse/detail/zurueck/presse/artikel/bund-laen der-finanzbeziehungen-sozial-gerecht-neuordnen.

Page 81: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

78

wir in den letzten acht Jahren (1999–2006) € 8,95 Mrd. neue Schulden aufneh-men müssen, weil wir parallel € 17 Mrd. in den Länderfinanzausgleich einzahlen mussten.“39 Eine Defizitgrenze hätte für die Geberländer des Finanzausgleichs den Vorteil, dass bei einer wachstumsneutralen Reduzierung der Neuverschul-dung der Empfängerländer auch die Zuweisungen aus dem Länderfinanzaus-gleich und damit die Belastung für die Geberländer reduziert würden.40 Aus dieser Perspektive stellt sich eine Schuldenregel als indirektes Mittel dar, das System des Länderfinanzausgleichs zu beeinflussen, was auf direktem Wege bislang nicht gelungen ist und angesichts der Stimmenmehrheit der Nehmer- gegenüber den Geberländern im Bundesrat auch erst einmal nicht ansteht. (2019 allerdings muss der Länderfinanzausgleich mit dem Auslaufen des Solidarpakts II für den Aufbau Ost neu verhandelt werden.) Wenn ein Systemwechsel zu mehr Wettbewerbsföderalismus, eine Neuordnung der Länderzuschnitte inklusi-ve Fusionen und eine Abschaffung des Länderfinanzausgleichs in kurzer Frist nicht zu haben sind, bietet eine Schuldenbegrenzung immerhin die Aussicht auf eine mittelfristige Minderung der Lasten. Er kann auch einen Mentalitätswechsel einleiten, da neue fiskalische Regeln auf die Eigenverantwortung der Länder abheben und die Grundlage dafür legen, dass die Länder ihre Defizite selbst kontrollieren können und müssen. In der langen Frist kann dies dann doch wie-der zu einem System des Wettbewerbsföderalismus führen, der die Eigenverant-wortung der Länder betont und auf eigene Steuerkompetenzen der Länder setzt. Länder wären dann für ihre Finanzlage selbst verantwortlich. Wäre dies so, dann relativierte sich auch die Notwendigkeit eines Ausgleichs der Finanzkraft über den Länderfinanzausgleich.

Nimmt man alle diese Einzelaspekte zusammen, kann die Forderung nach einem Pakt zur Schuldenbegrenzung zwischen Bund und Ländern analytisch auf die folgende paradoxe Formel gebracht werden: Ziel der Geberländer des Finanz-ausgleichs war es, Autonomie aufzugeben, um ihre Autonomie auszubauen. Die Geberländer schränkten zwar ihre Haushaltsautonomie institutionell ein, ange-sichts der Verschuldungslage und -entwicklung dieser Länder zum Zeitpunkt der Verhandlungen erschien es aber als relativ unwahrscheinlich, dass sie selbst in Schwierigkeiten kommen konnten, die Defizitregeln nicht einzuhalten. Auf der Habenseite konnte verbucht werden, dass die zu findende Fiskalneuordnung

39 Koch, R./Bouffier, V.: Brief an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes zur

Veränderung der Beamtenbesoldung (15.05.2007), Wiesbaden, 2007, 1. 40 Vgl. dazu auch Oettinger, G.: Föderalismuskommission II: Ergebnisse und Bilanz, in: Zeitschrift für

Staats- und Europawissenschaften, 7/1 (2009), 6–13, hier: 8 u. 11.

Page 82: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 79

nicht dem Bund allein überlassen würde, sondern von den Ländern mitgestaltet werden könnte. Da der Bund stark an einer Begrenzung der Defizite interessiert war, um gegenüber der EU nicht unverschuldet in die Situation geraten zu kön-nen, den SWP zu verletzten, hätten die Länder durch geschickte Verhandlungen dem Bund Zugeständnisse abhandeln können. Letztlich hätten die Geberländer finanziell gestärkt aus einer Neuregelung hervorgehen können, wenn sie deutlich machten, dass Länder nicht auf die Unterstützung anderer zählen könnten und Zahlungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs zukünftig geringer ausfallen müssten. Nicht zuletzt hätte ein Entschuldungspakt so einen Teileinstieg in mehr Eigenverantwortung der Länder anstoßen und einen Zuwachs an Steuererhe-bungskompetenzen nach sich ziehen können.

Dies gilt jedoch nur für die Geberländer. Bei den hochverschuldeten Ländern sah die Situation anders aus, sie konnten durch eine Schuldenbegrenzung wenig gewinnen, hätten aber massive Sparmaßnahmen einleiten müssen. Dies erken-nend wurde vom Vorsitzenden der Föderalismuskommission II, Ministerpräsi-dent Oettinger, im März 2007 zum Ausgleich der Vorschlag eingebracht, vor oder mit der Einführung einer Schuldenbremse eine Entschuldung der Bundes-länder – etwa als Übertragung der Länderschulden auf den Bund – durchzufüh-ren.41 Anders als bei den Geberländern konnte ein Abgehen vom bestehenden Modus des Länderfinanzausgleichs nicht im Interesse der Nehmerländer sein.

Trotz konstanter Verhandlung seit Beginn der Kommissionsarbeit im Jahr 2007 konnte angesichts dieser Interessenkonstellationen erst einmal kein tragfähiger Kompromiss erzielt werden. In dieser Situation übernahm Bundesfinanzminister Steinbrück die Initiative und brachte im Februar 2008 einen Gesetzesentwurf für eine neue Fiskalordnung in die 11. Sitzung der Kommission ein.42 Das spätere inhaltliche Kernelement des Schuldenbremsenkonstrukts, zyklische Schwankun-gen innerhalb enger Grenzen zuzulassen, ist im Entwurf bereits ausgearbeitet. Der Vorschlag sah jedoch, da im Vorfeld keine Einigung mit den Ländern erzielt werden konnte, einen Alleingang des Bundes vor. Die Ausführungen zum Bund-Länder-Verhältnis sind knapp gehalten und beschränken sich darauf, ungleiche Ausgangslagen der Länder berücksichtigen zu wollen und eine Aufteilung der Verschuldung zwischen Bund und Ländern als Ganzes vorzuschlagen, die der

41 Krüger, P.-A.: Länder planen Hilfe für Berlin, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.03/01.04.2007, 5. 42 Bundesministerium für Finanzen: Notwendigkeit und Inhalt einer neuen Schuldenregelung im Grundge-

setz, Kommissionsdrucksache 96, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/kom missionsdrucksachen/kdrs096.pdf; Kastrop, C./Snelting, M.: Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6 (2008), 375–382.

Page 83: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

80

Regelung zur Aufteilung von EU-Sanktionen entsprechen. Nähere Vorschläge, wie im Fall von Abweichungen von den Schuldenbremsevorgaben vorzugehen ist, inwieweit also Sanktionen bei den Ländern definiert werden könnten, finden sich nicht. Da der Bund die Haushaltsautonomie der Länder achten musste, konnte er nicht direkt Verschuldungsgrenzen für die Länder vorgeben und muss-te darauf setzen, dass die Bundesländer freiwillig ähnliche Regelungen wie der Bund schafften. Eine unterstützende Regelung für hochverschuldete Länder, um vor Einsetzen der Schuldenbegrenzung zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen, war nicht vorgesehen.

Der Entwurf stieß bei den Ländern auf wenig Gegenliebe, da sie weder an einem Alleingang des Bundes interessiert waren, noch sich einer vom Bund gesetzten Regelung unterwerfen wollten.43 Die inhaltlichen Differenzen bezüglich der Ausgestaltung der Schuldenregelung waren allerdings nicht besonders groß, sie zeigten sich vor allem in Fragen nach der Aufteilung des Verschuldungsspiel-raums zwischen Bund und Ländern aufgeteilt und der allgemeinen Zulässigkeit von Neuverschuldung und wenn ja, in welcher Höhe. CDU/CSU votierten ten-denziell für eine Nullverschuldung, die SPD diskutierte eine Ausweitung der Verschuldung im konjunkturellen Abschwung bei einer maximalen Grenze für die strukturelle Verschuldung von 0,75 % des BIP.

Für den weiteren Verlauf entscheidend war, dass in der Kommission an einer gemeinsamen Lösung festgehalten und in den Sitzungen im Juni und Juli ein für die kommenden Verhandlungen entscheidendes Signal gesetzt wurde: In einem Eckpunktepapier44 der Kommissionsvorsitzenden Struck und Oettinger betonten diese, nicht nur weiterhin eine Bund und Länder umfassende Regelung anzustre-ben, sondern machten sich für Konsolidierungshilfen stark, um finanzschwache Länder unterstützen und für einen Kompromiss gewinnen zu können.45 Diese Hilfen waren für die Nehmerländer ein entscheidender Punkt, der eine Zustim-

43 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen:

Stenografischer Bericht der 11. Sitzung der Föderalismuskommission II am 14. Februar 2008, Kommis-sionsprotokoll 11, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/protokolle/prot11.pdf.

44 Struck, P./Oettinger, G.: Eckpunkte zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Vor-schlag der Vorsitzenden (Berlin, den 23. Juni 2008), Kommissionsdrucksache 128, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/kommissionsdrucksachen/kdrs128.pdf.

45 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Stenografischer Bericht der 14. Sitzung der Föderalismuskommission II am 26. Juni 2008, Kommissi-onsprotokoll 14, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/protokolle/prot14.pdf; dies.: Stenografischer Bericht der 15. Sitzung der Föderalismuskommission II am 3. Juli 2008, Kommis-sionsprotokoll 15, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/protokolle/prot15.pdf.

Page 84: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 81

mung zur Schuldenbremse möglich machte und die Diskussion um Verfassungs-klagen gegen die Bremse in den Hintergrund drängte.46

3. Der Kompromiss

Obschon die Jahre 2006 und 2007 einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung mit sich brachten und – 2007 unterstützt durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer – somit auch fiskalisch gute Jahre waren, wandelte sich die ökonomische Situation bald wieder drastisch. Mit der in den USA startenden Hypothekenkrise und ihrem Übergreifen auf die internationalen Finanzmärkte und das Bankensystem rutschte die Wirtschaft Ende 2008 in eine Rezession.47 Die Verschuldung des Staates wurde in Deutschland ausgeweitet, um zwei Kon-junkturprogramme zu finanzieren und mit Bürgschaften und Hilfen die Banken vor dem Kollaps zu bewahren. Knapp € 80 Mrd. wurden für zwei Konjunktur-stabilisierungsprogramme und weitere € 80 Mrd. für die Rekapitalisierung von Banken und den Erwerb von Risikopositionen vorgesehen. Bis zu € 400 Mrd. können zusätzlich als Kreditgarantien vergeben werden.48 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass diese Summen nur zum Teil haushaltswirksam werden, da nicht alle Kredite ausfallen und nicht alle Gelder abgerufen werden.49 In Verbindung mit massiven Steuerausfällen infolge der Krise brachten die Maßnahmen aber eine enorme Ausdehnung der Verschuldung für den Staat mit sich, die eigentlich gerade über eine Schuldenregel vermieden werden sollte. Das Finanzministerium legte im Mai einen Nachtragshaushalt vor, nach dem sich die Neuverschuldung im Jahr 2009 auf € 49,1 Mrd. belaufen sollte; die führenden Konjunkturfor-schungsinstitute rechneten im April 2009 sogar noch mit einem gesamtstaatli-chen Defizit von € 89 Mrd. bis Ende des Jahres 2009.50

46 Oettinger, G.: „Unser funktionierender Staat steht auf dem Spiel“, Gespräch der FAZ mit Günther

Oettinger, FAZ vom 07.07.2008, 6; Koch, R.: Ein Generationenvertrag über den Weg aus der Schulden-falle, in: FAZ, 26.04.2008, 8; „Klageverzicht in Aussicht gestellt“, in: FAZ vom 04.04.2009, 4.

47 IMK: Prognose der wirtschaftlichen Lage 2009, IMK Report, Nr. 35, Düsseldorf, 2009. 48 Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes [FMStG],

17.10.2008, in: Bundesgesetzblatt, Jg, 2008, Teil I, Nr. 46, S. 1982–1989. 49 Horn, G. A. et al.: Von der Finanzkrise zur Wirtschaftskrise (I). Wie die Krise entstand und wie sie

überwunden werden kann, IMK Report, Nr. 38, 2009. 50 Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das

Haushaltsjahr 2009, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_67914/DE/Wirtschaft__und__ Verwatung/Finanz__und__Wirtschaftspolitik/Bundeshaushalt/Bundeshaushalt__2009/003__Zweiter__ Nachtragshaushalt__Anlage,templateId=raw,property=publicationFile.pdf; Projektgruppe Gemein-schaftsdiagnose: Im Sog der Weltrezession. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2009, Essen, 2009, 96. Mittlerweile gehen die Institute angesichts der leichten Erholung zum Jahresende nur noch von € 76

Page 85: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

82

Von Juli 2008 bis Februar 2009 fand keine Sitzung der Föderalismuskommis-sion II mehr statt, die Arbeitsgruppen tagten jedoch weiter. Der Durchbruch in den Verhandlungen kam mit der ersten Februarsitzung, die, wie es Peter Struck in der ersten Lesung zum Gesetz am 27. März 2009 formulierte, eine „Sternstun-de des kooperativen Bundesstaats“ einleitete. Denn zum Jahreswechsel geriet die vormals festgefahrene Situation wieder in Bewegung. Die Wirtschaftskrise wirk-te nicht paralysierend, sondern forcierend.51 Die drohende Verschuldung führte nicht dazu, dass die Länder auf ihrer Autonomie beharrten und für eine flexible, situationsangepasste Verschuldung plädierten. Vielmehr führte der durch die Krise nochmals vor Augen geführte Handlungsdruck in Verbindung mit einem Hilfsangebot des Bundes an die Länder sowie Zugeständnissen an die Geberlän-der zu einer raschen Entscheidung. In ihrer Sitzung am 5. Februar 2009 be-schlossen Bund und Länder gemeinsam eine Reform der Finanzverfassung,52 die eine Schuldenbremse in Deutschland festschrieb und dabei maßgeblich auf Über-legungen von Steinbrücks eigentlich gescheitertem Gesetzesentwurf aus dem Jahr 2008 zurückgriff. Zentrale Unterschiede des Kommissionsbeschlusses ge-genüber dem Entwurf von 2008 aus dem Bundesfinanzministerium liegen in der Ausarbeitung eines Zeitplans inklusive Übergangsphasen, nun ausformulierten Konsolidierungshilfen für die Länder und einem Nullverschuldungsziel (über den Zyklus hinweg) für die Länder. Der Kompromiss der Föderalismuskommis-sion II wird anschließend als Gesetzesentwurf ausformuliert und in das Gesetz-gebungsverfahren eingespeist.53

Wurde bereits im Verlauf des Jahres 2008 deutlich, dass die Differenzen vorran-gig nicht in der Ausgestaltung der Regelung lagen, sondern in der Frage, wie die Länder, insbesondere die Nehmerländer, kompensiert und eingebunden werden konnten, wirkte auf diesem Konsens aufbauend die ökonomische Krise zur Jah-reswende als Katalysator der Verhandlungen.54 Die sich mit den Konjunkturpa-keten abzeichnende Verschuldung sollte wenigstens über die Schuldenbremse

Mrd., also 3,2 % des BIP, aus; vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2009, a.a.O., 37.

51 Deubel, I.: Die Föderalismusreform II: eine sinnvolle Weiterentwicklung der Verschuldungsgrenzen, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 7/2 (2009), 231–249, hier: 232f.

52 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Stenografischer Bericht der 17. Sitzung der Föderalismuskommission II am 5. Februar 2009, Kommis-sionsprotokoll 17, http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2/protokolle/prot17.pdf.

53 Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Entwurf eines Begleitge-setzes zur zweiten Föderalismusreform, Drucksache 16/12400, 2009.

54 Struck, P./Deubel, I.: a.a.O.

Page 86: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 83

(später) in geordnete Bahnen gelenkt werden. Über das Angebot des Bundes, fünf Länder bei der Entschuldung massiv zu unterstützen, erleichterte der Bund den hoch verschuldeten Ländern die Zustimmung. Insgesamt € 7,2 Mrd. sollen – gebunden an die Einhaltung von Konsolidierungsmaßnahmen – an Berlin, Bre-men, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein fließen, wobei die Zahlungen hälftig vom Bund und von den Ländern getragen werden müssen. Allerdings werden die Länder die Kosten nicht direkt bestreiten, sondern sie treten Anteile an den Einnahmen der Umsatzsteuer an den Bund ab. Als zusätzli-cher Anreiz für die Länder, insbesondere diejenigen mit hohen Schulden, wird ihnen eine längere Übergangsphase eingeräumt; die Schuldenregel greift anders als für den Bund für die Länder erst 2020. Auch der Länderfinanzausgleich wird bis dahin nicht angetastet, allerdings laufen die Regelungen des Finanzausgleichs 2019 aus, so dass mit Einsetzen der Schuldenregel auch die Ausgleichszahlungen neu geregelt werden müssen. Der Konflikt zwischen Geber- und Nehmerländern ist somit nur vertagt. Der Bund legt sich darauf fest, ab 2016 die Neuverschul-dung auf 0,35 % des BIP begrenzt zu halten. Für die Länder gilt eine Neuver-schuldungsgrenze von 0 %. Obwohl die neue Finanzverfassung 2011 in Kraft treten soll, gibt es Übergangsphasen. Im konjunkturellen Verlauf soll die Ver-schuldung antizyklisch schwanken, wobei die genannte Grenze nicht überschrit-ten werden darf. Ausnahmen sind für tiefe Krisen, wie im Fall der 2008/09er Finanzmarktkrise, oder Naturkatastrophen vorgesehen, und sie müssen mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags festgestellt werden. Allerdings sind die dann anfallenden Schulden nach einem vorher festgelegten Tilgungsplan zu tilgen. Die SPD setzte sich mit ihrer Position, konjunkturelle Abschwünge stär-ker abzufedern, insoweit durch, dass die Nichteinhaltung von Tilgungsplänen nicht mit Sanktionen verknüpft wird; allerdings ist die Tilgung selbst im Prinzip verpflichtend. Dem bisherigen Finanzplanungsrat aus den Finanzministern der Länder und des Bundes – nun als Stabilitätsrat aufgewertet und mit zusätzlichen Kompetenzen versehen – wird die Aufgabe der Überwachung des Verfahrens übertragen. Regelungen für mehr Steuerautonomie der Länder gibt es nicht.

Konkret basiert das Verfahren auf vier Komponenten.55 Die Strukturkomponente sieht über den Konjunkturzyklus hinweg nahezu ausgeglichene Haushalte vor. Die erwarteten Ausgaben sollen den erwarteten Einnahmen angepasst werden, d. h. ihnen entsprechen. Als Verschuldungsziel für den Bund ist daher eine Neu-verschuldung nur noch in der sehr engen Grenze von 0,35 % des BIP vorgesehen

55 Kommission, Beschlüsse der Kommission, a.a.O.; Deutscher Bundestag, a.a.O.

Page 87: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

84

und für die Gesamtheit der Länder eine Neuverschuldung von 0 %. Damit liegt das gesamtstaatlich zulässige strukturelle Defizit maximal bei 0,35 % und unter-halb dessen, was der europäische SWP als strukturelles Defizit vorgibt, nämlich 0,5 %. Ursprünglich sollte der von der europäischen Ebene nach der Reform 2005 als zulässig angesehene strukturelle Verschuldungsspielraum so zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden, dass der Bund 0,35 % und die Länder 0,15 % vom BIP des Gesamtstaates erhalten. Da aber die Geberländer des Län-derfinanzausgleichs die Verschuldung möglichst niedrig halten wollten, um perspektivisch die Ausgleichszahlungen zu verringern, wurde für die Länder eine Neuverschuldung von Null vorgesehen; für den Bund ist an der ursprünglichen Zahl von 0,35 % festgehalten worden.56

Als zweite Komponente beinhaltet die Neuregelung ein der konjunkturellen Lage entsprechendes Abweichen von ausgeglichenen Haushalten. Um zu bestimmen, wie hoch der konjunkturelle Einfluss (und damit das erlaubte Abweichen ist), muss zuerst artifiziell als Referenzpunkt eine Normallage berechnet werden, wonach dann die zulässigen, da konjunkturverursachten Fehlbeträge (im Ab-schwung) oder Überschüsse (im Aufschwung) abgeleitet werden können. Hier orientiert sich die deutsche Lösung wieder am SWP und nutzt das Konjunkturbe-reinigungsverfahren der Europäischen Kommission, um einen Trend und die konjunkturelle Abweichung zu bestimmen.57 Der Wert für die Abweichung wird dann mit der ebenfalls von der Kommission gelieferten Budgetsensitivität mul-tipliziert, die angibt, um wie viel Prozent sich die Verschuldung verändert, wenn sich die Abweichung von der konjunkturellen Normallage um ein Prozent verän-dert. Im Ergebnis erhält man die zulässige konjunkturell bedingte Verschuldung, die zu der strukturell möglichen hinzuaddiert wird. Privatisierungserlöse werden nicht defizitmindernd angerechnet.

Drittens wird ein Kontrollkonto eingeführt, um die erwarteten Ein- und Ausga-ben mit den tatsächlichen abzugleichen und, wenn es dadurch zu unerwarteten Defiziten kommt, diese über einen Tilgungsplan wieder zu egalisieren. Weichen die tatsächlichen Werte 1,5 Jahre nach der Haushaltsaufstellung von den ur-sprünglich erwarteten ab, wird die Differenz auf dem Konto als Überschuss oder Fehlbetrag verbucht. Im Idealfall gleichen sich die Überschüsse und Fehlbeträge

56 Kommission, Stenografischer Bericht der 17. Sitzung, a.a.O. 57 European Commission: New and Updated Budgetary Sensitivities For the EU Budgetary Surveillance,

Directorate General Economic and Financial Affairs, 30.09.2005, Brussels; Denis, C. et al.: Calculating Potential Growth Rates and Output Gaps – A Revised Production Function Approach, Economic Papers No. 247, Brussels, 2006.

Page 88: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 85

im Laufe der Zeit aus. Ist dies nicht der Fall und sammeln sich verstärkt Defizite (über 1,5 % des BIP) an, so ist ein Tilgungsplan aufzustellen, m. a. W. eine ver-stärkte Konsolidierung vorzunehmen. Der ansonsten durch die Schuldenregel vorgegebene Verschuldungsspielraum kann dann nicht mehr voll ausgeschöpft werden. Sanktionen sind jedoch nicht vorgesehen.

Die vierte Komponente des Verfahrens umfasst die Behandlung von Ausnahme-situationen. Wie die deutsche Einheit oder die aktuelle Finanzmarktkrise nebst ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft plastisch demonstrieren, kann es immer wieder zu Sondersituationen kommen, die den Rahmen der Schulden-bremse sprengen, die nur für eine normale Wirtschaftsentwicklung mit normalen konjunkturellen Schwankungen vorgesehen ist. Wie die wirtschaftliche Lage 2009 zeigt, müssen aber zur Rettung des Bankensystems und zur Stabilisierung der Konjunktur Gelder des Staates in einem Umfang eingesetzt werden, der mit der Schuldenregel nicht in Einklang zu bringen ist. Für solche Fälle ist vorgese-hen, dass der Bundestag mit Mehrheit seiner Mitglieder eine Ausnahmesituation feststellen kann, die Defizite über das von der Schuldenbremse vorgesehene Maß hinaus erlaubt. Für diese Mehrausgaben ist allerdings auch ein Tilgungsplan vorzusehen.

Der Überwachung des Verfahrens dient der neu eingeführte so genannte Stabili-tätsrat aus den Finanzministern des Bundes und der Länder sowie dem Bundes-wirtschaftsminister. Die Kriterien des Verfahrens sind jedoch nicht bereits 2011 bei Start der Schuldenbremse in vollem Umfang anzuwenden. Dem Bund wird eine Übergangsphase bis Ende 2015 und den Ländern eine bis Ende 2019 zuge-standen, in denen sie sich den Vorgaben der Regel annähern sollen. Zusätzlich sind für die hochverschuldeten Länder Konsolidierungshilfen vereinbart worden. Über neun Jahre hinweg erhält Bremen jährlich € 300 Mio., das Saarland € 260 Mio., Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Berlin je € 80 Mio. Die Zahlungen sind mit Auflagen verbunden, deren Einhaltung vom Stabilitätsrate kontrolliert werden soll. Werden die Konsolidierungsauflagen in einem Jahr nicht erfüllt, verfällt die Zuwendung für dieses Jahr.

Nach Erreichen des Kompromisses und Einigung auf das genannte Verfahren wurde das Gesetzgebungsverfahren zügig angestoßen und ein Gesetzesentwurf zur ersten Lesung Ende März 2009 in den Bundestag eingebracht. Dort gab es für den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD vorgelegten Gesetzentwurf auch Zustimmung seitens der FDP. Ablehnend votierten Bündnis ’90/Die Grü-nen und Die Linke, wenngleich aus konträren Gründen. Die Linke lehnt die Schuldenbremse ab, da aktuell im Zuge der Finanzmarktkrise die Folgen für die

Page 89: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

86

öffentlichen Haushalte nicht absehbar seien und da prinzipiell die existierenden Regeln ausreichten. Bündnis 90/Die Grünen sind keine prinzipiellen Gegner der Schuldenbremse, im Gegenteil: Sie treten gleichfalls für eine entsprechende Regelung ein, die er erreichten Lösung ähnelt, aber tendenziell etwas restriktiver ausgerichtet ist und Investitionen besonders berücksichtigt. Bereits 2007 hatten die Grünen einen eigenen Entwurf für eine Schuldenbremse eingebracht,58 der kurz vor der entscheidenden Sitzung der Föderalismuskommission II am 13. Februar 2009 im Bundestag beraten wurde, jedoch keine Zustimmung bei den anderen Parteien fand.

Obwohl es im Vorfeld der weiteren Lesungen noch einmal zu Wortmeldungen innerhalb der SPD für eine geringfügige Verschuldungsmöglichkeit der Länder kam,59 nimmt am 29. Mai 2009 der Bundestag nach zweiter und dritter Lesung das verfassungsändernde Gesetz zur Schuldenbremse mit Zwei-Drittel-Mehrheit und in der vorgesehenen Form mit einem erlaubten Defizit von Null für die Län-der an. Am 12. Juni 2009 stimmte der Bundesrat der Schuldenbremse dann ab-schließend zu. Nur Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein enthielten sich. Während die FDP in der zweiten und dritten Lesung im Bundes-tag dem Schuldenbremsengesetz nicht zugestimmt hatte, vorrangig aufgrund der SPD-internen Diskussion um eine erneute Änderung der Länderverschuldungs-grenze, stimmten die FDP-mitregierten Länder im Bundesrat alle zu; Nieder-sachsens damaliger Wirtschaftsminister Rösler (FDP) begrüßte explizit die neue Regelung.60

Damit ist, jedenfalls soweit es die Länder betrifft, die Einführung der Schulden-bremse zwar beschlossen, aber noch nicht umgesetzt. Bei der konkreten Ausges-taltung der Schuldenbremse in den Ländern haben diese einen gewissen Spiel-raum. Aufgrund einer nicht ausreichenden Datenlage auf Länderebene werden sich die Bundesländer voraussichtlich zwar an der für Gesamtdeutschland ermit-telten Produktionslücke orientieren müssen, sie können dann aber länderspezifi-sche Budgetsensivitäten ansetzen und haben auch die Möglichkeit, ein eigenes Konjunkturbereinigungsverfahren zu wählen. Dies ist keine rein technische Fra-

58 Entwurf eines Begleitgesetzes zum Gesetz zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik

in der Zukunft (Zukunftshaushaltsgesetz-Begleitgesetz) vom 04.07.2007, Drucksache 16/5954, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/059/1605954.pdf; Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik in der Zukunft vom 04.07. 2007, Drucksache 16/5955, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/059/1605955.pdf.

59 Bannas, G.: Eine Brücke für die SPD-Linke, in: FAZ vom 27.05.2009, 4. 60 „Bundesrat billigt ‚Schuldenbremse’“, in: FAZ vom 13.06.2009, 1.

Page 90: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Torsten Niechoj „Es muss Schluss sein mit der dauernden Schuldenmacherei”

ZSE 1/2010 87

ge; je nach Verfahren werden strukturelles Defizit und zulässige konjunkturelle Abweichung anders berechnet; m. a. W.: je nach Ausgestaltung können die Län-der einen höheren oder niedrigeren Defizitspielraum erreichen.61 Von Ländersei-te sind hierzu bislang jedoch noch keine Pläne bekannt geworden.

V. Fazit: Wieso dieses Ergebnis?

Diskussionen um die Eingrenzung staatlicher Verschuldung gibt es schon seit längerem. Auch Vorbilder für fiskalische Regeln föderaler Staaten lassen sich international zahlreich finden.62 Wieso gerade jetzt in Deutschland innerhalb relativ kurzer Zeit eine neue Fiskalverfassung etabliert wurde und damit ein radikaler institutioneller Wandel eingeleitet worden ist, verlangt nach einer Er-klärung. Der SWP auf europäischer Ebene liefert hierzu immerhin einen Bau-stein. Deutschland war eine treibende Kraft hinter seiner Etablierung, die Lasten des Paktes lagen bislang einseitig beim Bund, und zwei deutsche Finanzminister, erst Eichel und dann Steinbrück, haben versucht, den Pakt zu nutzen, um die SPD als Partei fiskalischer Mäßigung zu profilieren. Eine Einbeziehung der Länder in die Verantwortung war aus Sicht des Bundes daher schlüssig. Weniger schlüssig war, wieso die Länder zustimmen sollten. Das umfangreiche Werben von Ministerpräsidenten für ausgeglichene Haushalte (über den Konjunkturzyk-lus hinweg) irritiert erst einmal und kann auch nicht allein parteipolitisch mit der Präferenz seitens der CDU/CSU für eine strikte Haushaltsdisziplin begründet werden. Denn eine Schuldengrenzenregelung impliziert für die Länder immer auch eine Einschränkung ihrer Haushaltsautonomie, die, unterstellt man maßgeb-lich am Eigeninteresse orientierte Politiker, nicht gewünscht sein kann. Letztlich wird nur über die Binnensituation der Länder und die Lasten des Länderfinanz-ausgleichs für die Geberländer verständlich, wieso auch die Geberländer für eine Schuldenbremse votierten: um über eine generell höhere Haushaltsdisziplin und mehr Eigenverantwortung die Auslagen für den Länderfinanzausgleich abzusen-ken. Die Zustimmung der Nehmerländer konnte über Konsolidierungshilfen gewonnen werden. Doch brachte paradoxerweise erst die aktuelle Krise mit

61 Vgl. hierzu und für potentielle Auswirkungen der Schuldenbremse auf ein Land (in diesem Fall: Hes-

sen) Truger, A. et al.: Auswirkungen der Schuldenbremse auf die hessischen Landesfinanzen. Ergebnis-se von Simulationsrechnungen für den Übergangszeitraum von 2010 bis 2020, IMK Studies 6/2009, Düsseldorf, 2009.

62 Danninger, S.: A New Rule: »The Swiss Debt Brake«, IMF Working Paper No. 18, Washington, D.C., 2002; Jourmard, I/Kongrsrud, P. M.: Fiscal Relations Across Government Levels, OECD Economics Department Working Papers No. 375, Paris, 2003.

Page 91: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

ABHANDLUNGEN / ANALYSES

88

drohender Schuldenzunahme die kritische Masse für eine Neuregelung zustande. Durch die Übergangsfristen ist ein Teil des Konfliktpotentials jedoch nur in die Zukunft verschoben worden. 2019 laufen die Übergangsfristen aus, gleichzeitig muss der Länderfinanzausgleich neu geregelt werden. Falls dann einzelne Länder oder der Bund sich gegenüber der neuen Regelung nicht konform verhalten und eine Verschuldung über das beschlossene Maß hinaus eingehen, wird die Frage von Sanktionen und Lockerungen in den Vordergrund rücken. Schon in konjunk-turellen Normalzeiten ist die Einhaltung der neuen Schuldenregel äußerst schwierig, da die Möglichkeit einer Abweichung von der Nullverschuldung sehr begrenzt bzw. für die Länder nichtexistent ist. In der aktuellen Situation, in der die Folgen der Finanzmarktkrise zu bewältigen sind, ist aber nahezu sicher, dass die durch die Schuldenbremse vorgeschriebene Rückführung der Neuverschul-dung auf (nahezu) Null termingerecht kaum möglich sein dürfte. Der mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeschlagene Pfad, auf steuersenkungsbe-dingtes Wachstum zu setzen, hat jedenfalls kaum Aussicht auf Erfolg. Den dau-erhaften Steuerausfällen dürften nur geringe Steuereinnahmen aufgrund der – wie die bisherigen Erfahrungen deutlich gemacht haben –63 als niedrig anzuset-zenden Wachstumseffekte gegenüberstehen, womit sich die Finanzsituation der öffentlichen Hand weiter verschlechtern wird.

63 Corneo, G.: Steuern die Steuern Unternehmensentscheidungen?, in: Truger, A. (Hrsg.): Können wir uns

Steuergerechtigkeit nicht mehr leisten?, Marburg, 15–38.

Page 92: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

89

_______________________________________________________________ BERICHTE / REPORTS

Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik: Nationale Wissenschaftssysteme im Vergleich

von Joachim Jens Hesse

Eine erweiterte Internationalisierung von Wissenschafts- und Technologiepolitiken steht derzeit auf der politischen Agenda zahlreicher Industriestaaten und der meisten Schwel-lenländer. Dabei geht es zum einen um die Bewältigung grenzüberschreitender Heraus-forderungen, zum anderen um eine beschleunigte Reaktion auf die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Aus beidem erhofft man sich Produktivitätssteigerungen und nachhaltige Problemlösungen. Im Gefolge des „Heiligendamm-Prozesses“ der G8 verabschiedete das Bundeskabinett hierzu eine „Strategie zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung“, zu deren Umsetzung es jenseits der deutschen Bemühun-gen auch entsprechender Voraussetzungen in anderen nationalstaatlichen Wissenschafts- und Forschungssystemen bedarf. Der nachfolgende Beitrag summiert die Ergebnisse einer hierauf bezogenen Untersuchung von acht nationalen Wissenschaftssystemen (Ja-pan, Singapur, VR China, Indien, USA, Vereinigtes Königreich, Finnland und Deutsch-land) und leitet daraus erste Konsequenzen für das weitere Vorgehen ab.

A further internationalisation of science and technology policies is an important item on the agenda of a large number of developed countries and most NICs. Responding to transnational challenges and reacting to the repercussions of the financial and economic crisis, these strategies aim at increasing productivity and seek to secure co-operative solutions to transnational problems. In the wake of the G8’s “Heiligendamm process”, the German Federal Cabinet thus passed a “Strategy for the Internationalisation of Sci-ence and Research”. Beyond the German Government’s efforts, however, the implementa-tion of this strategy hinges upon corresponding pre-conditions in other countries’ re-search systems. Based on this premise, the following paper summarises the results of a report on the national research systems in eight countries (Japan, Singapore, PR China, India, USA, United Kingdom, Finland, Germany) and draws conclusions for the road ahead.

Als Konsequenz des sog. „Heiligendamm-Prozesses“ der G8 verabschiedete das Bundeskabinett am 20. Februar 2008 eine Strategie zur Internationalisierung von

Page 93: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

90

Wissenschaft und Forschung.1 Die in diesem Kontext benannten vier Ziele (For-schungszusammenarbeit stärken, Innovationspotentiale erschließen, Zusammen-arbeit mit Entwicklungsländern ausbauen sowie internationale Verantwortung übernehmen und globale Herausforderungen bewältigen) lassen sich erkennbar nur dann verwirklichen, wenn jenseits der deutschen Bemühungen auch in ande-ren nationalen Wissenschafts- und Forschungssystemen die Voraussetzungen für eine verstärkte internationale Kooperation gegeben sind. Damit verbindet sich zum einen ein erweiterter Informationsbedarf, zum zweiten die Notwendigkeit einer analytisch wie empirisch belastbaren Bewertung der wissenschaftspoliti-schen Ansätze in potentiellen Partnerländern sowie schließlich, drittens, die Frage nach konkreten Handlungsoptionen. In diesem Kontext richtet sich ein seit Ende 2008 vom Internationalen Institut für Staats- und Europawissenschaften (ISE) in Berlin durchgeführtes und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt auf eben diese Fragestellun-gen und sucht am Beispiel von ausgewählten „Schlüsselländern“ (bislang: Japan, Singapur, VR China, Indien, USA, Vereinigtes Königreich, Finnland und Deutschland), ergänzt um den Ausweis wissenschaftspolitischer Bemühungen auch multilateraler Einrichtungen (bislang: OECD, Europäische Union und Weltbank), die notwendigen Informationsgrundlagen zu erarbeiten und hand-lungsorientiert aufzubereiten. Der nachfolgende Beitrag summiert die bislang vorliegenden Ergebnisse dieses Projektes2 und orientiert sich an zehn deduktiv angelegten Leitsätzen, die sich zunächst auf die wachsende Bedeutung von Wis-senschafts-, Forschungs- und Technologiepolitiken (I) sowie auf den status quo der bestehenden internationalen wissenschafts- und forschungspolitischen Ko-operation (II) richten. Anhand einer vergleichenden Analyse der gegebenen Organisationsstrukturen und Verfahrensweisen (III) sowie der darauf beruhenden materiellen Politiken (IV) wird auf etwaigen Erkenntnis- und Handlungsbedarf geschlossen (V), zudem auf unterschiedliche Innovationsmodelle (VI) abgestellt. Schließlich kommt es unter Verweis auf den erkennbaren horizontalen wie verti-kalen Koordinationsbedarf (VII) zu einer Erörterung sowohl der Voraussetzun-gen (VIII) als auch der Möglichkeiten und Wege (IX) für eine erweiterte Interna-

1 Bundesregierung/Bundesministerium für Bildung und Forschung: Deutschlands Rolle in der globalen

Wissensgesellschaft stärken, Bonn/Berlin, 2008, http://www.bmbf.bund.de/pub/Internationalisierungs strategie.pdf.

2 Der sämtliche Fallstudien einbeziehende Untersuchungsbericht erscheint im Mai dieses Jahres im Rahmen der „Abhandlungen zur Staats- und Europawissenschaft“ (ASE, Duncker & Humblot-Verlag) unter Joachim Jens Hesse: Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik: Nationale Wissenschafts-systeme im Vergleich, Berlin, 2009/2010.

Page 94: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 91

tionalisierung von Wissenschafts- und Forschungspolitiken; Ausführungen zur künftigen deutschen Rolle und Funktion (X) beschließen den Beitrag.

I. Aktueller wie struktureller Bedeutungsgewinn von Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitiken

Der im Rahmen dieses Projektes inzwischen vorgelegte erste Untersuchungsbe-richt steht unter einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit, die sich mit aktuellen politischen Entwicklungen und strukturellen Veränderungen der öffentlichen Haushalte verbindet. Der Aktualitätsbezug ist vor allem der sich verschärfenden Wirtschafts- und Finanzkrise geschuldet, die jenseits der Diskussion um einzelne Ansätze zur Krisenbewältigung ein grundsätzliches Bedürfnis erkennen lässt, Wissenschaft, Forschung und Technologieentwicklung (WT) nicht als gleichsam „Annex-Kategorie“ der politischen Diskussion zu behandeln, sondern sich ihrer zentralen Bedeutung für dringend erforderliche, ja unabweisbare Innovationspro-zesse zu versichern. So kommt es angesichts wachsender Knappheiten in fast allen öffentlichen Aufgabenfeldern zu verstärkten Diskussionen von Entwick-lungskonzepten „über den Tag hinaus“, für die – wie in kaum einem anderen Politikfeld – eine Aufwertung und Ausweitung von WT-Politiken erörtert wer-den. Hier erfährt der ubiquitär diskutierte Innovationsansatz eine notwendige Konkretisierung, bündeln sich Wachstumserwartungen und Hoffnungen auf Produktivitätsgewinne, glaubt man, über ein national wie international besser abgestimmtes Handeln kooperative Problemlösungen gewährleisten zu können. Dies bricht diskursive Routinen auf, erlaubt Verteilungsentscheidungen konse-quenter als bislang zu treffen und sucht die Beteiligten im öffentlichen wie priva-ten Bereich auf ein gesamthaftes Handeln zu verpflichten, gelegentlich gar For-men einer „Verantwortungsteilung“ einzuüben. Eher allgemeine zukunftsbezoge-ne Kommunikation wird so um die Erkenntnis notwendiger Kooperation ergänzt, die wiederum auf operativer Ebene in Anforderungen an horizontale wie vertika-le Koordinationsprozesse mündet. Der aktuelle Problemdruck befördert diese Diskussion weltweit, zumal zwischenzeitlich aufgelegte Konjunkturprogramme in absehbarer Zukunft ihre stimulierende Wirkung verlieren werden und die Suche nach weiteren Rationalitätsreserven an Gewicht gewinnt.

Die aktuelle Diskussion erfährt aber eine auch strukturelle Dimension dadurch, dass gerade WT-Politiken längst einer transnationalen Beratung und Abstim-mung bedürfen, zumindest dann, wenn aufgrund der lösungsbedürftigen Proble-me grenzüberschreitende Reaktionen angezeigt sind. Zwar ist man sich dieser Tatsache seit geraumer Zeit bewusst, ohne dem allerdings mit konsequent verän-

Page 95: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

92

derten Prozessen der Politikformulierung, der Entscheidung und des Vollzugs zu folgen. So verbleibt eine global governance-Diskussion in ihrer erkennbaren Beliebigkeit belanglos, solange sie nicht zwischen Subjekt und Objekt, Raum und Zeit oder abhängigen und unabhängigen Variablen unterscheidet, verfangen sich regionale Handlungsmuster in den Routinen intergouvernementaler Ausein-andersetzung und verschleißen sich auch nationale Politiken in zeit- und ressour-cenintensiven Abstimmungen zwischen den Akteuren, seien es Gebietskörper-schaften oder einzelne Ressorts.

Angesichts dieser Ausgangssituation wächst der Bedarf an übergreifenden Sichtweisen wie Problemdefinitionen und erzwingt der Außendruck eine Öff-nung bislang eher „geschlossener“ Verfahren der Politikformulierung; schließ-lich gewinnen Querschnittspolitiken gegenüber (den traditionell dominanten) sektoralen Formen des politischen Handelns an Gewicht.

Innerhalb dieses Kontextes werden Wissenschaft und Forschung tatsächlich zu jener „Produktivkraft“, derer innovatives Handeln bedarf, und reagieren natio-nalstaatliche wie transnationale Entscheidungsträger „offener“ als bisher. Es wächst die Bereitschaft, sich bei grenzüberschreitenden Problemen nicht nur „auszutauschen“ oder in einen eher allgemeinen „Dialog“ einzutreten, sondern knappe Ressourcen zu bündeln, gemeinsame Verantwortung auch gemeinsam wahrzunehmen und dem politische Entscheidungen nachfolgen zu lassen, die der jeweiligen Problemsituation gerecht werden. Der „großen“ Politikentwicklung folgt so die Suche nach konkreten Problemlösungen, die Erkenntnis, dass die Formulierung politischer Ziele noch nicht deren Vollzug bedeutet, und schließ-lich die Bereitschaft (und Befähigung) zur auch operativen Umsetzung.

Von dieser Ausgangssituation hat die vorliegende ISE-Untersuchung samt ihrer hier vorgestellten Ergebnisse in ungewöhnlicher Weise profitiert. So kam es in jedem der untersuchten Länder zu äußerst ertragreichen Gesprächen mit der jeweiligen politischen Führung, den für WT-Politiken operativ Verantwortlichen und, nicht zuletzt, jenen Nachfragern, die in Wissenschaft und Forschung für den Umsetzungsprozess Verantwortung tragen. Auch wurde deutlich, dass der deut-schen „Internationalisierungsoffensive“ ein inzwischen sehr viel größeres Inte-resse entgegen gebracht wird als ursprünglich angenommen. Fast alle Gespräche schlossen mit der Bitte, in die weiteren Überlegungen explizit einbezogen zu werden, sei es als handelnder Akteur, der bei einer entsprechenden Ausdifferen-zierung der Agenda fachspezifische Erfahrungen einzubringen (und multiplikativ zu wirken) sucht, oder aber als sachkundiger Beobachter, um für ein erweitertes Engagement von Vertretern des öffentlichen wie des privaten Sektors zu werben.

Page 96: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 93

II. Die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung: ein bislang asymmetrischer Prozess

Die sich mit den angesprochenen Prozessen verbindende Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung hat sich nicht gleichmäßig, sondern eher a-symmetrisch entwickelt, eine Tatsache, die angesichts der gegebenen Problem-struktur, der Vielzahl von Akteuren und den sich damit verbindenden Interessen zunächst kaum verwundern kann. Allerdings verbinden sich damit Nachteile für das Anliegen selbst, verbleibt es bei eher punktueller, nicht selten situativer Re-aktion auf Seiten der politischen Akteure und wird jede Form der Abstimmung nationalstaatlichen Handelns erschwert. Diese Ausgangssituation gilt es zu erör-tern und in einigen ihrer Ausformungen zu überwinden, sollte man am Ziel einer verstärkten Internationalisierung von WT-Politiken festhalten wollen.

Die benannte Asymmetrie erklärt sich bereits daraus, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bekanntlich nicht nur (in Teilen) unterschiedlichen Rationalitäten folgen, sondern auch sehr unterschiedliche Voraussetzungen einbringen. So kann man den Wissenschaftsbereich heute als fast durchgängig „internationalisiert“ kennzeichnen, gelten die in ihm tätigen Akteure zu Recht als born internationa-lists. Jeder forschungsintensiv arbeitende Wissenschaftler kennt die peers seiner Disziplin, verfügt mit dem Internet über die Möglichkeit, sich innerhalb kürzes-ter Fristen über anstehende Fragen auszutauschen und ist sehr viel stärker als der politische Prozess zu schnellen Reaktionen in der Lage. Wer sich zudem der zunehmend verfeinerten elektronischen Suchsysteme bedient, kann ohne größere Schwierigkeiten die für bestimmte Fragen weltweit diskutierten oder schon erar-beiteten Problemlösungen identifizieren und einer eigenen Bewertung zuführen. Insofern mutet es merkwürdig an, dass deutsche Universitäten noch immer glau-ben, sich als „Netzwerkuniversitäten“ oder als „internationale Zentren“ darstel-len zu müssen; die führenden Vertreter der jeweiligen Disziplinen kennen sich seit langem, interagieren jenseits formalisierter Prozesse seit Jahren intensiv und vermögen sowohl theoretisch wie empirisch-analytisch ausgerichtet jederzeit auf auftretende Problemstellungen zu reagieren – was selbstverständlich auch „Fehl-anzeigen“ einschließt. Dabei ist kaum noch zwischen Grundlagen- und anwen-dungsorientierten Untersuchungen zu unterscheiden, geht auch der undifferen-zierte Vorwurf „marktfernen“ Denkens, etwa an die Human- und Geisteswissen-schaften, fehl. Gerade sie haben es gelernt, ihr Erkenntnisinteresse umfassender zu definieren und dabei „Handreichungen“ für eine wie auch immer definierte Praxis zumindest nicht auszuschließen.

Page 97: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

94

Die etablierte Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitik reagiert dem-gegenüber eher tradiert, meist hoch ausdifferenziert und nicht selten schwerfäl-lig. Während kritische Beobachter dies bereits zu polemischen Kennzeichnungen veranlasst, nach denen Politik und Verwaltung ihrem Internationalisierungsauf-trag bislang nur unzureichend nachgekommen seien, wird man bei einer näheren Analyse deutlich unterscheiden können: Während, etwa in Deutschland, auf Bundes- wie Länderseite einige Ressorts ihre Arbeiten konsequent einem inter-nationalen Vergleich geöffnet haben (und von diesem profitieren), sind es die eher sektoral ausgerichteten „Häuser“, deren (im doppelten Wortsinn) Grenzen deutlich werden. Hier schreibt man einmal etablierte Politiken fort, kommuni-ziert lediglich in einem meist seit vielen Jahren bekannten Rahmen, setzt Instru-mente ein, deren Prägekraft und Reichweite seit langem umstritten sind und folgt selbst bei Konzepten der Personalentwicklung noch immer nicht jener fast selbstverständlichen Internationalisierung, denen sich andere Berufe, hier meist den jeweiligen Marktentwicklungen folgen, ausgesetzt sehen. Den born interna-tionalists auf der Nachfrageseite steht also eine eher fragmentierte und sektoral ausdifferenzierte Angebotsstruktur gegenüber, die sachlich oft hervorragende Leistungen erbringt, mit Blick auf Querschnitts- und Zukunftsfragen aber er-kennbar defizitär ist.3

Zu diesen beiden „Polen“ tritt die Wirtschaft, die es aufgrund einer territorial nicht eingrenzbaren, mithin auch nur schwer steuerbaren Marktentwicklung gewohnt ist, grenzüberschreitend zu denken und zu handeln. Die hier von Marktprozessen gleichsam „erzwungene“ Internationalisierung hat, nicht zuletzt in Verbindung mit dem sich über die Entwicklung der Europäischen Union bil-denden Gemeinsamen Markt, zu beträchtlichen Wachstumsprozessen und sich damit verbindenden Wohlfahrtsgewinnen geführt, andererseits aber auch territo-riale Rückbindungen vernachlässigen lassen. Dies steht, neben ethisch-moralischen Erwägungen, im Zentrum der gegenwärtigen Wirtschafts- und Fi-nanzkrise, die man jetzt über wechselseitig zu vereinbarende Steuerungsleistun-gen und Aufsichtsprozesse zu bewältigen sucht. WT-Entwicklungen sind hiervon durchaus betroffen, zumindest dann, wenn sich aufgrund größeren Ressourcen-einsatzes und grenzüberschreitender Problemverursachung wie Problemlösung regionale, nationale und transnationale Interessen in Teilen konflikthaft gegenü-

3 Diese hier angebotene analytische Differenzierung ermöglicht zu einem späteren Zeitpunkt eine sehr

hilfreiche Unterscheidung der sich stellenden Handlungsoptionen. Sie meint natürlich weder, dass Wis-senschaftler nicht auch angebotsseitig relevant sein können, noch, dass politisch-administrative Einrich-tungen nicht auch nachfragend tätig werden.

Page 98: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 95

berstehen. Dem zu begegnen und konstruktive Lösungen zu ermöglichen, könnte eine der Aufgaben verstärkter internationaler Forschungs- und Entwicklungspoli-tik sein. Sie zielte darüber hinaus auf einen Abbau jenes Zeit- und Ressourcen-verschleißes, der sich mit Abstimmungs- und Bürokratisierungsprozessen unter-schiedlichster Art verbindet.

Damit verbleibt als vierte wichtige Akteursgruppe die nur vermeintlich amorphe Gesellschaft, deren Bedarfe und Bedürfnisse der politisch-administrative Bereich zu erfüllen (oder wenigstens in unterschiedliche Trägerschaften zu kanalisieren) hat, ein Prozess, dem wiederum auch die Märkte verpflichtet sind und für den vom Wissenschaftsbereich die Bereitstellung von know how und Innovation erwartet werden. Dass diese gesellschaftlichen Bedarfe nicht selten ein Problem schon deshalb darstellen, weil sie meist eher undifferenziert geäußert und sich deshalb mit den Kategorien des politisch-administrativen Prozesses nur schwer vereinbaren lassen, ist ein alle Akteure angehendes Problem, zumal angesichts der auch damit angesprochenen Asymmetrie durchaus Akzeptanz- und Legitima-tionsverluste drohen. Gerade deshalb aber erscheint es angezeigt, auf die benann-ten Probleme nicht nur gleichsam technokratisch zu reagieren, sondern etwaige Lösungsprozesse zu öffnen und einer erweiterten Diskussion zu stellen.

Sind so die unterschiedlichen Akteursgruppen samt ihrer spezifischen Interessen-lagen gekennzeichnet, ist darüber hinaus nach den jeweiligen politisch-administrativen, mithin auch gebietskörperschaftlichen Ebenen zu unterschei-den. Hier gilt für die Nationalstaaten, dass sie sich keineswegs „überlebt“ ha-ben, sondern auch weiterhin als Garanten jener Ordnungs-, Steuerungs- und Regelungsformen dienen, derer komplexe Gesellschaften bedürfen. Allerdings fehlt es ihnen bislang an einem geeigneten Rahmen, transnationalen Entwicklun-gen nachhaltig zu begegnen, entweder durch eine Ausweitung der nationalstaat-lichen Routinen oder aber durch die Neubildung regionaler und punktuell ggf. auch global ausgerichteter Einrichtungen und Politiken. Während es mit Blick auf weltweit erkennbare Herausforderungen zu derzeit analytisch wie empirisch noch reichlich diffusen Diskussionen kommt, erweisen sich regionalisierte For-men der Reaktion nicht nur als wesentlich problemadäquater, sondern in mehrfa-cher Hinsicht auch als vielversprechender. So hat sich die Europäische Union trotz aller Rückschläge zu einer historisch bislang einmaligen Form der transna-tionalen Willensbildung und Entscheidung fortentwickelt. Dies gilt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, für zentrale, den nationalstaatlichen Rahmen übergreifende ökonomische, politische, rechtliche und soziokulturelle Fragen. Die vor allem über die Wirtschafts- und Währungsunion erzielten Wohlfahrts-

Page 99: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

96

gewinne haben das Interesse an einer Bildung oder dem Ausbau weiterer „Regi-onalregime“ verstärkt, von ASEAN über Mercosur bis hin zur African Union (und ihren Teilen). Allerdings sind hier die unterschiedlichen Ausgangsbedin-gungen in Betracht zu ziehen, sollte man von vorschnellen Transferprozessen Abstand nehmen, zumal divergente Kontextbedingungen, fehlende Vorausset-zungen für kollektive regionale Identität und schließlich unterschiedliche Ent-wicklungsmodelle einen Vergleich erschweren.

So sind es schließlich die Internationalen Organisationen, die sich der angespro-chenen Probleme annehmen (sollten) und die diagnostizierte Asymmetrie zwar nicht einzuebnen, aber doch durch Austausch und Hilfestellung in Teilen aufzu-lösen suchen. Insbesondere Einrichtungen wie die OECD, die Weltbank, der IMF oder UNESCO sind für die hier angesprochenen Fragen von Bedeutung. Vor allem auf Seiten der Weltbank ist insofern Bewegung erkennbar, als man science & technology policies inzwischen eine trotz der dominant bilateralen Ausrichtung der Bank wachsende Bedeutung zumisst und dem mit organisatori-scher Ausdifferenzierung zu entsprechen sucht. Dies dokumentiert, gerade ange-sichts der Selbstverständniskrise, der sich heute fast alle Internationalen Organi-sationen ausgesetzt sehen, eine interessante und materiell begrüßenswerte Ent-wicklung. Sie wiederum findet eine komplementäre Diskussion in Gremien wie der G8 oder (künftig) der G20, bekanntlich Vereinigungen der vor allem ökono-misch bedeutendsten Staaten, die auf diesem Weg gemeinsame Interessen zu identifizieren und zu verfolgen suchen. Auch hier sind WT-Politiken von wach-sender Bedeutung, nachdem sie zwischenzeitlich eher nachrangig, um nicht zu sagen peripher behandelt wurden. Nicht zuletzt im Gefolge des benannten „Hei-ligendamm-Prozesses“ beginnt sich dies insofern zu ändern, als WT- (oder FuE-) bezogene Fragen auch auf den jeweiligen Agenden „nach vorne rücken“. Ob und inwieweit eine Ausweitung der Gruppe, die dann auch weitere Schwellenländer einbeziehen sollte, Problemlösungen befördert, muss freilich dahingestellt blei-ben; die erkennbaren Vorbilder, G20-Treffen im Rahmen der ersten „Weltfi-nanzgipfel“ in Washington und London, kamen in der Substanz über Absichtser-klärungen nicht wesentlich hinaus; da auch eine G20 über keine gesonderte Legitimation oder einen Vorsitzenden verfügt, begegnete man selbst Treffen wie dem in Pittsburgh mit Skepsis. Hinzu treten materielle Bedenken: Natürlich ist es zu begrüßen, wenn die wichtigsten Industriestaaten bis zum Jahr 2050 den Aus-stoß von Kohlenstoffdioxid weltweit halbieren wollen und dazu 80 % selbst beizutragen suchen. Da dem freilich keine kurz- oder mittelfristigen Zielvorga-ben beigegeben wurden, ist die Umsetzung dieses sehr langfristigen Ziels wohl

Page 100: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 97

eher als Minimalkonsens zu kennzeichnen. Und auch die in der öffentlichen Diskussion stark in den Vordergrund gerückte Afrikahilfe bedarf der Nachfra-gen. Zwar bleibt zu würdigen, dass in L’Aquila der Beschluss von Gleneagles bestätigt wurde, nach dem bis zum Jahr 2010 die Hilfe für den afrikanischen Kontinent auf jährlich 50 Mrd. US$ verdoppelt werden sollte, doch ist in Erinne-rung zu rufen, dass die meisten derer, die sich dazu verpflichteten, diesen Ziel-vorstellungen nicht einmal ansatzweise nahe gekommen sind, die Bestätigung des Ziels vielmehr als eine massive Kürzung eingeschätzt werden kann: Der Dollar hat gegenüber dem Euro seit Gleneagles ein Siebentel seines Wertes ver-loren, so dass Afrika in doppelter Hinsicht unter der globalen Wirtschaftskrise leidet, direkt und indirekt. Schließlich wird man selbst bei der beabsichtigten Hilfe für den Agrarsektor in Entwicklungsländern (20 Mrd. US$ über drei Jahre) fragen müssen, ob es nicht funktionaler gewesen wäre, sich auf ein den Namen verdienendes WTO-Abkommen zu einigen und damit protektionistische Han-delsbeschränkungen wesentlich konsequenter anzugehen, als sie über spezifische Hilfsmaßnahmen indirekt zu legitimieren.

Die damit angesprochene territoriale, materielle und zeitliche Asymmetrie setzt sich also im Alltag der internationalen Politik fort. Ob es gelingt, WT-Politiken hiervon auszunehmen, ist durchaus fraglich. Immerhin kann darauf verwiesen werden, dass die Beteiligten den „Ernst der Lage“ zu erkennen scheinen und – zumindest auf der Ebene der im Rahmen dieser Untersuchung geführten Gesprä-che – eine neue Qualität internationaler Kooperation erkennbar wird. Wie diese im Einzelnen aussieht, welche Vorleistungen sie von den Beteiligten erfordert und auf welche Zielvorstellungen sie sich richten könnte, sei im Folgenden erör-tert.

III. Staatliche Wissenschafts- und Technologiepolitiken im Ver-gleich I: Organisation, Koordination und Verfahren – unausge-schöpfte Rationalitätsreserven

Der Blick auf die hier einbezogenen Wissenschaftssysteme konzentrierte sich, nach einem Ausweis der jeweiligen Kontextbedingungen, auf die institutionelle und verfahrensbezogene Organisation, bevor einzelne materielle Politiken und ihre Ergebnisse einbezogen wurden. Mit Blick auf die Organisation erstaunte, wie schnell die angesprochene Bedeutungssteigerung von WT- und FuE-Politiken sich in Umstellungen und „Reformen“ tradierter Organisationsstruktu-ren niederschlug. So sind in fast allen Untersuchungsländern vergleichsweise

Page 101: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

98

starke Zentralisierungsprozesse der WT-bezogenen Willensbildung und Ent-scheidung erkennbar. In vielen Fällen kam es zu einer direkten Machtleihe der politischen Führung, etwa durch Beteiligung des jeweiligen Ministerpräsidenten, sei es über spezifische Führungsgremien (S&T Councils) oder aber durch Mit-wirkung im Rahmen hervorgehobener Kabinettsausschüsse wie interministeriel-ler Arbeitsgruppen. Dahinter verbirgt sich die Erfahrung mit meist sehr langfris-tigen Willensbildungsprozessen in den hier interessierenden Politikfeldern, bis hin zu als „Verzögerung“ wahrgenommenen Reaktionen auf der Anbieter- wie Nachfragerseite. Um dem zumindest im Prozess der Politikformulierung zu be-gegnen, findet sich daher die benannte Zentralisierung, meist verbunden mit einer verbesserten horizontalen Koordination auf zentralstaatlicher Ebene. Hori-zontal meint zunächst die Interaktion der für WT-Fragen bedeutsamsten Füh-rungsebenen (Kabinett, Fachminister), richtet sich aber auch auf eine verstärkte Abstimmung der operativen Tätigkeit der einzelnen „Häuser“. So hat es sich in mehreren Fällen als problemangemessen erwiesen, nicht nur die Hausspitzen organisatorisch in einen Verbund einzubeziehen, sondern auch und gerade die Arbeitsebene. In diesen Fällen gelang es eindrucksvoll, den Entscheidungspro-zess zu beschleunigen, nicht nur, weil man die Zahl der Beteiligten konzentrierte, sondern auch als Konsequenz strikter und vorgegebener Zeitpläne, die wiederum von der für die verfolgten S&T policies eingerichteten Zentralinstanz überprüft und kontrolliert wurden.

Vertikal sind die entsprechenden Politiken meist noch immer durch erhebliche Abstimmungs- und Koordinationsprobleme gekennzeichnet. Dabei bietet es sich an, zwischen unitarischen und Föderalstaaten zu unterscheiden. Während eine verbesserte horizontale Koordination in unitarisch strukturierten politischen Systemen sich auch beschleunigend auf vertikale Formen der Politikformulie-rung und vor allem den Vollzug auswirkt, ist durch den verstärkten Abstim-mungsbedarf in Föderalstaaten hier mit längeren Fristen zu rechnen. Dies ist zunächst durchaus systemimmanent (mithin – in Grenzen – zu akzeptieren), bedarf hinsichtlich der Geschwindigkeit, der Intensität und dem materiellen Gehalt der Abstimmung allerdings der Diskussion. Dabei kommt dem deutschen Beispiel – hier gleichsam als „Referenzfall“ einbezogen – insofern eine wichtige Rolle zu, als das Land einerseits als der gegenwärtige champion der Diskussion um eine erweiterte Internationalisierung von Wissenschafts- und Forschungspoli-tiken gilt, andererseits aber in seinen Bemühungen um eine Föderalismusreform gerade bei Fragen mehrstufiger politischer Willensbildung und Entscheidung zu kurz griff. So kann nicht in Abrede gestellt werden, dass Bund-Länder-

Page 102: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 99

Abstimmungsverfahren noch immer nicht jener Beschleunigung unterliegen, die sich angesichts der geschilderten Aufwertung des Themenbereichs anbietet. Der Bund ist verständlicherweise nicht bereit, auf wesentliche Steuerungsansprüche zu verzichten, während die Länder, ebenso verständlicherweise, auf ihren sehr unterschiedlichen Interessen und damit der Heterogenität ihrer Gruppe bestehen. Angesichts dieser Ausgangssituation wird nur durch einen Blick auf die erstaun-lichen Erfolge, die einige der hier untersuchten Staaten bei der Abstimmung von WT-Politiken verzeichnen konnten, mit „Lernprozessen“ gerechnet werden kön-nen. Diese allerdings sind angezeigt, um problemadäquate Lösungen in vertret-baren Zeiträumen konsensfähig zu machen und sie auch umzusetzen, letzteres häufig genug unter Einschluss dezentraler Ebenen.

Hinzu tritt, vor allem mit Blick auf Schwellen- und Entwicklungsländer, das Problem des unterschiedlichen Entwicklungsstandes. Insbesondere im Fall In-diens wurde immer wieder vorgetragen, dass die konsequente Verfolgung eines inclusive approach angesichts der höchst disparitären Entwicklung des Landes (territorial, sektoral und sozial) unabweisbar ist. Dem wäre materiell nicht nur zuzustimmen, sondern in diesem Fall auch analytisch und politisch zu entspre-chen; vertikale Koordination hieße hier nicht nur Abstimmung innerhalb bewähr-ter Routinen, sondern auch materielle Inklusion im Sinne einer expliziten Auf-nahme der Interessen bedürftiger Bevölkerungskreise in eine erweiterte Wissen-schafts- und Forschungspolitik. Zur administrativen tritt so eine materielle Inklu-sion, ein Aspekt, der gerade im Vergleich von Bedeutung sein sollte und bei einer weiteren Verfolgung der „Internationalisierungsoffensive“ berücksichtigt werden müsste. Die Vorbehalte Indiens wie Chinas gegenüber G8-Prozessen, die solche Aspekte übersehen haben mögen, sind jenseits der industriepolitischen Aufholprozesse evident und müssten in weitere Überlegungen einfließen.

Eine entsprechende Erweiterung der Diskussion bietet sich auch mit Blick auf die erkennbaren Widersprüche zwischen einer klareren Arbeitsteilung (etwa zwischen dem Angebot und der Nachfrage nach Wissenschaftspolitiken) und systemisch unabweisbaren Steuerungsansprüchen an. So sollte, will man interna-tional abgestimmt handeln, akzeptiert werden, dass Angebots- wie Nachfrage-strukturen in den einzelnen Staaten unterschiedlich definiert, institutionalisiert und gewichtet werden. Dies mag einer schnellen, gleichsam homogenisierten Reaktion auf transnationale Probleme entgegenstehen, bedarf aber der Berück-sichtigung, um einen Konsens überhaupt erst zu ermöglichen bzw. den Vollzug sich nicht verselbstständigen zu lassen. Auch bei einer homogeneren Staatenge-meinschaft bleibt das Problem, dass der Grad der Arbeitsteilung zwischen der

Page 103: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

100

Angebots- und der Nachfrageseite von Wissenschaftspolitiken durchaus unter-schiedlich gesehen werden kann. Während etwa einige Länder die Autonomie des Hochschulbereichs, mithin die Nachfragerseite, zu stärken suchen, sehen andere aus gleichfalls guten Gründen die Wissenschaft auch in einer Bring-schuld. Aus der deutschen Diskussion etwa ist durchaus bekannt, dass die erwei-terte, den Hochschulen zugestandene Autonomie nicht nur positive Wirkungen zeitigt; Ankündigungspolitiken und Selbstdarstellungen treten nicht selten an die Stelle konkreter Bemühungen um eine materielle Verbesserung von Lehre wie Forschung. Hinzu kommt die meist sehr schmale Legitimationsbasis der han-delnden Akteure.

Im Übrigen bleibt es dabei, dass bei der Unterscheidung von Angebots- und Nachfrageseite bei ersterer eine gewisse Tendenz zur Homogenisierung erkenn-bar ist (auch im Verfahren), während die Nachfrageseite meist sehr viel ausdiffe-renzierter organisiert ist und entsprechend agiert. Dies gilt nicht nur für die fluk-tuierende Rolle der Hochschulen und anderer Forschungseinrichtungen als „Treiber und Bremser“, sondern auch für die Privatwirtschaft, die sich syste-misch bekanntlich nur schwer steuern lässt. In diesem Kontext wäre zu erörtern, ob es sich bei der Trias public goods, public problems, public solutions um ge-sellschaftlich verantwortete (und verantwortbare) Aktivitäten und Problemlösun-gen handelt, oder ob sich hier eine Marktdynamik als gleichsam Selbstzweck durchsetzt, nicht selten, wie wir heute wissen, auch durch Missbrauch seitens der handelnden Akteure.

Schließlich sei ein kurzer Blick auf die im Bereich von WT-Politiken eingesetz-ten Prozesse und Verfahren hinzugefügt. Hier erweist sich im Vergleich, dass Politikformulierung und Programmentwicklung meist ein weitaus stärkeres Inte-resse auf sich ziehen als der Vollzug, selbst wenn man eine Verbindung beider über intensivierte Projektorientierungen anstrebt. Die Vernachlässigung von Vollzugsfragen bleibt ein beträchtliches Problem, zumal sich damit in fast allen einbezogenen Untersuchungsländern eine Beeinträchtigung der intendierten Wirkungen verbindet. Dies ergibt sich nicht zuletzt aufgrund der (bislang meist nur punktuell) vorliegenden Evaluationen, systematische Gegenüberstellungen von Problemstellungen und Problemlösungen/Ergebnissen liegen nur selten vor. Dies ist durchaus auch Grund für Mängelrügen an die Adresse der beteiligten Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, aus deren Selbstverständnis heraus solche Leistungen erbracht werden müssten. Dabei sollte man sich nicht nur des Vergleichs als Möglichkeit zu „institutionellem wie personellem Lernen“ bedienen, sondern auch den „Blick von außen“ schätzen, vor allem als potentiel-

Page 104: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 101

les Korrektiv. Dass die Wissenschaft hier der politischen Praxis gelegentlich durchaus vorangehen könnte, vielleicht sogar sollte, wurde bereits angesprochen; eine verbesserte Arbeitsteilung zwischen den Akteuren käme hinzu.

Einen erstaunlichen Schwerpunkt in den landesspezifischen Untersuchungen bildeten auch Managementfragen insofern, als sowohl administrationsintern als auch mit Blick auf den Hochschulbereich entsprechende Defizite diagnostiziert wurden, die Fragen der Führung und Steuerung, der Ressourcenverwaltung und der Personalentwicklung einschlossen. Da, wo eine Überprüfung entsprechender Monita aufgrund zusätzlicher Gespräche möglich war, relativierte sich zwar das Gewicht dieser Fragen, doch verblieb als erkennbares Desiderat eine weitere Professionalisierung der Politikformulierung wie der Programmentwicklung sowohl auf politisch-administrativer Ebene als auch im Hochschul- und For-schungsbereich. Dies erinnert an die bereits angesprochene Autonomie-Diskussion, die eben nicht nur segensreich wirkt, sondern auch der häufig intransparenten Verfolgung von Individual- und Gruppeninteressen dient. Gege-benenfalls hilft hier eine Unterscheidung zwischen der Kooperation nach außen und nach innen: Während sich eine verstärkte Kooperation nach außen fast durchgängig anbietet, ist die nach innen ausgerichtete Zusammenarbeit häufig noch unterausgeprägt. Im Ergebnis kommt es zum Nachweis zahlreicher unaus-geschöpfter Synergien in fast allen Fallstaaten (mit Ausnahme Singapurs), wobei allerdings der jeweils unterschiedliche Entwicklungsstand, der Komplexitätsgrad der verfolgten Politiken und die Vetopotentiale von Adressaten zu berücksichti-gen sind.

IV. Staatliche Wissenschafts- und Technologiepolitiken im Ver-gleich II: Materielle Politiken und ihre Ergebnisse – learning by doing statt learning from experience

Mit Blick auf die verfolgten Politiken und deren Ergebnisse, unter Nutzung der lingua franca des Wissenschaftsbereichs meist unter output- oder outcome-Kategorien erörtert, ist zunächst positiv zu vermelden, dass infolge der Bedeu-tungssteigerung des Aufgabenfeldes durchgängig von verstetigten WT-Politiken ausgegangen werden kann, dem wiederum ein meist erweiterter Ressourcenein-satz folgt. Die Formulierung dieser Politiken wird dabei konsequent als horizon-tal zu erbringender und vertikal abzustimmender Prozess verstanden, wobei dem Aufbau und der Berücksichtigung von Angebotsketten (supply chains) bei expli-ziter Nachfrageorientierung verstärktes Gewicht zukommt. Dies erklärt sich aus

Page 105: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

102

einem konsequenten Denken in Innovationskategorien, ohne die der erweiterte Ressourceneinsatz auch mit legitimatorischen Konsequenzen verbunden wäre. In fast allen Fallstaaten sind vergleichbare Grundorientierungen erkennbar, wobei sich – erneut – Unterschiede vor allem mit dem jeweiligen Entwicklungsstand verbinden. Materiell stehen mit Blick auf eine verstärkte internationale Koopera-tion vor allem die immer wiederkehrenden aktuellen Aufgabenfelder im Zent-rum: die Bewältigung des Klimawandels, die Energiegewinnung und -nutzung, eine ausreichende Welternährungsbasis sowie eine den Namen verdienende breite Gesundheitsversorgung, unter Einschluss des Kampfes gegen weltweit akute infectious diseases.

Als überprüfungsbedürftig erwiesen sich dagegen die verfolgten Innovationsstra-tegien insofern, als sie bislang fast durchgängig punktuell ansetzen und auch hier eine materielle wie zeitliche Asymmetrie zutage tritt. Die Punktualität ist immer dann gegeben, wenn spezifische Ausprägungen die Weiterentwicklung des WT-Systems erschweren (etwa durch unzureichende Infrastruktur, fehlende Ressour-cen oder eine zu schmale Personalbasis), während die Asymmetrie von Innovati-onspolitiken sich meist dadurch erklärt, dass ökonomisch relevante Problemlö-sungen anderen Lösungsansätzen fast durchgängig vorgezogen werden. Natürlich verbindet sich das mit der wohlfahrtsgenerierenden und stabilitätswah-renden Funktion von Einkommenserzielung und -verteilung, doch wird auch deutlich, dass weniger marktorientierte Politiken (und in diesem Fall dann auch Forschungen) eine wenn nicht periphere, so doch eher nachrangige Aufmerk-samkeit erfahren. Blickt man im Detail auf die einzelnen Länderberichte, wird hier eine in Teilen zirkuläre Diskussion erkennbar, die jenseits der Schwerpunkt-setzung auf ein bereits im Verfahren mangelndes Umsetzungsdenken und mate-riell auf die vor Ort gegebenen Problemausprägungen Bezug nimmt. Eher holis-tische Formen der Problembearbeitung haben es demgegenüber schwer, konsens-fähig zu werden, eine angesichts heterogener Problem- und fragmentierter Ak-teursstrukturen freilich erklärbare Situation.

In der Konsequenz wird man die vorgetragenen, jeweils landesspezifischen Prio-ritäten und Ergebnisse daraufhin überprüfen müssen, ob sie in weiteren Kontex-ten (regional wie global) Ausgleichs- und Ergänzungsfunktionen wahrnehmen oder ob ohne Berücksichtigung dieser grenzüberschreitenden Dimension agiert wird. Letzteres wäre bedauerlich, mit Blick auf in Teilen (noch) nachholende, Industrialisierungs-, Modernisierungs- und Wachstumsprozesse aber durchaus verständlich. Inwieweit eine angesichts dieser Ausgangssituation forcierte Dis-

Page 106: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 103

kussion um eine mögliche Arbeitsteilung zwischen den Akteuren sich als sinn-voll erweisen könnte, bedarf weiterer Erörterung.

Bei einer differenzierten Analyse WT-politischer Ergebnisse (outcomes) ist dar-über hinaus auf die in Teilen unterschiedliche, in Teilen aber auch nur unklare politische und administrative Verantwortung der Akteure zu verweisen. So fin-den sich gelegentlich noch Formen tradierter politischer Ordnungen und ihnen verbundener Verwaltungssysteme, die im Zeitablauf vermutlich durch wechsel-seitigen Austausch und Lernprozesse an- und ausgeglichen werden können (in der Hoffnung auf ein „innovations travel fast“), bis heute aber Teile des wissen-schaftspolitischen Alltags prägen. Dies ist solange unproblematisch, als man unterschiedliche Voraussetzungen anerkennt und im Rahmen erweiterter interna-tionaler Kooperation berücksichtigt; problematisch freilich wird die Differenz dann, wenn sich damit ein Missverhältnis von intended und unintended outcomes verbindet. Diese Chiffre stellt darauf ab, dass definierte Politiken nicht immer auch zu dem erwarteten Politikergebnis führen, es vielmehr aufgrund fehlender Steuerungskompetenz und koordinativer Voraussetzungen häufiger zu nicht geplanten Allokationen kommt, gelegentlich gar Politikziele gänzlich verfehlt werden. Erneut ist hier die Erfahrung mit und das Lösungspotential von zeitge-mäßen administrativen Strukturen anzusprechen (dies gilt für fast alle der betei-ligten Akteure), darüber hinaus aber dokumentiert sich darin auch ein heteroge-nes Rationalitätsverständnis. Dies in die Überlegungen zu einer erweiterten Internationalisierung einzubeziehen, erscheint angeraten und politisch-administrativ wie wissenschaftsorientiert angezeigt, um unterschiedliche auch kulturelle Voraussetzungen in die Analyse und nachfolgende politische Entwürfe und Entscheidungen einfließen zu lassen. Gerade das Übersehen kultureller Vor-aussetzungen (und Befindlichkeiten) stellt noch immer ein beträchtliches Defizit der an sich anerkennenswerten Bemühungen um eine Internationalisierung von WT-Politiken dar. Dem wenn nicht abzuhelfen, so doch gerecht zu werden, wäre im Rahmen einer Weiterentwicklung der „Internationalisierungsstrategie“ zu prüfen. Dass gleichwohl noch Unterschiede und Heterogenitäten bleiben, ist unvermeidbar und wäre eher positiv zu deuten; eine „falsche“, also primär for-cierte Homogenisierung würde der Ausgangssituation nicht gerecht.

Im Übrigen gilt noch immer, dass Politiken primär am Ressourcen- und Perso-naleinsatz gemessen werden, ein erkennbar verbesserungswürdiges outcome-Verständnis. Immerhin kann so dokumentiert werden, dass es in den meisten Fallstaaten zu einem kontinuierlichen FuE-Ausbau gekommen ist und WT-bezogene Maßnahmen von durchgängiger politischer Priorität sind. Die Zielgrö-

Page 107: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

104

ßen liegen zwischen zwei und vier Prozent des BIP, je nach Entwicklungsstand und Ausgangssituation. Diese prinzipiell erfreuliche Bilanz wird lediglich da-durch getrübt, dass der Einsatz öffentlicher Mittel in Relation zu den For-schungsbemühungen im privatwirtschaftlichen Bereich sehr ungleichgewichtig ausfällt. Während in einigen der Untersuchungsländer die Privatwirtschaft das Gros der in das Politikfeld investierten Mittel zur Verfügung stellt, finden sich in anderen noch immer gleichsam ideologische Bedenken. Zwar wächst das Be-wusstsein, dass es im Bereich der Innovationsförderung zu einer Verantwor-tungsteilung zwischen dem staatlichen und dem privatwirtschaftlichen Bereich kommen sollte (wobei beide Bereiche für sich spezifische Rationalitäten und Verwertungszusammenhänge geltend machen können), doch stellt dies noch immer nicht die „herrschende Lehre“ dar. Dass eine erweiterte Kooperation häufig mit Überzeugungsarbeit verbunden ist, erweist sich auch in dieser Frage.

Dem erfreulichen Ausbau von WT-Mitteln in allen Fallstaaten korrespondiert ein Wachstum des im Rahmen von Wissenschaftspolitiken eingesetzten Personals. Hier freilich stellen sich in zahlreichen Staaten qualitative Probleme insofern, als nicht selten förderungsfähiger Nachwuchs fehlt oder aber eine sektoral wie diszi-plinär ungleichgewichtige Qualifizierung vorliegt. Die Differenz zwischen der öffentlichen wie der privatwirtschaftlichen Haltung dokumentiert sich zudem in der unterschiedlich stark berücksichtigten Grundlagenforschung, die einem modernen Wissenschaftsverständnis folgenden Übergänge zur Anwendungsori-entierung werden nicht überall so gesehen. Besonders augenfällig wird das bei der in Teilen eklatanten Diskrepanz zwischen dem Ausbau der Natur- und Tech-nikwissenschaften auf der einen und der geringen Anerkennung der Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Es ist unverändert schwer, vor allem in Schwellenländern dafür zu werben, dass die Konzentration auf wachstumsna-he Disziplinen und entsprechende Erkenntnisprozesse einer human- und sozial-wissenschaftlichen Begleitung bedarf, um Einseitigkeiten und soziale Ungleich-gewichte zu vermeiden. Die in den Staaten mit den bislang entwickeltsten WT-Systemen erkennbare Nutzung disziplinärer Schnittstellen wäre beispielhaft in anderen Kontexten zu erproben oder über verstärkte Austauschprozesse zu inten-sivieren.

V. Erkenntnis- und Handlungsbedarf: erweiterte Innovationsorien-tierung, erhöhte Flexibilität, materielle Fokussierung

Angesichts dieser Ausgangssituation kann kaum verwundern, dass eine verstärk-te internationale Kooperation im Bereich der Wissenschafts- und Technologie-

Page 108: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 105

politik von allen der im Rahmen dieser Untersuchung Befragten als sinnvoll und ertragreich eingeschätzt wird. Zwar gibt es verbleibende Bedenken, wie etwa die, dass man die Initiative nicht unbedingt als im Gefolge des G8-Prozesses entwickelt deklarieren sollte, doch stimmen die Befragten darin überein, dass angesichts der begrenzten nationalstaatlichen Kapazitäten zur Problemlösung eine erweiterte Internationalisierung und damit Kooperation in den angespro-chenen Politikfeldern unabdingbar, ja alternativlos sei. Gleichermaßen offen-kundig ist allerdings, dass für die sich auf eine solche erweiterte Kooperation beziehenden Fragen der geeigneten Organisationsform, eines sich damit verbin-denden Regelungssystems, einer dem jeweiligen Problem angemessenen Verfah-rensweise und ausreichender Sach- und Personalmittel noch keine überzeugen-den Antworten gefunden wurden. Dies erklärt sich zum einen aus einer gewissen Unsicherheit über das Vorgehen in der Sache, zum anderen aber mit den erkenn-baren Bemühungen, eher anderen folgen als selbst gestaltend tätig werden zu wollen. So mögen sich auch jene Anregungen erklären, nach denen die deutsche Seite ihre Aktivitäten verstärken, konkretisieren und organisatorisch-institutionell wie im Verfahrensgang präzisieren sollte. Darin dürfte sich weniger eine Haltung, Organisationsleistungen Dritten anzulasten, als vielmehr eine ge-wisse Aufmerksamkeit und möglicherweise Anerkennung für die deutsche Initia-tive ausdrücken. Dem korrespondieren die zahlreichen positiven Grundhaltun-gen, die im Laufe der Interviews sowohl von zuständigen Ministern als auch amtierenden Akademie- und Universitätspräsidenten geäußert wurden. Der deut-sche akademische Bereich und mit ihm die handelnden politischen Akteure kön-nen auf einem den Autor in diesem Ausmaß überraschenden good will aufbauen, eine für die Umsetzung der „Internationalisierungsstrategie“ zweifellos positive und ausbauwürdige Voraussetzung.

Dem ist hinzuzufügen, dass im Rahmen einer weiteren Konkretisierung der an-gestrebten Erkenntnisleistungen wie des Handlungsbedarfs Ausdifferenzierungen stärker als bislang zu berücksichtigen sind. Das beginnt mit unterschiedlichen und schwer zu vereinbarenden Entwicklungs- und Innovationsmodellen, setzt sich materiell in den nicht selten heterogenen Reaktionen auf heterogene Prob-lemstellungen fort, schließt je nach Entwicklungsstand und sozialem Selbstver-ständnis die Wahl zwischen inklusiven oder exklusiven Ansätzen ein und verrät eine noch immer deutliche Dominanz von Wachstums- gegenüber Ausgleichs- und Stabilisierungszielen - territorial, sektoral und sozial.

Darüber hinaus wurde deutlich, dass man als handelnde Akteure eher den poli-tisch-administrativen Prozess, mithin eine Dominanz der Politikformulierung

Page 109: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

106

sieht, statt die angesprochenen Vollzugsleistungen mitzubedenken. Auch die Vertreter des Wissenschaftsbereichs erwiesen sich, zu diesem Punkt befragt, als empirisch-analytisch eher desinteressiert, selbst mit Blick auf den eigenen Auf-gabenbereich. So verwies man häufig pauschal auf Versuche einer gleichsam weltweiten Konsensbildung zwischen den jeweiligen peers (als prominentestes Beispiel das IPCC), während konkretere Vorstellungen eher diffus blieben oder von der jeweiligen disziplinären Herkunft geprägt waren. Insofern wäre zu über-denken, eher „modischen“ Organisationsvorstellungen entgegenzuwirken, also einem riding the issue cycle konstruktive WT-Politiken, die auf Innovation und Nachhaltigkeit zielen, entgegenzustellen. Nur so auch dürfte es möglich sein, durchaus noch erkennbare Vorbehalte gegenüber einer erweiteten Internationali-sierung aufzulösen. Letztere verbinden sich mit einer Rückbesinnung auf natio-nale Prioritäten (und damit protektionistische Grundhaltungen) in Zeiten von Knappheit und Krise, mit wahrgenommenen unterschiedlichen Betroffenheiten und schließlich mit einem wenig ausgeprägten Bewusstsein für „globale Solida-ritäten“. Da die Bedrohungsszenarien im Rahmen der ökonomischen Krise in-zwischen auch außen- und sicherheitspolitische Kategorien einbeziehen, gewin-nen entsprechende „Rückversicherungen“ an Gewicht.

Will man gleichwohl – und hierfür sprechen die Ergebnisse dieser Untersuchung nachdrücklich – den Prozess einer erweiterten Internationalisierung fördern, bietet sich auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein etwa fünfstufiges Verfahren an, das letztlich in eine road map zum weiteren Vorgehen münden könnte oder gar sollte. Modellhaft bieten sich hierfür fünf Stufen an:

• Mapping/framing bei eindeutig grenzüberschreitenden, transnationalen Problemen (energy, environmental protection and development, health, ba-sic food provision); mapping/framing bezeichnet hier eine Erfassung der Probleme im Sinne einer Kategorisierung, Kartierung und Lokalisierung.

• Konkretisierung, Auswahlprozess: materielle, zeitliche und sektorale Ausdif-ferenzierung der überregional lösungsbedürftigen Probleme; damit Priorisie-rung und Vermeidung eines overload und eines overstretching der beteilig-ten Akteure und ihrer Ressourcen.

• Erarbeitung von state of the art-Berichten und peer group reviews für das jeweilige Problemfeld durch weltweit führende Wissenschaftler: Zusam-menfassung des Diskussionsstandes und Ausweis erkennbarer/belastbarer Handlungsoptionen innerhalb definierter und gegenüber herkömmlichen

Page 110: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 107

Ansätzen wesentlich kürzerer Zeiträume (dies schließt selbstverständlich auch „Fehlanzeigen“ ein).

• Politische Entscheidung: auf der Basis dieser Berichte und der vorliegenden Primär-/Sekundärmaterialien nationale wie regionale Abstimmungsprozesse und Entscheidungsverfahren mit Blick auf das weitere Vorgehen.

• Umsetzung: Vollzug im Rahmen der jeweiligen nationalen, regionalen und lokalen Einrichtungen; hierzu Verabschiedung von Zielvereinbarungen so-wie spezifischer Prozessinnovationen, um der komplementären Verschrän-kung von institutionellen Voraussetzungen, Verfahrensregelungen und mate-rieller Problemlösung zu entsprechen (als Bedingung für jedwede com-pliance).

Dabei ist hinzuzufügen, dass der Regionalbegriff hier zweideutig gebraucht wird: Zum einen benennt er subnationale Gebietskörperschaften, die im Vollzug inno-vativer Politiken meist eine entscheidende Rolle spielen (da zentralstaatliche Einrichtungen kaum über Vollzugseinrichtungen verfügen), zum anderen ver-weist er auf jene Regionaleinheiten (unscharf: regional regimes), die gleichsam zwischen der nationalstaatlichen und der globalen Ebene transnationale Proble-me bearbeiten. Ihnen gilt, wie angesprochen, derzeit ein besonderes Interesse, das sich angesichts der entwickelteren Formen der Regionalkooperation (Europä-ische Union, ASEAN, Mercosur und African Union als Beispiele4) und der sich damit verbindenden Handlungsoptionen noch deutlich verstärken dürfte.

Im Fazit kann derzeit von einer hohen Übereinstimmung bei der Definition der zu lösenden Probleme ausgegangen werden, während sich mit Blick auf die dem nachfolgende grenzüberschreitende Politikformulierung und vor allem den sich anschließenden Vollzug noch beträchtlicher Abstimmungsbedarf (und Überzeu-gungsarbeit) findet. Das vorgeschlagene Fünf-Stufen-Modell mag einen ersten Lösungsansatz darstellen, dieses Defizit aufzulösen, zumindest aber einen Weg zur auch operativen Problemlösung aufzuzeigen und so nach innen wie nach außen Vertrauen, Akzeptanz und Kompetenz zu gewinnen.

4 Auf solche multilateralen Formen der Wissenschafts- und Forschungspolitik bezog sich ein begrenztes

Folgeprojekt im Rahmen der hier referierten Untersuchung; es richtete sich auf die erkennbaren Aktivi-täten im Rahmen der Europäischen Union, der OECD und der Weltbank. Ein weiterer Vergleich, der dann weniger auf den Beitrag Internationaler Organisationen als vielmehr auf weitere „Regionalorgani-sationen“ (etwa die benannten ASEAN, Mercosur oder African Union) zielt, ist derzeit in Vorbereitung.

Page 111: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

108

VI. Unterschiedliche Entwicklungs- und Innovationsmodelle: Kon-zentrische Ringe, Arbeitsteilung oder Konvergenz?

Die Verfolgung unterschiedlicher Entwicklungs- und Innovationsmodelle kann angesichts des hier einbezogenen Ländervergleichs nicht überraschen. Während Mitglieder der G8 die im Rahmen des Heiligendamm-Prozesses angesprochenen Politiken zu verfolgen suchen und sich für eine weitere Konkretisierung ausspre-chen (Japan, USA, das Vereinigte Königreich und – hier als Referenzfall – Deutschland), gilt dies für Indien, China, Singapur und Finnland nur begrenzt. Diese Länder wurden aber gerade deshalb in die bisherige Untersuchung einbe-zogen, weil sie entweder durch das von ihnen verfolgte Entwicklungsmodell oder aber aufgrund der erkennbaren Innovationspolitiken sowohl für den Ver-gleich als auch für eine Übertragbarkeit in andere Kontexte von Bedeutung sein könnten. So gelten China und Indien unter den Schwellenländern als die sich fraglos am schnellsten entwickelnden Ökonomien, vertritt Singapur höchst er-folgreich die ungewöhnliche Funktion des Innovations-hubs im gesamten asia-tisch-pazifischen Raum und gilt Finnland als einer der kleineren EU-Mitglied-staaten in seiner Innovationspolitik als weltweit führend. Diese Heterogenität der einbezogenen Länder bringt es allerdings auch mit sich, dass unterschiedliche Rationalitäten im Entwicklungsprozess erkennbar werden und Wissenschafts- wie Technologiepolitiken keiner gleichförmigen Logik und entsprechenden ma-teriellen wie prozessualen Ausprägungen folgen. So macht die Zurückhaltung Chinas wie Indiens im Rahmen der gegenwärtigen Klimadebatte deutlich, dass „nachholende Gesellschaften“ verständlicherweise anderen Zielvorstellungen als die entwickelten Industriestaaten folgen. Solange Indien und China Wachstums-raten generieren, die weit über denen anderer Industriestaaten wie Schwellenlän-der liegen, werden die in diesen Ländern herrschenden Eliten an der jeweils grundlegenden politischen Ausrichtung festhalten, selbst wenn sich das nicht immer positiv auswirkt, die disparitäre Landesentwicklung (erneut: territorial, sektoral und sozial) als Beispiel benannt. Am deutlichsten wird dies in jenem inclusive approach, der die in Indien geführten Interviews nahezu durchgängig prägte und sich in dieser Betonung in keinem der anderen einbezogenen Länder fand. Gleichwohl gibt es für Indien gute Gründe, an dem Ansatz festzuhalten, da nur so die „gelenkte Volkswirtschaft“ des Landes ihre Entwicklungsdynamik aufrechterhalten kann. Die Zurückhaltung „nach außen“ hat sich krisenbedingt inzwischen auch als vorteilhaft erwiesen, da Indien, im Gegensatz zu China, nur zu einem geringen Teil vom Export abhängig ist und einen vergleichsweise sta-bilen Binnenkonsum ausweist. So sind die Aufgaben für den wiedergewählten

Page 112: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 109

Premierminister auch eher binnenorientiert: Stärkung der Landwirtschaft, Ver-besserung der Infrastruktur und Abbau der hohen Staatsverschuldung bleiben oberste Priorität, die beträchtliche Zentrums-Peripherie-Problematik, die sich aufgrund von Vollzugsproblemen in zahlreichen Politikfeldern findet, wird kon-sequent in Angriff genommen.

China verfolgt demgegenüber einen dem indischen Modell nicht mehr ver-gleichbaren Ansatz, der über die schnelle und in Teilbereichen durchaus rück-sichtslose Industrialisierung des Landes Wohlfahrtssteigerungen generiert, die nicht nur zur ökonomischen Besserstellung weiter Teile der chinesischen Gesell-schaft, sondern auch zur Aufwertung der internationalen Position des Landes beitragen sollen. Hier vermischen sich wirtschaftspolitische mit sicherheits- und außenpolitischen Erwägungen, kommt es zu jenem rasanten und in Teilen über-zeugenden Entwicklungsprozess, der sich freilich nicht oder doch nur in Grenzen mit den eher „westlichen“ Kategorien der Nachhaltigkeit, der Kontinuität und der (hier anders definierten) Inklusion verbinden lässt. Dies der chinesischen Führung anzulasten, erscheint wohlfeil, zumal sich damit in Teilen ein Entwick-lungsverständnis der G8 verbindet, das sich überlebt haben dürfte.

Im Hintergrund der Diskussion in diesen beiden großen Schwellenländern steht die generelle Frage nach einem neuen Wachstumsmodell für Asien. Als exempla-risch können hier die Ergebnisse des Weltwirtschaftsforums in Seoul gelten,5 anlässlich dessen krisenbedingt unterschiedliche Modelle zur Diskussion stan-den. So sehen zahlreiche asiatische Staaten, unter Führung Japans, in wachsen-den inländischen Konsumausgaben einen Ausweg, um sich von der Exportab-hängigkeit zu befreien.6 Dies deckt sich in Teilen mit den auch aus dem Kreis der G8 vorgetragenen Anregungen, die vor allem in den USA einbrechende Nachfrage durch einen steigenden Konsum in Asien auszugleichen. Die entspre-chenden Überlegungen gehen davon aus, dass die im Vergleich geringe Kon-sumneigung in Asien mit der hier herrschenden Vorsorge der Familien für Krankheit und Alter verbunden sei. Die Regierungen sollten daher verstärkt in die sozialen Sicherungsnetze investieren, um über sinkende Sparquoten einen entsprechend erhöhten Konsum zu ermöglichen. Freilich erscheint Beobachtern diese gleichsam einfache „Kompensationsstrategie“ kaum mit der empirischen

5 World Economic Forum (Hrsg.): World Economic Forum on East Asia. Implications of the Global

Economic Crisis for East Asia, Meeting report of the World Economic Forum in Seoul, 18.-19.06.2009, http://www.weforum.org/pdf/EastAsia2009/EA09_report.pdf.

6 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.06.2009.

Page 113: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

110

Realität vereinbar. So kann das scheinbare Missverhältnis zwischen Sparen und Investieren im Verhältnis zwischen den Entwicklungsländern und der „entwi-ckelten Welt“ durchaus als natürlich begriffen werden; danach bräuchte es Zeit, bis sich dies angleiche. In Japan etwa habe der Versuch des Umsteuerns zu mehr Konsum in den 1980er Jahren nicht wirklich gegriffen, zumal bewusste Staatseingriffe neue makroökonomische Ungleichgewichte schufen. Auch sei völlig offen, welche Folgen ein großzügiger Ausbau der Sozialsysteme für die Staatshaushalte mit sich brächte, vor allem dann, wenn in Asien die Bevölkerung altere. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die asiatischen Sozialstrukturen nicht denen in den Industrieländern vergleichbar sind, da sich eine Mittelklasse be-kanntlich erst entwickelt. Schließlich bräuchten Veränderungen des Spar- und Investitionsverhaltens von Menschen und Unternehmen bekanntlich Zeit. Die hohe gesamtwirtschaftliche Sparleistung vieler asiatischer Länder gründe darin, dass diese nach der Asienkrise 1997/98 ihre Währungsreserven aufgestockt hät-ten, um sich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zu emanzipieren. Hoff-nung richtet sich heute vor allem darauf, dass die jüngere Generation in zahlrei-chen asiatischen Staaten deutlich mehr konsumiert als ältere Jahrgänge. Ob dies freilich von Nachfragekategorien begleitet sein wird, die die Ausfälle in der entwickelten Welt kompensieren, muss bezweifelt werden.

Noch deutlich selbstbewusster die Haltung Singapurs, das etwa über seinen Pre-mierminister, Lee Hsien Loong, deutliche Zweifel am westlichen Modell der liberalen Demokratie zu erkennen gibt. Die westliche Überzeugung, nach der Entwicklungsschübe nur mit einem Ausbau demokratischer Strukturen verbun-den sein könnten, habe sich gerade im Fall Singapurs als zu simpel erwiesen. Auch behindere sich vor allem Europa gleichsam selbst. „Die europäischen Ge-sellschaften haben eine völlig andere Einstellung gegenüber wirtschaftlicher Prosperität, die bei ihnen zu sozialer Gerechtigkeit verpflichtet und zu Solidarität gegenüber den am wenigsten erfolgreichen Mitgliedern der Gesellschaft“; dies schwäche aber die Reagibilität und Flexibilität, die gerade in Krisen notwendig sei, auch führe die Überalterung der europäischen Bevölkerung zu eher konser-vativen Grundhaltungen, die der Entwicklungsdynamik im asiatisch-pazifischen Raum nicht zu vergleichen seien.7

Im Zuge dieser sich verschärfenden Diskussionen findet sich in der hier verfolg-ten Untersuchung ein allerdings wichtiger Konsens: Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitiken werden durchgängig als entwicklungs- und zukunfts-

7 Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17.07.2009.

Page 114: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 111

orientiertestes Aufgaben- wie Politikfeld begriffen und stehen dementsprechend im Zentrum der Diskussion. So sieht Singapur aufgrund seines äußerst erfolgrei-chen „Geschäftsmodells“ keinen Grund, den beeindruckenden Ausbau seiner gegebenen Standortvorteile substantiell zu überdenken, zumal selbst die ablau-fende Krise an der Bedeutung Singapurs als überragendem Handels- und Um-schlagsplatz bislang wenig verändert hat. Die simple Tatsache, dass von Singa-pur aus ein Wirtschaftsraum von Pakistan bis Neuseeland innerhalb von sechs Flugstunden zu erreichen ist und darüber hinaus ein vergleichsweise autokrati-sches Regierungssystem eine exzellente Infrastruktur sowie Arbeitsbeziehungen, die frei von Verteilungskämpfen und sozialen Unruhen sind, bereitstellen kann, belässt dem Land auch künftig hervorragende Entwicklungschancen. Dies gilt vor allem für den WT-Bereich, weil es das Land versteht, exzellente Ausbil-dungseinrichtungen mit extern gewonnenem wie inzwischen auch intern ausge-bildetem Spitzenpersonal zu versehen und auf diese Weise als längerfristig füh-rend gelten zu können. Hinzu kommt, dass hier Wissenschaftspolitik umstandslos als Wirtschaftspolitik verstanden wird und die jeweiligen Einzelpolitiken sich dem anzupassen haben.

Anders wiederum die Ausgangssituation für Finnland, das einen gesamtgesell-schaftlichen Konsens garantiert und Bildungs- wie Innovationspolitiken als pri-märes politisches Ziel ausweist. Die „Kleinheit“ des Landes wirkt hier vorteil-haft, da sich die Phasen zwischen Problemerkenntnis, Wissensgewinn, Wissens-vermittlung und Wissensvermarktung beträchtlich verkürzen, das ausdifferen-zierte Institutionensystem eine hohe Reagibilität erlaubt und die finanziellen wie personellen Voraussetzungen für Innovationspolitiken kontinuierlich weiterent-wickelt werden.

In der Zusammenfassung erweist es sich mithin als notwendig, die je unter-schiedlichen Voraussetzungen der Beteiligten im Rahmen einer erweiterten In-ternationalisierungsoffensive angemessen zu berücksichtigen und sie aufeinan-der zu beziehen. Dies sollte vor allem dadurch möglich sein, dass man die Vor- und Nachteile der einzelnen Entwicklungs- und Innovationsmodelle darstellt, kommuniziert und auszugleichen sucht - bis hin zu einer Form potentieller Ar-beitsteilung, die in einzelnen Politikfeldern ja durchaus bereits erkennbar ist. Nur so dürfte es möglich sein, zumindest regional zu wirken und nicht zurückzufallen in protektionistisch ausgerichtete Politiken, die der Gesamtentwicklung eher abträglich denn förderlich sind. Da die Internationalen Organisationen, die hier-für Sorge tragen müssten, dem nach ihrem Arbeitsauftrag und ihrer gegenwärti-gen Struktur nur in Teilen gewachsen sind, wäre konsequent zu erörtern, wie

Page 115: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

112

entsprechende Organisationsstrukturen und Entscheidungs- wie Vollzugsprozes-se gestaltet sein müssten. Kriterien wären u.a. die Problemlösungskapazität, die Schnelligkeit und Zielgruppenorientierung der Reaktion, die Nachhaltigkeit des Ressourceneinsatzes sowie ein gemeinschaftliches Handeln bis hin zum Ausweis nicht nur von common pool-Problemen, sondern eben auch von common pool-Lösungen. Dass dabei die jeweiligen Kontextbedingungen (Verfassungstraditio-nen, regulativer Rahmen, staatsorganisatorische Grundlagen, ökonomischer und sozialer Entwicklungsstand) und die jeweiligen Merkmale des Wissenschaftssys-tems (zentralisiert/dezentralisiert, gesteuert/weitgehend autonom, finanzielle und personelle Voraussetzungen) zu berücksichtigen sind, sollte sich von selbst ver-stehen. Nur so dürfte es möglich sein, Heterogenität und Komplexität zu begren-zen und jenes Gemeinsame zu identifizieren, ohne das jeglicher Ansatz zu einer Internationalisierung von Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitiken scheitern dürfte.

Im Ergebnis wird man die unterschiedlichen Entwicklungs- und Innovationsmo-delle demnach als Herausforderung und Anreiz begreifen müssen. Die in der Literatur angebotenen Kategorisierungen (konzentrische Ringe, arbeitsteilige Verfahren oder Konvergenz) erweisen sich angesichts der Heterogenität zumin-dest der hier untersuchten Staaten als unangemessen und eher vereinfachend. Die Varietät der Ansätze ist um vieles größer als angenommen und bedarf eines entsprechenden empirisch-analytischen Zugangs.

VII. Horizontale und vertikale Koordination als zentraler Engpass

Wie bereits angesprochen, stellt bei der Einlösung einer erweiterten Internationa-lisierung die horizontale wie vertikale Koordination von WT-Politiken einen in dieser Intensität überraschenden, gleichsam zentralen Engpass für Entwicklungs- und Innovationsansätze dar.

Mit Blick auf die horizontale Koordination findet sich in zahlreichen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern eine mangelhafte Abstimmung der verfolg-ten Politiken und ein unzureichend mitbedachter wie gesteuerter Vollzug. Dies erklärt sich, je nach Verfassungstradition und politischen Routinen, aus den diesbezüglichen Autonomieräumen der Akteure, die meist nur aufgrund eines von ihnen selbst definierten Bedarfs koordinierend tätig werden, im Übrigen aber auf übergeordnete Entscheidungen setzen. Diese in vielen Staaten ausgeprägte Form der politischen Willensbildung und Entscheidung verdankt sich jener „ar-beitsteiligen“ Prozesslogik, die sich für die Regierungstätigkeit in demokrati-

Page 116: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 113

schen politischen Systemen durchgesetzt hat. Zwar ist dies als Ausdruck der checks and balances eines liberalen Staatswesens durchaus zu begrüßen, doch verbinden sich damit selbst im Rahmen hinreichend legitimierter und politisch auf gemeinsame Zielvorstellungen ausgerichteter Regierungen ein nicht selten enormer Zeit- und Ressourcenverschleiß, der wiederum zu sub-optimalen Poli-tikergebnissen führen kann.

Angesichts dieser Ausgangssituation wird verständlich, dass die deutlich gestie-gene Bedeutung von WT-Politiken sich auch in entsprechenden administrativen Einrichtungen niederzuschlagen beginnt, vor allem in der Bildung gesonderter Institutionen, innerhalb derer die für das Politikfeld wichtigsten Akteure zur Umsetzung eines Gesamtansatzes und zur Abstimmung von Teilpolitiken zu-sammentreten. Diese bereits angesprochenen Ratsformationen (councils) stehen meist unter der Leitung des Premierministers, um mit dessen Machtleihe den Entscheidungsanspruch und die Hierarchisierung zugunsten des Aufgabenfeldes nach innen wie nach außen zu dokumentieren. Als wichtig erweist es sich dabei, ob sich mit den Empfehlungen des Rates neben einem entsprechenden Gesamt-rahmen auch Vorgaben für nachfolgende Vollzugsprozesse verbinden. Das Ent-zerren von Politikformulierung und Vollzug, so systemanalytisch sinnvoll es erscheinen mag, wirkt sich politisch-praktisch in der Regel zu Ungunsten des Vollzugsprozesses aus; die angestrebte Aufwertung des Politikfeldes erfährt dadurch eine wenn nicht Umwidmung, so doch häufig eher an den Interessen von Einzelressorts orientierte Ausfüllung.

Natürlich ist auch hier zu unterscheiden zwischen transparenten und gleichzeitig demokratisch breit legitimierten Verfahren, wie sie etwa seitens der finnischen Regierung seit langem verfolgt werden, und jenen eher „angeleiteten“ Willens-bildungsprozessen, wie man sie aus China und (begrenzt) Singapur kennt. Alle der in die Untersuchung einbezogenen Staaten eint allerdings ein Bewusstsein, nach dem Wissenschafts- und Technologiepolitiken von entscheidender Bedeu-tung für die ökonomische und damit auch politische Entwicklung des jeweiligen Landes sind; sie zu zentralisieren, um Entscheidungen zu beschleunigen, sie gleichzeitig aber auch in Politikformulierung wie Vollzug zu koordinieren, stellt daher eine der zentralen politischen Aufgaben dar. Materiell reicht das von der Definition der Ziele über die Allokation von Budgetmitteln bis hin zu kompli-zierte Wertschöpfungsketten implizierenden Verfahren.

Ein in dieser Frage interessantes und gleichzeitig verbesserungswürdig erschei-nendes System der zentral- wie gliedstaatlichen Abstimmung bildet die Bundes-republik Deutschland. Der verfassungsmäßige Rahmen ist hier bekanntlich durch

Page 117: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

114

Art. 65 GG gegeben: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bun-desminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwor-tung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entschei-det die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung.“ Diese Formulierungen sind in sich erkennbar widerspruchs-voll. Im ersten Satz überträgt der Artikel dem Kanzler die Richtlinienkompetenz und eröffnet damit die Möglichkeit, das Kanzlerprinzip voll zu entfalten. Im zweiten Satz wird festgelegt, dass jeder Minister im Rahmen der Richtlinien sein Ressort selbständig und unter eigener Verantwortung leitet, was die Möglichkeit eröffnet, das Ressortprinzip zu verwirklichen. Trotz der Richtlinienkompetenz soll dann im dritten Satz die Bundesregierung über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern entscheiden; das entspräche dem Kabinettsprinzip. Man könnte an dieser Stelle die verfassungsrechtliche Problematik des Nebeneinan-ders von drei Gestaltungsprinzipien in Art. 65 ganz ausklammern und sich mit der Feststellung begnügen, dass es sich um „nur“ einen weit gefassten Rahmen handelt, der von den Beteiligten je nach personeller und sachlicher Konstellation höchst unterschiedlich ausgefüllt werden kann, wenn nicht die Interpretation des Artikels darüber entschiede, was an Instrumenten eingeführt und wem sie zuge-ordnet werden können. Legt man das Ressortprinzip weit aus, dürfte es etwa im Bundeskanzleramt nur eine koordinierende, keine politikvorbereitende Abteilung geben. In der Praxis freilich kamen bislang meist nur das Kanzler- und das Res-sortprinzip zur Geltung. Das Kabinett verfügt zwar über die Beschlussgewalt, nicht aber über die Initiative. Deshalb verbindet man allgemeinere politische Aussagen eher mit dem Kanzler/der Kanzlerin, konkrete Initiativen mit den Mi-nistern. Das entspricht sicher auch der Realität, selbst wenn sich diese einer Standardisierung entzieht.8

Im Vergleich ergibt sich für die horizontale Koordination, dass die meisten der hier untersuchten Staaten mit Blick auf Wissenschafts- und Technologiepolitiken über eine sehr viel „straffere“ Koordinationspraxis verfügen als die Bundesrepu-blik. Letztere mag man als gewohnte und in der Regel akzeptierte Routine der deutschen Politik begreifen und so Kritiken an Zeit- und Ressourcenverschleiß leer laufen lassen. Allerdings ist heute zu bedenken, dass gerade die Erfahrungen

8 Hesse, J.J./Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 10. Auflage, Berlin

2010 (i. E.).

Page 118: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 115

im Rahmen der ablaufenden Wirtschafts- und Finanzkrise ein Überdenken dieser Koordinationspraxis nahe legen. So finden sich in fast allen der bislang in diese Untersuchung einbezogenen Staaten spezifische Organisationsformen, die unter der Leitung des jeweiligen Regierungschefs stehen und meist zwar auf eine zügi-ge Politikformulierung angelegt sind, zugleich aber auch den Vollzugsprozess vorzuprägen suchen. Es ist erwartbar, dass sich bei der Überwindung der gegen-wärtigen Krise solche Formen der Willensbildung und Entscheidung den deut-schen Abstimmungsroutinen gegenüber als sach- und problemadäquater erwei-sen. Eine wenigstens punktuelle Erprobung von Formen verstärkter horizontaler Koordination erscheint daher angezeigt, sie wäre verfassungsrechtlich im Rah-men des Art. 65 GG durchaus möglich, verfassungspolitisch sogar geboten.

Die vertikale Koordination, jetzt also die Abstimmung zwischen Gebietskörper-schaften unterschiedlicher Ebenen, stellt demgegenüber einen zentralen Engpass in fast allen der hier untersuchten Wissenschaftssysteme dar. Natürlich ist dabei, wie angesprochen, zwischen föderalstaatlichen und unitarischen politischen Ordnungen schon dahingehend zu unterscheiden, dass Föderalstaaten meist mehrgliedriger ausgestaltet sind als unitarische Staatensysteme. Damit verbindet sich wiederum ein mehrstufiger Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, der nicht selten durch Eingriffsverzicht, suboptimale Problemlösungen und status quo-Orientierungen geprägt ist. Da aber nicht nur in Krisensituationen die Zahl der Akteure und Entscheidungsträger bedeutsam sein kann, müssten sich föderal-staatliche Gemeinwesen um eine problemnahe und zeitgemäße Beschleunigung ihrer Willensbildungs-, Entscheidungs- und Vollzugsprozesse bemühen, die Ar-beiten der Föderalismusreform-Kommissionen I und II in Deutschland sind in diesem Kontext ein noch erinnerlicher Beleg.9 Im Vergleich der hier einbezoge-nen Staaten erweist sich die vertikale Koordination immer dann als defizitär, wenn die für WT-Politiken eingesetzten Entscheidungsgremien den Vollzug nicht explizit mitbedenken, also jenen „Freiraum nach unten“ belassen, der über die Verfolgung von Eigeninteressen, administrative Vorbehalte und instrumen-telle Auffächerung nicht selten zu Umformungen des erhofften Politikergebnis-ses führt. Es erscheint deshalb angeraten, bei der Erörterung und Verabschiedung künftiger WT-Politiken den Vollzug explizit einzubeziehen und selbst das in mehreren Ländern erkennbare Einschalten von Mittlerorganisationen - zumindest

9 Hesse, J.J.: Das Scheitern der Föderalismuskommission – Ist der deutsche Bundesstaat reformierbar? In:

Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 3/2 (2005), 109-123, sowie ders.: Einführung in das Themenheft „Modernisierung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen: die Föderalismusreform II vor der Entscheidung“ der Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 6/2 (2008), 193-203.

Page 119: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

116

in der heute erkennbaren Intensität - zu überdenken. Natürlich ist die Komplexi-tät von Wissenschafts- und Technologiepolitiken so hoch, dass man sich der jeweiligen Informationsbestände (und Befähigungen) auf Anbieter- wie Nach-fragerseite vergewissern sollte, und bleibt es wohl auch richtig, dass insbesonde-re Nachfrager bei der Umsetzung entsprechender Politiken über weite Freiräume verfügen sollten, doch sollte dies sicher nicht dazu führen, dass sich damit unver-tretbare Verzögerungen, sachliche Umorientierungen und materielle Fehlleistun-gen ergeben. Diesen Prozess von der Wissensgenerierung bis zur Umsetzung zu verkürzen, ohne dabei demokratische Mitwirkungsrechte unzumutbar einzu-schränken, erscheint mithin angezeigt, zumal gerade Krisensituationen „positive“ Zentralisierungsprozesse zulassen, ja nahe legen, die aufgrund dann erweiterter Transparenz allerdings Missbräuche ausschließen müssten. Die hier zur Diskus-sion stehenden Schlüsselfragen einer gleichsam weltweiten Entwicklung, also etwa die nach der künftigen Energieversorgung, einer wirksamen Bekämpfung des Klimawandels und einer akzeptablen Gesundheitssicherung, werden kaum im Rahmen routinehafter horizontaler wie vertikaler Koordination vorentschie-den oder gar entschieden; hierzu bedarf es untypischer Verfahren, die sich an den bereits eingangs benannten Kriterien auszurichten hätten und messen lassen müssten. Das skizzierte Fünf-Stufen-Modell könnte als sich einem solchen Pro-zess durchaus angemessen erweisen, da es die wesentlichen Wissens- und Ent-scheidungsträger einbezieht und durch Konzentration auf das Wesentliche eine materiell wie zeitlich überzeugende Problemlösung anstrebt. Dass Nachhaltig-keitsgesichtspunkte dabei nicht immer jene Rolle spielen können, die ihnen in der eher allgemeinen Diskussion um WT-Politiken heute zukommt, sei hinzuge-fügt; Krisensituationen erfordern bekanntlich immer auch situativ ausgerichtete und zeitlich befristete Reaktionen.10

Quer zu dieser Einschätzung des horizontalen und vertikalen Koordinationsbe-darfs steht schließlich die Frage nach einer verbesserten Koordination von öffent-lichen und privaten Aktivitäten. Hierzu wurde bereits ausgeführt, dass entspre-chenden kooperativen Ansätzen eine nachhaltige Unterstützung zukommen sollte. Gerade bei jenen „großen“ grenzüberschreitenden Problemen, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, erscheint es mehr als offenkundig, dass wirkliche Problemlösungen nur im Zusammenwirken beider Sektoren denkbar sind. Dass dies hoffentlich auch wechselseitige Lernprozesse auslöst, die dann

10 Vgl. hierzu die sich andeutenden Differenzierungen im Rahmen des Gründungsprozesses des Institute

for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam.

Page 120: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 117

das künftige öffentliche wie private Handeln prägen sollten, sei angefügt – wohl wissend, dass in einigen der hier untersuchten Staaten ideologische Vorbehalte dies noch erschweren.

VIII. Vom Kopf auf die Füße: institutionelle, finanzielle und personelle Voraussetzungen

Zu den erfreulichen Ergebnissen der vorgelegten Untersuchung zählt es, dass von einem breiten Konsens ausgegangen werden kann, nach dem es zur Bewälti-gung grenzüberschreitender, transnationaler Probleme bestimmter institutionel-ler, finanzieller und personeller Voraussetzungen bedarf. Im Hintergrund stehen Vorstellungen zur Entwicklung eines common pool, der mit Blick auf jene Schlüsselfragen zu bilden wäre.

Mit Blick auf institutionelle Fragen sind die innerhalb der herkömmlichen Rou-tinen erarbeiteten Problemlösungen nicht nur aller Ehren wert, sondern häufig auch von einem angemessenen Vollzug begleitet. Die spezifischen Vor- und Nachteile einzelner Vorgehensweisen wurden in den gesonderten Länderberich-ten dargestellt und bedürfen hier keiner weiteren Erörterung11, sie gelten als gleichsam WT-politischer „Normalfall“. Wichtig ist dagegen im Vergleich, dass die Bedeutung von Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitiken bei allen Beteiligten die Bereitschaft gefördert hat, sich auch untypischen institutio-nellen Vorkehrungen und sich anschließenden politischen Entscheidungs- wie administrativen Vollzugsprozessen zu öffnen. Allerdings ist diese Aufgabe be-reits dadurch erschwert, dass sich das sowohl auf die Angebots- wie die Nach-frageseite zu erstrecken hätte. Angebotsseitig wurde zwar soeben auf die Bedeu-tung einer verbesserten horizontalen wie vertikalen Koordination verwiesen, ohne dass sich dies allerdings bereits zu einem konsistenten institutionellen Rahmen verdichtet hätte. Dieser müsste aus der Logik des Politikfeldes heraus zweierlei erlauben: die angesprochene Bündelung und Konkretisierung der nati-onalstaatlichen Politikformulierung und des Vollzugs sowie das Einbringen entsprechender Bemühungen in die Entwicklung transnationaler Formen der Problemlösung. Während die Bedingungen für eine entsprechende nationalstaat-liche Ausrichtung gegeben scheinen und hier auch wechselseitig „gelernt“ wer-den kann, sind die institutionellen Herausforderungen für transnationale Koope-

11 Vgl. hierzu den Endbericht der ersten Untersuchungsphase (vgl. Fn 1) und hier vor allem die kompri-

mierten Länderberichte zur Situation in Japan, Singapur, Indien, der VR China, den USA, dem Verei-nigten Königreich und Finnland.

Page 121: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

118

rationsformen noch weithin unausgeprägt. Sowohl in den politischen Absichtser-klärungen als auch in der Fachliteratur finden sich nur vergleichsweise vage Vorstellungen, die von Konventslösungen über wissenschaftliche wie politische peer-Gruppen bis hin zu einer Republic of the smartest, fittest and most powerful richten. Während Konventslösungen zwar historisch (von Philadelphia über Herrenchiemsee bis hin zum Europäischen Verfassungskonvent) Bemerkenswer-tes leisteten,12 freilich auf eher aggregrierte Fragestellungen gerichtet waren, wird unter peer group-Lösungen meist auf die Wirkungsweise des IPCC zur Lösung von Klimaproblemen verwiesen. Allerdings sind die Echos auf diese formal eindrucksvolle Form der Konsensbildung unter den weltweit Sachkundi-gen durchaus zwiespältig: Während die einen das Panel trotz aller Rückschläge als Zukunftsmodell bezeichnen, da es materielle Kompetenz mit der Verantwor-tung für die politische Willensbildung und Entscheidung verbindet, sehen andere in den jahrelangen Bemühungen ein „Horrorszenario“ missverstandener demo-kratischer Konsensbildung. Richtig an diesen polarisierenden Einschätzungen dürfte sein, dass für kaum eines der in dieser Untersuchung angesprochenen Problemfelder eine weitere so intensive und vor allem zeitlich ausgedehnte Form der Problembefassung denkbar (und funktional sinnvoll) erscheint; vom Klima-wandel über den Energiebedarf bis hin zur Gewährleistung weltweiter Gesund-heitsstandards ist der Bedarf an Problemlösungen derart dringend, dass man mit gleichsam idealtypischen Formen der Willensbildung nicht wirklich dauerhaft wird agieren können. Es bedarf mithin der Auswahl, einer funktionalen Gewich-tung und begrenzten Hierarchisierung sowie verkürzter Fristen, anders formuliert des problemorientierten Zusammenführens von besonders Sachkundigen und politisch zur Entscheidung Berufenen, um Problemlösungen in vertretbaren Zeit-räumen zu gewährleisten. Dies punktuell zu erproben, könnte und sollte auch Gegenstand der „Internationalisierungsstrategie“ sein; und sei es auch nur in exemplarisch ausgewählten Problem- und Aufgabenfeldern (und unter Ein-schluss der in Kopenhagen gemachten Erfahrungen).

Die finanziellen Voraussetzungen für eine erweiterte internationale WT-Kooperation erscheinen erfreulicherweise fast durchgängig gegeben. Selbst da, wo die BIP-Anteils- oder Zielwerte bislang nicht eingelöst wurden, sind ernstzu-nehmende Absichtserklärungen (mithin Selbstbindungen) erkennbar, dem so bald als möglich zu entsprechen; in anderen Fällen wurden die anerkennenswer-

12 Vgl. Hesse, J.J.: Vom Werden Europas. Der Europäische Verfassungsvertrag: Konventsarbeit, politi-

sche Konsensbildung, materielles Ergebnis, Berlin, 2007.

Page 122: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 119

ten Bemühungen vom hohen BIP-Wachstum gleichsam „überholt“. Für die hier verfolgte Fragestellung wäre es sinnvoll, unter den Beteiligten einen Konsens auch dahingehend zu erzielen, dass ein Teil der für WT-Politiken eingesetzten Mittel in die internationale Kooperation fließt, mithin ein common pool of re-sources zu schaffen wäre. Dies erscheint nach dem gegenwärtigen Diskussions-stand im Rahmen der G8/G9 zwar möglich, aber bereits mit Blick auf die G20 aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen (und Problemwahrneh-mungen) eher unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass die Berechnungs- und An-rechnungsmodi in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausfallen dürften und es bei einem derart großen common pool zu einer Ausdifferenzierung von Gebern und Nehmern käme. Die damit verbundenen Probleme sind aus föderal-staatlich organisierten Staaten und den hier meist elaborierten Finanzausgleichs-systemen hinlänglich bekannt. Da zudem erwartbar ist, dass für einige Schwel-lenländer und vermutlich alle Entwicklungsländer eine Ko-Finanzierung ausgeschlossen werden muss, wäre das Problem an die Gruppe der G8/G20 zurückzuverweisen. Hier gilt, dass gerade diese Länder in besonderer Weise von ihrer positiven Ausgangssituation profitiert haben, es mithin ein Gebot der Fair-ness und der Solidarität wäre, dem auch im Rahmen der Finanzierung zu folgen (ohne erneut die Geschichte des Kolonialismus bemühen zu müssen oder zu „weiche“ Kategorien einzubeziehen).

Die Bereitschaft hierzu ist in Teilen gegeben, vor allem im Rahmen jener laufen-den Umorientierung tradierter Entwicklungspolitiken, die sich in nahezu allen der hier untersuchten Staaten fand. Sie dokumentiert einen interessanten Ansatz, Entwicklungs- und durchaus auch Außen- und Sicherheitspolitiken funktional mit der Wissenschafts- und Technologieförderung zu verknüpfen. Diese Form politischer Kohärenz wäre zwar untypisch, könnte aber gerade deshalb einen verfolgenswerten Ansatz zur transnationalen Lösung weltweiter Probleme dar-stellen. Dass sich damit erneut ein Verweis auf Solidarverpflichtungen der ersten den nachfolgenden Welten gegenüber verbindet, sei hinzugefügt.

Die personellen Voraussetzungen für eine internationale WT-Kooperation sind ähnlich ungleich verteilt; nicht überraschend findet sich das bestqualifizierte Personal für Aufgaben der Forschung und Entwicklung bislang in den großen Industriestaaten. Die tradierten Ausbildungssysteme, das ausdifferenzierte Hoch-schulwesen und die Interaktion zwischen dem öffentlichen und dem privatwirt-schaftlichen Bereich haben hier Handlungsperspektiven eröffnet, die weit über das hinausgehen, was noch vor wenigen Jahrzehnten für möglich gehalten wur-de. Dies wiederum macht das eigentliche Entwicklungspotential einer weltweit

Page 123: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

120

intensivierten WT-Politik aus – immer unter der Voraussetzung, dass es gelänge, die „besten Köpfe“ einer Generation nicht nur im jeweils eigenen, also meist nationalstaatlichen Kontext, sondern eben auch regional und global ausgerichtet arbeiten zu lassen. Die Voraussetzungen hierfür sind aber insofern gut, als es Wissenschaftler seit langem gelernt haben, sich als Teil einer weltweiten com-munity zu bewegen und entsprechend zu agieren. Wie ausgeführt, sind wirklich führende Wissenschaftler heute in einer Weise vernetzt, die sich selbst im pri-vatwirtschaftlichen Bereich und erst recht bei politisch Handelnden so nicht findet. Diese Netzwerke zu nutzen, sie produktiv „auszubeuten“ und dafür zu sorgen, dass sich über den Nachwuchs der jeweils Qualifiziertesten neue Netz-werke bilden, die dann Fragestellungen der kommenden Generation bearbeiten, stellt für zahlreiche Beobachter den „Königsweg“ der künftigen WT-Entwicklung dar.13

Umso dringlicher erscheint es dann allerdings, über Austausch- und wechselsei-tige Förderungsprozesse diesen Nachwuchs auch zu erreichen und ihn gerade in weniger entwickelten Ländern und Gesellschaften für eine Berufstätigkeit in Lehre und Forschung zu interessieren. Zudem fehlt es in zahlreichen Ländern noch immer an einer den Namen verdienenden Grundlagenforschung, aus der heraus erst jene personellen Qualifikationen erwachsen, die dann in der ange-wandten Forschung wegweisende Erkenntnisse und Technologien generieren und umsetzen. Hier verbindet sich der Ausbau der eigenen Kapazität mit dem Blick auf weltweit gegebene Bedarfe und Nachfragen. Bereits heute sind entspre-chende Desiderate erkennbar, denen ohne größere Nachprüfung zu folgen wäre. Sie richten sich auf eine Verbesserung grundlegender Bildungseinrichtungen, eine dem heutigen Wissensstand und den erwartbaren infrastrukturellen Voraus-setzungen entsprechende Hochschullandschaft sowie ein ausgeprägteres Be-wusstsein dafür, dass sich hier in besonderer Weise eine Interaktion von öffentli-chem und privatem Sektor anbietet.

13 Inzwischen werden solche Vorstellungen auch seitens der Internationalen Organisationen befördert, so

im Rahmen der Weltbank. Die verstärkten Bemühungen um eine nachhaltige Wissenschafts- und For-schungspolitik führen hier zu Ansätzen, über eine dem Peace Corps nachempfundenen Organisations-form „Personalreserven“ zu schaffen, die sich primär an den Bedürfnissen der Entwicklungsländer aus-richten; vgl. hierzu unter http://go.worldbank.org/KXUYSDSFN0.

Page 124: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 121

IX. Wege zu einer erweiterten Internationalisierung: Zwischen grand design und pragmatischer Arbeitsteilung

Fasst man die im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zusammen, spricht vieles, vielleicht sogar alles für eine verstärkte Internationalisierung von Wissenschafts-, Forschungs- und Technologieentwick-lung. Die dafür aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten weisen Wege, der hetero-genen Problemsituation gerecht zu werden, zudem wurde über ein Fünf-Stufen-Modell ein Ansatz entwickelt, der den Bedarfslagen der Beteiligten zu entspre-chen sucht; er wurde gemeinsam mit den im Rahmen dieser Untersuchung Be-fragten entwickelt und dürfte konsensfähig sein.

Gleichwohl ist zuzugestehen, dass die Lösung weltweiter Probleme kaum über den Aufbau „globaler“ Einrichtungen, Verfahren und materieller Politiken mög-lich ist. Es bedarf vielmehr jenseits eines erweiterten Rahmens punktueller, durchaus auch experimenteller Vorgehensweisen (etwa über Pilot-Projekte), um den heterogenen Problemausprägungen zu begegnen. Folgt man dieser Argu-mentation, sind territoriale, sektorale und temporale Ausdifferenzierungen zu erörtern. Zur Zeit-Raum-Orientierung tritt so das segmenthafte „Abarbeiten“ von Problemen, in der Hoffnung, derartige materielle Einzelschritte später zu einer kohärenteren und aufeinander bezogeneren Gesamtlösung verbinden zu können. Schon die territoriale Differenzierung verweist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen (materiellen wie geopolitischen) „Betroffenheiten“ durch ein-zelne Problemausprägungen. So stellt sich der Energiebedarf in den Regionen dieser Welt bekanntlich unterschiedlich, sind die Anforderungen an die Gesund-heitssysteme durch Klima, Entwicklungsstand und Ernährungsgewohnheiten unterschiedlich geprägt, finden sich Voraussetzungen für eine den Namen ver-dienende biotechnologische Innovationsstrategie eher in der „entwickelten“ denn in der sich noch entwickelnden Welt. Diesen Unterschieden gerecht zu werden, ohne Ungleichgewichte und Abhängigkeiten zu vertiefen, stellt eine zentrale Herausforderung der derzeit politisch Handelnden dar. Sie müssten sich auf ein Vorgehen verständigen, das auf der Basis des angesprochenen mapping und framing eine Problemdefinition erlaubt, die dann territorial, sektoral/segmenthaft und temporal zu konkretisieren wäre. Gelänge eine solche Identifikation auf der Basis von state of the art-Berichten durch die peers unter den gegenwärtig füh-renden, für die jeweilige Frage sachkundigsten Wissenschaftlern, wäre dem ein Panel politischer Entscheidungsträger zuzuordnen, um entweder gemeinsam oder durch letztere jene territoriale, sektorale und temporale Differenzierung vorzu-nehmen, derer es zweifellos bedarf. Dass sich hier wissenschaftliche Erkenntnis

Page 125: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

122

und ihre Bündelung mit dem Prozess demokratisch legitimierter politischer Wil-lensbildung und Entscheidung verbinden müssen, ist offensichtlich und sollte nicht als unüberwindbare „Hürde“, sondern als Chance und Herausforderung begriffen werden. Gerade wenn man sich innerhalb der nationalstaatlich agieren-den politischen Einrichtungen offen zeigte für einen erweiterten Diskurs und dem ein eingeschränktes Mandat zuspräche, sollte es möglich sein, zu einer sol-chen Zusammenführung von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Ent-scheidung beizutragen. Die Ergebnisse wären dann sowohl der scientific commu-nity als auch den jeweiligen nationalstaatlichen und regionalen politischen Entscheidungsträgern vorzulegen, um ein zusätzliches Meinungsbild und nach-folgende Entscheidungen sicherzustellen.

Im Zentrum dieser Überlegung steht also die Bildung einer „Republik“ der Sachkundigsten und politisch Berufensten, um der drängenden weltweiten Prob-leme Herr zu werden. Dies mag man als gleichsam „romantische“ Idee kritisie-ren, sollte sich dann allerdings der Verpflichtung bewusst sein, Alternativen zu erarbeiten und vorzulegen. Sie sind schwer vorstellbar, da eine Wissensgenerie-rung wie deren Vermittlung ohne die peers der gegenwärtigen Wissenschaftler-generation nicht möglich sein dürfte, während umgekehrt die Umsetzung ent-sprechender Erkenntnis in demokratisch legitimierten Kontexten ohne die dafür gewählten Funktionsträger dem Verdikt undemokratischen Handelns verfiele. Dass sich für den hier vorgestellten Ansatz nicht nur materielle Begründungen, sondern auch politisch Handelnde finden, haben die Fallstudien im Rahmen dieser Untersuchung ausreichend dokumentiert. Gelänge es darüber hinaus, wei-tere Schwellenländer in den Kreis der Beteiligten einzubeziehen und die Unter-suchung punktuell auch auf Entwicklungsländer auszuweiten, wäre dem (poten-tiellen) Vorwurf entgegengewirkt, letztlich doch nur den Interessen der „ent-wickelten Welt“ einen Rahmen geben zu wollen. Insofern findet sich zum Abschluss dieser Untersuchung auch ein erneuter Verweis auf jenen auch und gerade sozial definierten inclusive approach, ohne dessen Berücksichtigung die hier angesprochenen Optionen nicht verwirklicht werden sollten; dass ein darauf gerichteter Prozess auch Elemente einer exclusion beinhaltet, verweist auf Reali-täten, denen man sich wissenschaftlich wie politisch zu stellen hat.

Im Ergebnis findet sich eine durchaus zeitgemäße Reaktion auf die angesproche-nen Probleme, die nicht erneut der Versuchung zu einem grand design erliegt und damit gleichsam ab ovo konsequenzlos bliebe. Der hier präferierte schritt-weise Ansatz verbindet sich eher mit einer prozessualen Logik, die durch eine materielle und zeitliche Ausdifferenzierung den vorgefundenen Problemen zu

Page 126: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 123

entsprechen sucht und politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse um Voraussetzungen zu ihrem Vollzug ergänzt. Nur so dürfte es auch möglich sein, letztlich zu einer pragmatischen Arbeitsteilung zu finden, die die sonst je für sich handelnden Akteure auf ein gemeinsames Ziel verpflichtet. Dass dem eine beträchtliche Überzeugungsarbeit vorangehen muss und sich daraus auch die Verantwortung ergibt, über die Ansprache weiterer Allianzpartner Problem-lösungen konsensfähig zu machen, versteht sich von selbst. Sollte dies gelingen, wäre damit freilich ein Weg beschritten, der aussichtsreich erscheint, letztlich sogar alternativlos sein dürfte.

X. Die deutsche Rolle und Funktion im Internationalisierungs-prozess: Bündelung und Konzentrationsbedarf nach innen, Führungsauftrag nach außen

Einer Anregung des BMBF folgend, soll abschließend ein kurzer Blick auf die deutsche Rolle und Funktion im Internationalisierungsprozess geworfen werden. Dazu finden sich zunächst Ausführungen der Bundesbildungsministerin, die sich im Rahmen einer Konferenz mit dem Titel „Wissenswelten verbinden. Deutsche Außenpolitik für mehr Bildung, Wissenschaft und Forschung“ noch einmal zum Stand der „Internationalisierungsinitiative“ und den dahinter stehenden Überle-gungen äußerte. Sie unterschied dabei zwischen vier Zielen:

• „Erstens: Deutschland wird eine stärkere Verantwortung für globale Heraus-forderungen übernehmen. Wir wollen unsere Kompetenzen aus Wissenschaft und technologischer Entwicklung noch stärker an internationale Wissensnetz-werke einbinden. Wir wollen neue Instrumente finden, um den internationalen Forschungsdialog zu institutionalisieren. Wir sind gleichsam auf dem Weg zur dritten Phase der internationalen Forschungspolitik. Nach der seit Generatio-nen selbstverständlichen internationalen Zusammenarbeit unserer Forscher-gruppen und auf vielen einzelnen Projekten stellt sich jetzt die Frage, welches die neuen Instrumente und institutionalisierten Formen der Verstetigung und der Optimierung des internationalen Dialogs sind. Ein Beispiel – möglicherweise mit Vorbildfunktion für die internationale Zu-sammenarbeit – ist das Institute for Advanced Studies on Sustainability (IASS) in Potsdam, ein Institut für Klima-, Erdsystem- und Nachhaltigkeitsforschung, das Brücken von der Wissenschaft zu den Akteuren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft schlagen wird. Dieses interdisziplinäre Institut wird Spitzenfor-scher aus aller Welt als fellows einladen. Es soll zu einem Treffpunkt interna-tionaler Exzellenz werden, von dem internationale Impulse ausgehen. Das för-dert nicht nur Spitzenforschung, sondern zugleich auch die globale Perspek-tive, die für das Thema des Instituts unabdingbar ist.

Page 127: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

124

• Noch weiter gefasst gehört zur Frage der Internationalisierung auch ein inter-nationaler Wissenschaftsdialog, in den wir die Stärken unserer deutschen Wis-senschaftslandschaft noch besser einbringen und damit Thementreiber für ge-sellschaftliche Zukunftsforschung sein können. Ich denke hier an das Science and Technology in Society-Forum in Kyoto und das Euro Science Open Fo-rum. Es ist eine ausgezeichnete Idee, so etwas wie das „Davos für die Wissen-schaft“ zu etablieren. Was den internationalen Wissenschaftsdialog angeht, so wird auch die Nationale Akademie Leopoldina künftig eine wichtige Rolle spielen, die ja auch schon im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm we-sentlich mitgewirkt hat.

• Das zweite wichtige Ziel ist die Stärkung der Rolle der Forschung in der inter-nationalen Entwicklungszusammenarbeit. Wir werden die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern auch in Forschung und Wissenschaft weiter in-tensivieren. Wir müssen künftig deutsche Technologien noch stärker auf die Lösung globaler Aufgaben ausrichten. Die Entwicklung des Tsunami-Frühwarnsystems ist hierfür ein gutes Beispiel. Auch an den Fragen von Er-nährung und Wasserversorgung in Entwicklungsländern lässt sich trefflich il-lustrieren, dass sich eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung und damit ein Schritt zur Lösung der Millenniumsaufgaben nur mit neuen Technologien in Verbindung mit neuen Produktions- und Versorgungsstrukturen erreichen lässt.

• Das dritte Ziel liegt darin, die Innovationspotentiale in Deutschland zu stärken und weltweit verfügbares Wissen für den Wissenschaftsstandort Deutschland zu erschließen. Wir müssen auf allen Gebieten, die wir mit der Hightech-Strategie als prioritäre Technologiefelder für Deutschland definiert haben, konsequent mit denjenigen zusammenarbeiten, mit denen wir unsere Wissens- und Wertschöpfungskette vervollständigen können. Davon profitieren auch unsere Partner. Auf diese Weise werden strategische Partnerschaften entste-hen, die die Richtung der künftigen Leitmärkte bestimmen werden.

• Viertens schließlich zielt die Internationalisierungsstrategie darauf ab, die Forschungszusammenarbeit mit den weltweit Besten zu stärken. Das ist der zentrale Erfolgsfaktor im globalen Wettbewerb. Die Exzellenzinitiative zählt in dieser Hinsicht zu den wirksamsten Maßnahmen der vergangenen Jahre. Kollegen aus vielen Ländern eröffnen in der Regel mittlerweile Gespräche, indem sie nach den Standorten unserer Exzellenzuniversitäten fragen. Eine enorme Dynamik ist entstanden, ein großes internationales Interesse ist spür-bar, mit diesen Universitäten am Standort Deutschland zu kooperieren. Hinzu kommt das Auslandsengagement deutscher Hochschulen. Auch hierfür gibt es

Page 128: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 125

erste gute Beispiele, Stätten der Wissenschaft zu etablieren, die in besonderer Weise Brücken schlagen zwischen Wissenschaftskulturen.“14

Angesichts dieser Konkretisierung der mit der „Internationalisierungsstrategie“ politisch erhofften und angestrebten Ziele stellte sich die Ministerin an die Spitze eines Prozesses, der auch innerhalb der anderen westlichen Industriestaaten, mancher Schwellenländer und einzelner Entwicklungsländer als notwendig er-achtet wird. Die benannte Initiative ist – wenn auch nicht in dieser Ausdifferen-zierung – in den hier einbezogenen Ländern bekannt und findet nicht nur Wider-hall, sondern meist auch explizite Zustimmung. Sie reicht bis hin zu dem Vorschlag, die internationalen Aktivitäten in dieser Frage zu bündeln und einer gleichsam gesamthaften Koordination zuzuführen. In solchen Vorschlägen kommt erneut eine der deutschen Wissenschaft noch immer entgegengebrachte Hochachtung zum Ausdruck, ergänzt um die Anerkennung der dem Land zuge-sprochenen Organisationsfähigkeit.

Wie die einbezogenen Fallstudien allerdings verdeutlichen, ist auch in dieser Frage zwischen der Politikformulierung und der Umsetzung nachfolgender Poli-tiken deutlich zu unterscheiden, zumal sich diese Differenzierung angesichts des gegenwärtigen Standes der weltweiten WT- oder S&T-Politiken als bedeutsam erweist. So scheint es, dass das Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung grenzüberschreitenden Problemen gegenüber zwar deutlich wächst und die deut-sche Initiative vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise zusätzliche Aufmerksamkeit erfährt. Allerdings wird man auch hier wieder nach dem jewei-ligen Problemfeld und dem Entwicklungsstand des zuzuordnenden Wissen-schaftssystems unterscheiden müssen. Die deutsche Seite sollte sich dessen be-wusst sein und darauf reagieren. Bislang werden die Internationalisierungsvorstellungen noch zu undifferenziert vorgetragen und bedürfen einer materiellen, vor allem aufgabenspezifischen Konkretisierung.

Bei einer Weiterführung der Internationalisierungsinitiative könnte es sich zu-dem als sinnvoll erweisen, auf die Präsentation der deutschen Wissenschaft im Ausland zu achten. Hier geht es dann um Einrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft oder auch die Fraunhofer-Gesell-schaft, ergänzt um jene Förder- und Mittlerorganisationen, die sich in großer Zahl finden, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über die Ale-

14 Auswärtiges Amt (Hrsg.): Wissenswelten verbinden. Deutsche Außenpolitik für mehr Bildung, Wissen-

schaft und Forschung, Berlin, 2009.

Page 129: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

126

xander-von-Humboldt-Stiftung (AvH), den Deutschen Akademischen Aus-tauschdienst (DAAD) bis hin zu den Außenwirtschaftskammern.

Die Aktivität dieser Einrichtungen ist, auch und gerade im internationalen Ver-gleich, eindrucksvoll. Allerdings stellen sich mit Blick auf das Leistungsspekt-rum und die Abstimmung zwischen diesen Einrichtungen Probleme, die dem Berichterstatter bei seinen Gesprächen in unerwarteter Eindringlichkeit vorgetra-gen wurden. So betonten nahezu alle Interviewten, dass man von dem Engage-ment der deutschen Wissenschaft beeindruckt wäre und froh sei, dass sich De-pendancen der führenden Forschungsförderer und Mittler in den jeweiligen Staaten fänden. Allerdings verband sich damit meist auch der Hinweis, dass das Angebot an Hilfestellungen und etwaiger Zusammenarbeit inzwischen so umfas-send ausfalle, dass sich für die jeweilige lokale, regionale und nationale Nach-frage damit Transparenz- und Zugangsprobleme verbänden. Mit anderen Wor-ten: Die deutsche Präsenz erscheint zu vielfältig, um jene Wirkungen zu erzielen, die man sich erkennbar erhofft. Nach etwaigen Empfehlungen befragt, wie die-sem Problem denn zu begegnen sei, antworteten die Gesprächspartner mit dem Hinweis auf Bündelungsprozesse und Schärfungen des individuellen wie „kollek-tiven“ Profils. So wüsste inzwischen zwar, dass sich etwa der DAAD auf begab-te Studierende bis zur Promotion und die AvH auf Spitzenforscher ab der Promo-tion konzentrierten, doch seien diese Schnittstellen aufgrund sich „verflüssigen-der“ Profile beider Organisationen nicht mehr wirklich eindeutig. Hinzu kämen Angebote weiterer Einrichtungen, wie etwa der Stiftungen der politischen Partei-en oder die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftseinrichtungen im engeren Sinne. Die Idee zur Begründung deutscher „Wissenschaftshäuser“ (heute: Wis-senschafts- und Innovationshäuser) fand Beifall, allerdings immer unter der Einschränkung, dass sich damit nicht nur eine räumliche, sondern auch eine materielle Bündelung verbinden sollte. Diesen Rückmeldungen wäre nachzuge-hen, da sie fast immer von einer der deutschen Wissenschaft und ihren Einrich-tungen gegenüber positiven Grundhaltung getragen war.

Besonders sachkundige Beobachter verwiesen zudem darauf, dass zwischen den deutschen Forschungs- und Mittlerorganisationen auch materiell stärker unter-schieden werden sollte. Die Max-Planck-Gesellschaft würde weltweit einen Ruf genießen, der sie zu einer Alleinstellung, mithin zu einer nur begrenzten Koope-ration mit anderen Forschungs- und Mittlereinrichtungen motivieren sollte. Ähn-liches wird für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung vorgetragen, deren Aus-weis von nationalen „Botschaftern“ als nahezu „ridikül“ und dem Ruf der AvH abträglich bezeichnet wurde. Hier wäre weniger erkennbar mehr; gerade die

Page 130: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Joachim Jens Hesse Die Internationalisierung der Wissenschaftspolitik

ZSE 1/2010 127

AvH wird von den meisten Sachkundigen als weltweit agierende „Republik der Besten“ begriffen, ein Selbstverständnis, das sich nicht mit Hierarchisierungen und Bürokratisierungen, in welcher Form auch immer, verträgt.

Ein letzter Merkpunkt, der bei einer Erweiterung der deutschen „Internationali-sierungsstrategie“ Berücksichtigung finden sollte, ist das von einigen der Befrag-ten beklagte Anwachsen der Wissenschaftsverwaltungen. In diesem Kontext wird betont, dass man eher aktive Wissenschaftler denn Verwaltungsangehörige als Vertreter der deutschen Wissenschaft und als Mittler zwischen unterschiedli-chen Wissenschaftskulturen sehen möchte. Dieser Hinweis verbindet sich nicht mit Vorbehalten gegenüber notwendigen administrativen Grundierungen wissen-schaftlicher Kooperation und erweiterten Austauschs, sondern eher mit dem Zeit- und Ressourcenverlust, der sich mit dem „Dazwischenschalten“ administrativer Einrichtungen in Forschungs- und Austauschprozesse verbindet. Gut belegt wur-de von zahlreichen Befragten erneut darauf hingewiesen, dass sich die Elite der Wissenschaft weltweit kennt und die peers bereits seit längerem in einem konti-nuierlichen Austauschprozess stehen. Diesen technisch-administrativ zu belasten und gelegentlich auch zu überfordern, sei zu überprüfen.

Uneingeschränkt kritische Wahrnehmungen fanden sich schließlich in fast allen der besuchten Länder mit Blick auf das gesonderte Bemühen deutscher Universi-täten, ihre eigene „Wissenschaftsaußenpolitik“ zu betreiben. So sehr Verständnis dafür herrscht, dass man direkte Kooperationen den eher vermittelten Formen einer Zusammenarbeit vorzieht, so sehr sollte die inzwischen deutliche Zurück-haltung etwa in Indien, China, Singapur und Japan ein Überdenken solcher Indi-vidualstrategien nahelegen. Hier geht es nicht nur darum, dass insbesondere asiatischen Wissenschaftskulturen ein so deutliches Vertreten von Individual- oder institutionellen Interessen fremd ist, sondern dass sich damit auch eine Verletzung der angesprochenen positiven Grundhaltung dem deutschen Wissen-schaftssystem gegenüber verbindet. Nicht selten kam es zu Klagen über eine „egoistische Vertretung von Sonderinteressen“ oder auch ein „materiell entleer-tes Marketing“ – und dies gerade aus Kreisen asiatischer Wissenschaftler, die europäisch geprägt sind. Hier deutet sich eine Grenze „marktlicher“ Orientierung an, deren man sich in Deutschland bewusst sein sollte. Wer etwa mit dem Direk-tor des Indian Institute of Sciences in Bangalore spricht und im Rücken dieses hoch gebildeten Wissenschaftlers bayerische Bierkrüge und Berliner Selbstdar-stellungen wahrnimmt, wird verstehen, warum hier mit wehmütigem Blick von Erlebnissen berichtet wird, die ihn mit führenden deutschen Philosophen, Histo-rikern und Naturwissenschaftlern verbinden. Mit anderen Worten: Allzu offensi-

Page 131: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

BERICHTE / REPORTS

128

ve, eher formal denn wissenschaftlich begründete Eigeninteressen bedürften der Überprüfung.

Im Ergebnis stehen die Chancen der deutschen Wissenschaftspolitik auf Verfol-gung der „Internationalisierungsoffensive“ unter guten Ausgangsbedingungen. Die Aufwertung des Politikfeldes, der erkennbare Problemdruck, die der deut-schen Wissenschaft noch immer (oder wieder) entgegengebrachte Qualitätsver-mutung sowie schließlich die Erkenntnis, dass grenzüberschreitenden Problemen auch transnational zu begegnen ist, hat den Boden für eine erweiterte Offensive bereitet. Dass man dabei von Deutschland eine gewisse Führungsrolle erwartet, darf als Anerkennung und Ermunterung gewertet werden.

Page 132: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

129

_________________________________________________ DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

The European Union in 2009: a Review

by Thomas Fehrmann

I. Introduction

The year 2009 marked a number of important anniversaries in the history of European integration: 60 years have passed since the political division of Ger-many entrenched the partition of Europe on the eve of the Cold War. In 1989 – a mere 20 years ago – this partition came to a swift and unexpected conclusion in the wake of Perestroika and Glasnost, accelerated by several peaceful revolutions in Central and Eastern Europe that eventually led to the fall of the Berlin Wall and thus facilitated the reunification of Germany. Moreover, as a result of this remarkable process, the European Union could celebrate the fifth anniversary of its most ambitious territorial enlargement to date: the accession of seven former members of the Warsaw Pact (as well as Slovenia, Cyprus, and Malta; followed by Bulgaria and Romania in 2007).

These anniversaries coincided with a number of important political and eco-nomic developments on the European stage. The following review intends to summarise these developments in three steps: the first part (II) focuses on a number of extraordinary endogenous and exogenous challenges to the EU’s institutional and political system, including the co-ordination of Member States’ responses to the global financial and economic crisis, the development of a common position for the Copenhagen summit on climate change, and the ratifi-cation and implementation of the Treaty of Lisbon. The second part (III) will deal with three important periodic changes that took place in 2009: the general election to the European Parliament, the appointment of a new European Com-mission, and the selection of candidates for the two new offices created by the Lisbon Treaty. The third part (IV) will sum up a number of important medium- and long-term EU policy initiatives that were introduced, came to fruition, or required evaluation in 2009, before this review is concluded by a brief summary and outlook (V).

Page 133: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

130

II. Extraordinary Endogenous and Exogenous Challenges

1. The EU’s Reaction to the Global Financial and Economic Crisis

Over the course of the year, Europe continued to experience the adverse effects of a global financial and economic crisis that escalated in the months following the bankruptcy of Lehman Bros. in late 2008. The Single Market and the Single Currency arguably played important roles in protecting a number of Member States from the worst effects of this crisis, but the currency union also led to new challenges in its own right, relating, in particular, to fiscal stability and the “no bail-out” clause of the treaty base.

The EU played an active role in three areas: (i) the provision of a fiscal stimulus at the Union level and the co-ordination as well as supervision of individual Member States’ policy responses to the crisis; (ii) the development of a medium- and long-term strategy to avoid similar crises in the future, mostly relating to financial market reforms; and, perhaps most importantly, (iii) the short- and medium-run monetary policy reactions of the European Central Bank (ECB).

As regards the co-ordination and execution of short-term crisis management, an EU Recovery Plan was proposed by the Commission and approved by the Euro-pean Council in December 2008.1 It included measures to be taken both by Member States and by the EU institutions, namely:

• A co-ordinated major fiscal stimulus to boost demand, amounting to € 200 bn. or 1.5 % of Union GDP; consisting of fiscal expansions by Member States (€ 170 bn.) and EU funding for “immediate support actions” to the extent of € 30 bn.

• Strategic steering of fiscal measures to develop and strengthen economic com-petitiveness in the long run, i.e. via investments in infrastructure, research, technological development, energy efficiency, and education.

• Structural reforms in economic and social policy, including financial support for smaller companies, reduction of red tape and temporary relaxation of state aid regulations.

The implementation of this framework, including countless initiatives at the national and the Union level, eventually led to a fiscal boost of 2 % of GDP

1 Commission Communication: A European Recovery Plan, COM(2008) 800; Presidency Conclusions of

the European Council, 11/12 December 2008.

Page 134: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 131

(1.1 % in 2009 and 0.9 % scheduled for 2010). Including automatic stabilisers – predominantly welfare payments and unemployment benefits –, the overall fiscal stimulus is likely to exceed 5 % of GDP.

The European Commission temporarily relaxed its position on the provision of state aid to businesses.2 Following the principles laid out in the Recovery Plan, this measure was intended to provide sufficient flexibility while avoiding protec-tionist measures. Nevertheless, the debate on the German government’s rescue plan for a major carmaker (Opel; owned by crisis-ridden General Motors) exem-plified the controversy over the extent to which such measures conformed to Community law. The Commission maintained a vigilant stance and made it clear that it would, if necessary, intervene. Similar principles were applied to the issue of state guarantees for banks (totalling € 3.6 bn. or 3 % of EU GDP) and state support for so-called “bad banks”.3

Extraordinary financial aid was granted to EU Member States outside the Euro-zone. In conjunction with the IMF, the Council agreed to a Commission proposal to grant Latvia € 3.1 bn. in balance-of-payments support in order to relieve pres-sures on the country’s financial markets.4 Similar aid was granted to Romania, amounting to € 5 bn.5 By late 2009, severe budgetary problems had become apparent in Greece, leading to an intensified debate on intra-Eurozone fiscal support measures and the aforementioned “no bail-out” clause in the treaty base.

In addition, both the Member States and the Commission agreed that sound pub-lic finances are the foundation of long-term stability, underscoring the need to strike a balance between necessary support measures and irresponsible over-spending. This was summarised by a Council agreement on principles for an exit-strategy relating to fiscal stimulus packages.6 The provisions on the protec-tion of citizen’s bank deposits were harmonised at a minimum protection level of € 50.000 in June (set to rise to € 100.000 by the end of 2010).7

2 Commission Communication amending the temporary Community framework for state aid measures to

support access to finance in the current financial and economic crisis, OJ C 261, 31.10.2009. 3 Commission Communication: The treatment of impaired assets in the Community banking sector, OJ C

72, 26.03.2009. 4 Economic and Financial Affairs Council conclusions, 20.01.2009. 5 Economic and Financial Affairs Council conclusions, 05.05.2009. 6 Commission Document: Public Finances in EMU, 2009; Economic and Financial Affairs Council

conclusions, 09.06.2009; Economic and Financial Affairs Council conclusions, 20.10.2009. 7 Directive 2009/14/EC on deposit-guarantee schemes as regards the coverage level and the payout delay,

OJ L 68, 13.03.2009.

Page 135: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

132

In the area of medium- and long-term reactions to the crisis, the Commission requested an expert group to recommend improvements to the existing frame-works of financial supervision as early as 2008. The group was chaired by for-mer EBRD chairman de Larosière and its recommendations became part of a Commission proposal that sought to (1) provide a more effective and risk-sensitive supervisory framework, (2) fill existing gaps in EU and Member State regulatory structures, (3) improve risk management in banks and other financial services companies, (4) ensure investor and saver confidence in savings security, and (5) develop more effective sanctions in cases of abuse.8 The European Council in May 2009 backed these proposals and asked the Commission to draft new EU legislation to implement these measures. Existing legal standards were amended to conform to a new supervisory structure and the proposals for the creation of several new institutions gained the approval at the European Council meetings in May, October and December 2009. Specifically, it was decided to set up a European Systemic Risk Board, a European System of Financial Super-visors, a European Banking Authority, a European Insurance and Occupational Pensions Authority, and a European Securities and Markets Authority. None of these measures had been implemented as of 31 December 2009.9

The EU played an important role in the context of the G20 summits in London (April) and Pittsburgh (September 2009), gaining representation for the Euro-pean Commission in the new Financial Stability Board and largely representing a united position represented by EU Member States in the G20.

The monetary policy decisions of the ECB arguably represented the most impor-tant aspect of EU crisis management. Throughout the year, liquidity remained scarce on the Union’s financial markets and the ECB continued to follow its unprecedented course of monetary expansion as set out in 2008. The Euro area interest rate fell sharply from 2.5 % in December 2008 to a mere 1 % in July 2009. In addition, unusual policy instruments were deployed, including the pro-vision of as much liquidity as demanded by the markets at the set level of inter-est, temporarily replacing the usual auction-based process. In 2009, this led to

8 Commission Communication: Driving European recovery, COM(2009) 114. 9 Op. cit.; Commission Proposal for a regulation on Community macro-prudential oversight of the finan-

cial system and establishing a European Systemic Risk Board, COM(200) 499; Presidency Conclusions of the European Council, 29./30.10.2009.

Page 136: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 133

three offers of unlimited liquidity with one-year maturity. Furthermore, the ECB expanded its list of eligible assets to serve as securities for loans.

In sum, the EU and its institutions played a constructive role in a period of ad-hoc crisis management and thus managed to avoid major internal conflicts among Member States. Nevertheless, as the longer-term effects of this major economic crisis become apparent, the EU has yet to prove that it can maintain this level of political and economic policy cohesion. In response to the fiscal crisis in Greece, for example, some actors have already called for an amendment of the Union’s treaty base to allow for an exclusion of a Eurozone member as a measure of last resort. In view of the latest harrowing experiences with treaty revisions, this might indicate the potential for future conflict.

2. The EU and the Copenhagen Summit

The outcome of the UN Climate Change Conference in Copenhagen was disap-pointing to most participants. After weeks of intense negotiations, a mere “ac-cord” was reached by 25 important emitters of greenhouse gases, including the US, China, India, Brazil, Russia, and several EU member states. The European Commission also supported the document, which, however, was not passed but merely “taken note of” by the concluding plenary session Conference. The sum-mit thus failed to produce any binding results.

Before the Conference, the EU sought to harmonise its position for the ensuing negotiations.10 This included a commitment to limiting the overall effect of global warming to a net rise in average temperatures by 2 °C and to raise the EU internal emissions reduction target to 30 % by 2020 provided that other industri-alised countries make comparable reductions and newly industrialising countries contribute to a global agreement “to the extent that they are able”.11 This position was developed and elaborated in a number of meetings of the Environment, Finance, and European Councils throughout 2009, culminating in an informal ministerial meeting in July as well as the Luxembourg Environment Council and a further European Council meeting, both held in October.12 Final amendments to the European strategy in light of other summit participants’ offers were even-

10 Commission Communication: Towards a comprehensive climate change agreement in Copenhagen,

COM(2009) 39. 11 This, as all reduction figures cited, is in relation to the emission levels of 1990. 12 Presidency Conclusions of the European Council of 29/30.10.2009.

Page 137: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

134

tually passed at an extraordinary Environment Council meeting in November, leading to the following common negotiation position:

• Global warming should be kept below 2 °C, requiring emission cuts of at least 50 % by 2050 and a peak of emissions by 2020.

• Industrialised countries should cut their emissions by 25-40 % by 2020; de-veloping countries should keep their emissions growth to 70-85 % compared to a situation in which no measures are taken.

• The EU and other developed regions should cut their emissions by 80-95 % by 2050.

• Special limitations should be put on international aviation and shipping.

• Deforestation should be halved by 2020 and stopped by 2030.

• Financial adaptation support for developing countries of € 22-50 bn. annually will be necessary by 2020; the EU will pay its “fair share”; for 2010-12, “fast-start” financing of € 5-7 bn. globally will be required.

• The clean development mechanism should be reformed.

• A clear, tight timetable and a legally binding regulatory framework are neces-sary preconditions for a successful implementation of any agreement.

However, the “Accord” fell short of these objectives. While acknowledging the necessity to keep global warming below 2 °C, providing a list of reduction tar-gets, and authorising € 20.7 bn. in “fast-start” funding and € 69.0 bn. annually in long-term financing by 2020, the agreement was not sufficiently ambitious for the EU to raise its internal reduction targets to 30 %. Commission President Barroso commented: “this agreement is better than none at all, but it is clearly below our objective. I am not going to hide my disappointment. (…) It is the first step in a very important process.”13 However, the common EU targets remain valid for subsequent conferences in the UN process to be held in Bonn and Mex-ico City in 2010.

3. The Lisbon Treaty: Ratification, Implementation, Impact

The Treaty of Lisbon, signed in December 2007 and designed to implement most of the institutional and procedural reforms encompassed by the failed “European

13 European Commission: General Report on the Activities of the European Union in 2009, Luxembourg,

2009, p. 52.

Page 138: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 135

Constitution”, came into force on 1 December 2009. Over the course of the year and as a result of lengthy negotiations, court rulings, and the repetition of a na-tional referendum,14 the remaining four instruments of ratification were depos-ited by Ireland, the Czech Republic, Poland, and Germany.

In a referendum held on 12 June 2008, the electorate in Ireland had rejected the Lisbon Treaty, initially leading to fears that it might suffer the same fate as its predecessor since Ireland was the only Member State that legally required a positive referendum in order to complete ratification. Nevertheless, on 18 June 2008, by concluding the British ratification procedure, the UK Parliament sig-nalled that the EU-wide ratification process would continue. Thereafter, the Irish government came under considerable pressure from its European partners and the European Commission to set a date for a second referendum. However, it did not wish to be perceived as holding the electorate in contempt and therefore refused to act swiftly. However, between late 2008 and early 2009, as Ireland struggled with the effects of the financial and economic crisis, popular opinion shifted in favour of European integration. The Libertas movement, founded by the Irish multi-millionaire Ganley, failed in its attempt to rally all European anti-Lisbon forces with an EU-wide electoral campaign in the run-up to the elections to the European Parliament. The Irish “no”-movement never recovered from this blow and was further weakened by several concessions negotiated by the Irish government at the European Council in June 2009: Prime Minister Cowen se-cured legally-binding guarantees that the Treaty would not affect Ireland’s policy of neutrality, its right to select one member of the European Commission, its policy on abortion, and its tax regime. A second referendum was eventually held on 2 October 2009 and resulted in a 67.1 % approval of the treaty at 58 % turn-out, leading to the successful ratification of the Lisbon Treaty in Ireland.

Once the results of the Irish referendum became known, Polish President Kac-zyński signed the instrument of ratification and thereby concluded the process in his country. Parliament had already ratified the Treaty in April 2008 but Kaczyń-ski, who had already made clear that he was critical of the agreement, signalled his intention to withhold his signature until the Irish referendum be successfully repeated.

14 For a detailed listing of all Member States’ ratification procedures as well as the related controversies in

the domestic policy arenas, cf. Schubert, S.: Die Europäische Union 2008: Ein Rückblick, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 7(1), 2009.

Page 139: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

136

The Czech President Klaus affixed his signature and seal on 11 November 2009 in the wake of a protracted legal and political struggle. The lower house of Par-liament had approved the Treaty in February 2009, which was followed by a process of judicial review – initiated by a group of senators – in the country’s Constitutional Court. The political rifts caused by this dispute were sufficiently large to contribute to the collapse of the Czech government in March at a time when the Czech Republic held the Presidency of the European Council. The Constitutional Court, however, voiced no objections to the Treaty coming into force, eventually leading to the successful ratification by the Senate in May. Nevertheless, another (failed) legal challenge – once more issued by a group of senators15 – stalled the completion of the process until November. The Czech Republic thus became the last Member State to ratify the Treaty.

A legal challenge similar to the Czech case was also launched in Germany. Both individual lawmakers and the parliamentary group “Die Linke” filed complaints with the Constitutional Court, asserting that their constitutional and democratic rights in the process of policy-making at the European level would be severely curtailed if the Treaty, which supposedly created a European “super-state”, went into force. Pending the Court’s decision, Federal President Köhler withheld his signature even though both chambers of Parliament had previously accepted the Treaty. In June 2009, the Court ruled that the Treaty itself was not in conflict with the Grundgesetz, but decided that several parallel pieces of legislation (de-signed to integrate the Treaty’s provisions into the German legal and constitu-tional system) caused an unconstitutional infringement of the rights of both Bundestag and Bundesrat and were thus to be considered null and void. The decision ordered the President not to deposit the instrument of ratification until new legislation was passed to ensure that both chambers of Parliament are ade-quately represented in the process of European policy-making under the post-Lisbon rules. Such legislation was eventually adopted in September 2009, before the German national elections, leading to the completion of the ratification pro-cedure.

15 This final attempt at stalling the process was partially motivated by the British Conservative’s an-

nouncement to withdraw the UK’s ratification instrument if they came to power before the Treaty went into force. In view of a significant Conservative lead in opinion polls, this appeared to be a possible if unlikely scenario since the next UK general election is required to be held before 09.05.2010.

Page 140: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 137

The Treaty effected many important legal, institutional, and procedural changes to the EU’s modus operandi and expanded the Union’s policy remit in a number of areas. The following table serves to summarise the main changes.

Table 1: Changes to the EU’s modus operandi and policy remit

Changes to the Union’s Institutional Structure

Area Treaty of Nice, until 2009 Treaty of Lisbon, from 2009

Structure of the treaty base

Two parts: - TEU - TEC.

Two parts:16 - TEU - TFEU.

Legal personality First pillar has legal personality; EU has no legal personality.

EU has legal personality, pillar structure abolished.

European Council Chaired by the rotating Council Presidency for six months.

Chaired by a permanent President of the European Council (elected for 30 months).

European Parliament (EP)

Co-decision only in specific policy areas. No more than 732 members. Minimum number of five, maxi-mum number of 99 MEPs per Member State. Degressive proportionality (factor 10.4).17

Co-decision as the regular legisla-tive procedure; exceptions e.g. in foreign and security policy, justice and home affairs, and intellectual property rights. No more than 751 members. Minimum number of six, maxi-mum number of 96 MEPs per Member State. Degressive proportionality (factor 12.8).

European Commission

One Commissioner per Member State.

Originally: 18 Commissioners in total from 2014; to be amended to one Commissioner per Member State to address Irish reservations.

Common Foreign and Security Policy (CFSP)

Three “rival” offices: - Commissioner for External Affairs. - Council Presidency representing the Union externally - High Representative co- ordinating CFSP.

One “High Representative for Foreign Affairs and Security Policy” as President of the For-eign Affairs Council and Vice-President of the Commission

16 The “Treaty on European Union” retained its name while the “Treaty establishing the European Com-

munity” was renamed “Treaty on the Functioning of the European Union”. 17 The proportionality factor expresses the relative weight (i.e. the ratio of the number of votes required to

elect one MEP) of a one electoral vote in the most populous Member State (Germany) in relation to one electoral vote in the least populous Member State (Malta).

Page 141: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

138

Justice and Home Affairs (JHA)

Under ECJ jurisdiction as acknowledged by individual Member States.

Fully under ECJ jurisdiction.

Oversight function for national parliaments

Not included. One third of all national parlia-ments can demand a reappraisal of any policy initiative within eight weeks of proposal; policy can, however, be upheld without further consequences. Majority of all national parlia-ments can demand a similar reappraisal; if the Commission upholds the proposal, 55 % of Member States in the Council or a majority in the EP can force the proposal to be withdrawn.

Proposals for Treaty amendments

To be proposed to Council by any Member State or by the Commis-sion.

As before; additionally: the EP can also propose amendments to Council.

Reversal of legislation and reduction of EU remit

Not included. Treaty amendments can expressly include provisions to “give back” policy areas to the Member States; Council can request the Commission to propose the reversal of a particular piece of legislation.

Citizen’s initiative Not included. One million EU citizens can call on the Commission to propose measures on a certain issue.

Changes to the Union’s Remit and Procedures

Area Treaty of Nice, until 2009 Treaty of Lisbon, from 2009

Expansion of policy portfolio

- New or expanded remit: - energy policy - space exploration - tourism - sports - civil protection - humanitarian aid - border control - asylum law - integration, human trafficking - recognition of court rulings - harmonisation of penal law - intellectual property - research policy - emergency financial develop- ment aid - defence policy.

Page 142: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 139

Legislative procedures Four different procedures: - Co-decision - Co-operation - Consent - Consultation

Two different procedures: - Ordinary procedure (equivalent to co-decision) - Special legislative procedure (decision by only one body, Council or EP; inclusion of the other body as specified by Treaty provisions depending on policy area).

Qualified Majority Voting in Council (QMV)

In 137 policy areas. QM defined as: majority of Member States and 255 of 345 votes as allotted by a fixed distri-bution rule. If demanded by one Member State, the majority must also represent 62 % of EU population.

In 181 policy areas; QM defined as: - From 2014: 55 % of Mem- ber States, 65 % of popula- tion - 2014-2017: Vote according to Nice rules at request of one Member State Ioannina clause invoked by eight member states or 26.3 % of population - From 2017: Ioannina clause invoked by six Member States or 19.3 % of population.

Deficit procedure/ Stability and Growth Pact

Proposed by the Commission; decided by Council (QM). Penal and reform measures pro-posed by the Commission; approved by the Council with 2/3 majority, excluding the affected Member State.

As before; Penal and reform measures adopted by Council with QM.

Budget EP can reject the entire budget proposal; final decision with Council (obligatory expenditure) or EP (non-obligatory expendi-ture).

Both Council and EP can veto the entire budget proposal.

Fundamental rights Charter not legally binding. Charter legally binding (excep-tions: UK and Poland).

CFSP Unanimous voting. Unanimous voting; European Council can decide to move to majority voting (not on military and defence issues).

Source: compiled by the author, based on Centrum für Europäische Politik: Wesentliche institutio-nelle Änderungen durch den Vertrag von Lissabon; idem: Wesentliche Kompetenz- und Verfahrens-änderungen durch den Vertrag von Lissabon, 2009.

The EU’s institutions are thus faced with a wide array of tasks relating to the implementation of the Treaty’s provisions; in many cases, the medium and long-term effects of the new institutional and procedural arrangements are impossible

Page 143: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

140

to foresee as yet. The new Treaty also influenced (directly and indirectly) or first introduced several regular institutional processes of the Union, namely the elec-tions to the European Parliament, the appointment of a new Commission, and the choice of both a Council President and a High Representative. These develop-ments shall be outlined in the following part.

III. Periodic Changes: Elections, Appointments, and Confirmations

1. Elections to the European Parliament

In June 2009, the quinquennial elections to the European Parliament were held in all 27 Member States. The following section shall focus on the (i) electoral cam-paign leading up to the ballot, (ii) questions of electoral participation, and, of course, (iii) the outcome and impact of the election results.

The election campaigns remained, once more and rather unsurprisingly, domi-nated by domestic policy issues in the Member States and largely failed to pro-duce any pan-European political manifestoes. Notable exceptions included the Ireland-based (and largely unsuccessful) anti-Lisbon Libertas movement, men-tioned above, and the Greens/European Free Alliance’s pan-European co-ordinated campaign. The vote was seen as a pivotal test case for the domestic political arenas of several Member States, including Germany, Romania, Greece, Portugal, Bulgaria, Austria, Hungary, and the UK, which all faced important national elections over the course of 2009 and early 2010.

In several Member States, local, regional, and national elections were held con-currently with the European elections. In addition, participation was a legal re-quirement in some Member States. Both factors served to increase voter turnout, but overall participation nevertheless reached an unprecedented low of 43.0 %, down from 45.5 % in 2004. Contributing factors were an unusually low turnout among young and first-time voters as well as the general perception of the elec-tions as largely irrelevant.18 However, participation varied widely between Member States: Luxembourg, which simultaneously held a parliamentary elec-tion, reported 90.6 % turnout, while only 19.6 % of all eligible voters in Slovakia made use of their electoral rights.

18 European Parliament/European Commission: Post-electoral Survey 2009 – Report, Brussels, 2009.

Page 144: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 141

The election resulted in a shift to the right of the political spectrum: while the centre-right “European People’s Party” (EPP) maintained its position as the largest group, a new right-wing group of “European Conservatives and Reform-ists” (ECR) – including the British Conservative Party – was formed. On the left, both the “Group of the Progressive Alliance of Socialists and Democrats” (S&D) – the former PES – and the “European United Left/Nordic Green Left” (GUE-NGL) suffered losses. The liberal ALDE group maintained its share of the vote, the Greens/EFA made gains, and the eurosceptic “Europe of Freedom and De-mocracy” (EFD) suffered marginal losses.

Table 2: Results of the elections to the European Parliament, June 2009

Party Group Number of Seats

European People’s Party (EPP) 265

Progressive Alliance of Socialists and Democrats (S&D) 184

Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE) 84

Greens/European Free Alliance (Greens/EFA) 55

European Conservatives and Reformists (ECR) 54

European United Left/Nordic Green Left (GUE-NGL) 35

Europe of Freedom and Democracy (EFD) 32

Non-attached members/independents 27

Source: European Parliament: EP elections – European results, 2009.

By convention, this result meant that the President of the next Commission, to be appointed by the end of 2009, would be chosen from the conservative part of the political spectrum. Even though the left launched repeated efforts to avoid his re-nomination and/or confirmation, the European Council eventually decided to appoint incumbent Commission President José Manuel Barroso for a second term.

2. Appointing a new European Commission

The European Council chose to re-appoint Barroso as Commission President, but the parliamentary vote of confirmation – initially planned for mid-July – had to be re-scheduled after it became apparent that even with the EPP as the largest group, a parliamentary majority supporting Barroso was at least uncertain. None-

Page 145: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

142

theless, when a vote was eventually called at a September plenary session of the European Parliament, Barroso attracted a surprisingly solid majority of 382 votes (369 were required). This made him the only Commission President other than Jacques Delors to serve a second term.

Due to the Treaty of Lisbon’s protracted ratification process as outlined above, the European Council decided to ask the incumbent College of Commissioners to act as a caretaker Commission until it became clear whether the new Commis-sion would be selected under Nice or Lisbon rules. Specifically, this related to the question of whether or not a High Representative as provided for by the Treaty of Lisbon would become the First Vice President of the Commission. After the ratification process was completed, however, the European Council quickly moved to select both its first permanent President and a High Represen-tative (as detailed in the following section), thus paving the way for all Member States but Portugal and the UK19 to select their candidates and for Barroso to distribute political and administrative responsibilities among his new College of Commissioners. A new post of Commissioner for Climate Action was created and several other remits were renamed, recombined or abolished. In late 2009 and early 2010, the European Parliament conducted individual hearings of the proposed candidates and expressed some concerns about the initial Bulgarian nominee, Rumania Jeleva, who was duly replaced by Kristalina Georgieva. Although this delayed the process by several weeks, the parliamentary confirma-tion of the new Commission eventually took place on 9 February 2010.

Table 3: The European Commission, 2010-2014

Member Remit Country of Origin

Political Affiliation

José Manuel Barroso President Portugal EPP

Catherine Ashton, Vice President Foreign Affairs and Security Policy United

Kingdom S&D

Vivian Reding, Vice President

Justice, Fundamental Rights and Citizenship Luxembourg EPP

19 These countries are represented by the Commission President and the High Representative, respectively,

and were therefore neither required nor authorised to nominate other candidates.

Page 146: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 143

Member Remit Country of Origin

Political Affiliation

Joaquín Almunia, Vice President Competition Spain S&D

Siim Kallas, Vice President Transport Estonia ALDE

Neelie Kroes, Vice President Digital Agenda The

Netherlands ALDE

Antonio Tajani, Vice President

Industry and Entrepreneurship Italy EPP

Maroš Šefčovič, Vice President

Inter-Institutional Relations and Administration Slovakia S&D

Janez Potočnik Environment Slovenia ALDE

Olli Rehn Economic and Monetary Affairs Finland ALDE

Andris Piebalgs Development Latvia EPP

Michel Barnier Internal Market and Services France EPP

Androulla Vassiliou Education, Culture, Multilingualism and Youth Cyprus ALDE

Algirdas Šemeta Taxation and Customs Union, Audit and Anti-Fraud Lithuania EPP

Karel De Gucht Trade Belgium ALDE

John Dalli Health and Consumer Policy Malta EPP

Máire Geoghegan-Quinn

Research, Innovation and Science Ireland ALDE

Janusz Lewandowski Financial Programming and Budget Poland EPP

Page 147: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

144

Member Remit Country of Origin

Political Affiliation

Maria Damanaki Maritime Affairs and Fisheries Greece S&D

Kristalina Georgieva International Cooperation, Humani-tarian Aid and Crisis Response Bulgaria EPP

Günther Oettinger Energy Germany EPP

Johannes Hahn Regional Policy Austria EPP

Connie Hedegaard Climate Action Denmark EPP

Štefan Füle Enlargement and European Neighbourhood Policy

Czech Republic S&D

László Andor Employment, Social Affairs and Inclusion Hungary S&D

Cecilia Malmström Home Affairs Sweden ALDE

Dacian Cioloş Agriculture and Rural Development Romania Independent

Source: compiled by the author, based on European Commission: General Report on the Activities of the European Union in 2009, Luxembourg, 2009, p. 88; idem: The Members of the Barroso Commis-sion (2010-2014), http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/index_en.htm.

3. President of the European Council and High Representative

Both the first permanent President of the European Council and the first High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy were se-lected by the European Council in November and took office as the new Treaty went into force on 1 December 2009. The former Belgian Prime Minister Her-man Van Rompuy was chosen as European Council President and Baroness Catherine Ashton, previously serving as Britain’s European Commissioner, was appointed High Representative. Javier Solana stepped down after serving 10 years as both the “High Representative for the Common and Security Policy” (a post that was merged with the new office) and as Secretary-General of the

Page 148: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 145

Council of the European Union. In this latter function, he was succeeded by Pierre de Boissieu, who had previously served as Deputy Secretary-General.

IV. Developments in Important Policy Areas

The following third and penultimate of this review will outline several signifi-cant developments in important policy areas, including the Single Market, the Common Commercial Policy, External Relations and the CFSP, Agriculture and Fisheries, and Energy and Climate. Before briefly summarising the financial and human resources employed by the Union in 2009, the state of implementation of the Lisbon Strategy in its final year will be assessed.

1. The Single Market

In the area of air transport, a second “Single European Sky” package was ac-companied by proposals relating to air traffic management and civil aviation security as well as a continuous update of the unsafe airlines database and other measures.20

Relating to maritime transport, the Council endorsed a Commission “Maritime Transport Strategy” and the third maritime safety package.21

The Council furthermore supported a three-year action plan to combat infringe-ments of intellectual property rights and passed measures to liberalise the market for defence equipment.22

In its role as the competition watchdog, the Commission imposed fines of more than € 1 bn. on E.ON and GDF Suez for secret anti-competitive collusion and of € 1.1 bn. on Intel for attempting to shut its competitor, AMD, out of the market by way of rebates to manufacturers and retailers. A long-term dispute with Mi-

20 Regulation EC/1108/2009 in the field of aerodromes, air traffic management and air navigation services,

OJ L 309, 24.11.2009; Commission Proposal for a regulation on investigation and prevention of acci-dents and incidents in civil aviation, COM(2009) 611; Regulation EC/1144/2009 establishing the Com-munity list of air carriers which are subject to an operating ban within the Community, OJ L 312, 27.11.2009; Regulation EC/545/2009 on common rules for the allocation of slots at Community air-ports, OJ L 167, 29.06.2009; Court of Justice ruling in Joined Cases C-402/07 and C-432/07 (Sturgeon and Others), 19.11.2009.

21 Transport, Telecommunications and Energy Council Conclusions, 30/31.03.2009; two regulations and six directives comprising the maritime safety package, OJ L 131, 28.05.2009.

22 Directive 2009/81/E on the coordination of procedures for the award of certain works contracts, supply contracts and service contracts by contracting authorities or entities in the fields of defence and security, OJ L 216, 20.08.2009.

Page 149: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

146

crosoft was settled in December. Mergers and takeovers relating to Swedish and Danish postal service providers, Schering-Plough and Merck, and Lufthansa and Austrian Airlines were approved; Oracle’s proposed takeover of Sun Microsys-tems and the two air carrier groupings Oneworld and StarAlliance came under closer scrutiny. The Commission also imposed fines of € 173 m. on two cartels in the plastics additives market and launched investigations on suspected cartels in the cement industry and the banana trade.

In February, the European Parliament reported that only 30 million consumers in the EU make use of the Single Market in cross-border shopping, leading to a Commission investigation into potential remaining obstacles in the field of e-commerce.

Council and Parliament continued their negotiations on a new directive for con-sumer rights.23

2. Common Commercial Policy

A significant free trade agreement negotiated with South Korea in October re-moves most tariff regulations and reduces many other barriers to trade between the two economies.

The EU-China High-level trade dialogue continued with a further round of nego-tiations in May, concentrating on the economic crisis and issues related to intel-lectual property rights.

Negotiations with Colombia, Ecuador, and Peru on a trade agreement were re-launched in January and made significant progress; negotiations were also con-ducted on an association agreement (including a free trade deal) with Panama, Guatemala, Costa Rica, El Salvador, Honduras, and Nicaragua. The Commis-sion also presented a new policy document to strengthen the EU-Latin America strategic partnership.24 In June, negotiations began on a major economic and trade agreement with Canada.

A partnership and co-operation agreement with Indonesia was signed, constitut-ing the first such agreement with a country in the region and representing a re-versal of the Commission’s previous policy to negotiate with the ASEAN group as a whole.

23 Commission Communication: Directive on consumer rights, COM(2008) 614. 24 Commission Communication: EU-Latin America: Global players in partnership, COM(2009) 495.

Page 150: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 147

3. External Relations and the Common Foreign and Security Policy

The enlargement process relating to the three candidate countries Croatia, Ma-cedonia and Turkey saw different levels of progress in 2009. While accession negotiations with Croatia made significant progress and might be concluded in 2010, negotiations with Macedonia have yet to begin. The question of Turkey’s accession remained a controversial subject in several Member States; neverthe-less, further negotiations took place in June.25

As a consequence of the financial and economic crisis, Iceland applied for EU membership in July and the Council requested that the Commission prepare an opinion; the assessment procedure was initiated in October. Through its integra-tion in the European Economic Area and the Schengen Agreement, the country is already strongly integrated with the EU and might thus accede relatively swiftly.26

Further preparations for accession negotiations took place in the potential can-didate countries of Albania, Bosnia and Herzegovina, Kosovo, Montenegro, and Serbia.27

Under the Czech Council Presidency, a new Eastern Partnership was initiated in May, aiming at enhanced overall relations with Armenia, Azerbaijan, Belarus, Georgia, Moldova, and Ukraine.28

In April, the Commission confirmed the process of deepening relations with the countries covered by the European Neighbourhood Policy (Algeria, Armenia, Azerbaijan, Belarus, Egypt, Georgia, Israel, Jordan, Lebanon, Libya, Moldova, Morocco, the Occupied Palestinian Territories, Syria, Tunisia, and Ukraine).29

Only limited progress was made in the implementation of the Union for the Mediterranean that includes Albania, Algeria, Bosnia and Herzegovina, Croatia,

25 Commission Document: Croatia 2009 Progress Report, SEC(2009) 1333; Commission Document: The

Former Yugoslav Republic of Macedonia 2009 Progress Report, SEC(2009) 1335; Commission Docu-ment: Turkey 2009 Progress Report, SEC(2009) 1334.

26 Council Conclusions on enlargement, 27.07.2009. 27 Commission Document: Albania 2009 Progress Report, SEC(2009) 1337; Commission Document:

Montenegro 2009 Progress Report, SEC(2009) 1336; Commission Document: Serbia 2009 Progress Re-port, SEC(2009) 1339; Commission Document: Kosovo under UNSCR 1244/99 2009 Progress Report, SEC(2009) 1340; Commission Document: Bosnia and Herzegovina 2009 Progress Report, SEC(2009) 1338.

28 Joint Declaration of the Prague Eastern Partnership Summit, 07.05.2009. 29 Commission Communication: Implementation of the European Neighbourhood Policy in 2009,

COM(2009) 188.

Page 151: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

148

Egypt, Israel, Jordan, Lebanon, Libya, Mauritania, Monaco, Montenegro, Mo-rocco, the Occupied Palestinian Territories, Syria, Tunisia, and Turkey.

Under the Common Foreign and Security Policy, the EU maintained twelve missions and operations in the year 2009, focusing on the Western Balkans, the Caucasus, the Middle East, Central Asia and Africa. Eight of these missions were purely civilian in nature while two were purely military operations; the remaining two comprised both military and civilian aspects. The largest missions were EUFOR Chad/Central African Republic (3,700 personnel), EULEX Kos-ovo (2,600 personnel), EUFOR Althea (Bosnia and Herzegovina, 2,020 person-nel), EU NAVFOR Atalanta (Horn of Africa, 1,800 personnel), EUPOL Af-ghanistan (420 personnel), and EUMM Georgia (360 personnel). The remaining missions included deployments to Iraq, the DR Congo, the Occupied Palestinian Territories, and Guinea-Bissau.30

4. Agriculture and Fisheries

The Union made progress in cutting the administrative burdens in the Common Agricultural Policy under a strategy that aims at a 25 % reduction of costs by 2012. New legislation was proposed on quality labelling rules and price monitor-ing in the food supply chain; market intervention instruments were deployed to support dairy farmers.31

A comprehensive review of the Common Fisheries Policy was launched in 2009; the Commissions initial analysis was endorsed by the Council in May and a new regulation on fisheries control was passed in October. In December, regulations on fishing quotas for 2010 in the Atlantic Ocean and North Sea, the Baltic Sea, and the Black Sea were adopted.32

5. Energy and Climate

In line with preparations for the Copenhagen summit, as detailed above, the EU adopted a “Climate and Energy Package” in late 2008 that came into force in

30 European Commission: General Report on the Activities of the European Union in 2009, Luxembourg,

2009, pp. 61ff. 31 Commission Communication: Agricultural product quality policy, COM(2009) 234; Commission

Communication: A better functioning of the food supply chain in Europe, COM(2009) 591. 32 Commission Green Paper: Reform of the Common Fisheries Policy, COM(2009) 163; Agriculture and

Fisheries Council Conclusions, 19/20.10.2009.

Page 152: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 149

April 2009. It’s central commitment is known as the “20/20/20 by 2020 Target”, constituting a commitment to reduce greenhouse gas emissions by at least 20 %, to increase the share of renewable energy sources in total energy consumption to at least 20 %, and to reduce primary energy consumption by 20 % compared to a “business as usual scenario” by increasing energy efficiency; all targets relate to the year 2020.33 In addition, the package included:

• A directive to improve and extend the EU emissions trading system.34

• A decision to set greenhouse gas emission targets for each Member State.35

• A directive providing the regulatory framework for carbon capture and storage mechanisms.36

• A directive on the promotion of the use of energy from renewable source.37

• A regulation requiring a reduction carbon dioxide emissions in new cars.38

• A revised directive requiring oil companies to reduce greenhouse gas emis-sions in the process of fuel production.39

This was complemented by a number of smaller-scale initiatives and proposals in the areas of climate protection, energy supply, energy distribution, and energy use.40

33 Commission White Paper: Adapting to climate change: Towards a European framework for action,

COM(2009) 147. 34 Directive 2009/29/EC to improve and extend the greenhouse gas emission allowance trading scheme of

the Community, OJ L 140, 05.06.2009. 35 Decision No. 406/2009/EC on the effort of Member States to reduce their greenhouse gas emissions to

meet the Community’s greenhouse gas emission reduction commitments up to 2020, OJ L 140, 05.06.2009.

36 Directive 2009/31/EC on the geological storage of carbon dioxide, OJ L 140, 05.06.2009. 37 Directive 2009/28/EC on the promotion of the use of energy from renewable sources, OJ L 140,

05.06.2009. 38 Directive 2009/33/EC on the promotion of clean and energy-efficient road transport vehicles, OJ L 120,

15.05.2009. 39 Directive 2009/30/EC on the specification of petrol, diesel and gas-oil and introducing a mechanism to

monitor and reduce greenhouse gas emissions and on the specification of fuel used by inland waterway vessels, OJ L 140, 05.06.2009.

40 European Commission: General Report on the Activities of the European Union in 2009, Luxembourg, 2009, pp. 32-52.

Page 153: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

150

6. Long-term Strategic Objectives: Evaluating the Lisbon Strategy

In March 2000, the Union’s Heads of State and Government agreed on an ambi-tious objective: making the EU “the most competitive and dynamic knowledge-based economy in the world, capable of sustainable economic growth with more and better jobs and greater social cohesion.” The Lisbon Summit was supposed to mark a turning point for EU business and innovation policy. The main goals of the corresponding Lisbon Strategy (2000-2010) were proclaimed as:

• Raising overall R&D expenditure to 3 % of EU GDP;

• Reducing red tape and administrative costs to promote entrepreneurial and business activity;

• Raising the employment rate to 70 % overall and to 60 % for women.

Due to an initial lack of enthusiasm, the strategy was “re-launched” in 2005 as part of the first Barroso Commission’s policy initiatives. However, as of 2009, despite some achievements in a limited number of areas, none of the aforemen-tioned central objectives have been met. The Swedish Council Presidency con-cluded that “even if progress has been made, it must be said that the Lisbon Agenda, with only a year remaining before it is to be evaluated, has been a fail-ure.”41 Only Sweden and Finland have met the target rate of 3 % GDP for in-vestments in R&D while the EU-27 average stagnated at 1.8 % GDP as of 2009. Cyprus, at the bottom end of the scale, invests less than 0.5 % GDP in research. The employment rate target was achieved by eight Member States (Austria, Cyprus, Denmark, Finland, Germany, the Netherlands, Sweden, and the UK), whereas the EU-27 once more fell short of the target value at roughly 65 %. The lowest employment rate is reported by Malta, at 55 %. Even though the imple-mentation of the strategy comprised many individual policy initiatives at the Union and Member State levels, these figures underline the necessity for a stra-tegic re-evaluation.42 In 2009, the Commission began preparing a successor strategy referred to as “Europe 2020” which was presented in March 2010.

7. EU Staff and Budget in 2009

As of December 2009, the EU’s institutions employed more than 38.000 staff; the Union’s budget for the year amounted to € 136.8 bn. or 1.1 % of EU GDP.

41 Reinfeld, F./Borg, A.: Interview, Dagens Nyheter Newspaper, 2009; cited from: http://www.euractiv.

com/en/priorities/sweden-admits-lisbon-agenda-failure/article-182797. 42 For more detailed figures, cf. Commission Document: Lisbon Strategy evaluation, SEC(2010) 114 final.

Page 154: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Thomas Fehrmann The European Union in 2009: a Review

ZSE 1/2010 151

Tables 4: EU personnel in December 2009

Institution Permanent Posts Temporary Posts

Commission 25,728 481

Parliament 5,093 126

Council 3,476 36

Court of Justice and other courts 1,493 438

Economic and Social Committee 643 146

Committee of the Regions 465 37

Table 5: Sources of the Union budget in 2009

Source of Funds Share of EU Budget

Gross National Income-based resources 65 %

Value Added Tax-based resources 17 %

Customs and agricultural duties, sugar levies 17 %

Other sources 1 %

Table 6: Allocation of the Union budget in 2009

Budget Area Share of EU Budget

“Sustainable Growth” (includes research, education, competitiveness, trade, structural funds, cohesion funds, social policy)

45 %

“Natural Resources” (includes agriculture, fisheries, environment) 41 %

“A Global Player” (includes accession, neighbourhood and partnership policy, devel-opment and humanitarian aid, CFSP)

6 %

“Citizenship, Freedom, Security and Justice” (includes migration, justice, consumer protection, culture, youth, European Solidarity Fund)

2 %

Other expenditure, including administration 6 %

Source (Tables 4-6): European Commission: General Report on the Activities of the European Union in 2009, Luxembourg, 2009, p. 96-97.

Page 155: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

DOKUMENTATION / DOCUMENTATION

152

V. Summary and Outlook

The year 2009 both challenged and changed the European Union. Weathering the effects of the economic and financial crisis became the primary policy objec-tive while unrelated initiatives and reforms attracted relatively less political at-tention. Crisis management at the Union level was largely intergovernmental in nature, relying on Member States’ abilities to co-ordinate, fund and implement bank bail-outs and fiscal stimuli. The European Commission supported this process and implemented a number of important short-term measures but will arguably play a far more prominent role in the medium term, drafting and per-haps implementing reforms in financial market regulation and oversight at the Union level. Further need for co-ordinated action became apparent when several Eurozone countries began teetering on the brink of fiscal sustainability as a result of the economic downturn. Their inability to ease pressure by adjusting monetary policy left but one option: rapid (and pro-cyclical) fiscal contraction to reduce the public deficit. However, as recent developments in the case of Greece have shown, this might not suffice: despite initial objections from the German gov-ernment, an intra-Eurozone (emergency?) fiscal support scheme to avoid (or at least prepare for) similar future crises, perhaps in the shape of a European Mone-tary Fund, acting as a lender of last resort, is currently under discussion.

In contrast, Member States managed to maintain a common EU position at the Copenhagen summit. However, they failed to convince their international part-ners in both the developed and the developing world of their plan for swift and co-ordinated action in the face of climate change. The appointment of the first High Representative for Foreign Affairs and Security Policy has the potential to contribute to a further streamlining of the EU’s external relations, but it remains to be seen whether Baroness Ashton can amass enough institutional clout and define a sufficiently substantive policy agenda to be perceived as an important actor in her own right.

The same holds true for the President of the European Council, Van Rompuy, whose initial attempts at negotiating the Greek fiscal crisis were largely per-ceived as irrelevant. By extension, most of the institutional and political effects of the Lisbon Treaty remain far from certain while the EU adjusts to its new legal base – a process that might take months or even years. In this context, calls for further Treaty amendments and a rapid territorial enlargement appear counter-productive. While Croatia and Iceland will, in all likelihood, accede in 2010 or 2011, the EU would do well to find a stable modus vivendi – after a decade of uncertainty and a year of rapid change – before looking for new challenges.

Page 156: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

153

___________________________________________________________________________________

Kommentierte Buchanzeigen / Book Review

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahr-hunderts. München: C.H. Beck 2009, 1568 S.

Ein monumentales Werk, aber nicht zu lang. Eine vergleichbar facettenreiche Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts gibt es nicht. Sie ist gegen eingeschliffene Sehgewohnheiten geschrieben: Das 19. Jahrhundert sieht die Entstehung des modernen Nationalstaates, doch die Welt bleibt bestimmt von den großen Impe-rien; der moderne Staat bildet sich heraus, doch zu keiner Zeit „dürfte die Viel-falt politischer Formen größer gewesen sein“; die Demokratisierung der Staaten schreitet voran und wird zum politischen Leitbild, doch alle Imperien waren „von Anfang bis Ende autokratische Systeme“; „Aufstieg des republikanischen Verfassungsstaates“ und doch auch ein Zeitalter der Monarchien, die als natio-nalkulturelle Integrationsinstanz eine neue Bedeutung gewinnen; Westeuropa wird zum „Modell für große Teile der übrigen Welt“, doch diese „übrige Welt“ geht eigene Wege. – O. wird dieser Vielfalt gerecht, indem er eine Art multiper-spektivisches Beobachtungsnetz über den Globus legt, an dessen Knotenpunkten er die Entwicklungen betrachtet. Damit vermeidet er, vermeintlich homogene Einheiten („der Westen“, „Asien“, etc.) gegeneinander zu stellen. Aus der Per-spektive der frontiers oder von Städten entsteht ein anderes Bild als im Blick auf Zeit- und Raumwahrnehmungen, Formen der Selbst- und Fremdbeobachtung, das Leben der Sesshaften und Mobilen, Imperien und Nationalstaaten, Mächte-systeme und Kriege, Religion und Wissen, um einige Themenfelder zu nennen, nach denen das Buch gegliedert ist. Indem O. den Blick auf die Welt pluralisiert, lässt er Gleichläufiges ebenso hervortreten wie die eigenständigen Entwicklun-gen in allen Weltregionen, die er betrachtet, und die globale Dominanz, die Eu-ropa (und die neo-europäischen Siedlungskolonien) im späten 19. Jahrhundert erreichten. So entsteht ein differenziertes Bild dieses Säkulums. Das „eigentlich Neue“ an ihm sieht er in der „Revolution politischer Erwartungen und Ängste“. Ein bedeutendes Werk, an dem sich künftige Weltgeschichten messen lassen müssen.

DL

Page 157: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

154

Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalso-zialismus. München: C. H. Beck 2009, 666 S. M., Historikern wie historisch Interessierten vor allem durch seine Arbeiten zur europäischen, vor allem griechischen Geschichte im 20. Jahrhundert bekannt, legt mit diesem Werk eine beeindruckende Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa vor. So übertraf das deutsche „Imperium“, das Hitler in Europa errichtete, Ende 1941 nach Ausdehnung und Bevölkerungszahl deutlich die USA, die koloniale Expansion umfasste ein europäisches Großreich, das von Brest bis vor die Tore Moskaus, vom Nordkap bis Tripolis reichte. All dies ist bekannt und hätte keiner gleichsam zusammenfassenden Publikation bedurft. Was M. allerdings gelingt, ist nicht nur den Weg nach „Großdeutschland“, son-dern auch die sich im Ergebnis bildende „neue Ordnung“ im Detail aufzuberei-ten. Dabei geht es um die Formen und Verfahren der Herrschaftsausübung, die Kooperation der besetzten Länder, die rechtliche, politische und sozio-kulturelle Interaktion von Besatzern und Besetzten. Auf der Basis einer Vielzahl neuer Quellen kommt der Autor zu interessanten Einblicken in die innere Mechanik eines Ansatzes, der nach Vollendung der „Revolution“ im Innern die Nationalso-zialisten zur Errichtung einer kolonialen Vorherrschaft führen sollte. Dass die Vision eines deutschen Großreichs dann nach den ersten militärischen Erfolgen nicht Realität wurde, führt M. auf die „totale Verkennung“ der ökonomischen und politischen Notwendigkeiten eines solchen Großreichs zurück. An Joseph Goebbels’ bekanntem Diktum „im Jahre 2000 wird Deutschland nicht von seinen Feinden besetzt, aber die deutsche Nation die geistige Führerin der gesitteten Menschheit sein“ ansetzend, beschließen zwei der europäischen Entwicklung gewidmete Kapitel diesen Band, wobei der Autor dem Kontinent als dem „alten Machtzentrum“ seine gleichsam imperiale Rolle abspricht: „Nicht nur Deutsch-land war 1945 besiegt – die Rolle Europas in der Weltpolitik hatte sich grundle-gend verändert, das alte Machtzentrum bestand nicht mehr.“

JJH

Page 158: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

ZSE 1/2010 155

Christian Tomuschat (Hrsg.): Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert. Völkerrechtliche Perspektiven. Baden-Baden: Nomos 2009, 211 S.

Volker Rittberger (Hrsg.): Wer regiert die Welt und mit welchem Recht? Beiträ-ge zur Global Governance-Forschung. Baden-Baden: Nomos 2009, 294 S.

Unter der Vielzahl von rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Publi-kationen, die sich grenzüberschreitenden Fragen des öffentlichen Handelns zu-wenden, finden sich immer wieder „Bestandsaufnahmen“, die versuchen, unter-schiedlichste Diskussionsstränge zusammenzuführen und zu kanalisieren. Beides gilt auch für die beiden zu besprechenden Bände, wobei die von T. zu verantwor-tende Aufsatzsammlung auf ein Kolleg der Studienstiftung zurückgeht, während R. eine Theodor-Eschenburg-Vorlesung zu einer erweiterten Bestandsaufnahme nutzt. Beide Bände enttäuschen, zum einen aufgrund ihrer arg „vollmundigen“ Titel, zum anderen mit Blick auf ihren theoretischen, empirisch-analytischen und methodischen Ertrag. Zwar bleibt es richtig, dass nichtstaatliche Akteure im Prozess transnationalen Handelns an Gewicht gewonnen haben, seien es weltweit agierende Konzerne, zivilgesellschaftliche Gruppen oder zwischenstaatliche Einrichtungen, doch dass sich damit bereits „neue Formen des Regierens“, die das Herrschaftsmonopol des Staates infrage stellen, „gebildet haben“, wird man aus guten Gründen in Abrede stellen können. Richtiger und empirisch belastba-rer dürfte es sein, eine Tendenz zur schrittweisen Maßstabsvergrößerung und Herausbildung arbeitsteiliger Verfahren zu diagnostizieren, die freilich sehr unterschiedlicher rechtlicher wie politisch-administrativer Natur sind. Insofern wäre es sinnvoll, sehr viel konkreter als bislang nach Formen und Funktionen zwischenstaatlichen Handelns und dessen materieller wie instrumenteller Aus-gestaltung zu fragen. In dieser Hinsicht greifen beide Bände aber entschieden zu kurz. Während R. zwischen empirischer und normativer Analyse unterscheidet, erstere diesen Anspruch aber nicht einlöst, verbleiben die völkerrechtlichen „Per-spektiven“ T.s und seiner Mitstreiter auf der Basis „punktuellen Tastens“ trans-nationalen Entwicklungen gegenüber. T. selbst nutzt seine Einführung zu einer Replik auf das Bundesverfassungsgericht, dessen Lissabon-Urteil er nicht ver-hindern konnte (und dies zu rechtfertigen sucht). Dies ist natürlich jedem Autor unbenommen, hätte aber gerade bei der Frage nach „Weltordnungsmodellen“ eine ausdifferenziertere Argumentation erfordert. Auch die Beiträge seiner meist jüngeren Mitstreiter bleiben auf (unverbundene) Einzelaspekte der Diskussion beschränkt: die Frage nach der „Internationalen Gemeinschaft im 21. Jahrhun-dert“, möglichen Verwandlungen des Völkerrechts, durchaus eingestandenen

Page 159: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

156

Ambivalenzen einer liberalen Weltordnung und schließlich dem Beispiel Bos-nien-Herzegowinas als Modell der Relativierung von „Staatlichkeit“. Im Ergeb-nis findet sich in beiden Bänden gelegentlich Anregendes, kaum Weiterführen-des, häufiger Ärgerliches. Auch wird gleichsam exemplarisch dokumentiert, dass die Nutzung allzu aggregierter Großkategorien die zum Thema dringend erfor-derliche analytische wie empirische Arbeit erschwert.

JJH

Richard Münch: Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und Exklusi-on im neuen Wohlfahrtsstaat. Frankfurt a. M./New York: Campus 2009, 373 S.

M.s Analyse des liberalen Kapitalismus stellt einen interessanten Ansatz dar, da er die durch den transnationalen wirtschaftlichen Wettbewerb induzierten Verän-derungen in den „neuen Wohlfahrtsstaaten“ in ihren Wirkungen zu erfassen sucht. Dabei geht es ihm vor allem um die Ursachen für den Abbau sozialer Sicherheit, die Zunahme sozialer Ungleichheit und die sich damit verbindenden politischen Spannungen, die er wiederum auf die erwartbare Entwicklung hin zu projizieren sucht. Seine Hypothese, die er zur Prognose weiterentwickelt, geht dahin, dass der globale Wettbewerb durch eine wachsende internationale Ar-beitsteilung eher entschärft werden dürfte. Damit gewänne die transnationale Dimension von Solidarität und Gerechtigkeit an Bedeutung und würden künftig nicht mehr Gruppenzugehörigkeiten über Inklusion oder Exklusion entscheiden, sondern die jeweiligen Fähigkeiten des Individuums. Im Ergebnis wird das „neue Wohlfahrtsregime“ nicht mehr auf den Schutz des Individuums vor unwägbaren Risiken, sondern auf die Befähigung zu deren Bewältigung setzen. Diese in Tei-len überraschende Erkenntnis grundiert M. durch ein mehrstufiges und mehr-schichtiges empirisch-analytisches Vorgehen, das ihn über etwaige Paradigmen-wechsel in der „globalisierten Moderne“ für die künftige Wirtschafts- und Sozialordnung nachdenken und nach geeigneten Gesellschaftsmodellen Aus-schau halten lässt. Die USA gelten ihm als Lehrmeister für eine liberale Ordnung dabei nur insofern, als sie zwar die Inklusionskraft einer offenen und pluralisti-schen Gesellschaft dokumentieren, zugleich aber auch für relative Exklusion, Desintegration und Desorganisation stehen. An der von Esping-Andersen einge-führten Unterscheidung zwischen liberalen, konservativen und egalitären Wohl-fahrtsstaaten ansetzend, führt das den Autor zu der Prognose werdenden Hypo-

Page 160: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

ZSE 1/2010 157

these. Sie „bürstet gleichsam gegen den Strich“ herrschender sozialwissenschaft-licher Erkenntnis und politischer Programmatik. Sie entlastet durch den Verweis auf die mit einer wachsenden internationalen Arbeitsteilung verbundene transna-tionale Dimension von Solidarität und Gerechtigkeit, so wie sie gleichzeitig auch dadurch belastet, dass die Schlussfolgerungen beträchtliche neue Herausforde-rungen für das „neue Wohlfahrtsregime“ mit sich bringen. Im Ergebnis handelt es sich und eine äußerst produktive Analyseleistung, deren Ergebnisse in „intel-lektuelle Besitzstände“ eingreifen, deren Selbstvergewisserung dies bislang ab-zuwehren wusste.

JJH

Michael Stolleis: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechts-wissenschaft in der DDR. München: C. H. Beck 2009, 173 S. Einmal mehr ist St. zu danken, diesmal für eine erste Gesamtdarstellung der Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtslehre in der DDR. Nach seiner großen, bislang dreibändigen „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ do-kumentiert der Autor eine weitere wichtige Phase der Entwicklung des öffentli-chen Rechts. Nach einem Überblick über die Forschungslage und einer knappen Kennzeichnung der historischen Entwicklung werden das Rechtssystem, die Grundzüge der DDR-Hochschulpolitik, die Rahmenbedingungen für das wissen-schaftliche Arbeiten und schließlich die Universitäten einer näheren Prüfung unterzogen. Ein gesonderter Blick auf die diese Prozesse prägende Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg (vor wie nach der Wende) beschließt den schmalen Band. Im Ergebnis geling St. die akri-bische Analyse einer Rechtswissenschaft, die „unter Druck verformt und zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert der Politik dienstbar gemacht wurde“, eine sozi-alistische Gesetzlichkeit unter der Vormundschaft der SED. Der Band schließt damit eine wesentliche Lücke im Rahmen der wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR- wie der bundesrepublikanischen Geschichte. Zugleich legt er eine „Fallstudie“ dafür vor, wie Recht systemisch und systematisch gebeugt, umge-widmet und so – im Ergebnis – pervertiert werden kann.

JJH

Page 161: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

158

Kiran Klaus Patel: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutsch-land in der Agrarintegration der EWG 1955-1973. München: Oldenbourg 2009, 563 S.

Frank Pitzer: Interessen im Wettbewerb. Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955-1966. Stuttgart: Franz Steiner 2009, 482 S.

Stefan Bernhard: Die Konstruktion von Inklusion. Europäische Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive. Franktfurt a. M./New York: Campus 2009, 429 S.

Angesichts der Vielzahl eher generalisierender europapolitischer Darstellungen wächst der Bedarf an materiellen, empirisch relevanten und operativ ausgerichte-ten Analysen. Umso erfreulicher, dass hier gleich drei Arbeiten vorgestellt wer-den können, die von einer jüngeren Generation von Wirtschafts- und Sozialwis-senschaftlern erstellt wurden und sich auf drei wichtige europäische Handlungsfelder konzentrieren: die Agrar-, die Wettbewerbs- und die Sozialpoli-tik. – Die Untersuchung Pa.s überzeugt schon dadurch, dass der Untersuchungs-ansatz zwar traditionell chronologisch angelegt ist, innerhalb dieses Rahmens aber methodisch anspruchsvoll und quellenkritisch eingelöst wird. Mit der Aus-differenzierung der Rolle Deutschlands im Rahmen der Agrarintegration der EWG (1955-1973) wendet sich der Autor einer für den Europäisierungsprozess konstitutiven Phase zu, wobei er der Versuchung zu einer mehrdimensionalen Untersuchung dadurch widersteht, dass er sich mit der Bundesrepublik auf nur ein Mitgliedsland der EWG und zudem auf die politikgeschichtliche Ebene kon-zentriert. Zwar hätte es nahe gelegen, wenigstens einen begrenzten Vergleich einzubeziehen, doch spricht nicht zuletzt die Komplexität des Gegenstandsbe-reichs dagegen; hinzu tritt der Ausweis von vier „Unterkategorien“, von der Erfassung langfristiger Kontinuitäten bis hin zur Einbettung der Agrarintegration in einen größeren geographischen Zusammenhang. Auf dieser Basis entwickelt sich die Untersuchung schrittweise zu einem durchaus faszinierenden Panorama der agrarpolitischen Bemühungen der Akteure. Sie mündet in die Überzeugung, dass sich an der vom Erfolgsprojekt zum späteren Sorgenkind entwickelnden Gemeinsame Agrarpolitik in fast exemplarischer Weise Vor- wie Nachteile un-terschiedlicher integrationspolitischer Bemühungen erkennen lassen. – Die Un-tersuchung der Grundlagen und der frühen Entwicklung der europäischen Wett-bewerbspolitik (1955-1966) ist gleichermaßen empfehlenswert, wobei die disziplinären Unterschiede der Autoren hier durchaus fruchtbar wirken. Als Ökonom bemüht sich Pi. zunächst um einen Ausweis der Relevanz des Politik-

Page 162: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

ZSE 1/2010 159

feldes, bevor er in einem theoretischen Teil jenes Instrumentarium bereitzustel-len sucht, das seine dann auch hier chronologisch strukturierte Darstellung leitet. Im Ergebnis sieht der Autor die Wettbewerbspolitik als den „Anlass für die lang-fristige Angleichung nationaler Wirtschaftspolitiken.“ Da die Notwendigkeit ihrer Etablierung bestritten wurde, glichen die Regierungen ihre konfligierenden Interessen in der Wettbewerbspolitik auf dem diskursiven Weg aus, ein letztlich entscheidender Beitrag zur Wohlstandsentwicklung in Europa. Analytisch geling es dem Autor, die These Moravcsiks nachdrücklich zu bestätigen, nach der die gemeinschaftliche europäische Wettbewerbspolitik das Ergebnis rationaler Ent-scheidungen nationalstaatlicher Regierungen war. – Die von B. schließlich vor-gelegte Arbeit zur europäischen Sozialpolitik bemüht einen soziologischen An-satz zur Untersuchung dieses umstrittenen europapolitischen Themenfeldes. Dabei setzt der Autor mit der Frage nach der „Konstruktion von Inklusion“ auf ein wesentlich ausdifferenzierteres analytisches Arsenal (und den sich damit verbindenden Jargon) als seine historisch und wirtschaftswissenschaftlich argu-mentierenden Kollegen. In einer Mischung aus soziologischen und politikwis-senschaftlichen Ansätzen und gestützt auf den „Feldbegriff“ Bourdieus kommt es zu einer zwar anspruchsvollen, analytisch aber überkomplexen (und unteror-ganisierten) Untersuchung. So sucht der Autor auszuweisen, wie sich die Euro-päische Union die Kompetenz zur Definition von sozialpolitischen Begriffen, Kategorien und statistischen Instrumenten schrittweise angeeignet hat, um aus seiner Sicht in direktem Wettbewerb mit den Mitgliedstaaten den Weg einer gleichsam symbolischen Konstruktion eines einheitlichen europäischen Sozial-raums zu beschreiten. Damit freilich werden sehr unterschiedliche Fragestellun-gen miteinander verwoben, die B. nicht ausreichend voneinander trennt, und kommt es zu begrifflichen Überhöhungen und analytischen Ungereimtheiten, die den Nachvollzug seiner Untersuchung erschweren. Hier hätte eine weniger ambi-tionierte Fragestellung und stattdessen eine klarer strukturierte Methodik gehol-fen, jenes Analyseniveau zu erreichen, das in den anderen benannten Untersu-chungen ansprechend verwirklicht wurde.

JJH

Page 163: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

160

Am Rande oder: Zu guter Letzt / At Long Last

Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung. Baden-Baden: Nomos, Heft 1 der ersten Ausgabe erschien im Januar 2010, 112 S.

Zu begrüßen ist eine neue Vierteljahresschrift, deren erstes Heft man zunächst mit Verwunderung aufschlägt, weil es unter dem Titel „Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung“ auf einen erkennbar gesättig-ten Markt zu zielen scheint. Doch weit gefehlt: Es geht den Herausgebern nicht um ein addendum zum gepflegten und vielfältigen Bestand rechtswissenschaftli-cher Zeitschriften, sondern um den Versuch, der Rechtswissenschaft wieder eine „kollektive Identität“ zu geben, in einer Zeit, in der man zwar noch immer dem Idealtypus eines universell einsetzbaren Volljuristen anhängt, dieser aber selbst in Justiz und Verwaltung heute eher die Ausnahme als die Regel darzustellen scheint. Die Komplexität der Lebensverhältnisse habe zu einer so deutlichen Ausdifferenzierung der Rechtsordnung geführt, dass sich das Feld ab einem bestimmten Niveau nur noch von Spezialisten beherrschen lasse. „Neben das klassische staatliche Recht, dessen Komplexität trotz aller Bemühungen um Deregulierung und Entbürokratisierung stetig zunimmt, sind überstaatliche Rechtsnormen und teilweise auch die Regelwerke privater Organisationen getre-ten, die für die Betroffenen zumindest faktisch ebenso verbindlich sind wie Par-lamentsgesetze“ (S. 3). Da zudem die geradezu epidemische Verbreitung juristi-scher Fachzeitschriften die Tendenz zur Spezialisierung weiter fördere, will die „Rechtswissenschaft“ dies konterkarieren, mithin ein Gegengewicht zur zuneh-menden Fragmentierung schaffen und die Zusammenhänge zwischen den rechtswissenschaftlichen Disziplinen wieder aufzuzeigen suchen. Dem dient ein interessanter, eben diese Teildisziplinen repräsentierender Herausgeberkreis und ein Umsetzungskonzept, das aufgrund des fachgebietsübergreifenden Anspruchs und der primären Ausrichtung auf Forschung und Lehre zwischen Abhandlun-gen, Rezensionen, Tagungsberichten und „Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre“ unterscheidet. Ergänzt wird das Ganze durch etwas für die Rechts-wissenschaft offenbar „Revolutionäres“: die Einführung eines für (fast) alle anderen Wissenschaftsdisziplinen und ihre führenden Zeitschriften selbstver-ständlichen peer review-Begutachtungsverfahrens. – So weit, so gut, zumal das erste Heft eine ansprechende Qualität und in Teilen untypische Erkenntnisse dokumentiert. Glückwunsch deshalb und – etwas abgegriffen – ad multos annos. Gleichwohl verbleibt ein caveat und Widerspruch. Sind es nicht gerade die Bli-

Page 164: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

KOMMENTIERTE BUCHANZEIGEN / BOOK REVIEW

ZSE 1/2010 161

cke „nach außen“, die die rechtswissenschaftliche Forschung (und mit ihr die Lehre) umtreiben sollten? Welches Gewicht misst die neue Zeitschrift jener Interdisziplinarität, Internationalität und Interkulturalität zu, durch die die Wis-senschaftsentwicklung heute in beträchtlicher Weise geprägt ist? Wird hier viel-leicht trotz der positiven Intention, „nach innen“ zusammenfassend wirken zu wollen, einer eher noch erweiterten Isolation „nach außen“ das Wort geredet? Eine Beantwortung solcher Fragen wäre hilfreich, um der Zeitschrift jene Auf-merksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdient.

JJH

Page 165: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Autoren / Authors

Professor Dr. Werner AbelshauserFakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und TheologieUniversität BielefeldPostfach 10 01 3133501 [email protected]

Professor Dr. Horst DreierJuristische FakultätJulius-Maximilians-Universität WürzburgDomerschulstraße 1697070 Wü[email protected]

Thomas Fehrmann, M.A.Internationales Institut für Staats- und Europawissenschaften (ISE)Behrenstraße 3410117 [email protected]

Professor Dr. Friedrich Wilhelm GrafEvangelisch-Theologische Fakultät Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGeschwister-Scholl-Platz 1 80539 Mü[email protected]

Professor Dr. Dr. h.c. Joachim Jens HesseInternationales Institut für Staats- und Europawissenschaften (ISE)Behrenstraße 3410117 [email protected]

Dr. Torsten NiechojInstitut für Makroökonomie und Konjunktur-forschung in der Hans-Böckler-StiftungHans-Böckler-Straße 3940476 Dü[email protected]

Page 166: ZSE 10 01 · supranationalen Montanunion begonnen und 1957, der Logik funktionaler Integ- ration folgend, mit dem Abschluss des „supranationalen Vertrags“ 5 zur Grün- dung der

Autorenhinweise

Manuskripte von Aufsätzen und Berichten können in deutscher, englischer oder franzö-sischer Sprache eingereicht werden. Sie sollten der Redaktion in dreifacher Ausfertigung (ergänzt um eine Datei im Word-Format) zugehen und, zur Gewährleistung einer kon-zentrierten Diskussion, nicht mehr als 20-25 Manuskriptseiten (etwa 50.000 Zeichen einschließlich Fußnoten und Leerzeichen) umfassen. Jeder der ZSE angebotene Beitrag unterliegt einem zweifachen externen Begutachtungsprozess (Review-Verfahren).Verlag und Redaktion übernehmen keinerlei Haftung für Manuskripte, die unverlangt ein-gereicht werden; sie werden zurückgeschickt, wenn Rückporto beigefügt ist. Die Annahme von Manuskripten setzt voraus, dass diese nicht gleichzeitig bei anderen Zeitschriften zur Begutachtung eingereicht oder anderwärtig publiziert werden. Bei Annahme eines Bei-trags überträgt der Autor dem Verlag sämtliche Rechte zur Veröffentlichung.

Hinweise zur formalen Gestaltung der Manuskripte:n Die Autoren werden gebeten, durchgängig die neue Rechtschreibung zu verwenden.n Für alle Beiträge wird eine deutsch- und englischsprachige Zusammenfassung (Ab-

stract) von in der Regel nicht mehr als 12 Zeilen (à 60 Anschläge) erbeten, die dem Beitrag vorangestellt und auch im Internet veröffentlicht wird.

n Die Gliederung eines Manuskripts sollte durch römische Ziffern (I., II., III., usw.), ara-bische Ziffern (1., 2., 3., usw.) sowie durch Kleinbuchstaben (mit halber Klammer) bis höchstens aa), bb) erfolgen. Die beiden erstgenannten Kategorien erhalten eine eigene Überschrift in Fettdruck.

n Hervorhebungen im Text werden nur durch Kursivschrift gekennzeichnet. Autoren-namen sind durchgängig kursiv zu schreiben, sowohl im Text als auch in Fußnoten. Mehrautorenwerke werden durch Schrägstrich (ohne Leerzeichen) getrennt; Heraus gebernamen erscheinen in Normal schrift.

n Fundstellennachweise sind ausschließlich in fortlaufend durchnummerierten Fußnoten auszuweisen. Mehrere Literaturangaben bzw. Quellen in einer Fußnote werden durch Strichpunkt getrennt; am Ende jeder Fußnote steht ein Punkt. Gesetze und vergleich-bare Rechtsnormen werden im Fließtext in runden Klammern nachgewiesen.

n Literaturangaben werden folgendermaßen zitiert: Autor (Nachname, abgekürzter Vor name): Titel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr. Beispiel: Milward, A.S.: The Euro pean Rescue of the Nation-State, 2nd ed., London u.a., 2000.

Bei Beiträgen in Zeitschriften und Sammelwerken sind die entsprechenden Quellen-angaben (Herausgeber, Titel, Seitenangaben, ggf. Seitenzahl bei direktem Zitat) in Normalschrift wie folgt hinzuzufügen: Grimm, D.: Vertrag oder Verfassung, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 6/4 (1995), 509–531; Schmidt, M.G.: Die Europäisierung öffentlicher Aufgaben, in: Ellwein, T./Holtmann, E. (Hg.): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Opladen, 1999, 385–394, hier 390.

Wird ein Titel mehrfach zitiert, so gilt ab dem zweiten Beleg: Schmidt, M.G., a.a.O., 392. Werden mehrere Titel desselben Autors zitiert, so ist der jeweilige Titel in Kurz-form wie folgt mit anzugeben: Milward, A.S.: The European Rescue, a.a.O., 24.

Untertitel werden nur angegeben, wenn andernfalls nicht auf den Inhalt der Quelle geschlossen werden kann.

Absätze von Paragraphen sind mit „Abs.“ und arabischer Ziffer zu bezeichnen: Art. 53 Abs. 3 GG.

n Tabellen und Schaubilder sind mit durchnummerierten Überschriften (in Kursiv-schrift) zu versehen. Quellenangaben werden am Fuß der Tabelle angefügt.

An English version is available on special request.