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86 hitschrift fur atigewandte Matheniatik tind Mechanik Band 4 Felix Klein. Zu seinem 75. Geburtstag am 25. April 1924. enn die deutschen Gelehrtep der letzten Jahrzehnte nach Klopstocks altem, phantastischem Plan sich zur DGelehrten-Republike zusammengeschlossen hBtten, W sicherlich wtire Felix Klein zu einem der >Aldermannew gewhhlt worden: vor- geschlagen von der Zunft der Mathematiker hatte er die begeisterte Zustimmung der iibrigen gefunden, vor allem bei der Zunft der Naturforscher und bei jenen, die man heute Ingenfeure nennt, die micht abhandeln, auch nicht beschreiben nach Art der Abhandlung, sondern harvorbringen und darstellena. Zwei Eigenschaften sind 88, welche die reprgsentative Erscheinung Kleins kennzeiohnen und die man an die Spitze jeder Betrachtung stellen mud, die einen Einblick in das ungewiihnliche Wesen dieses Mannes vermitteln 8011. Einmal die, daD fur ihn niemals die Grenzen seines Faches auoh die Orenren seines Qesichtskreises waren; daS er es verstanden hat, als Mathematiker einen Standpunkt zu gewinnen, der iiber das Gebiet der Mathematik hinans weite Bereiche von Wissenschaft und Leben riehtig zu iiberschauen gestattete. Und damit in Zusammenhaug : da4 von der im heutigep Wissenschaftabetrieb schon zur Regel gewordenen Inkongruenz zwischen Leistung und Pers8nlichkeit bier nie die Rede sein konnte; in vollem Einklang sehen wir Wert nnd Wiirde des von ihm geschaffenen Werkes mit dem Wert und der Bedeutung des Menschen, der dahinter steht. Eine auch nur einigermaden vollstandige Darstellung dessen, was Klein i n d e r Mathematik geleistet hat, kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Soweit dies iiberhaupt ohne Voraussetzung genauer Fachkenntnisse geschehen kann, ist es in dem Klein-Heft der .Naturwissenschattena, das aus Anlad deN siebzigeten Geburtstages vor fiinf Jahren erechienen ist, versuoht worden. Rier miissen nun einige wenige An- deutungen genitgen. Der junge Student zu Ende der Sechziger-Jahre wurde znnBchst von geometrischen Ioteressen in Anspruch genommen. Urn jene Zeit war der Aufgaben- kreis der Oeometrie, die erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wieder in den Vordergrund der mathematischen Bertrebungen getreten war, durch die Arbetten von Clebsch, Cayley, Cremona u. a., vor allem auch durch die geistvollen Entdeckangen Pliickers, dessen Assistent Klein 1866 wurde, in hohem Ma4e erweitert worden. Eine ganze Fiille neuer geometrischer Theorien thuchte auf, und nnter ihnen ward namentlich die sog. Liuiengeometrie, in der an Stelle des Puuktes die gerade Linie ale Raumelement angesehen wird, das bevorzugte und mit gr8Dtem Erlolg ausgestaltete Arbeitsgebiet Kleins. Zu tiefer liegenden Forschungen fuhrten ihn die eben erst zur Entwicklung kommenden Qedanken der Nichteuklidischen Geometrie, d. h. derjenigen geometrischen Untersuchungeu, in denen man die Voraussetzungen iiber das durch die unmittelbare Raumanschauung gebotene Ma8 hinaus wesentlioh erweitert. Ein dritter, uberaus frnchtbarer Ideenkreis, die Anwendung des Begriffes der inflnitesimalen Trans- formationen, stammte von dem Norweger L i e , mit dem sich K l e i n 1870 zu gemeinsamer Arbeit verband. Als Klein kaum dreinndrwsnzigjahrig die ordentliche Professur der Mathematik in Erlangen iibernahm, hatte er bereits in mehr ale zwanzig wertvollen Ab- handlungen die eben genannten geometrischen Gebiete nach allen Seiten durchforscht, sie in fruchtbarster Weise mit einander in Verbindung gebracht und eine solche Menge neuer Fragestellungen aufgedeckt, daD noch mehrere Jahrzehnte aus dieeen Arbeiten ihre Anregungen schijpfen konnten. Aber alle diese Einzelleistungen werden in Schatten gestellt durch die Bedeutung der unter dem Nameu des )>Erlanger-Programms u bekannten Antrittsrede von 1872a), in der es Klein in genialem Wurf gelang, alle scheinbar so weit auseinander liegenden geometrischen Theorien unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen, ein klares, iibersiohtliches und durchgreifendes Einteilungs- prinzip fiir die Geometrie in dem Begriff der Transformationsgruppe zu finden nnd damit ein fiir allemal den Rahmen zu schalfen, in den sich zwanglos jede denkbare geometrische Problemstellung einfiigen 1Bflt. Die Tragweite des Erlanger Programms wird vielleicht l) Die Naturwissenschaften, Ed. 7, Heft 17 (Berlin, J. Springer). a) Verglelchende Betrachtungen ilber neuere geometrische Forschungen, Erlangen 1872. Wieder- abgedruokt in Mathem. Annalen 43, 1893 und iu Bd. I von F e l i x K l e i n , Gesammelte mathem. Abhaudl., Berlin 1921 bls 23. Vergl. auch W. Blaschke, dlese Zeltschr. 1, 1921, 332-334.

Zu seinem 75. Geburtstag am 25. April 1924

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86 hitschrift fur atigewandte Matheniatik tind Mechanik Band 4

Felix Klein. Zu seinem 75. Geburtstag am 25. April 1924.

enn die deutschen Gelehrtep der letzten Jahrzehnte nach Klopstocks altem, phantastischem Plan sich zur DGelehrten-Republike zusammengeschlossen hBtten, W sicherlich wtire F e l i x Klein zu einem der >Aldermannew gewhhlt worden: vor-

geschlagen von der Zunft der Mathematiker hatte er die begeisterte Zustimmung der iibrigen gefunden, vor allem bei der Zunft der Naturforscher und bei jenen, die man heute Ingenfeure nennt, die micht abhandeln, auch nicht beschreiben nach Art der Abhandlung, sondern harvorbringen und darstellena. Zwei Eigenschaften sind 88, welche die reprgsentative Erscheinung Kle ins kennzeiohnen und die man an die Spitze jeder Betrachtung stellen mud, die einen Einblick in das ungewiihnliche Wesen dieses Mannes vermitteln 8011. Einmal die, daD fur ihn niemals die Grenzen seines Faches auoh die Orenren seines Qesichtskreises waren; daS er es verstanden hat, als Mathematiker einen Standpunkt zu gewinnen, der iiber das Gebiet der Mathematik hinans weite Bereiche von Wissenschaft und Leben riehtig zu iiberschauen gestattete. Und damit in Zusammenhaug : da4 von der im heutigep Wissenschaftabetrieb schon zur Regel gewordenen Inkongruenz zwischen Leistung und Pers8nlichkeit bier nie die Rede sein konnte; in vollem Einklang sehen wir Wert nnd Wiirde des von ihm geschaffenen Werkes mit dem Wert und der Bedeutung des Menschen, der dahinter steht.

Eine auch nur einigermaden vollstandige Darstellung dessen, was Klein i n d e r Mathematik geleistet hat, kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Soweit dies iiberhaupt ohne Voraussetzung genauer Fachkenntnisse geschehen kann, ist es in dem Klein-Heft der .Naturwissenschattena, das aus Anlad deN siebzigeten Geburtstages vor fiinf Jahren erechienen ist, versuoht worden. Rier miissen nun einige wenige An- deutungen genitgen. Der junge Student zu Ende der Sechziger-Jahre wurde znnBchst von geometrischen Ioteressen in Anspruch genommen. Urn jene Zeit war der Aufgaben- kreis der Oeometrie, die erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wieder in den Vordergrund der mathematischen Bertrebungen getreten war, durch die Arbetten von Clebsch, Cayley, Cremona u. a., vor allem auch durch die geistvollen Entdeckangen Pl i ickers , dessen Assistent K l e i n 1866 wurde, in hohem Ma4e erweitert worden. Eine ganze Fiille neuer geometrischer Theorien thuchte auf, und nnter ihnen ward namentlich die sog. Liuiengeometrie, in der an Stelle des Puuktes die gerade Linie ale Raumelement angesehen wird, das bevorzugte und mit gr8Dtem Erlolg ausgestaltete Arbeitsgebiet Kleins. Zu tiefer liegenden Forschungen fuhrten ihn die eben erst zur Entwicklung kommenden Qedanken der Nichteuklidischen Geometrie, d. h. derjenigen geometrischen Untersuchungeu, in denen man die Voraussetzungen iiber das durch die unmittelbare Raumanschauung gebotene Ma8 hinaus wesentlioh erweitert. Ein dritter, uberaus frnchtbarer Ideenkreis, die Anwendung des Begriffes der inflnitesimalen Trans- formationen, stammte von dem Norweger L i e , mit dem sich Klein 1870 zu gemeinsamer Arbeit verband. Als Klein kaum dreinndrwsnzigjahrig die ordentliche Professur der Mathematik in Erlangen iibernahm, hatte er bereits in mehr ale zwanzig wertvollen Ab- handlungen die eben genannten geometrischen Gebiete nach allen Seiten durchforscht, sie in fruchtbarster Weise mit einander in Verbindung gebracht und eine solche Menge neuer Fragestellungen aufgedeckt, daD noch mehrere Jahrzehnte aus dieeen Arbeiten ihre Anregungen schijpfen konnten. Aber alle diese Einzelleistungen werden in Schatten gestellt durch die Bedeutung der unter dem Nameu des )>Er langer -Programms u bekannten Antrittsrede von 1872a), in der es Klein in genialem Wurf gelang, alle scheinbar so weit auseinander liegenden geometrischen Theorien unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen, ein klares, iibersiohtliches und durchgreifendes Einteilungs- prinzip fiir die Geometrie in dem Begriff der Transformationsgruppe zu finden nnd damit ein fiir allemal den Rahmen zu schalfen, in den sich zwanglos jede denkbare geometrische Problemstellung einfiigen 1Bflt. Die Tragweite des Erlanger Programms wird vielleicht

l) Die Naturwissenschaften, Ed. 7 , Heft 17 (Berlin, J. Springer). a) Verglelchende Betrachtungen ilber neuere geometrische Forschungen, Erlangen 1 8 7 2 . Wieder-

abgedruokt in Mathem. Annalen 43, 1893 und iu Bd. I von F e l i x K l e i n , Gesammelte mathem. Abhaudl., Berlin 1921 bls 23 . Vergl. auch W. B l a s c h k e , dlese Zeltschr. 1, 1921, 332-334.

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am besten dadurch gekennzeichnet, daS sich von ihrn aus besonders aufklarende Ein- sichten in den mathematischen Kern der vierzig Jahre spater entstandenen allgemeinen Relativitatstheorie ergeben. K1 e i n selbst hat in mehreren Abhandlnngen der allerletzten Zeit zu diesen Fragen das Wort genommen und damit, an den schonsten Erfolg seiner Jugendjahre wieder anknupfend, in das heute aktuellste Gebiet mathematischer Forschung fordernd e i~gegr i f f en~) .

So reich und fruchtbringend aber auch die ForschertLtigkeit in geometrischer Richtung war, sie bedeutet nur einen geringen Teil von dem, was die Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts F e l i x K1 e i n verdankt. Seine kraftvollsten Schopfungen kniipfen an die durchgreifende Wendung an, die R i e m a n n in den Funfziger Jahren der Funktionentheorie gegeben hatte. Im Gegensatz zu der von C a u c h y and W e i e r s t r a % vertretenen rein analytischen Betrachtungsweise war durch R i em a n n die Lehre von den Funktionen einer komplexen Veranderlichen in engsten Zusammenhang mit anschaulichen geometrischen Gestaltungen gebracht worden. K l e i n , zu dessen ausgepragtester Eigenart eine auDerordentliche Begabnng fur geometrisches, aus unmittelbarer Raumanschanung entspringendes Denken gehort, nahm schon als Bonner Student die Ideen R i e m a n n s in sich auf, zunachst nur seiner einmal gefadten Absicht folgend mach und nach alle Richtungen der Mathematik kennen zu lernena. Bald aber wuDte er sich dieser Hilfs- mittel in meisterhafter Weise zu bedienen, um die Theorie der algebraischen Kurven und der damit zusammenhangenden Integrale algebraischer Funktionen su durchforschen. Von da kam er immer tiefer in die geometrische Funktionentheorie hinein, deren Grund- lagen, von ihm in wesentlichen Punkten ausgestaltet, er in einer kleinen 1882 erschienenen Schrift 2, in klarer nnd leichtflussiger Form dargestellt hat. Uerade wer vom Standpunkt der Anwendungen aus sich mit diesem Gegenstand beschtlftigt, wird rnit Vorteil das I( 1 e in sche Bucb zur Hand nehmen, das ausdrucklich die phyaikalischen Gesichtspunkte, die Deutung der konformen Abbildung als stationare Stromung von Flussigkeit oder Elektrizitat, an die Spitze stellt und immer wieder die aus den physikalischen Vor- stellungen flief3ende anschauliche SchluDweise zu Hilfe nimmt. Naturlich ruht nicht auf dieser, mehr padagogisch zn wertenden Arbeit das Hauptgewicht von K1 e i n s Verdiensten um die Funktionentheorio, sondern in den umfangreichen Produktionen uber elliptische und Abelsche Funktionen und die von ihm im Verein mit H. P o i n c a r k ganz neu geschaffene Theorie der automorphen Funktionen. Auch die hohere Algebra, die Lehre von den Gleichungen und Substitutionsgruppen erfiillte K le in rnit neuen Ideen, die seiner anschaulich-bildhaften Denkweise entstammen. Ueberall vermochte er, mit weitem Blick und tiefer Perspektive, scheinbar weit auseinanderliegende Dis- ziplinen zu einer Miheren Einheit zu vereinigen und daraus fruchtbarste Ergebnisse zu gewinnen. Auf diese Dinge kann hier, selbst nicht andeutungsweise, naher ein- gegaugen w er den.

Das lebhafte Interease, das K l e i n von allem Anfang an den p h y s i k a l i s c h e n u n d t e c h n i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n entgegenbrachte - galten doch seine ersten Vor- lesungen, die er als Qottioger Privatdozent hielt, der theoretischen Optik und dem Prinzip der Erhaltung der Energie - lenkte seine reiche Arbeitskraft gelegentlich auch naoh dieser Bichtung. Er selbst spricht sich dahin Bus, da% er ursprunglich nur die ver- schiedenen Gebiete der Mathematik Bassimilierenc: wollte, urn sich dann, so ausgeriistet, der physikalischen Forschuug zuwenden zu kiinnen. Wenn freilich dazu die sonst so ausgebreitete TPtigkeit nur wenig Raum liei3, verdanken wir ihm doch manche wertvolle Beitrage zur angewandten Mathematik. Ein guter Teil der Arbeiten iiber lineare Differen- tialgleichungen ist hierher zu rechnen; sie beschaftigen sich hauptsachlich rnit den sog. Ossillationstheoremen, die fur die Probleme der Stabilittlt und der Eigenfrequenzen mecha- nischer (und anderer) Systeme entscheidend sind. Einige Abhandlungen sind Fragen der geometrischen Optik, der Theorie des Strahlenganges in optischen Instrumenten, gewidmet. Am weitesten in die Anwendungsgebiete vorgedrungen ist aber K le in in den verschiedenen Teilen der Mechan ik . Es gelang ihm, die Rinetik des starren Korpers mannigfach zu fordern, indem er an die damals in Deutschland fast unbekannten englischen Arbeiten

l ) Gesamm. mathem. Abh. Bd. I, S. 533-612. Siehe lesonders den Vortrag: Ueber die geometrischen

2, Ueber R i e m a n n s Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Inteqrale. Leipzig 1882. Grundlagen der Lorentzgruppe, zuerst erschienen im Jahresber. d. deutsch. Math. Verein 1 9 , 1910.

Wiederabgedruckt in Ed. 111 der Gesamm. mathem Abhandl.

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88 Zeitschrift ftir angewandte Mathematik und Mechanik Band 4

anknupfte'), und er befreite damit zugleich die gesamte Mechanik von der Enge der Auffassung, in die sie bei uns durch eine stark ins Formale gehende analytische Richtung geraten war; in ausgesprochenem Qegensatz zu dieser Richtung suchte er die gflnzlich verloren gewesene Verbindung mit der Dtechnischen Mechanikc<, d. h. mit der Lasung unmittelbarer, dnrch die konkrete Wirklichkeit gegebener ProbIeme, wieder her- zustellen. Das aus GSttinger Vorlesungen hervorgegangene Lehrbuch von K l e i n nnd Sommerfe ld uber die Theorie des starren Korpersa) greift in seinem letzten Teil mutig in die Probleme der Technik eln, behandelt den Schiffs- und KompaB-Kreisel, die Kreiselwirkung bei Fahrzeugen u.s.f. Oemeinsam mit K. Wieghard t veroffentlichte K l e i n eine Theorie der Stabspannungen in ebenen Fachwerken3), die auf einer geist- vollen Komhination der Maxw ellschen reziproken Figuren mit der Airy schen Spannunge- funktion beruht, und die ihre Fruchtbarkeit fur die Probleme der Baustatik bis in die letzte Zeit bewiesen hat.

Den selbsttlndigen wissenschaftlichen Leistungen suntiohststellen muO man die Tatigkeit Kle ins als Herausgeber, Leiter und Organisator der *EnoyklopLdie d e r mathematisohen Wissenschaf ten rnit EinschluO i h r e r Anwendungena, des grohrtigsten literarischen Unternehmens, das j e im Bereiohe der exakten Wissenschaften eingeleitet wurde. Nur wer selbst als Forscher so zahlreiche Gebiete durchwandert, Weitblick und Uebersicht uber die Nachbarwissensohaften erworben hatte, von vornherein aber QroBzugigkeit und inslinktive Einsicht in die Bedingungen wissenschaftlichen Schaffens beea5, konnte sich an einen solchen Plan heranwagen. Mehr als zweibundert Mitarbeiter, zumteil die hervorragendsten Vertreter ihrer Spezialfacher, alle aber Qlieder der Qelehrtengilde, jener Klasse von Mensohen, die sich am schwersten organisieren und zu (femeinschaftsarbeit gewinnen lPBt, alle die vielfach widerstrebenden Kiipfe wuf3te der iiberragende Wille Kle ins der einen Sache dienstbar an machen. In drei Hauptteilen, Arithmetik und Algebra - Analysis - Qeometrie, etwa zehn Bande umfassend, werden hier zunachst die Einzplgebiete der areinen< Mathematik in rund hundert Referaten dar- gestellt, und zwar die Ergebnisse im Zusammenhang mit ihrer geechichtlichen Entwicklung, ohne ansgefuhrte Beweise. Den grolten Nachdruck legte jedoch Kle in auf die drei weiteren Hauptteile, die den Anwendungen gewidmet sind, der erste der Meohanik, der zweite der Physik, der dritte der Astronomie, Gieodllsie und Geophysik. Die EncyklopLdie wurde fur Kle in das Hauptinstrument zur Verfolgung seines Zieles, die rein mathematisohe Forsohung in lebendige Wechselwirkung mit ihren Anwendungs- gebieten zu bringen, ein Bestreben, das merkwiirdig wenig VerstLndnis und vie1 Anfeindung auf der einen wie auf der anderen Seite fand. Vor allem nahm sioh Kle in des Y e c h a n i k - T e i l e s an, dessen Redaktion er sich selbst vorbehielt, und der unter allen Teilen der Encyklopadie die geschlossenste Form nnd den gleiohformigsten Aufbau besitzt. Dieser heute fast vollendete, vier BPnde umfassende Abschnitt des Gesamtwerkes beruhrt sich nach Ziel und Inhalt so eng rnit den Bestrebungen unserer Zeitschrift, dai3 einige ntihere Angaben hier am Platze sein werden 3. Nach einem einleitenden Bericht iiber die Prinzipien der Mechanik wird zunachst die Mechanik der Pnnkte und starren Korper i n drei Stufen behandelt. Die erste umfadt die mehr geometrisch gerichteten Theorien, darunter die Einematik nnd die graphische Stlttik der statisch bestimmten Systeme ; die zweite die Anwendungen unter Beriicksichtigung der storenden Einfliisse, namlich die Mechanik der physikalisohen Apparate, die Mechanik der Lebewesen, die Anfgaben, zu denen Spiele und Sport Veranlassung geben, und in ausfiihrlicherer Darstellung die dynamischen Probleme der Maschinentechnik; die dritte endlich, der einzige noch nicht vollendete Unterabschnitt, die allgemeineren analytischen Methoden. Es folgt ein *Hydro- dynnmikc genannter Hauptabschnitt, der rnit zwei Berichten iiber die theoretische Hydro- mechanik einsetzt, dann in Einzelaufs$taen die flngtechnisohe Aerodynamik, die Bdlistik,

') Vor allem auch durch die Webernahme des von Sir R o b e r t B a l l herrllhrenden Begriffes der Zeitschr. ,f. Math. u. Physik 47, 1902. = Ges. Abhandl. I, S. 503 bis 532.

9, F. K l e i n und A. S o m m e r f e l d , Ueber die Theorie des Kreisela. In 4 Heften, Leipzig 1897-1910.

a) Archiv der Mathem. U. Physik, 111. Reihe, Bd. 8, 1904. Wiedergedruckt in Bd. I1 der Gesamm.

4, Die vier Teilbllnde bllden ein fllr sich abgeschlossenea Ganze, dhs auch unabhllugig von dem Der l . , 3., und 4. Teilband liegen vollstlhdig vor, vom 2. Teilband fehlt

*Schraube= oder Dyname. Vergl. a. dieses Heft, S. 155 bis 181.

Das 4., die technischen Anwendungen enthaltende Heft bearbeitet von F. N o e t h e r.

mnthem. Abhandl.

tibrigen im Buchhandel ist. noch der SchluS.

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die allgemeine teohnisohe XHydraulikC, die Tnrbinentheorie, sohlfeJ3lioh die Theorie der Schiffsbewegung heriioksiohtigt. Der letzte Haupfabschnitt aElastizittit und Festigkeita beginnt analog mit Darstellungen der Elastizitgtstheorie, einschliefllbh der in die Akustik iibergreifenden Fragen der elastischen Schwingnngen, woran sidh Beriohte uber Theorie des Erddruckes, Feetigkeitsprobleme im Masohinenbau, Statik der Baukonstruktionen und physikalische Grundlagen der Festigkeitslehre ansohlieben. Ein letzter, mit dem Friiheren nur lose znsammenhllngender Bericht ist der nach der kinetisohen Qaatheorie hin orientierten statistischen Meohanik gewidmet. Man erkennt wohl am diesen Andmtungen, da0 hier etwas Nutzliches und niohts Geringes geleistet ist; aber wer vom Boden des' heutigen Entwicklungsstandes aus urteilt, wird kaom ermessen kSnnen, was die Aufstellung eines solchen Programme vor etwa dreiflig Jahren und seine Durohfiihrung in diesen Jahr- zehnten bedentete. Man sagt nicht zuviel, wenn man die auflerordentliohe, vom Ausland schon vielfaoh als vorbildlich anerkannte, E n t t a l t u n g des S tndium 6 d e r Meohanik in Deutsohland, die nicht zuletzt anch in der vorliegenden Zaitsohrift zum Ausdrock kommt, als eine Auswirkung der weitbliokenden P1B;ne Kleina bemiohnet, die in den Mechanikbiinden der Encyklopgdie ihre erste Verwirkliohung gefunden haben.

Es gibt Hir den geistig produktiven Mensohen zwei Mi5glIchkeiten, sich mit dem ungeheuren Kontrast zwisohen der Fiille und dem Urntang der vorhandenen Aufgaben und den engen Schranken der eigenen Arbeitsfilhigkeit abznfinden. Man kann, dies ist der eine Weg, sich anf ein bestimmtes, nicht zu weit bemessenes Arbeitsgebiet kon- zentrieren und, ohne reohts oder links zu blicken, getrost darauf vertrauen, dafl redliche Arbeit, an der richtigen Stelle geleistet, eioh schon von selbet id das Welt-Qanzg ein- fiigen werde. Andere Naturen sber drfingt es, von dem Boden, ant dem sie Fufl gefa0t haben, nach allen Seiten auszugreifen, Anschlufl zu snohen, Verbindungnflden zu kniipfen und 80, bewnBt nnd willensmllBig, die Einordnung dee eigenen Sohrifens zumindest in das einer weiteren Umgebung zu vollziehen. Dieser Art war die Einstellnng Kleins schon in friiher Jogend nnd daraus entsprang auoh spllter die Hingabe, mit der er sich der Arbeit an der Enoyklopldie widmete. Nooh weit schllrfer trat diese, sich selbst objektivierende Eigenart zutage in der Auffassung, die sioh Kle in von srinem L e h r a m t u n d von Unter r iob ts f ragen uberhanpt bildete. Er sah grundslltslich seine eigene Lehrtiltigkeit als einen organischen Bestandteil des ganeen mathematischen Unterriohts- betriebes an, den er demgemPB - zunllchst an der QBttinger UniversitJito - im Sinne seiner Bestrebuogen zu beeinflussen nnd anszupestalten auohte. Was in dieser Richtung geleistet wurde, 1 U t sich in Kiirze kaum aufrtiblen. Eine klnge, von rein sachlioben uud groSen Gesicbtspunkten geleitete Bernfnngspoliiit, die 1895 Hilber t , dann i 9 0 a Min- kowski , 1904 P r a n d t l naoh QSttingen braehte, konapqnente Hnranziehung junger, a d - strebender Krgfte, planm8Bige Fiihlungnahme mit den Fachkollegen, Anfstellung eines aut weite Sicht bereohneten Unterrichtsprogramme, das gab die Grundlage fiir die nach auDen autfiillig sich entfaltende Organieationstlltigkeit. An Unterriohtseinriohtungen, die spiiter in grBDerem oder geringerem Ma0e von anderen Universitfiten nachgeahmt wsrden, entstanden innerhalb weniger Jahre: das mathematisohe Lesezimmer, die Sammlong mathematischer Iostrumente und Modelle, die Zeichenrbme far grapbiscbe Uebungen, die Sammlung geodgtischer Instrumente und das Versichernngsseminar l)., J e h diener duroh K1 e ins Organisationstalent @xmhaffenen Anstalten ist inzwieohen lhren pigenen Weg der Entwioklung gegangen und hat zu ihrgm Teil dam beigetragen. Wttingeo auch iiufierlich als Vorort des Mathemetik-Stndiums in Dentschland an kennaeichnen ; ans den anfangs bescheidenen Zeichenr&omen entstand das grob , hente von R u n g e geleitete Institut fiir angewandte Milthematik, vnn dem nooh die Rede sein wird. Aber die Wirk- samkeit Kle ins griff noch vie1 weiter aus. Fiir ihn bildete wissensohaftliche Forsohmg nnd Reranziehung des Nachwuchses an Forschern nnr eine der dem Mathematiker an der Universitlt gestellten Aufgaben, der zwei andere zur Seite stehen: einmal die Sorgo fur die zweckentsprechende Ausbildung der Lehrer und damit zugleich iiir den saohlichen Inhalt des Mathematik-Unterriohts an allen hoheren und niederen Sohnlen, dann - in %uBerster Konsequenz der oben gekennzeiohneten Einstellnng - die Pflicht inr Qeltend-

'1 Hierzu und zu dern Folgenden veigl. Insbesondere die beiden Schriften VOU F. Klein und E. R i e c k e : Ueber angew. Mathem. nnd Physik in ihrer Bedeutung fllr den Unterricht an den hOheren SchuIen nebst Erl&nteruog der hezUglicben Gottfnger Universt~tseLnrlchtungen. Leipzig n. Berlin 1900; Neue Beitrllge zur Fmge des mathematischen und physikalischen Unterriehts an den haheren Schnlen. Leipzig u. Berlin 1904.

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machnng der Mathematik und znr Vertretung ihrer Bedentung innerhalb des ganxen Kulturlebens. Die fiihrende Rolle, die Klein seit der Sohnlkonierenz van 1900 in der Frage der Unterrichtsreform innehatte, die vielfach neuen und dnrchschlagenden Ideen, mit denen er die Sohulbewegung erfiillte und denen er zum gro3en Teil aueh zu prak- tiscbem Erfolg verhalf, die sufierordentliche organisatorisohe Leistung, durch die nicht nur fiir Dentachland, sondern iiber fast alle Kulturltinder hin die aut diesem Gebiet wirkenden Kriifte zusammengefalt wurden, dae alles kann hier nicht ngher dargestellt werden. Es mag geniigen, an das viel zitierte Sohlagwort vom xhktionalen Denkenc zu erinnern, das, wenn auch einigermaden vergriibert, die Richtung kennzeiohnet, in der die Modernisierung dee durch langjllhrige Stagnation etwas erechlafften mathematischen Sohnlunterricbts angestrebt wurde. Ein genaues Bild der Sachlage vor und nach dem Einsetzen der Reform liefern die von der deutschen Untergruppe der Internationalen Matbematisahen Unterriohtskommiseion, deren Schiipfer und Voreitzender K1 e i n war, in neun Bttnden herausgegebenen Abhandlungen, Berichte und Mitteilnngen l). Auch die allgemeiner gerichteten Bestrebungen, das Ansehen der Mathematik, die Erkenntnis von ihrem geistigen Wert nnd ihrem praktischen Nutzen far die Chamtheit, zu fiirdern, sollten im Rahmen einer groS angelegten Pnblikation, der .Kultnr der Qegenwartu, ihren literarischen Ausdruok finden. Die Zeitumstilnde haben leider die Dnrchfiihrung dee Unternehmens, eoweit es die Mathematik betrifft, groi3enteils verhindert 3. Qliicklicher- weise ist die von Kle in mit besonderer Sorgfalt and Griindlichkeit vorbereitete Qeschiohte der Mathematik irn neunzehnten Jahrhundert, eine Arbeit, deren Wert angesichts der Persiinlicbkeit des Verfassere kaum hoch genug eingeschgtzt werden kann, in einer vor- lllufigen Fassung einem kleineren Kreiee sohon mg&~glich gemaoht und damit vor dem Untergang bewahrt. Ee darf hier die Hoffnung ausgesprochen werden, da3 es Kleins nngebrochener Arbeitskraft, der wir eben erst eine wundervoll abgerundete, mannigfach ergslnzte Neuansgabe seiner mathematischen Abhandlungen verdanken, noch gelingen mhhte, auch das historische Werk in die endgiiltige Form m bringen.

Wenn jemand, dem es seine Natur zur Qewissenspflicht macht, iiber sein Ver- htiltnis zu der ihn umgebenden Welt praktisch ins Reine zu kommen, von Bernt Mathe- matiker ist, so wird er vor die sohwierigste Aufgabe gesbllt durch die Frage nach den Beziehungen zwischen Mathematik und Teobnik. Diem Frage ist nicht 5n ver- wechseln mit dem allgemeinen aAnwendungsproblemu , dae bis en einem gewissen Grade in jeder Wissensehaft vorliegt nnd in der Mathematik darin rum Ausdruck kommt, da3 sich eine ganze. Kette wissenschaftlicher Einstellungen crufzghlen lMt, von denen jede der auf der einen Seite benachbarten gegeniiber die wngewsndteu darstellt 9. Zwisohen Technik und Mathematik besteht ein Wesensnnterschied viel tieferer Art und wer meint, einen irgendwie wesentlichen Teil der Ingenieurtiitigkeit a ls Sangewandte Mathematiku begreiten zu kiinnen, begeht denselben Fehler, wie der, der den Bernf des Politikers a l s *An- wendung der Qeechichteu oder den dee Malers als ,Anwendung der Perspektivec auf- fa%t. Ein gewieser Teil der mathematischen Erkenntnisse und Methoden, dessen Ab- grenenng schwankend ist und der von, einem bestimmten (eben dem Ingenieur-) Standpnnkt am a l e die Bangewandte Mathematika bezeichnet wird, bildet ein wichtiges Werkaeug, aber eben nur ein Werkzeug, in der Hand des Ingenienrs, so wie die Kenntnis der Anatomie oder der Perspektive Hilfsmittd des Malere eind. Uein die g e i s t i g e S t r u k t n r der Ingenieurtlltigkeit ist eine gllnzlich verschiedene von der des Wissenechaftlere 4, und 80 hat 86 seinen tiefen Grund, dai3 in fast allen Landern technische Hochschulen und Universittlten selbstllndig und unabhttngig voneinander sioh entwiokelt haben, m5gen 6ie auch sohlieflllch in eine losere oder engere Verknupfnng getreten sein. Was Felix Kle in in den Neunziger-Jahren anstrebte und in d0r Oeffentlichkeit vertrat, war viel- leicht in letzter Linie auch nur eine derartige organisatorische Verbinddng, die unnetige

') Erschienen Leipsig u. Berlin, 1909 bis 1917 bei Tenbner. ') Von dem IILTeil, 1. Abteilang: Die mathematischenWissenachaf~n, ersohien bisher Lieferg. 1 bls 3

(Leipzig 1912 bis 1914) enthaltend: H. E. Zeuthen, Die Mathematik im Altertam und Mitteldter; A. Vo88, Die Beziehungen der Mathematik zur Kultur der Gegenwart; H. E. T imerd ing , Die Verbreitung mathem. Wissens und mathem. Anffasaung.

9 Vergl. dazu die etwas eingehendereu Bemerkungen In dem Programm dieser Zeitsohrift, Bd. I, 1921, S. 2.

*) Wer sich fur die Heferliegenden psychologiischen Gtrtinde der Struktnr-Untemchiede interegsiert, mag dartlber bei Eduard S y r ang er , Lebensformen, geisteswissenschaftliahe Psychologie nnd Ethik der PersUnlichkeit, 3. Aufl , Hslle 1922, insbes. 8. 321ff. naohlesen.

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Heft 2 v. Mises, Felix Klein zum 75, aeburtstag 91

Doppelarbeit vermeiden, pereiinliohe Fuhlungnahme erleiohtern sollte. Die Ingenienre aber, durch die ganze gesohichtltohe Situation empfindlich geworden, sahen in seinem Vorgehen, namentlioh -in dern Qedanken, die ~Gener~stabeoftlsiere der Teohnika auf der UnivereitPt heranznbilden, einen Angriff anf die sohwer erktimpften Reohte der Qleioh- stellung und fiihlten wohl anoh heraus, da4 wenn nioht bei Klein selbst, so dooh bei jenen, in deren H h d e sohlie3lich die Anstiihrung der Kleinschen Pltlne gelangen mufite, eine (Xeringsohtltzung der Teohnik gegeniiber der weinenu Wiseensohaft den Leitgedanken bilden kiinnte. So k m es, dai3 energisoher und in der Form keineewegs bereohtigter Widerstand eioh in den Kreieen erhob, die die Selbattlndfgkeit nnd Unver- sebrtheit der teobnisohen Hoohsohulen gegentlber den Universit&tten vertraten. Den teil- weise recht heftig gefuhrten KampP beendete 1895 der SAaohener Friedec'), der festlem, daB den teohnisohen Hoohsohulen die Ingenieurausbildung bie xu den hoohsten An- forderungen, eineohlie6lioh der Heranziehung des eigenen Dozenten-Naohwnchses iiber- laRsen bleiben sollte, wiihrend die ingenieurwissenscJhltfrliohen Einriohtungen der Univer- sit&ten nur den Bediirf niesen einer geniigend vielseitigen Ansbildung der Mathematiker und Pbysiker, vor allem der ktlnftlgen Lehrer an den hgheren Sohnlen, mznpassen wflreh. Im Rahmen dieaer gewi6 verniinftigen Abgreneung sohnf nnni Klein mit zBher Energie, nnter Ueberwindnng zahlloser Sohwierigkeiten und Hemmniese, allein unterstiitat yon dern weitblickenden Ministerialdirektor Althoff, die Reihe der Giittbger Institute, von denen einzelne We3trnf erlangt haben. Die Bbitbl wurden our zum geringen Teil vom preuflisohen StaaLt, hauptstiohlioh duroh die v o ~ Klein ins Leben gerufene dlilltingeer Vereinignnga, der namhafte Industrielle nnter FtlbrnPg von v Biittinger beitpaten, aafgebraoht. Wlr miissen uns wieder mit efner blo5en dnhiihlung begnagen nnd nennen neben dern sohon erwshnten Rungesehen Institnt far angewandte Mathematik das Institut far teohnisohe Phyeik (hanptsBohlioli Elektroteohnik), dar S i m o n iibertragen wnrde, dann das Institut fiir angewandte Meohauik, das unter P r a n d t l s Leitung steht und dern bald die erste aerodynomiscbe Versnoheanr ta l t in Deutsohland an- gegliedert wnrde. Da% die beiden letztgenennten Anetalten die fiihrende Rolle auf ibren Forsohnngsgebieten inneheben, gilt weit iiber die &enBen Dentsohlands hinaus; ein groBer Teil der heute aaf diesem Oebiet erfolgreiohen Forsoher enbstammt der Qiitthger Sohule oder eteht in engetem Zusammenbang mit ihr - ein Blick ant die Mitarbeiterlista unserer Zeitsohrift 1Wt dies deutlioh erkennen. Es kann kein Zweirel dariiber bestehen, dafl die Auswirkung der Asobener Beschlusse, soweit sie die Universitaten betreffen, dank der aoderordentliohen Organisations-Begabng Kleine sioh frnohtbar nnd segensreioh gestaltet hat. .Die teohnieohen Hoohsohnlen haben erst in den lebten Jahren begonnen, auoh ihrerseits die leteten Konseqnenzeu zn ziehen nnd darch die neuesten Reformen dem stadium die Bewegnngsfreiheit gegeben, deren es 5ur Erzieluog von $pitzenleistungen unbedingt bedarf; aaoh hier wird der Erfolg nioht susbleiben, wean die Mathematiker der teohnisohen Hochaohulen die groflen Aufgaben, die ihnen die Ingenieuraua bildung stellt, i n g l e i n s o h e m Oeis te erfassen, ihnen mit voller Kraft diepen nnd sioh mehr und mehr yon der Naohahmung des theoretisoben, ant die t~ehrerrtnsbildnng zugesohnittenen Univereit&tsunterriohtes lossagen werden. Fiir F e l i x Kleln aber mag es naoh all den Jahren nnliebsamen Kampfes eine Uenngtnung bilden, da6 heute ein namhafter Kreis yon Ingelliewen - der in der BZeitsohriftU und der ~Qesellslsahatf f i b angewandte Mathematik und Nechanikc seine Vereinigungspunkte findet - siah' raokhaltlos zm seinen An- sohaunngen bekennt und in ihm den mit in tu i t iver Voraussioht u n d f r n o h t b a r e r (f e s t a1 t un g s k r a f t b ega b ten F ii h re r erbliokt.

Ueber Jean d' Alembert , den gro%en Mathematiker nnd Pbysiker des schtzehnten Jahrhunderts, der sioh anf vielerlei Gebietan, weit iiber die Grenren seines Faohes hinaae, Ziffentlich bettltigte, sohreibt 4300th e einmal: BIbm let sein Bnbm, als Mathematiker, niemals streitig gemaoht worden, als er sioh aber urn des Lebens und der Qesellsohaft willen viel- seitig 1iterariEoh ausbildete; so nahmen die Miiflgiinatigen daher AnlaB, mhwtlohere Seiten auf- zusuohen und z;n zeigen.. Und Qoe t h e f h r t fort: .Solohe feindselige Naturen, die nur wider

') Eiee Vereinbarung, die auf der huptversamml. b e Ver. dentech. Ingen. in Amhen 1905 zwischen' K l e i n and den Vertretern der Ingenieor~saenschEften Linde , B a c h , ffuterrnuth, Peters, I n t e e , v. B o r r i e s , Mehrtena ~bgeschlossen wurde. Vergl. dam Zeitsohr. Ver. dents& Ingen. 1895, S. 1216 u. 1421; 1896 S. 103.

Aas dern Mannekript fibersetat und mft dnmerkungen begleftet van Goethe. Leipdg bey 0. J. QOeehen, 1806, 8. 387.

'1 In den Anmerknngen au: Rameaas Neffe, ein Dialog von Diderot .

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92 Zeitschrift ftir angewandte Mathematik und Mechanik Band 4

Willen entschiedene Vorziige anerkennen, mijchten gern jeden trefflichen Mann in sein Ver- dienst ganz eigentlich einspemn und ihm eine vielseitige Bildung; die allein G e n d gewllhrt, verkiimmern. Sie sagen gewijhnlich, en seinem Ruhme habe er dieses oder jenea nicht unternehmen Bollen! Us wenn man alles um dee Rnhmee willen tHte, a h wenn die Lebensvereinigung mit iihnlich Gesinnten, dnrch ernste Teilnahme an dem, was sie treiben und leisten, nicht den hochsten Wert hiltte . . . . .a Man kann kaum treffendere Worte finden, wenn man die Stellung, die Fel ix Klein in Wissenschaft und Leben der Gegen- wart einnimmt, und die Beurteilung, die eie vielfach gefunden hat, kennzeichnen will. Wir haben uns, heute viel mehr als im 18. Jahrhundert, in Deutschland stllrker als in den iibrigen Lhdern und in der Mathematik mehr als in anderen Faohern, das Ideal des Fachgelehr ten gebildet, dessen Ehrgeiz in der Hervorbringung miiglichst gesteigerter fachlicher Leistungen sich erschijpft und dessen Verdienst allein nach dem Ma60 dieser Hervorbringnng gemeesen wird. Niemand fragt darnach, ob die Leistnngen nicht etwa durch eine Verkiimmernng des ganzen iibrlgen Menschen erkauft werden. Allseitige Aus- bildung des Geistee oder Charakters werden als unerheblich mgesehen ; ein aktivee Hervortreten abes in der einen oder andern Richtung wird abflllig beurteilt, von dem MaB der Leistnngen xmbtrahiertc. EN ist fast, als ob das bBse Wort der Qriechen wieder wahr werden sollte, daf3 man, urn unter den Flbtenspielern der erste zu sein, der letzte unter den Menschen Bein miisse. Wer mit einem solchen Gelehrtenideal im Auge an die Baurteilung Kleine herantritt, kann ihm unmijglich gerecht werden, auch wenn er aner- kennen mub, daf3 hler spedfische mathematisohe Begabnng und mathematische Produk- tivittlt in einem Ausmab vorliegt, wie es von wenlgen Zeitgenossen erreicht, von ganz wenigen Heroen in der Geschichte der Mathematik iibertroffen wnrde. Eine Persijnlich- keit von viel grijfierem Zuschnitt steht hier vor uns.

Denn dies ist das Charakteristisohe bei Klein und gibt uns erst den wahren Ma& stab zn seiner Beurteilung, da3 ihm das an sich achon anderordentliche mathematieche Schaffen erst Grundlage nnd Anegangspnnkt f i i r eine weit ausholende Wirksamkeit wnrde, die - nach ihren Ergebnissen beurteilt - in letster L i e daranf hinauslief, m6glichst v ie len miiglichst g u t e Bedingungen fur e igenes Schaffen zu bereiten. Dahin munden doch achliefilich alle Beetrebungen organisatorischer Alt, die Reform der Schulen nnd des Unterrichts an der Universitat, die Errichtung von Instituten zur Erziehuog von Forschern, die planmlllige Verbindung mit den Fachgenoseen, die Bemiihungen um die Encykloprdie und urn die Qeltendmaohung der Mathematik im Offentlichen Leben. Und es ist eine alte Wahrheit, dal derartige Wirksamkeit nnr dann segensreich sein kann, wenn sie anf dem Boden eigener wissenschaftlicher Produktivitllt erwiicbst : ein - recht trauriges Gtegenstiick des in sich gekehrten, von tiderer TIltigkeit zuriickgezogenen Faohgelehrten bildet der selbet nnprodnktive, in Minieterien, Sitzongan und Organi- eationen sich auslebende Qeschtiitsgelehrte. Was wir an Klei n bewundern mussen, ist das vollkommene (fleichgewicht zwischen den verschiedenen Betiitigongen, zu dern ihn seine grode und reiche Natur befflhigt; nicht zuletzt die eindrncksvolle persiinliche Erscheinung, das ausgeglichene, in sich beruhende wesen, die Gabe voll- endeten mundlichen Vortrages nnd durchdringend klarer schriftliaher Darstellnng, die jeden in ihren Bann ziehen. Dies alles wirkt anch zusammen, um jedem, der von irgend einer AenDerung dieser Persbnlichkeit Kenntnis nimmt, von einer wiseensohaftlichen Ab- handlung, einer organisatorisohen Schrift, einem Vortrag oder nur einer der vielen anto- biographischen Notizen in der Nenauegabe der Werke, einen reinen llsthetischen Glenus zu verschaffen, cbwohl dem Urheber gewiS nichts ferner lag, ale bewnBt einen solchen Eindruck anzustreben. Vielleicht ist dlese Art vcn unbeabsichtigter Wirkung das sicherate Kriterium wahrer GroSe. Fassen wir aber noch einmal, zoriickblickend aut die genialischen Jugendjahre nnd a-nf die fast vier Jahrzehnte reifen Schaffens in Qiittingen, dies reiche nnd fruchtbare, hoffentl ich noch l a n g e n ich t abgeschlossene Lebenewerk voll strengster Selbstzucht und konseqoenter Pflichterfullung, ins Auge, so diirfen wir uns eines Ansspruches erinnern, der dem dreinndachtzigjilhrigen (30.0 the , dem unerreicbten Vorbild aller hohen Lebenefiihrung, zngeechrieben w i d : BEE ist im Qrunde auch alles Torheit, ob einer etwas ans sich habe, oder ob er es von anderen habe; ob einer durch sich wirke, oder ob. er durch andere wirke; d ie Hauptsache ist , dab m a n ein grof3es Wollen habe un’d Geschick und Beharr l iohkei t besi tze , es ausznfi ihren, a l les ubrige ist gleichgiiltigcc. 387

Berl in , im Febrnar 1924. R. v. Mises.