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CONSTANTIN GOSCHLER, CHRISTOPH BUCHHEIM, WERNER BÜHRER* DER SCHUMANPLAN ALS INSTRUMENT FRANZÖSISCHER STAHLPOLITIK Zur historischen Wirkung eines falschen Kalküls Vorbemerkung Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wie das Konkurrenzverhältnis zwischen französischer und deutscher Stahlindustrie in Frankreich wahrgenommen wurde und wie diese Perzeption die französische Ruhrpolitik nach 1945, den Schuman- plan, und die anschließenden Verhandlungen über die Montanunion beeinflußte. Wenn ein so komplexes Problem wie der Schumanplan ausschließlich unter dieser bestimmten Fragestellung behandelt werden soll, bedarf das wohl einer kurzen Begründung. Denn die Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Motive und Absich- ten, die zur Initiative vom 9. Mai 1950 führten und später den Gang der Verhand- lungen beeinflußten, ist nicht zu übersehen. Dennoch waren zeitgenössische Kom- mentare und wissenschaftliche Forschung stets darum bemüht, Gewichtungen der Motive, Ziele und Mittel vorzunehmen und Prioritäten herauszuarbeiten. Die Schwierigkeiten, die dieses Unterfangen bereitete, haben nicht zuletzt die „Gründerväter" selbst verursacht. Auch wenn man sich nur auf die Person Robert Schumans beschränkt, kommt man zu keinem einheitlichen Befund, da er im Ver- lauf der Zeit von einer zunächst gleichgewichtigen Bewertung der wirtschaftlichen und politischen Beweggründe zu einer vorrangig politischen Rechtfertigung des Unternehmens überging. Zweieinhalb Wochen nach der öffentlichen Ankündigung des Schumanplans erläuterte der französische Außenminister den nach Hinter- grundinformationen verlangenden Abgeordneten im außenpolitischen Ausschuß der französischen Nationalversammlung, daß die wirtschaftlichen und politischen Aspekte seines Vorschlags gleich wichtig seien. Als wirtschaftliche Ziele nannte er erstens die Überwindung des nationalen Protektionismus, zweitens die Gewährlei- stung eines „gesunden Wettstreits", drittens die Rationalisierung und Vergrößerung der Produktion, viertens das Verbot der Doppelpreise und fünftens die Harmonisie- rung der Lasten. Vom politischen Standpunkt aus sei die Initiative ein konkreter * Die Reihenfolge der Namensnennung weist auf die jeweilige Autorschaft der drei Hauptteile die- ser Studie hin.

CONSTANTIN GOSCHLER, CHRISTOPH BUCHHEIM, WERNER … · plan, und die anschließenden Verhandlungen über die Montanunion beeinflußte. Wenn ein so komplexes Problem wie der Schumanplan

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CONSTANTIN GOSCHLER, CHRISTOPH BUCHHEIM,

WERNER BÜHRER*

DER SCHUMANPLAN ALS INSTRUMENT FRANZÖSISCHER STAHLPOLITIK

Zur historischen Wirkung eines falschen Kalküls

Vorbemerkung

Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wie das Konkurrenzverhältnis zwischen französischer und deutscher Stahlindustrie in Frankreich wahrgenommen wurde und wie diese Perzeption die französische Ruhrpolitik nach 1945, den Schuman­plan, und die anschließenden Verhandlungen über die Montanunion beeinflußte. Wenn ein so komplexes Problem wie der Schumanplan ausschließlich unter dieser bestimmten Fragestellung behandelt werden soll, bedarf das wohl einer kurzen Begründung. Denn die Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Motive und Absich­ten, die zur Initiative vom 9. Mai 1950 führten und später den Gang der Verhand­lungen beeinflußten, ist nicht zu übersehen. Dennoch waren zeitgenössische Kom­mentare und wissenschaftliche Forschung stets darum bemüht, Gewichtungen der Motive, Ziele und Mittel vorzunehmen und Prioritäten herauszuarbeiten.

Die Schwierigkeiten, die dieses Unterfangen bereitete, haben nicht zuletzt die „Gründerväter" selbst verursacht. Auch wenn man sich nur auf die Person Robert Schumans beschränkt, kommt man zu keinem einheitlichen Befund, da er im Ver­lauf der Zeit von einer zunächst gleichgewichtigen Bewertung der wirtschaftlichen und politischen Beweggründe zu einer vorrangig politischen Rechtfertigung des Unternehmens überging. Zweieinhalb Wochen nach der öffentlichen Ankündigung des Schumanplans erläuterte der französische Außenminister den nach Hinter­grundinformationen verlangenden Abgeordneten im außenpolitischen Ausschuß der französischen Nationalversammlung, daß die wirtschaftlichen und politischen Aspekte seines Vorschlags gleich wichtig seien. Als wirtschaftliche Ziele nannte er erstens die Überwindung des nationalen Protektionismus, zweitens die Gewährlei­stung eines „gesunden Wettstreits", drittens die Rationalisierung und Vergrößerung der Produktion, viertens das Verbot der Doppelpreise und fünftens die Harmonisie­rung der Lasten. Vom politischen Standpunkt aus sei die Initiative ein konkreter

* Die Reihenfolge der Namensnennung weist auf die jeweilige Autorschaft der drei Hauptteile die­ser Studie hin.

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Schritt zur Einigung Europas und zur Lösung des Deutschlandproblems1. Am 29. November 1951, als der mittlerweile ausgehandelte Vertrag über die Montan­union vor der Ratifizierung stand, erklärte Schuman vor demselben Gremium, daß der Ausgangspunkt der Initiative politischer Natur gewesen sei2. Für Jean Mon-net, den Chef des Planungskommissariats und eigentlichen „Erfinder" des Schu-manplans, blieben die wirtschaftlichen Motive hingegen bis zum Schluß von erheb­licher Bedeutung. Er spannte in einer Stellungnahme vom 26.11. 1951, ebenfalls vor dem außenpolitischen Ausschuß der Nationalversammlung, den Bogen bis zum Beginn des ersten „Monnet-Plans" und leitete daraus sein zentrales Motiv für den Schumanplan ab. Es gehe darum, die Unsicherheit der Versorgung der französischen Stahlindustrie mit Koks zu beseitigen, die bis dato Frankreich daran gehindert habe, den natürlichen Vorteil auszunutzen, den für die lothringische Stahlindustrie ihre Plazierung auf dem wichtigsten Erzvorkommen Westeuropas bedeute3.

Konrad Adenauer, der Hauptadressat der französischen Initiative, erkannte durchaus deren wirtschaftliche Bedeutung, doch war für ihn der politische Aspekt der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und der gleichberechtigten deutschen Mitwirkung am europäischen Integrationsprozeß entscheidend4. Er wurde nicht müde, seine Mitstreiter und die Öffentlichkeit auf die „eminent politi­sche Natur" des Schumanplans hinzuweisen, und mußte sich am Ende sogar den Vorwurf gefallen lassen, ohne Not wirtschaftliche Interessen vermeintlichen politi­schen Erfordernissen geopfert zu haben5.

Angesichts dieser unterschiedlichen, zum Teil wechselnden Deutungsangebote der damaligen Protagonisten kann es kaum verwundern, daß die zeitgenössischen Kommentatoren ebenfalls zu keinem einheitlichen Urteil gelangten. In einem Gut­achten für den Hamburger Senat vom Juni 1951 hob Hans Ritschi eine „dauernde, gleichmäßige Zufuhr von Ruhrkohle" als grundlegendes wirtschaftliches Motiv her­vor, während für den „Volkswirt" das „Primäre des Schuman-Gedankens . . . auf politischer Ebene (lag), aber das Ziel soll(te) mit ökonomischen Mitteln erreicht werden"6. Zu letzterem Ergebnis kamen auch die beiden ersten umfangreicheren

1 Schuman in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 23. 5. 1950, Archives de l'Assemblée Nationale (künftig: AAN), B 80.

2 Schuman in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 29.11.1951, AAN, B 83.

3 Monnet in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 26.11. 1951, ebenda.

4 Vgl. K.Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 327-331; vgl. auch die Dokumenta­tion von E. Wandel, Adenauer und der Schuman-Plan. Protokoll eines Gesprächs zwischen Konrad Adenauer und Hans Schäffer vom 3. Juni 1950, in: VfZ 20 (1972), S. 192-203.

5 Vgl. z. B. H. C. Hahn, Der Schumanplan. Eine Untersuchung im besonderen Hinblick auf die deutsch-französische Stahlindustrie, München 1953, bes. S. 114-120.

6 Vgl. Hamburger Denkschriften zum Schuman-Plan, Hamburg 1951, S.5; E.Schröder, Für und Wider den Schuman-Plan, in: Der Volkswirt Nr. 15/1951, S. 11-12, hier S. 11.

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Studien mit wissenschaftlichem Anspruch7. William Diebold markierte dann Ende der fünfziger Jahre mit einer umfangreichen und differenzierten Studie den eigentli­chen Auftakt der kritischen Forschung zum Schumanplan8. Auch bei ihm galt, daß bei den Zielen die politischen dominierten, Praxis und Instrumente der Montan­union aber eindeutig wirtschaftlicher Natur waren. Erstmals ausführlicher ging er auf den „alten Traum" von der „natürlichen Einheit" der Region Ruhr-Lothringen und dessen Geschichtsmächtigkeit ein9. Eine stärker „politische" Interpretation prä­sentierte ein Jahrzehnt später F.Roy Willis, indem er sich der rückblickenden Bewertung Schumans anschloß, das „primäre Motiv" sei nicht wirtschaftlicher, son­dern politischer Art gewesen, nämlich „die französisch-deutsche Gegnerschaft für alle Zeiten zu beenden"10.

Mit den früheren Erklärungsangeboten konnte und brauchte sich die aktenge­stützte historische Forschung, die Mitte der achtziger Jahre einsetzte, nicht mehr zufrieden zu geben. Um so bemerkenswerter erscheint es deshalb, daß selbst ein Wirtschaftshistoriker wie Alan S.Milward daran festhält, daß die „politische Moti­vation" für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) während der gesamten Verhandlungsdauer „überragend" blieb11. Raymond Poidevin greift in seiner 1986 erschienenen Schuman-Biographie das Wort des Außenministers von der „eminent politischen" Initiative auf, vergißt freilich nicht, auch die wirtschaftli­chen Implikationen zu erwähnen12. Einen „politischen" Zugang wählt schließlich auch John Gillingham, wenn er die Kontinuität zwischen Ruhrpolitik und Schu­manplan hervorhebt und auf das gleich gebliebene Ziel der Kontrolle des Ruhrge­bietes verweist13.

Die These von der Dominanz politischer Motive und Absichten, dies dürfte diese knappe Übersicht verdeutlicht haben, findet in der historisch-politischen Forschung breite Zustimmung, und es ist auch gar nicht beabsichtigt, diese Interpretation anzu­zweifeln. Ziel ist es vielmehr, zur Beantwortung der bislang vernachlässigten Frage beizutragen, welche Faktoren die inhaltliche Ausgestaltung des Schumanplanes bzw. des EGKS-Vertrages beeinflußten. Im Gegensatz zu manchen Kritikern der Mon­tanunion nimmt die folgende Untersuchung die marktwirtschaftlichen Intentionen Schumans und Monnets nämlich durchaus ernst. Beide waren vom Wettbewerbsvor­teil der lothringischen Stahlindustrie überzeugt, wenn es nur gelang, den „natürli-

7 Vgl. F. Haussmann, Der Schuman-Plan im europäischen Zwielicht, München u.a. 1952; Hahn, Schuman-Plan.

8 W. Diebold, jr., The Schuman-Plan. A Study in Economic Cooperation 1950-1959, New York 1959.

9 Vgl. ebenda, bes. S. 21-46. 10 F. R. Willis, France, Germany, and the New Europe 1945-1967, Stanford/Cal. u.a. 1968, bes.

S. 80-129; das Zitat auf S. 80 (Übersetzung d. Verf.). 11 A. S. Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945-1951, London 1984, bes. S. 362-420;

das Zitat S. 407. 12 R. Poidevin, Robert Schuman - homme d'Etat 1886-1963, Paris 1986, bes. S. 244-296, hier S. 245. 13 Vgl. J. Gillingham, Die französische Ruhrpolitik und die Ursprünge des Schumanplans. Eine Neu­

bewertung, in: VfZ 35 (1987), S. 1-24, hier S.2.

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chen" Bedingungen im Wirtschaftsraum Ruhr-Lothringen zum Durchbruch zu ver­helfen und ein Regime der „concurrence loyale" zu etablieren. Die Perzeption der jeweiligen Wettbewerbsposition der heimischen und der konkurrierenden westdeut­schen Stahlindustrie, dies die zentrale These dieses Beitrags, bestimmte maßgeblich den Inhalt des französischen Vorschlags und die materiellen Vertragsbestimmungen. Da diese Perzeption, wie zu zeigen sein wird, auf teilweise falschen Voraussetzun­gen beruhte, konnten wesentliche mit Hilfe des Schumanplans anvisierte wirtschaft­liche Ziele auch nicht erreicht werden. Der folgende Aufsatz will und kann also keine neue Gesamtinterpretation des Schumanplanes liefern, er kann aber entschei­dend zur Erklärung seiner wirtschaftspolitischen Philosophie und Ausstattung bei­tragen.

Das französische Konzept vom Verbund Ruhr-Lothringen

Aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs heraus wurde in Frankreich versucht, diesmal mit größerem Erfolg als nach dem Ersten Weltkrieg, eine erneute deutsche Überlegenheit zu verhindern. Als der Schlüssel zu diesem Problem erschien immer wieder das wirtschaftliche Potential beider Seiten. Dabei ging die Frage der wirt­schaftlichen Entwicklung Frankreichs eine unlösbare Verbindung mit den französi­schen Sicherheitsinteressen ein. Deshalb bestand am Ende des Krieges ein umfassen­der Konsens, daß die bisherige schwerindustrielle Vorherrschaft Deutschlands, die sich für die meisten Franzosen in der Ruhr verkörperte, nunmehr zugunsten einer französischen Priorität beseitigt werden sollte. Die Ruhr war dabei über die reale Bedeutung der dort ansässigen Industrie hinaus zum Mythos der deutschen wirt­schaftlichen Übermacht verklärt.

Schon in den Nachkriegsplanungen der Exilregierung des Freien Frankreich in Algier nahm die Schwerindustrie der Ruhr eine Sonderrolle ein. General Charles de Gaulle, Chef des Comité Francais de Libération Nationale (CFLN), hatte in Algier einen Kreis von Politikern, Diplomaten und Fachleuten versammelt, unter ihnen Jean Monnet und Rene Mayer, beide spätere Präsidenten der Montanunion, sowie Rene Massigli, Hervé Alphand und Robert Marjolin. Mit ihnen diskutierte er Mög­lichkeiten einer europäischen Nachkriegsordnung. Die dabei entworfenen Pläne sahen zumeist ein größeres Maß an europäischer wirtschaftlicher Gemeinsamkeit vor, als vor dem Krieg bestanden hatte. Dazu sollten auf politischer Seite europäi­sche, föderalistische Akzente gesetzt werden. Vor allem aber stimmten die verschie­denen diskutierten Ansätze darin überein, daß sie die Ruhr als ein gemeinsames europäisches Potential betrachteten14. So entwickelte Jean Monnet 1944 in einem

14 Siehe dazu H. Alphand, L'étonnement d'etre. Journal (1939-1973), Paris 1977, S. 131 ff.; Ch. de Gaulle, Mémoires de guerre, Bd. II: l'unité. 1942-1944, Paris 1956, S. 618 ff.; R. Massigli, Une comédie des erreurs, 1943-1956. Souvenirs et réflexions sur une étape de la construction euro-péenne, Plon 1978, S.32ff.; J.Monnet, Erinnerungen eines Europäers, München u.a. 1978, S. 268 ff.; P. Gerbet, La construction de l'Europe, Paris 1983, S. 50 ff.

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Interview mit der amerikanischen Zeitschrift „Fortune" den Gedanken der Leitung der Kohle- und Stahlindustrie der Ruhr durch eine europäische Behörde15, was sowohl europäischen Zusammenschluß als auch einseitige Kontrolle der Ruhrunter­nehmen implizierte. Und Rene Mayer erörterte seit 1943 die Möglichkeiten einer das Ruhrgebiet einbeziehenden „Lotharingie industrielle", die zugleich den franzö­sischen Sicherheitsinteressen und den wirtschaftlichen Realitäten der historischen Interdependenz Lothringens und der Ruhr, die vor 1914 entstanden sei, entgegen­käme16.

Damit sind wir bei einer der wesentlichen Voraussetzungen der vielfach verbreite­ten Pläne zur Verwirklichung einer künftigen schwerindustriellen Dominanz Frank­reichs17. Zum französischen wirtschaftspolitischen Konsens gehörte nämlich die Ansicht, daß bis 1914, solange Lothringen unter deutscher Herrschaft gestanden hatte, der wichtigste Teil der europäischen Eisen- und Stahlindustrie seinen Sitz in Lothringen gehabt habe. Unter den Bedingungen der durch die deutsche Annexion Lothringens hergestellten Vereinigung der lothringischen Minette und der Ruhr­kohle sei Lothringen der rentabelste Standort gewesen. Erst durch die territorialen Folgen des Ersten Weltkrieges sei dieses ideale Verhältnis zerstört worden18. Nun­mehr, nach dem Zweiten Weltkrieg, ging es also auch darum, diese „natürliche" Verbindung wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Ruhr wurde dement­sprechend primär als künftiger Kohle- und Kokslieferant betrachtet. Rene Mayer bezeichnete das als die Anerkennung eines „natürlichen Sachverhalts, einer unab-weislichen geographischen und wirtschaftlichen Realität"19.

Auch in den „Plan de Modernisation et d'Equipement", nach seinem Haupt­initiator Jean Monnet häufig Monnet-Plan genannt, flossen derartige Überlegungen ein. Dementsprechend wurde in einem Memorandum vom 7. Februar 1947, das eine im Planungskommissariat gebildete Kommission zum Studium des europäischen Stahlproblems verfaßt hatte20, die bestehende Beschränkung der deutschen Stahl­produktion unter Berufung auf Sicherheitserfordernisse wie auch auf die techni­schen und natürlichen Bedingungen der Stahlproduktion begrüßt. In der damit ver-

15 Vgl. Monnet, Erinnerungen. S. 284 f.; siehe auch Massigli, Comédie, S. 32 ff.; Alphand, L'étonne-ment, S. 162; Gerbet, Construction, S. 50 ff.

16 Vgl. Alphand, L'étonnement, S. 168 ff.; Monnet, Erinnerungen, S. 283; Massigli, Comédie, S. 37 ff.; siehe dazu auch R. Poidevin, Rene Mayer et la politique de la France 1943-1953, in: Revue de la histoire de la deuxième guerre mondiale 34 (1984), S. 73-97.

17 Vgl. dazu C. de Cuttoli-Uhel, La politique allemande de la France (1945-1948). Symbol de son impuissance?, Referat auf dem Internationalen Kolloquium in Augsburg, 3.-7. April 1984, Westeu­ropäische Nationalstaaten und Europa im internationalen Staatensystem - Die Sicht der Mächte­konstellation in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien 1945-1949.

18 Vgl. dazu neben den im folgenden angeführten Beispielen auch R. Aron, Remarques sur la politique étrangère de la France (Juni 1945), in: L'age des empires et l'avenir de la France, Paris 1945, S. 351; J. Maroger, Le charbon et le destin de l'Europe, in: Le Monde, 14. 8. 1945.

19 R. Mayer, Journal Officiel de la République Francaise, Débats parlémentaires. Assemblée Nationale (künftig abgekürzt: JOAN), 28. 2. 1947, S. 527 (Übersetzung d. Verf).

20 Vgl. Archives du Ministère des Affaires Etrangères (künftig abgekürzt: AE), Y 1944/1949, Bd. 371.

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bundenen Verlagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes insbesondere nach Lothringen sahen die Autoren ebenfalls die Rückkehr zu der von den Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg selbst begründeten Konstellation, die den günstigsten geogra­phischen Bedingungen und der weltweit verbreiteten Tendenz, die Verarbeitung an das Erz heranzuführen, entspräche. Die verringerte deutsche Stahlproduktion sollte, was zugleich politisch erwünscht sei, durch die Produktion der Nachbarländer, bei der die französische einen vorteilhaften Platz einnehmen könne, substituiert wer­den21. Ein wesentliches Element dieser Pläne mußte natürlich die Sicherung deut­scher Kohle- und Kokslieferungen sein.

Im französischen Außenministerium war Hervé Alphand, mittlerweile Leiter der Abteilung Wirtschaft, ein Hauptmotor für derartige Bestrebungen. In einer Presse­konferenz am Quai d'Orsay, die der Erläuterung des neuen französischen Ruhr­memorandums vom 1. Februar 1947 diente, stellte er seine Ansichten der Öffentlich­keit vor22. Zwei Hauptforderungen des Dokuments, das auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 als französischer Verhandlungsvorschlag dienen sollte, betrafen die gewünschte Struktur der Ruhrproduktion23. Einerseits sollte die Kohle- und Koksproduktion der Ruhr maximiert und deren Verteilung entsprechend den europäischen Grundbedürfnissen vorgenommen werden. Ande­rerseits sollte dort die Stahl-, Eisen- und chemische Industrie begrenzt werden. Mit dieser Lösung, erklärte Alphand, ließen sich Sicherheit und Wirtschaft harmonisie­ren, denn es sei normal, daß die Hochöfen auf dem Erz errichtet seien. Diese Maß­nahmen stellten in Alphands Augen ein wichtiges Element des Monnet-Plans dar24.

Im besetzten Deutschland wurden diese Ambitionen mit großer Besorgnis beob­achtet. Eine deutsche Denkschrift vom 18. Februar 1947 referierte den sogenannten Alphand-Plan und verwies ausdrücklich darauf, daß derartige Pläne bereits seit län­gerem in Frankreich kursierten25. Mit Hilfe einer Studie vom August 1947 versuchte auch die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie auf dem Umweg über die amerikanische Besatzungsmacht den gefürchteten französischen Absichten zur Ver­lagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes von der Ruhr nach Lothringen entge­genzuwirken26. Die heftige Ablehnung der französischen Pläne durch die deutsche Seite stützte sich ihrerseits darauf, daß auf diese Weise ein organisch gewachsener

21 Vgl. ebenda. 22 Vgl. im folg. Ministère des Affaires Etrangères, Service d'Information et de Presse, 4.2. 1947, AE,

Y 1944/49, Bd. 398. 23 Text des Ruhrmemorandums vom 1.2.1947 in: Documents relativs à l'Allemagne. Conseil des Mini-

stres des Affaires étrangères (künftig abgekürzt: DRA), Paris 1948, S. 270-276; dt. in: Europa-Archiv (künftig abgekürzt: EA) 1947, S. 541-543.

24 Siehe Anm. 22. 25 Vgl. Gedanken zur Auslandserzversorgung des Ruhrgebiets, 18.2. 1947, Bundesarchiv (BA),

B 102/ 62 H 1, Handakten von Maltzan. 26 Lorraine Steel instead of Ruhr Coal? A study of the French proposal for the transfer of Pig Iron and

Steel Production from Rheinland-Westfalen to France. Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahl­industrie, Düsseldorf August 1947, Institut für Zeitgeschichte (IfZ)-Archiv, MF 260 (OMGUS-Bestand), POLAD/788/23.

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Zustand zerstört würde. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland berief man sich also für seine eigenen Ziele auf die „Natur".

In Moskau kämpfte der dem Mouvement Républicain Populaire (MRP) zugehö­rige französische Außenminister Georges Bidault zäh, aber ohne tatsächlichen Erfolg für die Verwirklichung des Alphand-Plans. Am 20. März 1947 brachte er die französische Forderung nach Verlagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes vor die dort versammelten Delegierten und erklärte, wenn Deutschland zur Verwirkli­chung des ihm zugestandenen Produktionsniveaus größere Mengen Stahl nötig habe, könnten diese von anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Belgien oder Luxemburg produziert und geliefert werden. „Auf diese Weise werden die Stahlhähne immer in sicheren Händen sein. So wird die Stahlerzeugungskapazität der friedlichen Nachbarvölker Deutschlands auf einem höheren Niveau gehalten werden als diejenige Deutschlands."27

Eine rein sicherheitspolitische Rechtfertigung der Forderung nach Verlagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes nach Lothringen, wie gezeigt, schon vorher teilweise mit Argumenten wirtschaftlicher Vernunft verbrämt, geriet spätestens nach der Moskauer Außenministerkonferenz hoffnungslos in die Defensive. Die Ankün­digung des Marshall-Plans am 5. Juni 1947 sowie des Revidierten Plans für das Industrieniveau der Vereinigten Amerikanischen und Britischen Besatzungszone am 29. August dieses Jahres beseitigten in Frankreich jeden Zweifel, daß künftig mit einer von amerikanischer Seite gestärkten wirtschaftlichen Position Westdeutsch­lands gerechnet werden mußte. So wurde die maximal erlaubte Stahlproduktion im zweiten Industrieplan von bislang 5,8 Millionen Tonnen auf 10,7 Millionen angeho­ben28. Dabei hatte die erste Zahl noch für alle vier deutschen Besatzungszonen gegolten, während sich die neue Ziffer nur auf die Produktion der Bizone bezog.

Die notwendige Anpassung der französischen Politik an diese neuen Gegebenhei­ten war schmerzhaft und verlief nicht ohne Irritationen. Gleichzeitig gelang es aber, wichtige Elemente der bisherigen Konzeption weiterzuführen. Bidault versuchte zumindest nach außen hin zunächst an der harten Linie festzuhalten. Er wollte die deutschen Ressourcen nicht ungenutzt lassen, jedoch die Steigerung der deutschen Produktion weiterhin nur nach Sparten differenziert erlauben. Er begrüßte einen Anstieg der Kohleförderung und auch der weiterverarbeitenden Industrien, die zur Erwirtschaftung der für Deutschland lebensnotwendigen Exporte erforderlich seien, wünschte aber auf der anderen Seite nach wie vor den Vorrang Frankreichs bei der Stahlerzeugung und deren Verlagerung von der Ruhr nach Lothringen29.

27 Déclaration faite par le chef de la délégation francaise, Moskau, den 20.3. 1947, in: DRA, S. 117 (Übersetzung d. Verf.).

28 Vgl. den Revidierten Plan für das Industrieniveau der Vereinigten Amerikanischen und Britischen Besatzungszone, in: Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947-1949, hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte und dem Deutschen Bundestag, Wiss. Dienste, bearb. v. Chr. Weisz u. H. Woller, Bd. IV, München u.a. 1977, Drucksache Nr. 60.

29 Vgl. Bidault, JOAN, 25. 7. 1947, S. 3595; vgl. auch die Charakterisierung der Pläne Bidaults durch Leon Blum am 25.7. 1947, in: V. Auriol, Journal du septennat 1947-1954, Version integrale, Bd. I: 1947, Paris 1970, S. 367.

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Eine Denkschrift aus dem Außenministerium vom 19. November 1947 wieder­holte die bekannten Argumente30, nämlich daß die französische Stahlindustrie, wie die Erfahrung vieler Jahre gezeigt habe, unter wirtschaftlicheren Bedingungen als die deutsche produziere. Und es wurde darauf hingewiesen, daß die angeblich vor­rangige Entwicklung der lothringischen Stahlindustrie in den Jahren der Besetzung nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 durch die Deutschen selbst der beste Beweis dafür sei.

Auch Andre Philip, der führende Wirtschaftsexperte und europapolitische Motor der Section Francais de l'Internationale Ouvrière (SFIO), setzte sich weiterhin für das Konzept der Verlagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes nach Lothringen ein. In einem Beitrag in den „Foreign Affairs" vom Januar 1948 versuchte er, beim amerikanischen Publikum um Verständnis für die französischen Pläne bezüglich des westdeutschen Wirtschaftspotentials zu werben31. Er rechtfertigte die angestrebte Umstrukturierung der westeuropäischen Schwerindustrie nicht mehr mit dem fran­zösischen Sicherheitsbedürfnis, sondern allein mit der vorgeblichen „natürlichen Einheit" und der „Interessengemeinschaft" Ruhr-Lothringen. „Vom wirtschaftlichen Standpunkt wäre es gefährlich, die natürliche Einheit, die durch das deutsche Koh­lebecken und das französische Eisenerz gebildet wird, zu zerstören. Diese Einheit würde vollkommen integriert, wenn Frankreich importierte deutsche Kohle mit Stahlexporten nach Deutschland bezahlen könnte."32 Philip trug also der geänder­ten politischen Situation und seinem Publikationsforum Rechnung, indem er das Ziel der Verlagerung des Stahlproduktionsschwerpunktes als Folge einer rein öko­nomischen Rationalität darstellte. - Einer der wenigen, die Skepsis zeigten gegen­über der Vorstellung, Frankreich könne die Rolle Deutschlands als Stahlproduzent mitübernehmen, war damals Leon Blum, der Parteichef der SFIO33.

Der durch den Marshall-Plan gebotene Verzicht auf die gewaltsame Verlagerung der deutschen Schwerindustrie zwang die französische Seite dazu, einen schwieri­gen Balanceakt zwischen der Zulassung der westdeutschen wirtschaftlichen Rekon­struktion und der Verhinderung einer erneuten deutschen Priorität auf dem Stahl­sektor zu versuchen. Dabei konnte die Ansicht, daß die „natürlichen" Verhältnisse zum Vorteil Frankreichs wirken würden, sehr nützlich sein. Das Jahr 1949 brachte schließlich den Wiedereintritt Westdeutschlands in den internationalen Wettbewerb mit sich, was auf dem Stahlmarkt für Frankreich bald spürbar wurde. Die daraus erwachsenden Befürchtungen verstärkten sich noch durch den Bericht der Stahlab­teilung der Europäischen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (ECE) für 194934. Danach sollten nach Addition aller von den einzelnen Ländern aufgestellten

30 Vgl. im folg. Possibilités et besoins de la sidérurgie francaise, 19.11.1947, AE, Y1944/1949,Bd.371. 31 Vgl. Andre Philip, France and the Economic Recovery of Europe, in: Foreign Affairs, Januar 1948,

S. 325-334. 32 Ebenda, S. 332 (Übersetzung d. Verf.). 33 Vgl. Auriol, Journal du septennat, 1947, S. 367. 34 Vgl. UN Economic Commission for Europe, European Steel Trends in the Setting of the World

Market, Genf 1949.

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Stahlproduktionspläne 1953 in Westeuropa nahezu 60 Millionen Tonnen Stahl pro­duziert werden, womit der voraussehbare Bedarf um 8 Millionen Tonnen über­schritten würde. Aufgrund nationaler, autarkistischer Planungen würden kostspie­lige Stahlproduktionskapazitäten aufgebaut, die zu einer Überproduktion führten.

Die französische und die europäische Wirtschaft waren an einem Wendepunkt angelangt. Nachdem in der ersten Nachkriegszeit die wirtschaftlichen Probleme vor allem aus Fragen der Versorgung entstanden waren, spielte nun der Absatz eine immer größere Rolle. Damit erhielt die Frage der Kosten und Preise wieder größere Bedeutung, und die französische Stahlindustrie mußte auf manchen Märkten die Erfahrung machen, von günstigeren westdeutschen Angeboten aus dem Feld geschlagen zu werden35. Deshalb breitete sich in der Regierung wie in der Öffent­lichkeit zunehmend Furcht davor aus, daß die französische Wirtschaft, insbesondere die Stahlindustrie, in der Konkurrenz gegen die deutsche Industrie erneut unterlie­gen würde36. Dazu paßten auch die Nachrichten, daß die westeuropäische Stahl­industrie, einschließlich großer Teile der französischen, mit der Wiedererrichtung der zwischen den Kriegen bestehenden Produzentenkartelle liebäugelte. Eine solche Entwicklung war in Frankreich politisch unerwünscht, denn erstens erinnerte man sich an die seinerzeit von den Kartellen künstlich hochgehaltenen Preise, und zwei­tens galten die Kartelle ebenfalls als ein Mittel zur Wiedergewinnung der Dominanz durch die westdeutsche Stahlindustrie37.

Die französische Politik der ersten Nachkriegszeit hatte vor allem versucht, die westdeutsche Produktion zumindest in ausgewählten Bereichen zu beschränken. Auch weiterhin wurde die Einhaltung der bestehenden Begrenzungen etwa der Stahlproduktion gefordert38. Als neue Gefahr erschienen nun aber die niedrigeren deutschen Produktionskosten. Auch die fortdauernde Abhängigkeit von der Versor­gung mit Ruhrkohle und -koks stellte sich immer stärker als eine Preisfrage dar. Rein mengenmäßig hätte der Einfuhrbedarf weiterhin durch Bezüge aus den USA gesichert werden können, doch aufgrund der Transportdistanz mußten diese Liefe­rungen naturgemäß erheblich teurer sein als von der nahegelegenen Ruhr39.

35 Vgl. etwa Le Monde, 11./12.12.1949 (La France et l'Allemagne face à face sur les marchés du pro-che-orient); ebenda, 16. 12. 1949 (La concurrence s'intensifie sur le marché de l'acier).

36 Vgl. z. B. Schuman in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 8.11. 1949, AAN, B 80; Ministère des Affaires Etrangères, S/Direction d'Europe Centrale, Note vom 3. 1. 1950, AE, Europe 1949-1955, Allemagne, Bd. 255.

37 Vgl. etwa A.Philip, JOAN, 25. 11. 1949, S.6306; A. Croizat, ebenda, S.6309; A.Philip in der Sit­zung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 10.5.1950,AAN,B 80; E. Bonnefous, JOAN, 25.7. 1950, S.592; J.Monnet in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 26. 11. 1951, AAN, B 83.

38 Vgl. etwa R. Schuman, JOAN, 24. 11. 1949, S.6253; Der französische Hohe Kommissar Andre Francois-Poncet an Schuman, 7.12.1949, AE, Europe 1949-1955, Généralités, Bd. 64; Schuman in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 22.3.1950, AAN, B 80.

39 Vgl. etwa den Bericht von Hervé Alphand für Auriol am 13.2.1947, in: Auriol, Journal 1947, S. 78 f.; Jean Monnet in der Sitzung der Commission des Affaires Etrangères am 26. 11. 1951 (siehe Anm. 3 7 .

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Vor diesem Hintergrund wurde der deutschen Industrie seit Beginn des Jahres 1949 immer häufiger Dumping vorgeworfen. Beschwerden über den unlauteren Wettbewerb gehörten von nun an zum festen Bestandteil der französischen Politik. Das allgemeine Klagelied über die solcherart erworbenen westdeutschen Kostenvor­teile faßte der SFIO-Abgeordnete Francis Leenhardt am 24. November 1949 vor der Nationalversammlung zusammen: „Nun, was stellt Deutschland wirtschaftlich gese­hen dar? .'.. viel niedrigere Löhne als bei uns, um die Hälfte niedrigere Soziallasten als die unseren, ein künstlich verringerter Konsum, ... Industrien, die durch die Währungsreform von allen Schulden befreit sind, ... Kohle zu einem niedrigen Preis - zumindest für Deutschland, nachdem die Frage der Kohledoppelpreise bislang noch nicht geregelt wurde, ... eine unter dem Nazi-Regime konzentrierte und immer noch nicht dekartellisierte Schwerindustrie."40

Die aktuellen westdeutschen Kostenvorteile bei der Eisen- und Stahlerzeugung wurden in Frankreich als künstliche Verzerrung der „natürlichen" wirtschaftlichen Gegebenheiten und Austauschbeziehungen der europäischen Stahlindustrie an­gesehen. Dagegen wandte sich nun die französische Politik, und Außenminister Schuman erklärte am 19. März 1949, seine Regierung setze sich für eine Anglei-chung der deutschen Stahlproduktionskosten an die des Auslands ein41. Bei allen Gelegenheiten versuchte Schuman, die Abschaffung der westdeutschen Kohledop­pelpreise zu erreichen. Und Ende des Jahres forderte er als Voraussetzung für die wirtschaftliche Integration der Bundesrepublik nicht nur den eindeutigen Verzicht auf jegliche Überproduktion42, sondern vor allem auch die strikte Durchführung der im Petersberger Abkommen vorgesehenen Maßnahmen zur Einschränkung der Ver­bundwirtschaft43.

Besondere Aufmerksamkeit galt daneben dem Problem der angeblich niedrigeren Löhne und Sozialkosten in Westdeutschland. Am 25. November 1949 verabschiedete die französische Nationalversammlung nach einer zweitägigen deutschlandpoliti­schen Debatte mit 334 gegen 248 Stimmen eine Entschließung, die von Abgeordne­ten des MRP, der SFIO und der Radikalen Partei, die zusammen mit der kleinen Fraktion der Moderées gerade die Regierungskoalition bildeten, gemeinsam einge­bracht worden war. Diese ordre du jour stand unter dem direkten Eindruck des Petersberger Abkommens. Die darin zugestandenen Erleichterungen gegenüber dem kurz vorher verkündeten Besatzungsstatut demonstrierten, wie hinfällig alle auf langfristiger quantitativer Beschränkung des westdeutschen Wirtschaftspotentials beruhende Politik war. Die französische Regierung wurde deshalb insbesondere dazu aufgefordert, alle nützlichen Maßnahmen zu ergreifen, „damit sich die Libera­lisierung des Handels und die Vereinigung der europäischen Wirtschaften unter der

40 Leenhardt, JOAN, 24. 11. 1949, S. 6216 f. (Übersetzung d. Verl.) 41 Vgl. die Sitzung der Commission des Affaires Etrangères der Assemblée Nationale am 9.3. 1949.

AAN, B 80. 42 Vgl. Le Monde, 16.11.1949 (La Conference des „Trois"). 43 Vgl. R. Schuman, JOAN, 24. 11. 1949, S. 6232.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 181

Voraussetzung vollziehen, daß die notwendigen Vorkehrungen zur Verteidigung der legitimen Interessen (sci. Frankreichs) verwirklicht und durch eine fühlbare Annäherung der sozialen Bedingungen der Produktion eine concurrence loyale garantiert sind"44. Und vor dem Conseil de la République erläuterte Schuman, es könne keinen Verzicht auf bislang geltende Maßnahmen zum Schutz der französi­schen Wirtschaft geben, ohne daß zuvor die sozialen und steuerlichen Belastungen und Gesetze harmonisiert würden, da andernfalls die Konkurrenz nicht fair sei und Frankreich unter ungleichen Bedingungen kämpfen müsse45.

In der Vorstellung der „concurrence loyale" traf sich das Bestreben nach engerer wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Marktvergrößerung mit dem Verlangen nach Herstellung und Absicherung einer günstigen Konkurrenzsituation für die französi­sche Wirtschaft. Hinter diesem Konzept stand die Erwartung, daß nach Beseitigung der „künstlichen" westdeutschen Dumping-Bedingungen die enormen Investitionen im Rahmen des Monnet-Plans zum Tragen kämen, wodurch die angestrebte heraus­ragende Stellung der französischen Wirtschaft, insbesondere auch im Bereich der Stahlproduktion, erreicht würde. An der Annahme, daß Lothringen aufgrund seiner „natürlichen" Standortvorteile der optimale Standort für die Stahlerzeugung sei, wurde weiterhin festgehalten46. Aus den Reihen der französischen Abgeordneten wurde diese Vorstellung auch nach außen offensiv vertreten. Im Rahmen der deutsch-französischen Parlamentarierkonferenz in Basel am 7. und 8. Januar 1950, bei der zahlreiche deutsche und französische Abgeordnete zusammentrafen, ver­suchte die französische Seite bei ihren deutschen Kollegen für den Standpunkt zu werben, daß es aus ökonomischer Sicht sinnvoller sei, den Stahl in Frankreich zu produzieren. Doch mochten sich die hier Angesprochenen auch bei dieser Gelegen­heit nicht mit dem französischen Angebot anfreunden, den Stahl für ihre weiterver­arbeitende Industrie dafür aus Frankreich beziehen zu können47.

Im Planungskommissariat Monnets herrschte ebenfalls die Ansicht, daß nach Eta­blierung gleicher Wettbewerbsbedingungen die lothringische Stahlindustrie zur Vor­herrschaft tendiere. Als Etienne Hirsch, Stellvertreter Monnets und Mitautor des Schumanplans, am 28. März 1950 vor der parlamentarischen Finanzkommission, die über die künftigen Investitionen im Bereich von Kohle und Stahl beriet, um eine Stellungnahme des Planungskommissariats zu den Auswirkungen der wirtschaftli­chen Organisation Europas gebeten wurde, entwickelte er zur Veranschaulichung ein kleines Gedankenspiel. Darin führte er die Voraussetzung ein, daß der liebe Gott

44 Ordre du jour Scherer et alii, JOAN, 25. 11. 1949, S. 6349 (Übersetzung d. Verf.). 45 Vgl. Schuman, Journal Officiel de la République Francaise, Débats Parlémentaires, Conseil de la

République, 8.12. 1949, S. 2661. 46 Vgl. dazu auch P. Fréderix, La renaissance de l'Allemagne de l'Ouest, VII. Quelle doit etre raison-

nablement la production d'acier de la trizone?, in: Le Monde, 10. 11. 1949; ebd., VIII. L'autorité internationale de la Ruhr est un régulateur essentiel de l'économie européenne, in: Le Monde, 11.11.1949.

47 Vgl. Protokoll der deutsch-französischen Parlamentarierkonferenz in Basel vom 7./8. 1. 1950, AE, Europe 1949-1955, Allemagne, Bd.255.

182 Constantin Goschler, Christoph Buchheim, Werner Bührer

alle Zollgrenzen zum Verschwinden gebracht hätte, und fragte sodann nach den Auswirkungen für die französische Wirtschaft. In einer solchen Situation, erklärte er weiter, erschiene es logisch, die französische Stahlindustrie zu entwickeln. Müßte man wählen und gäbe es keine anderen Betrachtungen, wäre es normal, eine fran­zösische Stahlindustrie zu haben und nicht oder erst fernerhin eine deutsche. Des­halb müsse die französische Stahlindustrie auf eine Weise vervollständigt werden, daß sie im internationalen Wettbewerb bestehen könne. Aus diesem Grund seien auch die beiden gigantischen "Walzstraßen Usinor und Solac, die bis 1951 fertigge­stellt sein sollten, notwendig48.

So hielt sich im Planungskommissariat die Auffassung von der natürlich gegebe­nen Überlegenheit des Stahlproduktionsstandortes Lothringen auf der Grundlage des dort vorhandenen Erzes unter Heranziehung der Ruhrkohle. Aber der west­deutschen Stahlerzeugung sollte nicht jegliche „wirtschaftlich sinnvolle" Expan­sionsmöglichkeit genommen werden49. Vielmehr sollte der französische wirtschaftli­che Erfolg nun durch eigene wirtschaftliche Anstrengungen, d.h. Investitionen, verdient werden. Im Gegensatz zu manchen Teilen der französischen Politik und Öffentlichkeit antwortete das Planungskommissariat auf die vielfach beschworenen Gefahren der Stahlüberproduktion nicht mehr primär mit der Forderung nach Begrenzung der westdeutschen Produktion, sondern bezog die Möglichkeit der Ausweitung des Konsums in seine Überlegungen ein. Innerhalb eines Marktes, der insgesamt als expandierend vorgestellt wurde, konnte eine stattliche deutsche Stahl­erzeugung hingenommen werden, sofern zugleich zumindest gewährleistet blieb, daß nicht erneut eine Herrschaft der deutschen Industrie über den europäischen Eisen- und Stahlmarkt entstünde50.

Die parlamentarische Finanzkommission war von den Ausführungen Etienne Hirschs offensichtlich beeindruckt. Am 25. April 1950 beklagte deren Berichterstat­ter Charles Barangé vor der Nationalversammlung zunächst die Auswirkungen der internationalen Konkurrenz und der Stahlüberproduktion, um dann ein Loblied auf die begünstigte französische Exportsituation, besonders auch im Bereich des Stahls, anzustimmen. Es gipfelte darin, daß er von der „Berufung Frankreichs zum Stahlex­port" sprach51. "Während er auf der einen Seite die europaweiten Überkapazitäten in der Stahlindustrie kritisierte, plädierte er auf der anderen für weitere französische Investitionen vor allem bei Walzstraßen und für die Bildung eines Investitions­schwerpunktes im Bereich der Stahlindustrie.

Tatsächlich stiegen die staatlichen Gesamtinvestitionen in der französischen Stahl­industrie von 34,6 Milliarden ffrs. im Jahre 1949 auf 44 Milliarden ffrs. für 1950

48 Vgl. Hirsch in der Sitzung der Commission des Finances der Assemblée Nationale vom 28.3.1950, AAN, B 87, Bd. 55.

49 Vgl. Acheson to Washington, 12. 5. 1950, in: Foreign Relations of the United States (FRUS), 1950, III, Washington 1977, S.698.

50 Vgl. dazu das Memorandum Jean Monnets vom 3.5. 1950, in G. Ziebura, Die deutsch-französi­schen Beziehungen seit 1945, Pfullingen 1970, S. 195-200.

51 Ch. Barangé, JOAN, 25. 4. 1950, S. 2841 (Übersetzung d. Verf.).

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 183

weiter an. Eine besonders drastische Steigerung fand bei den Walzwerken statt52. Darin läßt sich ein Vorgehen erkennen, das darauf abzielte, die Konkurrenz der westdeutschen und französischen Stahlindustrie zugunsten der eigenen Produktion zu entscheiden, indem der forcierte Ausbau der französischen Stahlindustrie nicht in die Kritik der europäischen Überkapazitäten einbezogen, sondern zur vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung am geeignetsten Standort erklärt wurde. Der ange­nommenen Komplementarität der französisch-deutschen Schwerindustrie sollte außerdem durch Eingriffe in das Kostengefüge der westdeutschen Stahlindustrie auf dem Wege der Etablierung einer „concurrence loyale" zu ihrem Recht verholfen werden. Aktuelle Ängste über die Bedrohung durch die westdeutsche Industrie mischten sich mit Visionen einer zu ihrer wahren Bedeutung aufsteigenden französi­schen Stahlerzeugung, sofern die westdeutschen Dumpingvorteile erst einmal ausge­schaltet sein würden. Dieses Ziel war somit eine Weiterentwicklung des früheren Konzepts der gewaltsamen Umstrukturierung der westdeutschen Schwerindustrie. Dabei hatte eine Verfeinerung der Methode stattgefunden: von der quantitativen Beschränkung des westdeutschen Produktionspotentials zur qualitativen Änderung der Bedingungen der westdeutschen Rentabilität.

Am 9. Mai 1950 schließlich gab Robert Schuman auf einer Pressekonferenz in Paris eine Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch­französische Schwerindustrie ab. Das unter großer Geheimhaltung im Planungs­kommissariat entworfene Projekt sah vor, „die Gesamtheit der französisch-deut­schen Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde (Haute Autorité) zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offen steht"53. Die in dem fortan mit dem Namen des französischen Außenministers verbundenen Plan genannten Ziele knüpften an die 1949/50 in der französischen politischen Diskussion entwickelten Positionen an: Die Erklärung vom 9. Mai forderte die Errichtung einer „Solidarität der Produktion". Als Zweck der „Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft" nannte sie, „in allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produk­tion zu den gleichen Bedingungen zu liefern"54. Deshalb sollte es die Aufgabe der vorgeschlagenen Hohen Behörde sein, so zügig wie möglich die Produktionsbedin­gungen der beteiligten Länder zu vereinheitlichen. Im einzelnen forderte die Erklä­rung „die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien"55.

52 Vgl.Hahn, Schuman-Plan, S. 32. 53 Vgl. den Text der Erklärung vom9.5.1950in:Der Schuman-Plan und die Vierte Tagung des Atlan­

tikrates, EA 1950, S. 3091. 54 Ebenda. 55 Ebenda.

184 Constantin Goschler, Christoph Buchheim, Werner Bührer

Die Übereinstimmung der wirtschaftlichen Elemente des Schumanplans mit der in Frankreich seit 1949 geforderten Etablierung einer „concurrence loyale" zwischen der französischen und deutschen Stahlindustrie ist offenkundig. Nimmt man diesen Befund zum Ausgangspunkt einer Interpretation, so zielte der Schumanplan in wirt­schaftlicher Hinsicht zunächst auf die Vergrößerung des Marktes und die damit ver­bundenen Rationalisierungsvorteile. Geht man von der zu dieser Zeit in Frankreich vorherrschenden Vorstellung eines westdeutschen Dumpings aus, hätte die beabsich­tigte Angleichung bestimmter Produktionskostenelemente, die mit dem Ende der Herrschaft der deutschen Stahlindustrie über die Ruhrkohle einhergehen sollte, die Aufhebung der als künstlich angesehenen westdeutschen Kostenvorteile bei der Eisen- und Stahlerzeugung nach sich ziehen müssen. Dann wären die „natürlichen" Kostenfaktoren, die nach französischer Ansicht in Lothringen günstiger waren, wirksam geworden, und die französische Position hätte sich auf diese Weise bedeu­tend verbessert. Dies mag den Hintergrund der folgenden Passage der Erklärung vom 9. Mai gebildet haben: „Nach und nach werden sich so die Bedingungen ein­stellen, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf höchstem Leistungsniveau gewährleisten."56 So greift der Schumanplan die zuvor beschriebene Argumentation auf, die unter Berufung auf die Erfordernisse wirtschaftlicher Ratio­nalität und die Notwendigkeiten einer verstärkten europäischen-Arbeitsteilung die Verlagerung oder zumindest Neuakzentuierung des europäischen Stahlschwerpunk­tes zugunsten der französischen Produktion anstrebte.

Von Anfang an wurde der Schumanplan mit dem Kartellvorwurf belegt, so von Dean Acheson in seiner ersten Reaktion auf dieses Projekt57. Die Erklärung vom 9. Mai hatte darauf vorsorglich Rücksicht genommen und angegeben: „Im Gegen­satz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten."58 Der bisherige Befund macht plausibel, daß sich der Schuman-Plan tatsächlich gegen die Wiedererrichtung der zwischen den Kriegen bestehenden Stahlkartelle richtete, auch in einer bewußten Wendung gegen die eigene Stahlindustrie, die zu einer auf internationale Konkur­renzfähigkeit bedachten Haltung gezwungen werden sollte. Zugleich wandte er sich aber auch gegen die Risiken einer unregulierten Konkurrenz, die in der Vergangen­heit eben zu den Kartellen geführt hatten, und suchte deshalb die Sicherung durch die Spielregeln einer „concurrence loyale". Auf diese Weise sollte im Zuge des wirt­schaftlichen Zusammenschlusses und von Rationalisierungsmaßnahmen das Wachs­tum der Produktion und der Märkte erreicht werden. In der französischen Vorstel­lung sollten dabei aber zugleich Bedingungen herrschen, die den Schutz vor der westdeutschen Konkurrenz durch eine „rationale", Frankreichs wirtschaftlichen

56 Ebenda. 57 Vgl. Monnet, Erinnerungen, S. 384. 58 Erklärung vom 9. 5. 1950.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 185

Zielen entgegenkommende Arbeitsteilung garantieren würden. Eine solche sollte sich durch das Wirken der künftig nicht mehr künstlich verfälschten Standortfakto­ren quasi naturwüchsig einstellen.

Die wirtschaftliche Realität

Als Diskriminierungen der französischen im Vergleich zur deutschen Stahlindustrie sah man in Frankreich insbesondere die folgenden Punkte an: - das höhere Lohnniveau in Frankreich; - die größeren Sozialleistungen, die der französischen im Vergleich zur deutschen

Industrie aufgebürdet seien; - der Preis, den das Ausland für Ruhrkohle und Ruhrkoks zahlen müsse und der

über dem innerdeutschen Marktpreis liege; - die deutsche Verbundwirtschaft, die die Einsatzkosten der Stahlindustrie für

Ruhrkohle noch unter den Marktpreis drücke. Diese Vorstellungen und die daraus gezogene Konsequenz, nach Beseitigung der­

artiger Diskriminierungen hätte die französische gegenüber der deutschen Stahl­industrie einen Wettbewerbsvorteil, waren, wie wir gesehen haben, durchaus geschichtsmächtig. Stellten sie doch die zentrale Begründung dafür dar, warum die jeweiligen französischen Pläne, was den Ausbau der französischen auf Kosten der deutschen Stahlindustrie anbelangte, auch ökonomisch sinnvoll seien. Wie aber steht es mit ihrem Realitätsgehalt? Das soll im folgenden untersucht werden. Dabei wird zunächst die Entwicklung der Stahlindustrie des Ruhrgebiets und Lothringens vor 1914 im Vergleich kurz skizziert, bevor auf die Selbstkosten der beiden Reviere 1950, dem Jahr der Verkündung des Schumanplans, näher eingegangen wird.

Die Minette ist ein recht eisenarmes Erz. Der durchschnittliche Eisengehalt kalki­ger Minette betrug vor 1914 etwa 35 v.H., 1950 nur noch 30 v.H.59. Das bedeutet, daß etwa drei Tonnen Minette zur Herstellung einer Tonne Roheisen erforderlich waren. Da der Koksverbrauch pro Tonne Roheisen 1913 quantitativ schon viel nied­riger lag, war es also unter Transportkostengesichtspunkten günstiger, den Koks zur Minette als die Minette zum Koks zu bringen. Tatsächlich ist auch damals viel Ruhrkoks nach Lothringen verschickt worden, während der Minettebezug des Ruhrgebiets bis zur Mitte der 1890er Jahre sehr gering war und hinter den Bezügen von eisenhaltigeren spanischen und schwedischen Erzen zurückblieb60. Erst die Ein­räumung besonders günstiger Frachtsätze ab 1893 und insbesondere ab 1901 führte zu einer Steigerung des Minetteeinsatzes im Ruhrgebiet61. Ab der Jahrhundert-

59 Artikel 'Eisenerzeugung', in: Brockhaus' Konversations-Lexikon, 141898, Bd. 5, S.923; H. Prause, Der lothringische Minette-Bergbau, in: Stahl und Eisen 71 (1951), S.228.

60 W. Feldenkirchen, Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets 1879-1914, Wiesbaden 1982, S. 60 ff.

61 Ebenda, S. 75, Anhangtab. 12.

186 Constantin Goschler, Christoph Buchheim, Werner Bührer

wende lag der Preis der Minette frei Ruhrhütte pro Tonne Eisengehalt in manchen Jahren knapp unter dem Preis des Schwedenerzes62, ein Vorteil, der jedoch durch den höheren Koksverbrauch bei der Verhüttung der Minette wieder zunichte gemacht wurde. 1913 betrug der Anteil der Minette an allen im Ruhrgebiet verhüt­teten Erzen knapp 20 v. H. und lag damit ebenso hoch wie der der spanischen Erze, während der Anteil der Schwedenerze etwas höher war. Dem Eisengehalt nach war der Anteil der Minette jedoch nur etwa halb so hoch wie der des schwedischen Erzes.

Bot also der Bezug von Minette durch Ruhrhütten im Vergleich zum Einsatz von Schwedenerz keine Vorteile, so waren solche vielleicht bei einer Verlagerung des Betriebs ins Minettegebiet zu erringen. Tatsächlich haben einige Unternehmen des Ruhrgebiets sich mit derartigen Plänen befaßt, und etwa Thyssen hat auch ein Stahlwerk in Lothringen errichtet. Jedoch hat kein Ruhrunternehmen seinen Stand­ort vollständig verlagert, und der Anteil Rheinland-Westfalens an der Roheisen­erzeugung im Deutschen Reich war auch 1913 noch um etwa 10 Prozentpunkte höher als der des Minettebezirks. Seit 1903 hatte letzterer von 31,4 auf 33,2 v. H. zugenommen, ersterer aber von 39,8 auf 42,5 v.H. Und bei der Stahlerzeugung war die Diskrepanz zwischen beiden Gebieten noch viel ausgeprägter. Erzeugte Lothrin­gen/Luxemburg 1913 17,1 v.H. des deutschen Stahls, so waren es in Rheinland-Westfalen 53,6 v.H.63.

Die Ursachen dieser Entwicklung lagen zum einen darin, daß der Selbstkosten­vorteil der Roheisenherstellung in Lothringen gegenüber dem Ruhrgebiet doch nicht so erheblich war. Die Rheinischen Stahlwerke kamen 1888 in umfangreichen Kalkulationen zu einem Unterschied von einer Mark. Noch niedriger liegt er im Ergebnis der folgenden, 1912 angestellten Berechnungen64:

Roheisenselbstkosten (M pro t Roheisen):

Rheinl.-Westf. Lothringen Erz, einschließl. Kalkstein 31,54 12,52 Koks 13,00 29,51 Fabrikation 4,00 5,50 Amortisation 2,00 2,88

50,54 50,41

Es zeigt sich, daß die Differenz in den Erzkosten beider Gebiete fast durch eine umgekehrte Differenz in den Kokskosten ausgeglichen wurde. Das lag daran, daß Lothringen seinen Koks zum großen Teil aus dem Ruhgebiet beziehen mußte und dafür entsprechende Frachtkosten zu tragen hatte. Und während die Ruhrhütten

62 Berechnung aus ebenda, S. 167 ff., Anhangtab. 37. 63 Ebenda, S. 84 ff., 179, 191. 64 F. Werndl, Die Roheisen-Selbstkosten in den Industriegebieten Südwestdeutschland, Niederrhein-

land-Westfalen und Oberschlesien, in: Berg- und Hüttenmännische Rundschau 8 (1911/12), S. 151 ff.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 187

den meisten Koks zu Selbstkosten aus eigenen Kokereien und Zechen bekamen, waren die lothringischen Unternehmen im wesentlichen auf den Kauf von Koks vom Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat angewiesen. Schließlich ist auch noch einmal auf den Mehrverbrauch von Koks bei der Verhüttung der eisenarmen Minette hinzuweisen. Letzteres war ebenfalls ein wichtiger Grund für die höheren Fabrikationskosten und Amortisationen Lothringens. Da dort für eine bestimmte Menge Roheisen tonnenmäßig mehr Material eingesetzt werden mußte, ergab sich sowohl ein Mehraufwand an Arbeit für das Chargieren der Hochöfen und das Beseitigen der Schlacke als auch die Notwendigkeit, eine größere Anzahl von Öfen einzusetzen65.

Aber selbst wenn die Roheisenselbstkosten im Ruhrgebiet um ein paar Mark höher als in Lothringen gewesen wären, wäre eine Verlagerung der Ruhrstahlindu­strie wohl kaum in größerem Umfang eingetreten. Denn volkswirtschaftlich gesehen sind nicht die Kosten der Produktion am Ort, sondern die Kosten bis zum Konsum, also einschließlich der Frachtkosten der Erzeugnisse zum Verbraucher, die bei Stahl erheblich ins Gewicht fallen, ausschlaggebend66. Unter diesem Gesichtspunkt war die Ruhr kostenmäßig Lothringen weit überlegen. Hatte sich doch in Rheinland-Westfalen selbst, anders als in Lothringen, die eisenverarbeitende Industrie in gro­ßem Stile angesiedelt, und war das Ruhrgebiet darüber hinaus durch den Rhein und ein ausgebautes Kanalnetz auch für den Export seiner Produkte viel günstiger pla­ziert als Lothringen67. Angesichts dieses Befundes verbietet es sich, von einer Verla­gerung der Ruhrstahlindustrie nach Lothringen vor 1914 zu sprechen. Allenfalls fand in sehr begrenztem Umfang eine gewisse Auslagerung von Teilen der groben Produktion in den Minettebezirk statt, da es günstiger erschien, die geringwertigen Erze Lothringens dort selbst zu verhütten68. Dies hat jedoch weder die Entwicklung der Stahlindustrie im Ruhrgebiet beeinträchtigt noch auch nur etwas an deren Dominanz geändert.

Was die Selbstkosten der deutschen und französischen Stahlindustrie im Jahre 1950 anbelangt, so sind die Angaben hierzu höchst widersprüchlich. Die deutschen Eisenhüttenleute und die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie etwa gin-

65 F. Friedensburg, Das Erzproblem der deutschen Eisenindustrie ( = DIW, Sonderhefte N. F. 39), Berlin 1957, S.32; L. Lister, Europe's Coal and Steel Community, New York 1960, S.83.

66 H. Jürgensen, Entgegnung auf eine Arbeit von Dr. Wasmuth, betitelt: „Schuman-Plan und Neuord­nung im Blickpunkt der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Montanindustrie", 22.9. 1951, S. 5; Wirtschaftsarchiv, Institut für Weltwirtschaft, Kiel.

67 Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie, S. 88 f.; ders., Zum Einfluß der Standortfaktoren auf die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets (bis 1914), in: F. Blaich (Hrsg.), Entwicklungsprobleme einer Region: Das Beispiel Rheinland und Westfalen im 19. Jahrhundert, Berlin 1981, S.65; N.J. G. Pounds/W. N. Parker, Coal and Steel in Western Europe, Bloomington 1957, S. 290.

68 Jürgensen, Entgegnung, S. 4. Ähnliches gilt im übrigen auch, kriegsbedingt sogar verstärkt, für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Lothringen wieder unter deutscher Herrschaft stand. Vgl. U. Wen-genroth, Schwierige Beute. Lothringen in den Planungen der deutschen Schwerindustrie, in: C. Carlier, S. Marxens (Hrsg.), La France et l'Allemagne en Guerre (Septembre 1939-Novembre 1942), Paris 1989.

188 Constantin Goschler, Christoph Buchheim, Werner Bührer

gen ohne weiteres davon aus, daß Thomasroheisen unter normalen Wirtschaftsver­hältnissen im Minettebezirk etwa 10 v.H. billiger als im Ruhrgebiet erzeugt werden könne und daß dieser Vorteil in fast gleicher Höhe auch auf die Herstellung von Thomasstahl zutreffe. Dagegen sei die Produktion aller anderen Roheisensorten sowie von Siemens-Martin-Stahl zweifellos im Ruhrgebiet billiger, da die hierzu benötigten Möllerstoffe im Ruhrgebiet wesentlich frachtgünstiger erhältlich seien69. Während letzteres nicht umstritten ist, finden sich zur Frage der Selbstkosten bei der Thomasstahlerzeugung auch recht andere Angaben. Zawadzki kalkulierte die Kosten des Materialinputs für Roheisen in der ersten Jahreshälfte 1950 in West­deutschland auf 24,88, in Frankreich aber auf 26,22 Dollar70. Und Hahn zitiert ein französisches Gutachten, wonach sich im September 1951 die Gestehungskosten für eine Tonne Thomasstahl in Frankreich auf über 27000, in Deutschland auf gut 21 000 ffrs. beliefen71.

Angesichts solcher Diskrepanzen in der Literatur soll hier eine eigene Berechnung der Selbstkosten versucht werden. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß es sich um die durchschnittlichen Kosten in der deutschen und französischen Eisenindustrie handelt, in einem weiteren Bereich also als das Ruhrgebiet und Lothringen. Aller­dings dürften die Berechnungen auch ziemlich die Verhältnisse in den engeren Bezirken treffen, wurden doch in Nordrhein-Westfalen 83 v.H. des deutschen Stahls (ohne die Saar) und in Lothringen 78 v. H. des französischen Roheisens pro­duziert72. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß das Opportunitätskostenkonzept unterstellt wird, d. h. es werden die Marktpreise der Inputgüter angesetzt, unabhän­gig davon, ob manche Inputs in den Unternehmen selbst anfielen oder produziert wurden und daher kalkulatorisch zu (niedrigeren) Selbstkosten in die Kosten­rechnung der Betriebe eingingen. Damit ist gleichzeitig der Effekt der deutschen Verbundwirtschaft, worin die Franzosen eine Diskriminierung sahen, ausgeschal­tet.

In Deutschland setzte sich der Hochofenmöller im Oktober 1950 durchschnittlich folgendermaßen zusammen, gerechnet in Eisengehalt und bezogen auf 1 t Roh­eisen73:

Inlandserz 286 kg Auslandserz 305 kg Schrott 175 kg Sonst. Eisenträger 188 kg

69 Aktenvermerk: Ausarbeitung Dr. Wasmuth, Schumanplan und Neuordnung im Blickpunkt der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Montan-Industrie, 29. 8. 1951, S. 1 f.; Wirtschafts-archiv, Institut für Weltwirtschaft, Kiel.

70 K. K. F. Zawadzki, The Economics of the Schuman Plan, in: Oxford Economic Papers (New Series) 5 (1953), S. 183.

71 Hahn, Schuman-Plan, S. 154. 72 Lister, Europe's Coal and Steel Community, S. 30, 33. 73 Stahl und Eisen 71 (1951), S. 1465.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 189

Bewertet man nun das Inlandserz mit 69 DM je t Eisengehalt frei Hütte, das Aus­landserz mit 61,70 DM74, den Schrott mit 73 DM75 und die sonstigen Eisenträger mit 41,70 DM76, so erhält man an Kosten für die eingesetzten Mengen: (DM)

Inlandserz 19,73

Auslandserz 18,82 Schrott 12,77 Sonst. Eisenträger 7,84

59,16 Der Koksverbrauch betrug durchschnittlich etwa 940 kg je Tonne Roheisen77.

Die Tonne Koks kostete 42 DM78, dazuzurechnen sind ungefähr 3 DM Fracht79, so daß sich 42,30 DM an Kokskosten für das Erschmelzen einer Tonne Roheisen erge­ben. Die Materialkosten für eine Tonne Roheisen beliefen sich also in Deutschland im Herbst 1950 auf 101,46 DM.

Frankreich produzierte 1950 7,761 Mill. t Roheisen. Dazu verbrauchte es in sei­nen Hochöfen 19,578 Mill. t Eisenerz, 1,513 Mill. t Schrott, 0,795 Mill. t Schlacken und Zuschläge und 7,699 Mill. t Koks80. Dabei kosteten: (Mill. DM)

Erz 172,781

Schrott 71,082

Schlacken 19,983

Koks 519,784

783,3

74 Zawadzki, Economics of the Schuman-Plan, S. 177. Diese Angaben stimmen größenordnungsmä­ßig überein mit Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952, S. 397, 399. Dort errechnet sich der Preis inländischer Erze frei Grube pro t Eisengehalt mit 56,50-74,40 DM, der von Schwedenerz frei Grenze mit 54,17 DM.

75 Stahl und Eisen 70 (1950), S.731, gibt die Schrotthöchstpreise mit 61-80 DM/t , durchschnittlich also mit 71,50 DM an. Einschließlich Frachtkosten dürfte sich ein Preis von 73 DM ergeben, der auch in Stahl und Eisen 71 (1951), S.96, 9, zugrundegelegt ist.

76 Der Durchschnittspreis der Einfuhr eisen- und manganhaltiger Abbrände, Schlacken und dgl. lag 1950 bei 23 DM (Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952, S.249), ein­schließlich Fracht von der Grenze bis zur Hütte also vielleicht bei 25 DM. Unter der Annahme eines Eisengehalts von 60 v. H. (Friedensburg, Erzproblem der deutschen Eisenindustrie, S. 36 gibt den Eisengehalt von Kiesabbränden mit bis zu 65 v. H. an) liegt der Preis pro t Eisengehalt demnach bei etwa 41,70 DM.

77 Berechnet aus Stahl und Eisen 71 (1951), S.1280f. 78 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952, S. 396. 79 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Untersuchungen zum Schuman-Plan, Oktober

1951, S. 10. 80 Stahl und Eisen 71 (1951), S. 1183. Zusätzlich wurden noch 0,316 Mill. t Manganerz eingesetzt,

aber wohl für spezielle Roheisensorten, weshalb dieser Posten hier fortgelassen wird. 81 Zawadzki, Economics of the Schuman Plan, S. 177, gibt 7 $ pro t Eisengehalt der Lothringischen

Erze frei Hütte an. Das stimmt gut überein mit Prause, Minette-Bergbau, S.228, der als Preis für 30prozentiges Erz 1950 8,50 DM frei Grube nennt.

82 Hahn, Schuman-Plan, S. 75, führt 3913 ffrs. als französischen Schrottpreise je t an. 83 Wie Anm. 76. 84 Der Auslandspreis für Ruhrkoks betrug 46 DM zuzüglich 20 DM Fracht nach Lothringen (Unter-

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Die Durchschnittskosten für den Materialeinsatz pro Tonne Roheisen betrugen in Frankreich also 100,93 DM und bewegten sich damit auf praktisch der gleichen Höhe wie in Deutschland.

Allerdings spielte im Rahmen der französischen Kosten die Diskriminierung bei den Kokspreisen eine Rolle. Denn der Auslandspreis von Ruhrkoks war 46 DM gegenüber einem Inlandspreis von 42 DM. Und auch die Frachtsätze für Ruhrkoks nach Lothringen enthielten ein Element der Diskriminierung. Nach der im Rahmen der Montanunion vorgenommenen Einführung direkter Tarife war die Fracht um rund 30 v.H. niedriger als vor der Gründung der EGKS85. Überträgt man dieses Verhältnis auf die Frachtsätze von 1950, so verringern sich diese von 20 auf 14 DM für die Tonne Ruhrkoks nach Lothringen. Ohne Diskriminierungen bei den Ruhr­kokskosten beliefen sich die durchschnittlichen Materialkosten der französischen Roheisenherstellung 1950 demnach auf 89,50 bis 96 DM, je nachdem ob man davon ausgeht, daß nur Ruhrkoks eingesetzt wurde oder sowohl Ruhrkoks als auch Koks aus dem Revier Nord. Das aber heißt, daß die Kosten des Materialeinsatzes für die Tonne Roheisen im günstigsten Fall in Lothringen um etwa 12 DM niedriger waren als im Ruhrgebiet.

Zu den Materialkosten hinzuzurechnen sind die Lohnkosten einschließlich der Sozialabgaben der Arbeitgeber. Letztere waren tatsächlich in Frankreich höher als in Deutschland, jedoch waren die eigentlichen Löhne in der Eisen- und Stahlin­dustrie niedriger. Diese gegenläufigen Tendenzen glichen sich fast vollständig aus, so daß die gesamten Arbeitskosten pro Stunde in beiden Industrien annähernd gleich hoch standen86. Dies heißt jedoch nicht, daß auch die Arbeitskosten pro Tonne Roheisen bzw. Stahl auf gleicher Höhe lagen. Vielmehr spielt hierbei noch die Arbeitsproduktivität eine Rolle. Diese scheint aber in Deutschland hö­her gewesen zu sein als in Frankreich, und zwar, wie eine Berechnung für Stahl der Europäischen Wirtschaftskommission ausweist, um ein Viertel. Daher und nicht wegen unterschiedlicher Löhne beliefen sich die Arbeitskosten für die Tonne Stahl in Deutschland auf 16 $, während sie in Frankreich 21 $ betrugen87. Und ein Teil dieses Unterschieds entfiel mit Sicherheit auf die Roheisenherstel­lung88.

Neben den Arbeitskosten pro Tonne Stahl waren auch die Zinskosten und die Steuerbelastung recht verschieden. Erstere sollen in Frankreich wegen großer, in

suchungen zum Schuman-Plan, s. Anm. 79, S. 6), der Preis von Koks aus dem französischen Revier Nord frei Hütte in Lothringen etwa 69 DM (Zawadzki, Economics of the Schuman Plan, S. 174). Hier ist ein Durchschnittspreis von 67,50 DM zugrundegelegt worden.

85 EGKS, Hohe Behörde, Dritter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1955, S.120.

86 Vgl. Hahn, Schuman-Plan, S. 79; EGKS, Hohe Behörde, Zweiter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1954, S. 193 und Dritter Gesamtbericht, 1955, S. 178 f.

87 UN, ECE, Economic Survey of Europe Since the War, Genf 1953, S. 228 in Verbindung mit S. 384. 88 Siehe oben, S.16f.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 191

einer Hochzinsphase durch Kredite finanzierter Investitionen 1000-1500 ffrs. pro t Stahl betragen haben, in Deutschland nur 100-200 ffrs.89 Dies wird allerdings durch Alan Milward in Frage gestellt, der darauf hinweist, daß der Monnetplan Kapitalin­vestitionen in die französische Stahlindustrie stark subventioniert habe90. Dagegen waren die Steuern (außer Umsatzsteuer), gemessen an den Produktionskosten, in Deutschland höher91. Man könnte allerdings argumentieren, im Zuge der Herstel­lung der „concurrence loyale" sollten sowohl die Steuerbelastung als auch die Zins­kosten in beiden Ländern aneinander angeglichen werden, so daß wir sie hier nicht mehr weiter zu berücksichtigen brauchen.

Es bleibt also festzuhalten, daß unter einem Regime der „concurrence loyale" die Erzeugung von Roheisen materialkostenmäßig in Lothringen 1950 um bis zu 12 DM pro Tonne billiger war, bei Einbeziehung der Arbeitskosten sich dieser Unterschied jedoch verringerte. Bei Betrachtung der Stahlgewinnung ingesamt, also Thomas- und Siemens-Martin-Stahl, scheinen demgegenüber die Materialkosten auf deutscher Seite, wieder „concurrence loyale" unterstellt, um etwa 4 DM, die Arbeitskosten sogar um gut 20 DM niedriger gewesen zu sein92. Nun sind jedoch noch die Frachtkosten für den Stahl vom Produktions- zum Verbrauchsort zu berücksichtigen. Und wie schon am Anfang des Jahrhunderts hatte das Ruhrgebiet auch um 1950 hierbei enorme Vorteile. Wurden doch annähernd 60 v. H. seiner Stahlproduktion in Nordrhein-Westfalen selbst weiterverarbeitet, während es in Lothringen nur 13 v.H. waren. Fast der gesamte Rest mußte im Falle Lothringens mit der Bahn verschickt werden93. Dem Ruhrgebiet standen dagegen zahlreiche Versendungsmöglichkeiten zu Wasser, insbesondere für den Export, offen, was viel billiger als Bahnfracht ist. Die Ruhrunternehmen zahlten für den Transport ihrer Stahlprodukte zu Rheinmündungshäfen lediglich etwa 4 DM pro Tonne, Lothringer Betriebe dagegen nach Antwerpen oder Dünkirchen über 24 DM94. Da dieser Frachtkostenunterschied den errechneten Materialkostenvorteil Lothringens bei Roheisen (und Thomasstahl) allein weit überkompensiert, zeigt das, daß der theore­tische Absatzradius selbst für den Thomasstahl des Ruhrgebiets viel weiter war als der Lothringens, ein Ergebnis, was umso eher gilt, als ja auch die Arbeitskosten im Ruhrgebiet niedriger lagen. Dazu kamen, wie gesagt, die Absatzdichte für Stahl im Ruhrgebiet selbst sowie die niedrigeren Materialkosten für Siemens-Martin-Stahl dort.

Anders als die Franzosen dachten, lag also ein gewichtiger Kostenvorteil auch unter den Bedingungen einer „concurrence loyale" auf der Seite des Ruhrgebiets. Eine Verlagerung des Stahlschwerpunkts nach Lothringen konnte daher nicht erwartet werden. Und das trat denn auch nicht ein. Vielmehr wuchs die Rohstahler-

89 D. C. Bok, The First Three Years of the Schuman Plan, Princeton 1955, S. 33. 90 A. Milward in einem Brief an die Verfasser v. 10.12. 86. 91 Bok, First Three Years, S. 32. 92 Wie Anm. 87. 93 Lister, Europe's Coal and Steel Community, S. 28, 34. 94 Bok, First Three Years, S. 70.

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zeugung vom Beginn des gemeinsamen Marktes 1953, als die Diskriminierungen der französischen Industrie beim Bezug von Ruhrkoks nach und nach fielen, bis 1957 in Nordrhein-Westfalen von 13 auf 20 Mill. t um 54 v.H., in Ostfrankreich dagegen nur um 38 v.H. von knapp 6,7 auf 9,2 Mill. t95.

Worauf beruhte nun aber die weitverbreitete Fehlperzeption des wirtschaftlichen Potentials der französischen und deutschen Stahlindustrie in Frankreich? Entsprang sie französischem Wunschdenken und damit irrationalen Anwandlungen, oder kann man sie als gar nicht so unvernünftig wenigstens plausibel machen? Hier wird argu­mentiert, daß Letzteres zutraf. Denn einmal muß man den zeitgenössischen Mangel an genauen Statistiken in Rechnung stellen. Das galt insbesondere für die mit der Höhe der Löhne und Sozialabgaben zusammenhängenden Fragen. Dementspre­chend verließ man sich vermutlich weitgehend auf den Augenschein, und dieser lehrte, daß der deutsche Lebensstandard in der zweiten Hälfte der 40er Jahre sehr niedrig war. Daher mußten, so folgerte man, auch die Löhne recht gering sein. Eine frühe Zusammenstellung von statistischen Daten zur Entwicklung der Massenkauf­kraft in Deutschland, die vom französischen Vertreter in der Allierten Hochkom­mission stammte, unterstützte dieses Ergebnis. Wurde doch darin festgestellt, daß die deutsche Massenkaufkraft im Vergleich zu 1938 enorm gesunken war, vor allem deshalb, weil die Lebenshaltungskosten stark zugenommen hatten96. Im Jahre 1950 übermittelte dann aber der französische Hochkommissar detaillierte statistische Berichte über die deutsche Wirtschaft an das Außenministerium Frankreichs97. Und ein genauer Vergleich der Löhne und Sozialabgaben in der Stahlindustrie beider Länder ist später unter der Regie der Montanunion erstellt worden98. So wurde es bis Ende 1951 klar, daß die Vorstellung niedrigerer Löhne der deutschen im Ver­gleich zur französischen Stahlindustrie nicht haltbar war. Dementsprechend wurde sie in einer Anhörung vor der Kommission für auswärtige Angelegenheiten des fran­zösischen Parlaments vom Staatssekretär im französischen Außenministerium, Mau­rice Schumann, mit den Worten revidiert: „Im Gegensatz zur allgemein etablierten Meinung ist die französische Stahlindustrie durch die Höhe der Löhne und Sozial­abgaben nicht benachteiligt."99

Ein weiterer Grund für die Fehleinschätzung der relativen Konkurrenzfähigkeit der französischen Stahlindustrie lag darin, daß, beschränkt man die Betrachtung auf die Produktion von Thomasstahl, die Lothringer Industrie wohl tatsächlich einen Selbstkostenvorteil, der auch von deutscher Seite nicht bestritten wurde, aufwies.

95 EGKS, Hohe Behörde, Sechster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1958, Bd. 2, S.399.

96 IfZ-Archiv, MF 260, 11/123-3/28, Haute Commission Alliée. Comité économique. Sous comité général sur les mesures discriminatoires, Rapport francais sur le pouvoir d'achat des travailleurs alle-mands.

97 AE, Europe 1949-55, Allemagne No.257. 98 EGKS, Hohe Behörde, Zweiter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1954, S. 193;

dies., Dritter Gesamtbericht, 1955, S. 178 f. 99 AAN, B 83 Commission des Affaires Etrangères, 26.11. 51, S.65 (Übersetzung d. Verf.).

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 193

Dieser Vorteil verwandelte sich jedoch, wie gezeigt, in einen Nachteil bei Einbezie­hung der durchschnittlichen Transportkosten des fertigen Stahls zur weiterverarbei­tenden Industrie. Obwohl die Berücksichtigung der Transportkosten des Produkts volkswirtschaftlich zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit einer regionalen Indu­strie unabdingbar ist, wird sie in betriebswirtschaftlich orientierten Vergleichen häu­fig unterlassen, so etwa auch in der zitierten Studie der Europäischen Wirtschafts­kommission100. Daß in der öffentlichen und politischen Diskussion in Frankreich lediglich auf die übliche Form der Selbstkostenvergleiche Bezug genommen wurde, erscheint also nur zu plausibel.

Jean Monnet selbst sah jedoch durchaus die Nachteile, die der französischen Stahlindustrie aus dem Fehlen von weiterverarbeitenden Unternehmen in Lothrin­gen erwuchsen. Seiner Auffassung nach versprach der Schumanplan hier Aussicht auf Abhilfe in doppeltem Sinne. Einmal nämlich würde durch seine Verwirklichung die Furcht vor einem Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland gegenstands­los werden, damit aber würden auch die Hemmungen französischer stahlverarbei­tender Betriebe verschwinden, sich im Grenzgebiet niederzulassen. Zum anderen werde durch die Montanunion den Deutschen ein wichtiges Druckmittel zur Er­zielung offener französischer Grenzen für die Produkte der weiterverarbei­tenden Industrie genommen, nämlich die Abhängigkeit Frankreichs von der deutschen Kohle, mit dem Erfolg, daß der französischen Industrie eine Atempause zur Ansiedlung in Lothringen verschafft werde101. Wenn sich auch diese Erwar­tungen nicht bewahrheiteten, so ist doch interessant, daß bei dem führenden fran­zösischen Planer das Gefühl für den prinzipiellen Mangel der Lothringer Stahl­industrie vorhanden war. Daß der breiteren Öffentlichkeit das Bewußtsein hierfür fehlte, ist demgegenüber aus den angeführten Gründen nur wenig verwun­derlich. Die Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Gegebenheiten in Frankreich ist also rational erklärbar und insofern auch plausibel. Das ändert jedoch weder an der Tatsache etwas, daß es sich um eine eklatante Fehleinschätzung handelte, noch daran, daß diese Fehleinschätzung sich als geschichtsmächtig erwiesen hat.

Die Verhandlungen um die Montanunion

Das Monnet zugeschriebene Zitat aus der Anfangszeit der Pariser Verhandlungen über den Schumanplan, es könne nicht darum gehen, „vermittels der Montanunion die Geographie zu korrigieren"102, unterstreicht noch einmal den französischen

100 Siehe Anm. 87. 101 Wie Anm. 99, S. 30 f., 96 f. 102 So Günter Henle in einem Vortrag über den „Schumanplan vor seiner Verwirklichung", Sonderver­

öffentlichung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Essen 1951, S. 6. Henle, Leiter der Klöckner-Werke und CDU-MdB, spielte auf deutscher Seite eine bedeutende Rolle in den Schumanplanverhandlungen.

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Glauben an einen natürlichen Vorsprung der heimischen Stahlindustrie. Für die Un­terhändler aus Frankreich kam es somit „nur" noch darauf an, den Vertragstext so zu fassen, daß die bisherigen „künstlichen" Vorteile der deutschen Konkurrenten weg­fielen, und, wie es in der bereits zitierten Erklärung Schumans vom 9. Mai hieß, „die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen" erfolgen konnte.

Die Formulierung von den „gleichen Bedingungen" war indessen äußerst vage. Aus deutscher Sicht konnten damit schlimmstenfalls einheitliche Preise gemeint sein, und gegen eine solche „Nivellierung der Standortsbedingungen im europäischen Raum" wollte man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen103. Lediglich in der Frage der Doppelpreise für Kohle und Koks ließen deutsche Experten Kompromißbereit­schaft erkennen - vorausgesetzt, auch die künftigen Partner waren zum Verzicht auf höhere Exportpreise bereit. Der Terminus „gleiche Bedingungen" bereitete indessen nicht nur in Bonn oder Düsseldorf Kopfzerbrechen, sondern auch in Washington und beim potentiellen Montanunionsmitglied Großbritannien. Monnet und seine Mitarbeiter bemühten sich nicht zuletzt aus diesem Grund um eine Präzi­sierung ihres Standpunktes.

Die erste Gelegenheit dazu bot sich in einem an die amerikanische Adresse gerichteten Memorandum zur Entkräftung des Kartellverdachts. Etwaige Maßnah­men zur Preisangleichung, so stellten die Autoren klar, sollten Übergangscharakter haben und lediglich dazu dienen, die notwendige Umstellung auf eine Produktion am jeweils günstigsten Standort unter Vermeidung größerer Erschütterungen zu ermöglichen104. Diese Position bekräftigte Monnet auch gegenüber britischen Gesprächspartnern anläßlich eines Treffens am 16. Mai in London, als er sich dafür aussprach, die Produktion an den effizientesten Standorten zu konzentrieren und Vorzugstarife für den Transport zu verbieten; eine Harmonisierung der Löhne sollte, falls erforderlich, auf dem höchsten Niveau erfolgen105. In einem Brief an Sir Edwin Plowden vom Schatzamt griff Monnet diese beiden Punkte nochmals auf: Eine Lohnangleichung hielt er vor allem in solchen Fällen „sozialen Dumpings" für notwendig, in denen Entlohnung und Arbeitsproduktivität in einem deutlichen Miß­verhältnis standen. Aufgabe der geplanten Hohen Behörde sei es, den Lebensstan­dard durch eine Steigerung der Produktivität zu erhöhen. Zu diesem Zweck sei auch die Schaffung identischer Voraussetzungen für die Preisbildung gerechtfertigt. Es komme darauf an, die Vorteile eines auf Produktivität gegründeten Wettbewerbs sicherzustellen und Störungen infolge „ausbeuterischer" Arbeitsbedingungen oder diskriminierender Praktiken künftig zu unterbinden106.

103 BA, NL Etzel/237: Bundeswirtschaftsministerium, Unterlagen zum Schumanplan, 16.6. 1950. 104 Das Memorandum ist wiedergegeben in einem Telegramm Achesons an Webb v. 12.5. 1950, FRUS

1950, III, S.697-701, hier S.701. 105 Aufzeichnungen über ein Treffen mit Monnet, in: Documents on British Policy Overseas (DBPO),

Series II, Vol. I: The Schuman Plan, The Council of Europe and Western European Integration, May 1950-December 1952, London 1986, S. 59-61.

106 Monnet an Plowden v.25. 5. 1950, in: ebenda, S. 94-96.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 195

Im Vorfeld der Pariser Schumanplan-Verhandlungen, vor allem als Ergebnis der intensiven, am Ende aber erfolglosen französisch-britischen Gespräche, nahm der vage Begriff also allmählich Konturen an. „Gleiche Bedingungen" waren nach fran­zösischer Auffassung dann gegeben, wenn diskriminierende Frachttarife und Dop­pelpreise innerhalb des Unionsgebietes abgeschafft und Löhne und Arbeitsbedin­gungen angeglichen waren107. So gingen Monnet und seine Mitarbeiter gut gewappnet in die am 20. Juni 1950 beginnende Konferenz über den Schumanplan.

Die französische Delegation stellte ihren Anspruch auf eine führende Rolle im Ver­handlungsprozeß auch gleich dadurch unter Beweis, daß sie am 24. Juni ein 40 Artikel umfassendes „Document de Travail" vorlegte, das als Grundlage für die weiteren Arbeiten dienen sollte108. Die Kompetenzen, die dieser Entwurf der geplanten „Hohen Behörde" zuschrieb, machten deutlich, wie die französische Regierung die Vorausset­zungen für eine „echte Konkurrenz" herzustellen gedachte. Die Hohe Behörde sollte u.a. die Versorgung mit Kohle und Stahl am jeweiligen Produktionsort zu gleichen Bedingungen sichern, alle künstlichen Behinderungen normaler Wettbewerbsverhält­nisse beseitigen und die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Mon­tanarbeiter auf höherem Niveau anstreben. Durch ihre Preispolitik sollte sie die Erzeu­ger gegen unlautere Praktiken schützen, eine reguläre Ausweitung der Märkte und der Produktion garantieren und schrittweise die Voraussetzungen schaffen, die „automa­tisch" eine effektive Arbeitsteilung auf höchster Produktivitätsstufe gewährleisteten. Zu diesem Zweck sah das Arbeitspapier eine Reihe von Vollmachten für die Hohe Behörde vor, insbesondere das Recht, von den Unternehmen Ab-Werk-Preise und die Veröffentlichung generell verbindlicher Preislisten zu verlangen sowie allgemeine oder regionale Höchst- und Mindestpreise festzusetzen. Auf dem Gebiet der Löhne und Arbeitsbedingungen verpflichtete der Entwurf die Hohe Behörde dazu, Lohnkürzun­gen als Mittel des Wettbewerbs zu verhindern und jede Art von Konkurrenz, die auf der „Ausbeutung" von Arbeit beruhte, zu beseitigen. Für den Fall, daß Unternehmen von bestimmten künstlichen wettbewerbsbeschränkenden Faktoren oder Maßnahmen übermäßig profitierten, konnte sie diesen Firmen eine Abgabe auferlegen; im umge­kehrten Fall war eine zeitlich begrenzte Unterstützung möglich. Die Teilnehmerländer sollten sich ferner verpflichten, im Montanbereich alle Zölle oder gleichwertigen Abgaben sowie sämtliche quantitativen Beschränkungen aufzuheben und Subventio­nen sowie die unterschiedliche Behandlung heimischer und ausländischer Märkte bei der Frachtberechnung abzuschaffen. Schließlich war für eine Übergangszeit ein Aus­gleichsfonds vorgesehen, um mögliche Produktionsverlagerungen schrittweise vor­nehmen zu können.

107 Vgl. dazu den resümierenden Bericht des US-Botschafters in London, Lewis W. Douglas, an Acheson v. 6.6.1950, FRUS 1950, III, S.720-724.

108 Der Text des Dokumentes ist abgedruckt in: FRUS 1950, III, S. 727-738. Der amerikanische Bot­schafter in Paris, Bruce, war noch am gleichen Tag im Besitz des Vertragsentwurfs, der auf Beschluß der sechs Delegationsleiter geheimgehalten werden sollte. Eine Zusammenfassung des Textes wurde am 27. Juni der Presse übergeben; eine deutsche Übersetzung findet sich in EA 5 (1950), S.3409-3411.

196 Constantin Goschler, Christoph Buchheim, Werner Bührer

Wenngleich einzelne Formulierungen interpretationsbedürftig blieben, waren sich die deutschen Experten über die wirtschaftliche Quintessenz der Initiative Schumans einig109: Über die Angleichung der Kosten und Preise sollte das bis dahin mit poli­tisch-administrativen Mitteln zwangsweise ausbalancierte Kräfteverhältnis zwischen deutscher und französischer Stahlindustrie stabilisiert werden - allerdings künftig hauptsächlich durch das Wirken „naturwüchsiger" Konkurrenzmechanismen. Bis zur Erreichung dieses Zustandes waren mithin gezielte Eingriffe erforderlich. Die Kosten- und Preisharmonisierung stellte somit eines der Kernprobleme des gesam­ten Vorhabens dar, und die Aufmerksamkeit, die Sachverständige und Presse in der Bundesrepublik dieser Frage widmeten, war vollauf gerechtfertigt. Das „Handels­blatt" sah in der Angleichung sogar den „Schlüssel zum Erfolg der Bemühungen um eine Union"110. Einheitliche Preise, obgleich „offiziell" kein Verhandlungsgegen­stand111, lehnten die deutschen Unterhändler vorsorglich ab, ebenso alle Anglei-chungsmaßnahmen zu Lasten der Bundesrepublik. Aber auch die im „Document de Travail" vorgeschlagenen Höchst- und Mindestpreise stießen auf Widerspruch: Die Festsetzung eines Minimalpreises implizierte möglicherweise Ausgleichsforderungen der teurer produzierenden Unternehmen, und von dieser „sonderbaren und bedenk­lichen Idee" distanzierte sich die „deutsche Delegation natürlich stark"112. Statt des­sen sprach sich die Mehrheit der Experten für Festpreise auf Frachtbasis-Grundlage bei Stahl und für Ab-Werk-Preise bei Kohle aus. Das Preisvorschlagsrecht sollte überdies den im französischen Arbeitsdokument ebenfalls vorgesehenen „regionalen Vereinigungen" der Kohle- und Stahlunternehmen vorbehalten bleiben. Der Hohen Behörde billigte man lediglich ein Vetorecht für bestimmte gravierende Fälle zu113. Auf diese Weise hofften die deutschen Sachverständigen auch institutionell sicherzu­stellen, daß nivellierende Eingriffe „von oben" weitgehend ausgeschlossen waren.

Der deutschen Interpretation des Terminus „gleiche Bedingungen" - unterschied­liche Preise, Beibehaltung gängiger Preisdifferenzierungen - setzten die französi­schen Unterhändler zunächst keine vergleichbar eindeutige Auslegung entgegen. Noch vor der Übergabe des Arbeitsdokumentes hatte Uri nach Anfragen aus den

109 Vgl. Klöckner-Archiv/Europ. Gemeinschaften/Schuman-Plan/Bundeskanzleramt (künftig KA-EG/SP/B)/Juni-31.8. 1950: Ergebnis Sitzung Unterausschuß Eisen und Stahl v. 27.6. 1950. Zu den verschiedenen deutschen Schumanplan-Ausschüssen vgl. W. Bührer, Ruhrstahl und Europa. Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie und die Anfänge der europäischen Integra­tion 1945-1952, München 1986, S. 179-185.

110 Handelsblatt v. 28. 6. 1950: „Kostenangleichung - Kernproblem des Schumanplanes". Zum Preis­problem in den Schumanplanverhandlungen allgemein Richard T. Griffiths, The Schuman Plan Negotiations: The Economic Clauses, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden 1988, S.35-71, bes. S.47-51.

111 Dies ist dem Bericht des Leiters der deutschen Verhandlungsdelegation, Walter Hallstein, vom 27. 6. 1950 zu entnehmen. BA, NL Etzel/237: Aktennotiz betr. Ausführungen Prof. Hallstein.

112 So der deutsche Stahlsachverständige für die Pariser Verhandlungen, Max C. Müller, im Schuman-plan-Koordinierungsausschuß der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie am 14.7. 1950. KA-EG/SP/Wirtschaftsvereinigung (künftig WV)/1.7.-30.9.1950.

113 Vgl. ebenda: Vermerk Sitzung Unterausschuß Eisen und Stahl v. 24. 7. 1950.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 197

verschiedenen Delegationen Minimal- und Maximalpreise angekündigt, „zwischen denen sich die Preise zu halten hätten", ehe sie „schließlich auf einen einheitlichen Preis auspendeln würden". Grundsätzlich müsse „für gleiche Verwendung der glei­che Preis vorgesehen werden", wobei die rentabelsten Betriebe als Richtschnur die­nen sollten. Allerdings müsse eine „übertriebene Konkurrenz" vermieden werden114. Drei Wochen später, während einer Debatte zwischen Experten aus den sechs Dele­gationen über einzelne Artikel des Arbeitsdokumentes, betonten Hirsch und Uri vor allem die Kompetenzen der Hohen Behörde bei der Festlegung und Überwachung der Regeln für die Preisbildung. Nachdrücklich sprachen sich beide für eine Preis­stellung „ab jedem einzelnen Ort der Produktion" aus, da, so Uri, „allein dieses Prinzip die Gleichheit für alle Produzenten und zugleich die ökonomisch günstig­sten Bedingungen schaffe". Dieser Vorschlag stand zweifellos im Einklang mit dem vermeintlichen Standortvorteil der lothringischen Stahlindustrie, doch verzichteten die französischen Delegierten angesichts reservierter bis ablehnender Reaktionen fürs erste darauf, ihre Positionen mit größerem Nachdruck zu vertreten115.

Möglicherweise lag es an dieser zögernden Haltung der Franzosen, daß es Hall­stein und seinen Mitstreitern gelang, in Preisfragen die Initiative an sich zu reißen und den von allen Teilnehmerländern beschickten Unterausschuß Stahlpreise auf das von den deutschen Experten favorisierte Preisvorschlagsrecht für die regionalen Vereinigungen zu verpflichten. Im Kohlesektor stand eine Einigung über das einzu­haltende Verfahren allerdings noch aus. Während die Deutschen insistierten, daß die regionalen Vereinigungen lediglich Durchschnitts- bzw. Richtpreise für die charak­teristischen Kohlesorten vorschlagen sollten, wünschten die übrigen Delegationen von der Hohen Behörde genehmigte Preisstaffeln. Auch wenn endgültige Entschei­dungen noch ausstanden, schien die deutsche Seite allmählich die Oberhand gewon­nen zu haben116.

Das „Memorandum über die Tätigkeit der Hohen Behörde während des Anlauf­jahres", das Monnet seinen Kollegen am 10. August mit in die Verhandlungspause gab, löste deshalb in der deutschen Stahlindustrie Bestürzung aus117. Dieses Doku­ment enthielt nämlich für eine Übergangszeit die Forderung nach der „Einrichtung von Systemen, die die Aufhebung der Zölle und Kontingente .. . ermöglichen, die Schaffung von gleichen Preisen vorbehaltlich der Transportdifferenzen sicherstellen

114 Vgl. z.B. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (künftig: PA AA), N. A. Abt. 2, Sekr. Schuman-Plan, NL Schlochauer, Bd. 357: Niederschrift kleine Delegationssitzung v. 23.6. 1950.

115 Ebenda, Sekr. Schuman-Plan, Bd. 111, Bl. 33-35, 66-69. Kurzprotokolle Sitzung Ausschuß für Produktion, Preise und Investitionen v. 12. und 19.7.1950; die Zitate Bl. 33 und 34.

116 Vgl. ebenda, Bd. 65, Bl. 86-87: Vorschläge des Unterausschusses Stahlpreise, Ende Juli 1950; BA, NL Etzel/238: „Zusammenfassender Bericht über Preisfragen im Schuman-Plan". Es handelt sich dabei um eine als Grundlage für die Kabinettsberatungen am 23. 8. 1950 vorgelegte Ausarbeitung aus dem Bundeswirtschaftsministerium.

117 Das Memorandum findet sich u. a. in BA, NL Etzel/238. Es war offensichtlich zuvor einem Redak­tionskomitee vorgelegt worden, dem auch ein deutsches Delegationsmitglied angehörte: Informa­tionen über dessen Votum waren nicht auffindbar. Zur Reaktion in der deutschen Stahlindustrie vgl. KA-EG/SP/WV/1.7.-30.9. 1950: Wirtschaftsvereinigung an Henle und Sohl v. 15.8. 1950.

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und unvermittelte Produktionsverlagerungen vermeiden". Dazu wurde die Etablie­rung von zum Teil durch eine allgemeine Umlage in Höhe eines noch festzulegen­den Prozentsatzes des Gesamtwertes der Kohle- und Stahlproduktion finanzierten Ausgleichskassen vorgeschlagen. Diese sollten ausschließlich dem Zweck dienen, „in bestimmten Ländern den Kohle- und Stahlpreis heimischer Produktion zu senken, so daß die Hauptunterschiede zwischen den von zwei Ländern angewandten Prei­sen den Transportkosten entsprechen". Ferner sollte die Hohe Behörde „auf die Aufstellung eines Preisregimes in sämtlichen Teilnehmerländern achten, das den Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten garantiert und ihnen erlaubt, welches auch immer ihre geographische Lage ist, den Preis ab Werk nach der Preisstaffel des Produktionsgebietes ihrer Wahl zu erhalten. Dies erfordert insbesondere die Abschaffung der Praktiken doppelter Preise." Zwar billigte das Memorandum den regionalen Vereinigungen das Preisvorschlags recht zu, doch hatte dies vor dem Hin­tergrund der voranstehenden Vorschriften und der letztendlichen Preissetzungsbe-fugnis der Hohen Behörde eher ornamentalen Charakter. Im Falle „anormaler Pro­duktionsverlagerungen" konnte sie außerdem - nach Rücksprache mit den Regierungen und den Industrien - die Preistabellen korrigieren. Weiter wurde die Einrichtung eines „Anpassungsfonds" angeregt, der sich aus einer Sonderumlage auf die zusätzlichen Exporte eines Teilnehmerlandes in ein anderes - bezogen auf eine bestimmte Referenzperiode - speisen und für Rationalisierungs- und Modernisie­rungszwecke eingesetzt werden sollte. Schließlich hatte die Hohe Behörde „alle Informationen zu sammeln, die für den Vergleich der künstlichen Elemente nützlich sind, welche den Wettbewerb verfälschen könnten (Löhne, Steuern, Transporttarife usw.)", und gegebenenfalls Abhilfe zu schaffen.

Verglichen mit der Erklärung vom 9. Mai und dem „Document de Travail" war dieses französische Memorandum wesentlich offensiver. Anstelle der Forderung nach „gleichen Bedingungen" wurden nun, erstmals in einem offiziellen Dokument, „gleiche Preise" zum Ziel erhoben118. Und durch die konzentrierte Form des Memorandums erhielt die Hohe Behörde nahezu zwangsläufig „dirigistische" Züge. Daß der „Dirigismus" auf eine Übergangszeit begrenzt und einem fairen Wettbe­werb die Bahn erst ebnen sollte, vermochte die Empörung vor allem in westdeut­schen Industriekreisen kaum zu dämpfen. Einheitliche Preise verhinderten aus deren Sicht geradezu einen solchen Wettbewerb, in dem man sich im Vertrauen auf die größere Dynamik der eigenen Wirtschaft und die günstigere Kostensituation gute Chancen ausrechnete. Und in der Tat waren Implikationen und Auswirkungen des französischen Vorschlags durchaus geeignet, diese Befürchtungen zu rechtferti-

118 Vgl. dazu PA AA, N.A. Abt. 2, Sekr. Schuman-Plan, Bd. 30, B. 4-18: Studie zum Preisproblem im Schuman-Plan v. 18. 9. 1950; Verf. war Dr. Michaelis vom BMWi.

119 Vgl. zum folgenden ebenda; Industriekurier v. 4.9.1950: „Paris vor ernsten Entscheidungen"; BA, NL Etzel/236: Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie an M.C.Müller v. 16.9. 1950; Griffiths, Schuman Plan Negotiations.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 199

Der Grundsatz einheitlicher Preise in Verbindung mit dem Festpreisprinzip und dem Verbot des Eintritts in fremde Frachtbasen hätte nämlich die durch Standorte und Frachten bedingte Entstehung natürlicher Absatzräume zur Folge gehabt, an deren Grenzen die Francopreise für die einzelnen Kohlen- bzw. Stahlsorten iden­tisch gewesen wären. Eine solche Regelung hätte die gegenseitige Abschottung der Reviere begünstigt, Ruhrstahl beispielsweise wäre in Lothringen durch die höheren Frachtkosten verteuert worden und damit unter „normalen" Verhältnissen nicht mehr konkurrenzfähig gewesen. Hinzu kam, daß einheitliche Ab-Werk-Preise mit Hilfe eines Preisausgleichsmechanismus' erst noch fixiert werden mußten, und zwar, so der französische Vorschlag, durch eine Nivellierung der Preise auf der Höhe der Selbstkosten eines „mittleren" Betriebs. Diejenigen Zechen und Stahlwerke, die zu niedrigeren Preisen verkaufen konnten - sei es aufgrund geringerer Selbstkosten, sei es, weil sie unter den Selbstkosten anboten - , hätten somit ihren Vorsprung verloren und wären gezwungen gewesen, die Differenz in eine Preisausgleichskasse abzufüh­ren, aus der die teurer produzierenden Unternehmen subventioniert worden wären. Nutznießer dieser Regelung wären, eingedenk der Lage in der westeuropäischen Montanindustrie Mitte 1950, vor allem Frankreich und Belgien gewesen, während der Bundesrepublik die Rolle des „Zahlmeisters" zugefallen wäre.

Angesichts dieser Konstellation dürfte die Frage nach den Motiven für den fran­zösischen Schwenk von den „gleichen Bedingungen" zu „gleichen Preisen" unschwer zu beantworten sein: Der mit der Beseitigung von Zöllen und Kontingen­ten drohende Einbruch der Ruhrindustrie in den französischen Markt mußte zumindest solange verhindert werden, bis die „künstlichen" Vorteile der deutschen Konkurrenten eingeebnet waren und die „natürlichen" Vorteile der heimischen Stahlindustrie nach dem Wegfall der Doppelpreise und diskriminierender Frachten voll zum Tragen kamen. Der Wettbewerb sollte also während einer Übergangszeit auf solche Bereiche wie Qualität, Sortiment, Lieferfristen etc. beschränkt bleiben -in der Erwartung, daß danach Rohstoffkosten, Produktivität, Löhne, Sozialkosten und Produktionssteuern soweit harmonisiert waren, daß die französische Stahlindu­strie unter den Bedingungen einer „concurrence loyale" bestehen konnte.

Die deutsche Delegation reagierte auf das Memorandum vom 10. August, anders als die betroffenen Industriekreise und Teile der Wirtschaftspresse, mit erstaunlicher Gelassenheit. Eine Kabinettsdirektive für die weitere Verhandlungsführung bekräf­tigte die deutschen Ansichten über die „fortschreitende Entwicklung eines gesunden Wettbewerbs"120. Von Einheitspreisen war darin nicht die Rede, vielmehr wurden die bekannten Positionen zu den entsprechenden Kompetenzen der regionalen Ver­einigungen bekräftigt. Festpreise lehnte die Direktive - im Gegensatz zur Stahlindu­strie - ab, „um einen Wettbewerbsspielraum zu sichern". Preisregelungen sollten generell „Höchstpreischarakter" haben. Die französische Forderung nach Abschaf-

120 BA, NL Etzel/238: „Direktiven des Kabinetts an die deutsche Delegation in Paris zur weiteren Ver­handlungsführung für den Schuman-Plan", undatiert (Entwurf v. 26. 8. 1950). Zu den Kabinetts­beratungen vgl. Kabinettsprotokolle Bd. 2, 1950, Boppard am Rhein 1984, S. 629-632.

200 Constantin Goschler, Christoph Buckheim, Werner Bührer

fung des Doppelpreissystems wurde akzeptiert. Um die heftig bekämpfte Errichtung von Preisausgleichskassen umgehen zu können, enthielt die Instruktion einen Kom­promißvorschlag: Dem belgischen Kohlenbergbau und der italienischen Stahlindu­strie sollte ein „vorübergehender Gebietsschutz" eingeräumt werden, und zwar in Form einer zentralen Kohlenein- und -Verkaufsstelle bzw. durch die Kontingentie­rung der Stahleinfuhr. Auffallend war die vorgesehene stärkere Einschaltung der einzelnen Regierungen bei Preiserhöhungen und bei der Überwachung der getroffe­nen Regelungen - auf Kosten der Kompetenzen der Hohen Behörde. Konsequen­terweise sollten ihr auch jegliche Befugnisse zur verbindlichen Regelung der Lohn-und Sozialpolitik vorenthalten bleiben. Alles in allem war die Direktive geprägt von dem Bestreben, einseitige Belastungen der Bundesrepublik zu vermeiden und die Hohe Behörde auf diejenigen Prinzipien zu verpflichten, die der deutschen Mon­tanindustrie Vorteile versprachen: Orientierung von Produktion und Preisbildung am Prinzip minimaler Kosten, Unterbindung sämtlicher Diskriminierungen, Abbau künstlicher Faktoren, die die „normalen Bedingungen der Konkurrenz wesentlich verfälschen" könnten. Daß dies auch die eigentlichen französischen Ziele waren, konnte Hallstein und seinen Mitarbeitern nur recht sein.

Als am 31. August die Pariser Verhandlungen fortgesetzt wurden, rückte das Preisproblem, bei den geschilderten Gegensätzen kaum verwunderlich, ins Zentrum der Diskussion, und die von verschiedenen Seiten konstatierte „Verhärtung" der deutschen Position121 war auch in diesen Debatten zu spüren. Während die Deut­schen versuchten, ihre Vorstellungen zur allgemeinen Arbeitsgrundlage zu machen122, verteidigte die französische Delegation ihr Angleichungskonzept. Umstritten waren vor allem der Zeitpunkt der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und der Grundsatz, die jeweils niedrigsten Kosten und Preise zu ermögli­chen, und zwar, worauf die Deutschen besonderen Wert legten, bereits während der Übergangszeit. „Billige Preise für die Versorgung des Gesamtgebiets", so umriß das Delegationsmitglied Walter Bauer die deutsche Position, seien „wichtiger als rasche Einführung des einheitlichen Marktes." Demgegenüber stellte Etienne Hirsch für die französische Delegation kategorisch fest: „Wenn keine Preiserhöhung in Deutschland möglich sei, gebe es keine Lösung des Problems."123 Da beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharrten, kamen die Verhandlungen zunächst nicht voran. Anzeichen von Kompromißbereitschaft waren erst zu erkennen, als die französische Delegation einen Preisausgleich vorschlug, dessen Kosten je zur Hälfte von Frank­reich und der Bundesrepublik aufgebracht werden sollten. Für die deutsche Stahl­industrie hätte dieses Verfahren nach Berechnungen der Wirtschaftsvereinigung immerhin einen Mehraufwand von rd. 275 Mio. DM pro Jahr bedeutet124. Diese

121 Vgl. Monnet, Erinnerungen, S. 435. 122 Vgl. BA, NL Etzel/237: „Bemerkungen zur Frage der Preise". Es handelte sich dabei um ein offi­

zielles Papier der deutschen Delegation. 123 KA-EG/SP/B/1.9.-31.10. 1950: Kurzprotokoll Sitzung Comité restreint v. 4. 9. 1950. 124 Handakten Salewski (HAS): Vermerk Vorstandssitzung Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahl­

industrie v. 30.9.1950.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 201

Summe und der befürchtete Schematismus bei der Angleichung forderten erwar­tungsgemäß die Kritik des Verbandes heraus. Die von Schuman anvisierte „techni­sche Vervollkommnung" der Gruben und Werke, so der Appell der Wirtschaftsver­einigung, werde „nicht durch Subventionswirtschaft, sondern allein durch den in einem gesunden Wettbewerb liegenden Zwang herbeigeführt, jeweils mit der Kon­kurrenz mitzukommen"125. Dies war zwar auch die Auffassung Monnets, nur wollte er den notwendigen Anpassungsprozeß für die heimische Stahlindustrie durch die vorübergehende Etablierung eines Preisausgleichssystems abfedern. Eine spürbare Entspannung stellte sich in diesem Konflikt erst Mitte Oktober 1950 ein. Zwar war das Thema „Preisausgleich" noch nicht erledigt, doch hatte es infolge des Korea­booms an Bedeutung verloren, weil die gesteigerte Nachfrage auch „teureren" Anbietern Absatzmöglichkeiten eröffnete.

In einer Stellungnahme vom 13. Oktober stimmte der Geschäftsführer der Wirt­schaftsvereinigung, Karl Blankenagel, geradezu versöhnliche Töne an. Angesichts einer Situation, in der die deutsche Stahlindustrie „über ganz Frankreich hinweg erfolgreich" konkurrieren könne, während umgekehrt lediglich bestimmte Band-und Formstahlprodukte in Süddeutschland konkurrenzfähig seien, müsse man „Ver­ständnis dafür haben, daß ein solches Ergebnis einer Montanunion von keiner fran­zösischen Regierung" vertreten werden könne126. Er konzedierte auch, daß eine Angleichung der Preise auf längere Sicht angestrebt werden müsse, verneinte aber jeglichen Zwang zu Sofortlösungen. Dank der günstigen Umstände sei es doch eher so, „daß die befürchteten Konkurrenzverhältnisse vorläufig nicht praktisch werden können, weil jedes der beteiligten Länder einen höheren Inlandsbedarf aufweist .. . und weil jede darüber hinaus verfügbare Menge Material im Export außerhalb der vorgesehenen Union um soviel günstiger verkauft werden kann, daß keiner der Partner Interesse daran hat, seinen Absatz im Unionsraum zu forcieren". Offen­sichtlich beeinflußte die Entwicklung auf dem Stahlmarkt auch die französische Haltung, denn mit ihrem Memorandum über Preisfragen vom 23. Oktober 1950 näherten sich Monnet und seine Experten der Argumentation ihrer deutschen Gegenspieler - und damit der eigenen Ausgangsposition im „Document de Tra-vail" - doch weitgehend an127: Vom Prinzip niedrigster Preise war darin wieder die Rede, von Preisdifferenzierungen „je nach den verkauften Mengen oder der Treue der Käufer in Verbindung mit Unterschieden in den Produktionskosten oder den Verkaufskosten" und von der Möglichkeit, „daß unter gewissen Bedingungen ein Teil der Produktion zu einem ermäßigten Preis abgesetzt wird, vorausgesetzt, daß dieser alle verhältnismäßigen Kosten deckt und sich daraus keine Erhöhung für

125 KA-EG/SP/WV/1.7.-30.9. 1950: Wirtschaftsvereinigung an M.C. Müller v. 16.9. 1950. 126 KA-EG/SP/WV/1.10.-31.12. 1950: Ausarbeitung betr. Preisangleichung in einer Montanunion;

dort auch die folgenden Zitate. 127 PA AA, N. A. Abt. 2, Sekr. Schuman-Plan, Bd. 63, Bl. 64-71: Memorandum sur les prix et les que-

stions connexes, 23. 10. 1950; eine deutsche Übersetzung findet sich ebenda, Bd. 77, Bl. 136-146, dort auch die folgenden Zitate. Zur Einigung in Preisfragen vgl. auch HAS: Vermerk Vorstandssit­zung Wirtschaftsvereinigung v. 11. 12. 1950; Griffiths, Schuman Plan Negotiations, S. 49-51.

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andere Käufer des gleichen Unternehmens ergibt". Selbst der Frachtbasis-Preis als zulässige Alternative zum Ab-Werk-Preis wurde akzeptiert, da nach französischer Auffassung beide Berechnungsarten in der Praxis zu ähnlichen Ergebnissen führten.

Unter „normalen" Bedingungen sollte die Preisbildung also dem freien Wettbe­werb überlassen bleiben, lediglich für Krisenzeiten waren der Hohen Behörde Ein­griffsrechte vorbehalten, freilich unter Beachtung des Niedrigpreis-Prinzips. Wenn­gleich nicht auszuschließen war, daß in solchen Fällen auch Preisausgleichsmaßnah­men in Frage kamen, waren Ausgleichskassen als mittelfristige Einrichtungen damit vom Tisch. Auf dem Gebiet der Kohle blieb eine Ausgleichsregelung - in Form einer sogenannten Sterbekasse - zugunsten Belgiens und zu Lasten der Bundesrepublik zwar bestehen, doch erschien dieses „Opfer" angemessen, konnte der Ruhrbergbau doch hoffen, die in Belgien stillzulegende Kapazität von ca. 5 Mio. Tonnen zu über­nehmen. Nachdem die Vertreter der Bundesrepublik, Belgiens und der Niederlande bereits früher eine Angleichung der Löhne und Sozialkosten abgelehnt und der Hohen Behörde entsprechende Kompetenzen verweigert hatten128, gab die französi­sche Delegation mit ihrem Verzicht auf den Stahl-Preisausgleich ein weiteres, aller­dings ohnehin nur kurzfristig einsetzbares Instrument zur Zähmung der deutschen Konkurrenz aus der Hand. Daß sich die französische Montanindustrie nun doch ohne flankierenden Preisausgleich auf den freien Wettbewerb einstellen mußte, dürfte zumindest Monnet nicht allzu sehr geschreckt haben, erhoffte er sich doch, bei eigenen Standortvorteilen, von einer „concurrence loyale" jene Rationali-sierungs- und Modernisierungsimpulse, die die Konkurrenzfähigkeit der französi­schen Industrie auf lange Sicht sichern und ihre Unterlegenheitsgefühle abbauen helfen sollten129. Immerhin war mit der Abschaffung der Doppelpreise ein wichti­ger Schritt in Richtung auf eine Angleichung der Selbstkosten getan, so daß die Bilanz der Preisverhandlungen auch aus französischer Sicht keineswegs negativ war130.

Schon aus innenpolitischen Gründen wollte jedoch auch Monnet nicht auf eine möglichst effektive Kontrolle der Ruhrindustrie verzichten. Da rein wirtschaftliche Mittel nicht als ausreichend erschienen, bot sich der Einbau bestimmter politisch­administrativer Sicherungen - durch eine entsprechende Erweiterung der Kompe­tenzen der Hohen Behörde - an. Deren Vollmachten waren allen betroffenen Montanindustrien von Anfang an suspekt erschienen. Insbesondere die Ruhrindu­strie, hierin unterstützt von der Bundesregierung und der deutschen Delegation, war deshalb bestrebt, die regionalen Vereinigungen als Gegenpol aufzubauen131. Daß damit auch Überlegungen einhergingen, tradierte Kartellpraktiken unter neuem

128 Vgl. BA, NL Etzel/238: Kurzprotokoll über die Besprechung der Réunion Restreinte am 12.9. 1950 betr. Zuständigkeit der Hohen Behörde in Sozialfragen.

129 Diese Überlegung schon in seinem Memorandum v. 3. 5. 1950, abgedruckt in Ziebura, Beziehun­gen, S. 195-200; vgl. auch V. Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1985, S. 112-152.

130 Vgl. zur Bedeutung des Doppelpreissystems für Frankreich Milward, Reconstruction, S. 378 f. 131 Vgl. dazu Bührer, Ruhrstahl, S. 199-203.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 203

Namen Wiederaufleben zu lassen, kann als sicher gelten. Als die französische Dele­gation Anfang Oktober überraschend vorschlug, auf die regionalen Vereinigungen zugunsten eines direkten Verkehrs der Hohen Behörde mit den einzelnen Unter­nehmen zu verzichten132, begründete sie ihren Schritt prompt mit dem Hinweis auf die Kartellgefahr und konnte so amerikanischer Unterstützung gewiß sein. Die Empörung in der Ruhrindustrie war erwartungsgemäß groß, doch schien das Kar­tellargument seine Wirkung auch auf die deutsche Delegation nicht verfehlt zu haben. Einschlägige Vereinbarungen zwischen den Delegationsführern Mitte Okto­ber ließen bereits erkennen, daß die regionalen Vereinigungen kaum über den Status von „Filialen" der Hohen Behörde hinausgelangen würden133. Die Wirtschaftsverei­nigung plädierte, wie nicht anders zu erwarten, für die Beibehaltung der ursprüng­lich geplanten Kompetenzverteilung und pries die regionalen Vereinigungen als unentbehrlich „zur Erreichung einer gesunden Dezentralisierung" und zur Verhin­derung „einer Art Superkartell an der Spitze der ganzen Organisation"134. Trotz dieser und weiterer Interventionen waren die regionalen Vereinigungen indes nicht zu retten. An ihre Stelle traten „Associations" auf freiwilliger Grundlage und mit beratendem Charakter.

Mit der Ausschaltung der regionalen Vereinigungen hatte die französische Dele­gation nach dem Verbot der Doppelpreise innerhalb des Unionsgebietes einen wei­teren wichtigen Erfolg errungen, den sie überdies noch wettbewerbspolitisch legiti­mieren konnte: Die Unternehmen sollten daran gehindert werden, private Abspra­chen auf Kosten der Verbraucher zu treffen. Auch wenn dieser Vorstoß nicht allein auf die Ruhrindustrie gemünzt war, zählte sie zweifellos zu den Hauptadressaten. Ihre Versuche, das Kartellargument nun gegen die Hohe Behörde zu wenden - Hans-Günther Sohl von der August-Thyssen-Hütte sprach in diesem Zusammen­hang von einer „Art von Reichsvereinigung Eisen auf europäischer Ebene"135 - , ver­fehlten jedoch die erhoffte Wirkung. Es war freilich nicht bloß die Eliminierung besonders geschätzter Institutionen, die auf Kritik stieß, sondern mehr noch der damit verbundene Kompetenzzuwachs der Hohen Behörde. Tatsächlich waren, ver­glichen mit dem „Document de Travail", die Vollmachten der Hohen Behörde vor allem auf französische Initiative hin präzisiert und ausgeweitet worden. Neu waren insbesondere die Eingriffsrechte im Krisenfall, speziell das Recht zur Festsetzung von Produktionsquoten, und die Befugnisse zur Verhinderung von Kartellen und Fusionen136. Die Behandlung des zweiten Komplexes wurde noch dadurch erschwert, daß die drei Westalliierten etwa gleichzeitig die Neuordnung der west­deutschen Montanindustrie auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 27 in Angriff nah-

132 Vgl. KA-EG/SP/WV/1.10.-31.12. 1950: Wirtschaftsvereinigung an Henle v. 9. 10. 1950. 133 Ebenda: Aktennotiz v. 17.10.1950, Verf. vermutlich der Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsverei-

nigung, Ahrens. 134 Ebenda: Wirtschaftsvereinigung an Hallstein v. 28.11.1950. 135 HStA Düsseldorf N W 53, 810, Bl. 131 -141 : Aufzeichnung über eine Unterredung v. 5. 4. 1951. 136 Vgl. KA-EG/SP/WV/1.10.-31.12. 1950: Ausarbeitung betr. Montanunion v. 17.11. 1950.

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men137. Aus französischer Sicht war dieses zeitliche Zusammentreffen indessen von Vorteil; kam man in Paris nicht voran, blieb immer noch der Weg über die Alliierte Hohe Kommission.

In einem Memorandum vom 6. Dezember 1950 erläuterte die französische Dele­gation ihre Haltung in der Frage der Kartelle und Unternehmenskonzentrationen138. Daß es ihr dabei vorrangig um die Kontrolle bzw. das Verbot vertikaler Konzentra­tion zu tun war, war nicht zu übersehen. Zwar sollten auch horizontale Zusammen­schlüsse untersagt sein, doch nur im Falle der Marktbeherrschung oder der Beschränkung der Konkurrenz. Gravierende Wettbewerbsverzerrungen seien jedoch dann zu befürchten, „wenn ein Unternehmen gleichzeitig sein eigener Lieferant und in einem bedeutenden Umfang der Lieferant anderer Verbraucher, vor allem seiner Konkurrenten ist. Das typische Beispiel hierfür ist unter der gleichen Kontrolle die Vereinigung der Herstellung von Kohle und Stahl." Genau dies traf im Falle der an Rhein und Ruhr praktizierten Verbundwirtschaft zu. Entstanden aus einer zunächst eher technisch motivierten Verbindung von Zeche und Hüttenwerk, war der Ver­bund auch unter Kosten- und Wettbewerbsgesichtspunkten von Bedeutung. Viele Stahlwerke gingen deshalb dazu über, diesen Verbund durch Beteiligungen abzusi­chern. Weit über 50 Prozent der deutschen Kohlenförderung waren auf diesem Weg in den Besitz der Hüttenwerke gelangt139. Während jedoch die Ruhrindustriellen diesen „eigentumsmäßigen" Verbund als „naturgegeben" ansahen, stellte er für die Konkurrenten eine „künstliche" Wettbewerbsverzerrung dar - nicht ganz zu Unrecht, war doch, worauf von amerikanischer Seite hingewiesen wurde, „das Ziel der engen Verbindung zwischen Kohle und Eisen . . . in gleicher Weise durch Liefe-rungsverträge erreichbar"140.

Es war deshalb nur konsequent, wenn Monnet und seine Mitarbeiter den Zechen­besitz der deutschen Stahlunternehmen attackierten141. Gegenüber dem amerikani­schen Botschafter in Paris machte Monnet deutlich, daß aus seiner Sicht die Ver­bundwirtschaft mit der zentralen Prämisse des Schumanplans - Märkte und Res­sourcen sollten jedem Hersteller ohne Diskriminierung und zu Bedingungen zu­gänglich sein, die den leistungsfähigsten Produzenten den größtmöglichen Vorteil ga­rantierten - unvereinbar war, wenn die Ruhrindustrie dadurch in die Lage versetzt wurde, allein aufgrund ihres privilegierten Zugangs zur Kokskohle, auf Kosten ihrer

137 Vgl. die Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bericht der Stahltreuhändervereinigung, München und Berlin 1954; Berghahn, Unternehmer, S. 144 ff.; Gillingham, Ruhrpolitik, bes. S. 19 ff.; neuerdings auch Klaus Schwabe, „Ein Akt kon­struktiver Staatskunst" - die USA und die Anfänge des Schuman-Plans, in: ders. (Hrsg.), Anfänge, S. 211-239, bes. S.228-238.

138 KA-EG/SP/Korrespondenz I -Z: Memorandum der französischen Schumanplan-Delegation (als Anlage zu einem Schreiben des Klöckner-Direktors Schröder an Henle v. 29. 12. 1950).

139 Vgl. Henle, Schumanplan, S.6-10. 140 KA-EG/SP/Korrespondenz A - H : Henle an McCloy v. 20. 12. 1950. Der Hinweis stammte von

dem Kartellexperten Robert Bowie. 141 Vgl. dazu Milward, Reconstruction, S. 379 f.

Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik 205

Konkurrenten zu expandieren und ihre frühere künstliche Hegemonie in Europa zurückzugewinnen'42. Hinweise auf eine entsprechende französische Praxis im Verhält­nis Stahl-Erz nutzten den deutschen Stahlindustriellen nichts, am Ende mußten sie -nicht zuletzt auf Druck der Amerikaner - einer Regelung zustimmen, die eine höchstens 75prozentige Bedarfsdeckung an Kokskohle aus der Förderung eigener Zechen zu­ließ; diese Menge entsprach etwa 15 Prozent der deutschen Gesamtförderung143.

Der Vertrag über die Bildung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl", der am 18. April 1951 unterzeichnet wurde, stimmte mit den ursprünglichen Intentionen Monnets weitgehend überein. Wichtige Ziele waren erreicht worden, allen voran die Abschaffung des Doppelpreissystems sowie nennenswerte Ein­schnitte in die Verbundwirtschaft, die nach französischer Auffassung zu den „diskri­minierenden" Praktiken zählte. Die Bewertung, welche die verantwortlichen fran­zösischen Politiker und Fachleute anläßlich der parlamentarischen Beratungen Ende 1951 vornahmen, fiel entsprechend positiv, allerdings merklich differenzierter als zu Beginn der Verhandlungen aus. Die generelle Argumentationslinie hatte das Com-missariat Général du Plan bereits im Dezember 1950 mit seinem Bericht über die Auswirkungen des Schumanplans auf die französische Wirtschaft vorgegeben. Sowohl bei der Kohle als auch beim Stahl, so der Tenor, werde sich die eigene Situation entscheidend verbessern: Die Versorgung mit Ruhrkohle sei gesichert und überdies billiger, der heimische Bergbau werde durch Rationalisierungsmaßnahmen seine Kosten stetig senken können, und für die Umsetzung von Arbeitskräften infolge von Produktionsverlagerungen stünden finanzielle Hilfen zur Verfügung. Die lothringische Stahlindustrie werde von ihren günstigen Selbstkosten und der Abschaffung von Doppelpreisen und diskriminierenden Frachten profitieren. Aller­dings müsse sie sich bemühen, die Produktionskosten weiter zu senken, um auf Dauer erfolgreich konkurrieren zu können144.

In den Beratungen des außenpolitischen Ausschusses der Nationalversammlung im November und Dezember 1951 zogen Schuman, Monnet und andere Mitglieder seines Teams, unbeirrt von der heftigen Kritik aus dem Lager der Opposition, eben­falls eine optimistische Bilanz. Insbesondere Monnet bekräftigte erneut die These vom Selbstkostenvorsprung: Die lothringische Industrie habe „alles, was sie braucht, alle natürlichen und schier unerschöpflichen Grundstoffe, um eine außergewöhnlich zukunftsträchtige Stahlindustrie zu sein". Freilich vergaß er nicht, die dafür erfor­derlichen Voraussetzungen hinzuzufügen: Die Koksversorgung müsse gewährleistet sein, die Produktion dürfe nicht gebremst werden, und es dürfe keine Behinderun­gen durch Kartelle und Absprachen geben. Der Schumanplan, so Monnets Über­zeugung, stellte das Instrumentarium bereit, um diese Bedingungen zu schaffen und

142 Vgl. FRUS 1951, IV, S. 93-96; Isabel Warner, Allied-German Negotiations on the Deconcentra-tion of the West German Steel Industry, unveröff. Manuskript März 1987.

143 Vgl. Neuordnung, S. 189-191; Gillingham, Ruhrpolitik, S.21. 144 AN, 81 AJ 136: Présidence du Conseil, Effets du Plan Schuman pour la France, 9. 12. 1950, das

Zitat auf S. 31 (Übersetzung d. Verf.).

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zu erhalten. Lediglich die Moselkanalisierung, die er als weiteren Faktor erwähnte, fiel aus diesem Rahmen. Kein Zweifel, Monnet glaubte an den Erfolg seines Pro­jekts : Auf den Vorwurf eines kommunistischen Abgeordneten, der Schumanplan sei ein Plan der Selbstpreisgabe, erwiderte Monnet, der Plan sei im Gegenteil ein „Be­weis des Mutes und des Vertrauens in uns selbst". Und Uri unterstrich, daß zum er­sten Mal die natürlichen Vor- und Nachteile zur Geltung kämen und das „Spiel" nicht länger von vornherein zugunsten der deutschen Stahlindustrie entschieden sei145.

Bewies die Garde der Skeptiker und Kritiker des Schumanplans, die es ja bekanntlich gab und die von der Stahlindustrie über das Parlament bis in die Regie­rung reichte146, etwa mehr Realitätssinn? Wie es scheint, speiste sich diese Opposi­tion weniger aus Gewinn- und Verlustrechnungen und nüchternen Prognosen, son­dern war eher Ausdruck jener reflexartigen Inferioritätsgefühle, die zu bekämpfen Monnet gerade angetreten war, und eines traditionellen „Antigermanismus". Mon­net und sein Team hingegen vertrauten auf den vermeintlichen Standortvorteil der lothringischen Industrie, wenn nur die künstlichen Vorteile der deutschen Konkur­renz beseitigt waren. Diesem Ziel diente ihre Verhandlungsführung, und am Ende waren die anvisierten „gleichen Bedingungen" auch weitgehend hergestellt.

Obwohl der Glaube an die „natürlichen" Vorteile also kein Zweckoptimismus war, fielen die maßgeblichen Kräfte in der französischen Regierung in gewisser Weise ihrer eigenen Rhetorik zum Opfer. Wie sich bald zeigen sollte, war das mit der Montanunion realisierte Modell einer „concurrence loyale" nämlich nicht geeig­net, das ausgeglichene Kräfteverhältnis zwischen deutscher und französischer Stahl­industrie, das Ende der vierziger Jahre existiert hatte, zu stabilisieren. Dazu hätte es auch einer ähnlich günstigen räumlichen Verteilung von Eisen schaffender und ver­arbeitender Industrie bedurft. Monnet und seine Berater halfen mithin einen euro­päischen Wettbewerbsmechanismus zu installieren, den der stärkste Konkurrent am besten zu nutzen wußte. Zwar profitierte auch die französische Stahlindustrie von dem Stahlboom der fünfziger und sechziger Jahre - das ursprüngliche Ziel, den Produktionsschwerpunkt vom Ruhrgebiet nach Lothringen zu verlagern und eine erneute deutsche Dominanz zu verhindern, war jedoch gründlich verfehlt worden147. Auch wenn offenbleiben muß, ob diese französische Absicht auf anderem Wege hätte realisiert werden können - der Schumanplan war dafür jedenfalls ungeeignet.

145 Assemblée nationale, Commission des Affaires Etrangères, 28. 11. 1951; die Zitate S.32, 33 u. 34 (Übersetzung d. Verf.).

146 Vgl. Griffiths, Schuman Plan Negotiations, bes. S. 70; Annie Lacroix-Riz, Paris et Washington au debut du Plan Schuman (1950-1951) und Philippe Mioche, La patronat de la sidérurgie francaise et le Plan Schuman en 1950-1952: les apparences d'un combat et la réalité d'une mutation, beide in: Schwabe (Hrsg.), Anfänge, S.241-268 u. 305-318.

147 Auf diese „Gefahr" hatte übrigens, unter Berufung auf stahlindustrielle Kreise Frankreichs, das Handelsblatt bereits kurz nach der Schuman-Erklärung hingewiesen: „Es war und bleibt das Ziel der französischen Stahlindustrie, das Schwergewicht der europäischen Großindustrie von der Ruhr nach Lothringen zu verlagern. Sie fragt sich nun, ob der Plan Schumans nicht die Erreichung dieses Zieles im letzten Augenblick vereitelt." Handelsblatt v. 20. 5. 1950: „Mißtrauen gegen die Montan­union".