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Geschichte – wie? Da die Gesamtheit aller historischen Personen, Daten, Ereignisse und Prozesse nicht ohne ein Ordnungssystem begreifbar gemacht werden kann, entwickeln Historiker verschiedene Gliederungsprinzipien. Diese sind keine klar abgrenzbaren und getreuen Abbildungen der Vergangenheit, sondern Hilfskonstruktionen, Verständnis- und Denkhilfen im oben genann- ten Sinne. Über ihre Anwendbarkeit und Plausibilität besteht in der Zunft der Historiker mitunter nicht immer Einigkeit. In diesem Kapitel werden Systematisierungsversuche stellvertretend für andere mögliche Ordnungssysteme vorgestellt, weil sie für die Themen des vorliegenden Buches und da- mit für Ihre Auseinandersetzung mit Geschichte in der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe besonders relevant sind. Gegenstandsbereiche Geschichte wird auch unterschieden in die großen Gegenstandsbereiche des menschlichen Daseins – zum Beispiel Herrschaft und Politik, Technik und Arbeit, Verkehr und Kommuni- kation, Religion und Wissenschaft sind Zusammenhänge, die sich nicht unabhängig von anderen Dimensionen entwickeln, aber doch auch eigene Wirkungen entfalten. Menschliche Grundkonstanten wie Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Spiel, Weiblichkeit und Männlichkeit, Privatheit und Öffentlichkeit, Herrschaft und Partizi- pation, Krieg und Frieden, Selbst- und Fremdwahrnehmung begegnen uns in vielfältigen historischen Varianten. Sie weisen eine wechselvolle Geschichte auf und waren für jede Ge- neration von besonderer Bedeutung, aber fast jede Generation erfuhr sie in anderer Weise. Solange es moderne geschichtliche Forschung gibt, wurden nicht immer alle Dimensionen gleichrangig in den Blick genommen. Um neue Perspektiven herum entstehen neue Berei- che, so z. B. die der relativ neuen Kulturgeschichte. In diesem Buch werden v.a. die Bereiche der Politikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte und der Kulturgeschichte besonders in den Blick genommen. Zugriffe Die Erschließung von Geschichte kann auf unterschiedliche Arten und Weisen erfolgen, je nachdem worauf der Scheinwerfer des Interesses eines Historikers gerichtet ist: Man kann Geschichte als einen genetisch-chronologischen Durchgang fassen, wie man es häufig in Schulbüchern und in Überblicksdarstellungen findet. Diese Früher-später- Betrachtungsweise aus der Rückschau lässt Geschichte allerdings als eine Einbahnstraße ohne Handlungsalternativen erscheinen. Historische Längsschnitte dagegen verfolgen Entwicklungslinien über lange Zeiträume hinweg, zum Beispiel „Menschenrechte in historischer Perspektive“ (Kapitel 6). Längs- schnitte isolieren allerdings bestimmte Gegenstände und können nicht die ganze Band- breite von Faktoren aufzeigen, die eine Entwicklung bedingen. – Der historische Querschnitt betrachtet dagegen eine Momentaufnahme der Geschichte detailreich und in seiner Vielfalt für die Zeitgenossen. Hier zeigt sich besonders gut, wie verschiedene Dimensionen der Geschichte ineinandergreifen, dieser Zugriff vernachläs- sigt allerdings Fragen der Entwicklung bzw. Veränderung. – Der historische Einzelfall konzentriert sich auf ein einzelnes historisches Ereignis, z. B. die Eroberung Jerusalems 1099 oder die Eroberung Konstantinopels 1453 (Kapitel 5.4), und bietet so ein großes Maß an Genauigkeit und Anschaulichkeit für ein Phänomen, das in besonderem Maße über sich hinausweist und geeignet ist, paradigmatische Veränderun- gen oder Typisches einer Zeit exemplarisch deutlich zu machen. Das Gegenstück zur Einzelfalluntersuchung bildet die Strukturanalyse, die den inneren Zusammenhang eines Verfassungssystems oder einer Wirtschaftsordnung offenlegen will. Hierzu wird üblicherweise ein Modell oder eine Theorie zur Erklärung herangezogen. – Der historische Vergleich schließlich zeigt das Besondere, aber auch das Typische histo- rischer Phänomene auf, zum Beispiel in der Wahrnehmung von Fremden und Fremdsein- erfahrungen (Kapitel 1). Zeit Der Ablauf der Geschichte in der Zeit ist die elementare historische Grunderfahrung. Geschichte ist definierbar als Ablauf und Entwicklung, Beharrung und Wandel, Dauer und Augenblick, Verschränkung von Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft. Die Zugehörigkeit zu ei- ner Epoche oder einer Generation schafft Prägungen, denen sich niemand entziehen kann. Die bei uns seit Langem herkömmliche, aber unter Forschern nicht un- umstrittene Einteilung der Geschichte in Vor- und Früh- geschichte, Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Mo- derne ist das ausschlaggebende Organisationsprinzip der Geschichtswissenschaft. Kulturen und Staaten Kulturen – wie etwa die christlich-abendländische, die ost- asiatische oder die islamische – sind relativ großräumige und langlebige historische Gebilde, die zwar eine Vielfalt von Erscheinungsformen aufweisen, aber dennoch eine au- ßerordentliche Prägekraft entwickeln. Dies kommt beson- ders in religiösen Vorstellungen, Denkweisen und Lebens- formen zum Ausdruck. Staaten waren und sind ebenfalls außerordentlich wir- kungsmächtige Größen. In der Geschichtsschreibung war die Geschichte der Staaten, z. B. die Geschichte Deutsch- lands, Großbritanniens oder der USA, wohl stets eines der am häufigsten behandelten Themen. Räume Die Räume – von den lokalen Nahräumen bis zu den großen Klimazonen und Räume Kontinenten – sind ursprüngliche, natürliche Gegebenheiten, die das Leben jedes Menschen formen, die aber auch ihrerseits, mit geschichtlich wachsen- der Intensität durch den Menschen geprägt und verändert werden. Ob der Lebens-, Kommunikations- und Wirkungsbe- reich historischer Akteure örtlich, regional, staatlich, konti- nental oder global bemessen war, machte ein wesentliches Moment ihrer Geschichte aus. Dementsprechend bildeten sich die geschichtswissenschaftlichen Disziplinen der Orts- und Regionalgeschichte, der Staatengeschichte, der euro- päischen, fernöstlichen, lateinamerikanischen oder ostasia- tischen, der Weltgeschichte heraus. Wirtschaft/Gesellschaft Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sind die Bedingun- gen und Verhältnisse, unter denen Menschen arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen, zu Wohlstand kommen oder in Armut geraten, wirtschaftliche Macht ausüben oder in Abhängigkeit leben. Jäger und Sammler, Bauern, Handwerker und Kaufleute, die Selbstversorgungs- und die Marktwirtschaft, die agrarische und die industrielle Produk- tion, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus markieren jeweilige historische Existenzbedingungen, die das Leben der Menschen einer Generation, einer sozialen Klasse, ei- ner Bevölkerung oder eines Berufsstandes maßgeblich be- stimmt haben. Dimensionen, innerhalb derer sich Geschichte abspielt Religionsgeschichte Technikgeschichte Geschlechtergeschichte Militärgeschichte Globalgeschichte Kunstgeschichte Geschichte von Kulturräumen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte Geschichte politischer Systeme 5 10 5 10 5 10 15 20 25 Geschichte deuten und reflektieren 16 17

Zugriffe - KlettQ 7 Dauerhaftigkeit des „Man-Eating-Myth“ Ausschnitte aus dem Fresko „Apollo und die Kontinente“ von Giovanni Battista Tiepolo (1696 –1770) im Treppenhaus

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  • Geschichte – wie?

    Da die Gesamtheit aller historischen Personen, Daten, Ereignisse und Prozesse nicht ohne ein Ordnungssystem begreifbar gemacht werden kann, entwickeln Historiker verschiedene Gliederungsprinzipien. Diese sind keine klar abgrenzbaren und getreuen Abbildungen der Vergangenheit, sondern Hilfskonstruktionen, Verständnis- und Denkhilfen im oben genann-ten Sinne. Über ihre Anwendbarkeit und Plausibilität besteht in der Zunft der Historiker mitunter nicht immer Einigkeit. In diesem Kapitel werden Systematisierungsversuche stellvertretend für andere mögliche Ordnungssysteme vorgestellt, weil sie für die Themen des vorliegenden Buches und da-mit für Ihre Auseinandersetzung mit Geschichte in der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe besonders relevant sind.

    Gegenstandsbereiche

    Geschichte wird auch unterschieden in die großen Gegenstandsbereiche des menschlichen Daseins – zum Beispiel Herrschaft und Politik, Technik und Arbeit, Verkehr und Kommuni-kation, Religion und Wissenschaft sind Zusammenhänge, die sich nicht unabhängig von anderen Dimensionen entwickeln, aber doch auch eigene Wirkungen entfalten.

    Menschliche Grundkonstanten wie Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Spiel, Weiblichkeit und Männlichkeit, Privatheit und Öffentlichkeit, Herrschaft und Partizi-pation, Krieg und Frieden, Selbst- und Fremdwahrnehmung begegnen uns in vielfältigen historischen Varianten. Sie weisen eine wechselvolle Geschichte auf und waren für jede Ge-neration von besonderer Bedeutung, aber fast jede Generation erfuhr sie in anderer Weise. Solange es moderne geschichtliche Forschung gibt, wurden nicht immer alle Dimensionen gleichrangig in den Blick genommen. Um neue Perspektiven herum entstehen neue Berei-che, so z. B. die der relativ neuen Kulturgeschichte. In diesem Buch werden v.a. die Bereiche der Politikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte und der Kulturgeschichte besonders in den Blick genommen.

    Zugriffe

    Die Erschließung von Geschichte kann auf unterschiedliche Arten und Weisen erfolgen, je nachdem worauf der Scheinwerfer des Interesses eines Historikers gerichtet ist:

    – Man kann Geschichte als einen genetisch-chronologischen Durchgang fassen, wie man es häufig in Schulbüchern und in Überblicksdarstellungen findet. Diese Früher-später-Betrachtungsweise aus der Rückschau lässt Geschichte allerdings als eine Einbahnstraße ohne Handlungsalternativen erscheinen.

    – Historische Längsschnitte dagegen verfolgen Entwicklungslinien über lange Zeiträume hinweg, zum Beispiel „Menschenrechte in historischer Perspektive“ (Kapitel 6). Längs-schnitte isolieren allerdings bestimmte Gegenstände und können nicht die ganze Band-breite von Faktoren aufzeigen, die eine Entwicklung bedingen.

    – Der historische Querschnitt betrachtet dagegen eine Momentaufnahme der Geschichte detailreich und in seiner Vielfalt für die Zeitgenossen. Hier zeigt sich besonders gut, wie verschiedene Dimensionen der Geschichte ineinandergreifen, dieser Zugriff vernachläs-sigt allerdings Fragen der Entwicklung bzw. Veränderung.

    – Der historische Einzelfall konzentriert sich auf ein einzelnes historisches Ereignis, z. B. die Eroberung Jerusalems 1099 oder die Eroberung Konstantinopels 1453 (Kapitel 5.4), und bietet so ein großes Maß an Genauigkeit und Anschaulichkeit für ein Phänomen, das in besonderem Maße über sich hinausweist und geeignet ist, paradigmatische Veränderun-gen oder Typisches einer Zeit exemplarisch deutlich zu machen.

    – Das Gegenstück zur Einzelfalluntersuchung bildet die Strukturanalyse, die den inneren Zusammenhang eines Verfassungssystems oder einer Wirtschaftsordnung offenlegen will. Hierzu wird üblicherweise ein Modell oder eine Theorie zur Erklärung herangezogen.

    – Der historische Vergleich schließlich zeigt das Besondere, aber auch das Typische histo-rischer Phänomene auf, zum Beispiel in der Wahrnehmung von Fremden und Fremdsein-erfahrungen (Kapitel 1).

    Zeit

    Der Ablauf der Geschichte in der Zeit ist die elementare historische Grunderfahrung. Geschichte ist definierbar als Ablauf und Entwicklung, Beharrung und Wandel, Dauer und Augenblick, Verschränkung von Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft. Die Zugehörigkeit zu ei-ner Epoche oder einer Generation schafft Prägungen, denen sich niemand entziehen kann. Die bei uns seit Langem herkömmliche, aber unter Forschern nicht un-umstrittene Einteilung der Geschichte in Vor- und Früh-geschichte, Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Mo-derne ist das ausschlaggebende Organisationsprinzip der Geschichtswissenschaft.

    Kulturen und Staaten

    Kulturen – wie etwa die christlich-abendländische, die ost-asiatische oder die islamische – sind relativ großräumige und langlebige historische Gebilde, die zwar eine Vielfalt von Erscheinungsformen aufweisen, aber dennoch eine au-ßerordentliche Prägekraft entwickeln. Dies kommt beson-ders in religiösen Vorstellungen, Denkweisen und Lebens-formen zum Ausdruck. Staaten waren und sind ebenfalls außerordentlich wir-kungsmächtige Größen. In der Geschichtsschreibung war die Geschichte der Staaten, z. B. die Geschichte Deutsch-lands, Großbritanniens oder der USA, wohl stets eines der am häufigsten behandelten Themen.

    Räume

    Die Räume – von den lokalen Nahräumen bis zu den großen Klimazonen und Räume Kontinenten – sind ursprüngliche, natürliche Gegebenheiten, die das Leben jedes Menschen formen, die aber auch ihrerseits, mit geschichtlich wachsen-der Intensität durch den Menschen geprägt und verändert werden. Ob der Lebens-, Kommunikations- und Wirkungsbe-reich historischer Akteure örtlich, regional, staatlich, konti-nental oder global bemessen war, machte ein wesentliches Moment ihrer Geschichte aus. Dementsprechend bildeten sich die geschichtswissenschaftlichen Disziplinen der Orts- und Regionalgeschichte, der Staatengeschichte, der euro-päischen, fernöstlichen, lateinamerikanischen oder ostasia-tischen, der Weltgeschichte heraus.

    Wirtschaft/Gesellschaft

    Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sind die Bedingun-gen und Verhältnisse, unter denen Menschen arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen, zu Wohlstand kommen oder in Armut geraten, wirtschaftliche Macht ausüben oder in Abhängigkeit leben. Jäger und Sammler, Bauern, Handwerker und Kaufleute, die Selbstversorgungs- und die Marktwirtschaft, die agrarische und die industrielle Produk-tion, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus markieren jeweilige historische Existenzbedingungen, die das Leben der Menschen einer Generation, einer sozialen Klasse, ei-ner Bevölkerung oder eines Berufsstandes maßgeblich be-stimmt haben.

    Dimensionen, innerhalb derer sich Geschichte abspielt

    Religionsgeschichte Technikgeschichte

    GeschlechtergeschichteMilitärgeschichte

    GlobalgeschichteKunstgeschichte

    Geschichte von Kulturräumen

    Sozial- und GesellschaftsgeschichteGeschichte politischer Systeme

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    Geschichte deuten und reflektieren

    16 17

  • Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    D StereotypederNeuenWeltinBildern

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    SüdamerikanischeIndianeralsBaumfäller Ausschnitt aus der Südatlantik-Karte von Jorge Reinel aus einem Atlas um 1519.

    AbrahamOrtelius:AllegoriendervierKontinente(TheatrumOrbisTerrarum)� Kupferstich 1603.

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    2Selbst- und Fremdbilder

    1450–1750

  • Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    Q 7

    Dauerhaftigkeitdes„Man-Eating-Myth“� Ausschnitte aus dem Fresko „Apollo und die Kontinente“ von Giovanni Battista Tiepolo (1696 – 1770) im Treppenhaus des Würzburger Schlosses; Grillen von Menschenfleisch (oben) beziehungsweise abgeschlagene Köpfe der zu verspeisenden Menschen (unten) als Teile des Bildes Amerikas in der Darstellung der Erdteile. Deckengemälde ca. 1750.

    Q 8

    Menschenfres-ser,dargestelltalsIllustrationzumBuchdesLandsknechtsHansStaden Kupferstich von Theodor de Bry 1557.

    E DieKontroverseumdenKannibalismusderIndianer

    D 2

    DieAnthropophagie-Kontroverse Der Vorwurf der Anthropophagie führt bis heute in der For-schung zu kontroversen Diskussionen. Angestoßen wurde die Diskussion vor allem durch das Buch von William Arens, „The Man-Eating Myth“ (1979), in dem dieser zwar nicht die Exis-tenz des Kannibalismus generell ausschloss, jedoch vernein-te, dass es ihn als eine kulturell anerkannte, institutionali-sierte Handlung je gegeben habe. Kannibalismus käme nur in extremen Überlebenskrisen wie Hungersnöten oder aber als „antisoziales Verhalten“ vor und sei in der Ethnologie als reguläres kulturelles Verhalten nicht nachweisbar. a) Erwin Frank (1987)Der Glaube an die Existenz von Kannibalen und allgemein akzeptierte Vorstellungen darüber, was Kannibalen tun und warum, ist ein europäisches Kulturgut, das sich bis in die Tage Herodots und Strabos1 zurückverfolgen lässt. Schon

    damals war es eines der wenigen generellen Charakteris-tika der Menschenfresser, dass sie am Rande des bekannten Weltkreises lebten (Irland, Schwarzmeer, Indien) und mit der langsamen Ausweitung dieses Kreises in immer entfern-tere Gegenden rückten. […] Das „Wissen“ um die Existenz von Anthropophagen bildete aber immer nur ein Moment in einem umfangreichen Komplex halb mythischen, halb realen geografisch/ethnologischen Wissens der Europäer der Antike und des Mittelalters, insbesondere auch der frühen Eroberer Amerikas. Andere Momente hierin wa-ren die Amazonen, die Sieben goldenen Städte2, die Insel der Seeligen,3 der Jungbrunnen4, Menschen ohne Kopf oder mit Schwänzen, Riesen, Zwerge sowie verschiedenste Ungeheuer. Die Tatsache, dass all diese mythischen Dinge in den frühen Quellen als in Amerika tatsächlich entdeckt auftauchen, ist ein nur schwer erklärbares Phänomen. Den jeweiligen Autoren schlicht Aufschneiderei vorzuwerfen, ist sicherlich zu einfach. Ich bin geneigt, in dieser verblüffen-den Tatsache ein Resultat des sehr schwierigen Versuchs der Zeugen zu sehen, das gänzlich Neue dieser Welt, mit der sie sich plötzlich konfrontiert fanden, in den ihnen ausschließ-

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    2Selbst- und Fremdbilder

    1450–1750

  • 72 73Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    Arbeitsvorschlägelich zur Verfügung stehenden Termini der Alten Welt zu denken. […] Das präkolumbische europäische Wissen um die Existenz von Kannibalen, die Ausformung des mittel-alterlichen Images des Kannibalen in der negativen Vari-ante des „wilden Mannes“ und dessen frühe und dauerhafte Übertragung auf den neuen Kontinent, schließlich auch noch die Dauerhaftigkeit dieses Images im europäischen Denken bis auf den heutigen Tag, all dies scheint mir die eingangs gestellte Frage ausreichend zu klären, wie die Viel-zahl der Kannibalismusanklagen gegen indianische Grup-pen des tropischen Tieflands (und anderswo!) verständlich ist, wenn das Ergebnis meiner Arbeit richtig ist, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit weder exo- noch endokanni-balistisches5 Fleischessen von einer der Gruppen meines Untersuchungsraumes (möglicherweise aber auch darüber hinaus) jemals praktiziert worden ist. Im Gegenteil scheint es mir heute erklärungsbedürftig, warum zumindest in den Missionsdokumenten Kannibalismusanklagen trotz allem so relativ selten sind!Zit. nach: Erwin Frank, „Yse lo comen.“ Kritische Studie der Schriftquellen zum Kannibalismus der panosprachigen Indianer Ost-Perus und Brasili-ens, Bonn 1987, S. 188 – 197.

    b) Astrid Wendt (1989)Astrid Wendt schließt aus dem Textvergleich auf den Wahr-heitsgehalt der Anthropophagie-Beschreibungen und wertet die Übereinstimmungen als Beleg für die Authentizität der Texte:Alle Europäer, die sich im 16. und 17. Jh. an der Ostküste Südamerikas aufhielten, erwähnen die Sitte der Küsten-Tupi, gefangen genommene Feinde im Rahmen eines Ze-remoniells zu töten und zu verspeisen. […] Wesentliche Unterschiede in der Berichterstattung – was den Ablauf

    des rituellen Geschehens angeht – lassen sich nicht fest-stellen, Autoren verschiedenster Herkunft und Nationalität stimmen miteinander überein. Sie alle berichten, dass auf Kriegszügen Gefangene gemacht wurden, die anschließend in die Gesellschaft ihrer neuen Herren integriert, gut behan-delt und nach zum Teil monate- oder jahrelanger „Gefan-genschaft“ festlich getötet wurden. Anschließend wurde ihr Leichnam zerteilt, zubereitet und den Teilnehmern des fest-lichen Mahls zum Verzehr übergeben. Die Wahrnehmung des Kannibalismus bei den europäischen Beobachtern war somit einheitlich. Dies und die Tatsache, dass in den schrift-lichen Quellen die Anthropophagie nicht immer zur Diskri-minierung der betreffenden Gesellschaft eingesetzt wurde, lässt bei aller gebotenen Vorsicht den Schluss zu, dass die Kernaussagen der Berichte den tatsächlichen Abläufen ent-sprachen und nicht Produkte einer zielgerichteten Fantasie waren, der es auf die Abwertung der „Wilden“ ankam.Zit. nach: Astrid Wendt, Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse euro-päischer Reiseberichte und Amerika-Darstellungen für die Zeit zwischen 1500 und 1654, Frankfurt/M. 1989, S. 214.

    1 HerodotundStrabo:antikeHistorikerundGeografen,derenWerkegroßenEinflussauchaufdiegeografischenVorstellungendesMittelaltersausübten

    2 SiebengoldeneStädte:EinesehralteVorstellunggingvonsiebenStädtenaufeinersagenhaftenInselimAtlantikaus.DieSpaniervermutetenim16.JahrhundertimheutigenMexikofälschlicherweisesiebengoldeneStädte.

    3 InselderSeeligen–eineVorstellungdergriechischenMythologie:InselnimWestendesErdkreises,wohinHeldenentführtwerden,denendieUnsterblichkeitgeschenktwird

    4 Jungbrunnen:voralleminderVolkssageverbreiteteVorstellungeinesBrunnens,dessenWasseralteMenschenwiederjungwerdenließ

    5 DieEthnologenunterscheidenzwischenEndoKannibalismus,beidemAngehörigedereigenenGruppeverzehrtwerden,wasihremZusammenhaltdienenunddenTotendenStatusvonVorfahrenverleihensoll,undeinemExoKannibalismus,woderFeindverzehrtwirdausRacheoderumsichdessenTugendeneinzuverleiben.

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    A VoraussetzungenderKulturbegegnung1. Geben Sie wieder, was Sie über die Kultur der

    Menschen im Amazonas-Gebiet und die Bewohner Afrikas vor 1500 wissen. Ordnen Sie diese Vorstel-lungen den folgenden Kategorien zu: Wirtschaft, Kultur- und Lebensweise, soziale Organisation, Religion. [I]

    2. Vergleichen Sie anhand der Geschichtskarte (D 1 sowie Karte S. 49) und des einführenden Textes des Kapitels, was Europäer und Araber vor 1500 von der Welt kannten. [II] 0

    3. Charakterisieren Sie die Wahrnehmung des Frem-den an den Grenzen der bekannten Welt. Welche Vorstellungen existierten zu Völkern im Süden und im Norden der bekannten Welt? Entwickeln Sie davon ausgehend mögliche Szenarien, wie diese Vorstellungen auf neue Begegnungen mit unbe-kannten Kulturen einwirken könnten. [III]

    B ErstaunenundFurcht:KulturbegegnungausportugiesischerundafrikanischerSicht4. Vergleichen Sie die Wahrnehmung des Kulturkon-

    takts der Portugiesen mit Bewohnern Afrikas aus beiden Perspektiven:

    a) Beschreiben Sie zunächst die afrikanische Pers-pektive aus Q 1c und berücksichtigen Sie dabei den Charakter der Quelle als mündlicher Überlieferung. Welche Wahrnehmung der Portugiesen hinsicht-lich der ersten Begegnung und ihrer Folgen spie-gelt sich in der Quelle? [I] 0

    b) Charakterisieren Sie die Beschreibung der ersten Begegnung durch Alvise Cadamosto (Q 1a und b): Welche Reaktionen der Afrikaner schildert er? Wel-ches Bild der afrikanischen Bevölkerung wird so in seinem Bericht erzeugt? [II]

    c) Vergleichen Sie die wechselseitige Wahrnehmung: Wie lässt sich der Charakter des Kulturkontakts auch unter Berücksichtigung der Definitionen auf S. 62 (Reiseberichte als Erweiterung des Wissens) multiperspektivisch beschreiben? [III]

    C VespucciundMenschenfresserinderNeuenWelt5. Interpretieren Sie den Reisebericht Vespuccis (Q 3)

    in folgenden Schritten: a) Arbeiten Sie stichpunktartig im Bericht Vespuccis

    heraus, wie er die Indianer beschreibt. Berücksich-tigen Sie folgende Aspekte: Aussehen und Kör-perbau; Herrschaftsform und soziale Verhältnisse; Religion; Wirtschaftsweise; Sitten und Gebräuche.

    Ordnen Sie die Beobachtungen Vespuccis den konträren Begriffen „Faszination“ und „Abscheu/Ablehnung“ zu. [II]

    b) Überprüfen Sie die Schlussfolgerungen Vespuccis auf ihre Schlüssigkeit. Diskutieren Sie, wo sich Übertreibungen oder kulturelle Verwechslungen vermuten lassen. [III]

    c) Setzen Sie sich mit dem zwiespältigen Verhältnis zwischen europäischer Zivilisation und ursprüng-licher Lebensweise, das in Vespuccis Bericht zum Ausdruck kommt, auseinander. [III]

    D StereotypederNeuenWeltinBildern6. Beschreiben Sie die Kontinente in der allegori-

    schen Darstellung Q 6. [I] 07. Analysieren Sie die Bildquellen im Hinblick auf ihre

    Darstellung der Indianer. Vergleichen Sie das Bild der Indianer des Amazonas-Gebiets in der Darstel-lung als Anthropophagen von Theodor de Bry (Q 8) und als Holzfäller in der Karte von Jorge Reinel (Q 5). Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit dem Rei-sebericht Amerigo Vespuccis (Q 3). [II]

    8. Diskutieren Sie die Wirkung der Bilder im Gegen-satz zu den Reiseberichten hinsichtlich der Verfes-tigung von Stereotypen über andere Völker. Bezie-hen Sie dabei die 200 Jahre später entstandenen Deckengemälde im Würzburger Schloss (Q 7) mit in Ihre Überlegungen ein. [III]

    E DieKontroverseumdenKannibalismusderIndianer9. Stellen Sie die Argumente von Erwin Frank und

    Astrid Wendt zu dem Wahrheitsgehalt der früh-neuzeitlichen Berichte über Menschenfresser bei Indianern einander gegenüber (D 2). [II]

    10. Beurteilen Sie, warum die Ähnlichkeit der Darstel-lungen von Kannibalen in den frühneuzeitlichen Reiseberichten bei den Historikern zu unterschied-lichen Schlüssen führt. Diskutieren Sie, wessen Argumentation Ihnen plausibler erscheint. [III]

    Differenzierungsmaterial

    0 ArbeitshilfenzudenAufgaben2,4a,624tt3q

    2Selbst- und Fremdbilder

    1450–1750

  • 74 75

    3 Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

    Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    3.1 EinSchmelztiegelderKulturen?

    Migration–eineAnnäherungDer Fachbegriff Migration bezeichnet die freiwillige oder unfreiwillige Auswanderung von Menschen aus ihrer Heimat in die Fremde. Diese Menschen folgen dabei sehr unterschied-lichen Motiven. Die Suche nach Arbeit, die Flucht vor politischer Verfolgung und Unterdrü-ckung können ebenso Anlass für die Auswanderung sein wie der Wunsch nach einer Verbes-serung der persönlichen Lebens- und Bildungsmöglichkeiten. Migration ist ein vielfältiges Phänomen: Sie kann zeitlich begrenzt (beispielsweise bei Saisonarbeiten in der Wein- oder Spargelernte) erfolgen oder dauerhaft. Sie kann innerhalb der Staatsgrenzen stattfinden (Binnenmigration) oder über Kontinente hinweggehen (zum Beispiel bei der Auswande-rung von Europäern nach Amerika im 19. Jahrhundert). Manchmal wird sie vom Einwan-derungsland staatlich gefördert (wie zum Beispiel bei den „Gastarbeitern“ in Deutschland 1955 – 1973).

    MigrationalswelthistorischesPhänomenMenschen fühlen sich ihrer Heimat in besonderer Weise verbunden. „Zu Hause sein“: Wer gibt dieses Gefühl schon gern auf, lässt alles Vertraute hinter sich und wandert in ein frem-des Land aus? Auf den ersten Blick mag es deshalb überraschend erscheinen, dass Migra-tion keinesfalls ein Randphänomen unserer Geschichte und Gegenwart darstellt. Migra-tion hat es zu allen Zeiten gegeben, und zwar überall auf der Welt. Mit der industriellen Revolution erlangte sie ab dem 19. Jahrhundert ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Die Erfindungen der Eisenbahn und des Dampfschiffs erhöhten die Mobilität vieler Menschen. Die Bergbau- und Stahlindustrie schuf in kurzer Zeit zahlreiche Arbeitsstellen in bestimm-ten, geografisch begrenzten Regionen. Diese wuchsen schnell zu großstädtischen Zentren heran (Urbanisierung).

    DieEntstehungdesRuhrgebiets:IndustrialisierungundArbeitsmigrationFür den Schriftsteller Joseph Roth war 1926 das Ruhrgebiet einfach nur die Rauchstadt: „Hier ist der Rauch ein Himmel. Alle Städte verbindet er.“ Wie in vielen Regionen Europas kam die Industrialisierung mit dem Bau der Eisenbahnen – der Errichtung der Köln-Min-dener-Bahn in den 1840er-Jahren – in die bis dahin ländlich geprägte Region an der Ruhr. Doch in nur wenige Gebiete Europas erhielt die Industrialisierung so schnell Einzug: Ab den 1870er-Jahren verfügte das Ruhrgebiet über das dichteste Eisenbahnnetz Europas. Inner-halb kürzester Zeit wurde aus zahlreichen Kleinstädten ein industrieller Ballungsraum, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf über 3 Millionen Einwohner angewachsen war.

    1 D3 – D4 , S. 77 – 78

    1 Kapitel 3.3, S. 86 – 87

    1 Erinnern Sie sich an das Thema „Industrielle Revolution“ in Geschichte Sek. I

    1 D1 – D2 , S. 76 – 77

    1 Q1 – Q2 , S. 76

    DasRuhrgebietgäbeesnichtohneseineZuwanderer.DocherstindenletztenJahrenisteineöffentlicheDiskussiondarüberentstanden,welcheBedeutungdiefremdenZuwan-dererfürdieheutigeIdentitätdesRuhrgebietshaben.AlsimJahr2010die„Ruhrstadt“zurKulturmetropoleEuropasernanntwurde,dagabsiesichselbstdenNamen„MetropolederVielfalt“.DerHistorikerKlausTenfeldesetztesichfürein„DenkmalfürdieMigrantenundMigrantinnendesRuhrgebiets“ein.IstdasRuhrgebiettatsächlicheineweltoffene„Met-ropolederVielfalt“,ein„SchmelztiegelderKulturen“–oderüberwiegenvielmehrdieProb-lemeimZusammenlebenverschiedenerNationalitäten,EthnienundReligionen?

    Anwohner und gelernte Facharbeiter konnten das Ausmaß an Arbeit schnell nicht mehr al-lein bewältigen. So zogen in einer ersten Zuwanderungswelle Arbeitskräfte aus dem unmit-telbaren Umfeld – Westfalen, Rheinland und Hessen – ins Ruhrgebiet. In einer zweiten Zu-wanderungswelle gelangten dann Niederländer, Belgier und die sogenannten „Ruhrpolen“ an die Ruhr. Mithilfe der vielen ansässigen und ortsfremden Arbeitskräfte entwickelte sich „das Ruhrgebiet“ zu einem der größten Ballungsräume Europas. Allerdings sorgte die zü-gige Industrialisierung auch für zahlreiche Probleme: Wohnungsnot, mangelhafte Hygiene-bedingungen sowie körperlich schwere Arbeiten gestalteten das Leben im Ruhrgebiet schwierig. So entstand das Bild von einer kulturlosen Arbeiterstadt, die kaum lebenswerte Vorzüge zu bieten hatte: die „Rauchstadt“.

    DasRuhrgebietzwischendenFronten:WeltkriegeundZwangsmigrationIm Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) konnte die anfallende Arbeit in Rüstung und Bergbau nicht länger von den üblichen Arbeitern bewältigt werden, weil sehr viele von ihnen in den Krieg eingezogen wurden. Besonders wichtig war in den Kriegsjahren die Rüstungsindustrie. Das Ruhrgebiet war mit dem politischen Aufstieg des Deutschen Kaiserreichs zur „Waffen-schmiede des Reichs“ geworden. So mussten neben Frauen und Jugendlichen auch Zehn-tausende ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener insbesondere aus Belgien und Frankreich in den Zechen und in der Industrie arbeiten. Im Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) wurden besonders polnische und sowjetische Zwangs-arbeiter herangezogen. Der Umfang eines solchen Zwangsarbeitereinsatzes zu schwerer Arbeit unter erniedrigenden, menschenunwürdigen Bedingungen nahm unter der natio-nalsozialistischen Herrschaft eine bis dahin unbekannte Dimension an. 1944 machten die ausländischen Zwangsarbeiter gut ein Drittel der gesamten Bergbaubelegschaft des Ruhr-gebiets aus.

    DasRuhrgebietinderBRD:DasWirtschaftswunderunddie„Gastarbeiter“Nach der nahezu vollständigen Zerstörung des Ruhrgebiets im Zweiten Weltkrieg wurden für den Wiederaufbau nach 1945 zahlreiche Arbeiter benötigt. Zwar gelangte mit Ende des Kriegs 1945 eine hohe Anzahl an Flüchtlingen an die Ruhr, diese allein konnten den Be-darf an Arbeitern allerdings nicht decken. Auf der Suche nach Arbeitskräften schloss die Bundesrepublik Deutschland sogenannte Anwerbeabkommen mit mehreren Staaten ab, so zum Beispiel mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko und Jugoslawien. Durch diese Abkommen kamen zahlreiche Migranten auch ins Ruhrgebiet. Sie übernahmen größtenteils Schwerstarbeiten unter Tage und in Kokereien. Für diese Arbeiter setzte sich in ganz Deutschland bald der Begriff „Gastarbeiter“ durch. Dieser Begriff verdeutlicht, dass man die fremden Arbeiter zwar gern für eine begrenzte Zeit aufnahm, zugleich jedoch erwartete die deutsche Bevölkerung von ihnen, dass sie nach ein oder zwei Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Unterstützt wurden diese Vorstellungen von der deutschen Politik. Erst allmählich wandelten sich diese Vorstellun-gen eines vorübergehenden Miteinanders. Aus den „Gastarbeitern“ wurden Mitbürger, die einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau des Ruhrgebiets und zum Wirtschaftsauf-schwung geleistet hatten. Migration im Ruhrgebiet – das ist kein abgeschlossenes Thema der Geschichte. Die Integration der zahlreichen Migranten aus aller Welt steht heute vor ganz anderen Herausforderungen als noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Die Öff-nung der EU-Grenzen hat die Migration innerhalb von Europa deutlich erleichtert. Trotz ho-her Arbeitslosenzahlen werden auch weiterhin Fachkräfte aus aller Welt in der deutschen Wirtschaft benötigt. Die Situation für neue Migranten könnte kaum unterschiedlicher sein. Während europapolitische Initiativen wie die „Blaue Karte“ (Blue Card) den Zuzug dringend benötigter, hoch qualifizierter Arbeitskräfte zu lukrativen Bedingungen anzuregen versu-chen, leiden gerade geringer Qualifizierte unter ärmlichen Verhältnissen, gesellschaftlichen Ressentiments und politischer Ignoranz.

    1 Kapitel 3.2, S. 80 – 81

    1 Erinnern Sie sich an das Thema Erster bzw. Zweiter Weltkrieg in Geschichte Sek. I

    1 Kapitel 3.3, S. 86 – 87

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    SurftippHaus der Geschichte des Ruhrgebiets7vi6k8

    1 Erinnern Sie sich an Erdkunde „Identität und Lebens-gestaltung im Wandel der modernen Gesellschaft“

  • Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

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    SozialeMobilitätalsMassenphänomen Der Historiker Sebastian Conrad beschreibt die Bedeutung von Migration und Mobilität um 1900:Deutschland um 1900 war in Bewegung. Wanderer und Handwerkergesellen bevölkerten wie in den Jahrzehnten zuvor die Landstraßen. Eisenbahn, Tourismusindustrie und

    D1

    A ExplosivesurbanesWachstumimRuhrgebietdurchMigration

    B Bedingtsichgegenseitig–MigrationdankMobilität

    C DefinitionsmusterfürMigrationsgesellschaften

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    AnsichtvonBochum Zu dieser Zeit umfasste die Stadt etwa 5 000 Einwohner. Lithografie 1830.

    AnsichtvonBochumvomNordbahnhofausgesehen Zu dieser Zeit umfasste die Stadt etwa 50 000 Einwohner (1905 waren es bereits ca. 118 500). Zeichnung ca. 1880.

    Q1

    Q2

    Eisenbahn,IndustrialisierungundMigration Der Recklinghäuser Stadtarchivar Matthias Kordes beschreibt 2010 den Zusammenhang von der Eisenbahn und der Migration:

    LeitvorstellungenfürMigrationsgesellschaften

    Assimilation Migranten passen sich kulturell an die heimische Gesellschaft an; diese verändert sich nicht1 Identität der Zuwanderer geht verloren

    Multikulturalismus(„Multi-Kulti-Gesell-schaft“)

    Verschiedene Kulturen und Sprachen in einer Gesellschaft sind gewollt, der Erhalt verschiedener Identitäten wird gefördert, ebenso das Zusammenleben dieser verschiedenen Kulturen, die von-einander profitieren sollen.

    Parallelgesellschaft Die verschiedenen Kulturen vermischen sich nicht; sie existieren bloß nebeneinander. Der Begriff wird oft einseitig als Vorwurf der Mehrheitsgesellschaft an eine Migrationsgruppe verwendet, die sich (angeblich) räumlich und kulturell abschottet und die Grundwerte der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert.

    Schmelztiegel(„MeltingPot“)

    Die Gesellschaft definiert sich selbst als Einwanderergesellschaft ohne eine vorangehende „heimi-sche“ Bevölkerung. Verschiedenste kulturelle Einflüsse erzeugen eine Identität als Zuwandererland, die sich jedoch mit neuen Zuwanderern immer wieder verändern kann. Beispiel: USA.

    Segregation(Ausgrenzung)

    Soziale und räumliche („Gettos“) Ausgrenzung der Zuwanderer, die als Fremde wahrgenommen und diskriminiert werden. Oft werden die Fremden von der heimischen Gesellschaft als Bedrohung ihrer eigenen Identität verstanden.

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    Seebäder zeugten von der Mobilität des Bürgertums. Das Wachstum der Bevölkerung, die zunehmende Anziehungs-kraft der Städte und die ökonomischen Möglichkeiten in den Industriezentren führten zu einer wahren Landflucht. Die Migration vom Land in die urbanen Zentren wiederum war häufig nur die erste Etappe größerer Bewegungen, die zahlreiche Deutsche nach Übersee brachten – und häufig auch wieder zurück. Zwischen 1880 und 1893 verließen

    Die Eisenbahn als völlig neue „Netzwerktechnologie“ war nicht nur Vehikel nationaler und wirtschaftlicher Integ-ration, sondern legte buchstäblich auch die „Spur“ für die Migration ins Ruhrgebiet. Das neue Massenverkehrsmittel wurde zum „Zug der Millionen“ und öffnete „Ventile für ge-waltige Migrationsbewegungen über Hunderte, ja Tausende von Kilometern hinweg“. Um 1900 war in Deutschland das Schienennetz, übrigens das dichteste in ganz Europa, mit gut 60 000 Streckenkilometern bereits komplett geknüpft. Ein in den 1880er-Jahren eingeführter Sozialtarif bei den preußischen Staatsbahnen machte tagelange Fahrten in der 3. Klasse („Holzklasse“) oder in der unmöblierten, vieh-waggonähnlichen 4. Klasse bald auch für Geringverdie-nende erschwinglich. Dieser Billigverkehr ließ für einen sogenannten Pfennigtarif (ein Pfennig pro Meile) nicht nur Industriegüter und Rohstoffe massenhaft auf Reisen gehen, sondern eben auch Menschen. Viele der großen Bahnhöfe mit ihren stählernen Hallengewölben, die auch im werden-den Ruhrgebiet oft genug wie historische Stadtschlösser ge-staltet waren, wurden zu regelrechten Menschenschleusen und „Terminals“ für die einströmenden Einwanderer aus dem preußisch-polnischen Osten. Ab 1870 war auch Reck-linghausen „am Netz“.Zit. nach: Matthias Kordes: Wohnen, Leben und Arbeiten von Fremden im Revier. Der Stadtteil Hochlarmark als Brennpunkt der Recklinghäuser Migrationsgeschichte. In: Wisotzky, Klaus/Wölk, Ingrid (Hg.): Fremde(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im Ruhrgebiet. Ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas RUHR 2010. Katalog zur Ausstellungsreihe, Essen 2010, S. 284 – 288, hier S. 285.

    rund zwei Millionen Deutsche das Land; darüber hinaus waren die deutschen Häfen Durchgangsstation für Aus-wandererströme aus Osteuropa. Allein von Bremerhaven aus migrierten vor dem Weltkrieg etwa sieben Millionen Menschen über den Atlantik. Deutschland war jedoch nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel zahlreicher Einwan-derer, etwa aus Holland, Polen und Italien, die permanent oder nur temporär nach Arbeit suchten. Ein großer Teil der Bewegungen war keineswegs endgültig, sondern nur der Auftakt zu weiteren. Zahlreiche Saisonarbeiter und „Sach-sengänger“ sorgten in der Erntezeit für Vollbeschäftigung in der Landwirtschaft. Der Nationalökonom Werner Sombart verglich Deutschland mit einem Ameisenhaufen, in den ein Spaziergänger seinen Stock gestoßen hat. Zwischen 1890 und 1914 wurde die Mobilität in, von und nach Deutsch-land zu „einem Massenphänomen, für das es in Europa bis-her kein Vorbild gab“ (Wehler). Zit. nach: Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 13.

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    1834–heute

    3Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

  • 78 79Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    Arbeitsvorschläge

    Differenzierungsmaterial

    0 Arbeitshilfen zu den Aufgaben 9 und 10a ha6uz3

    D QuantitätderMigrationsströme

    Migrationsströme1840–1940 a) Visualisierungsversuch von Migrationsströmen zwischen 1840 und 1940 in Form einer Geschichtskarte.

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    b) Verdeutlichung der Bedeutung von Migration im 19. und 20. Jahrhundert durch Beispielzahlen:

    – Allein 56 Millionen Europäer verließen von 1840 bis 1940 ihr Heimatland, um hauptsächlich in den USA und Ar-gentinien ein neues Leben zu beginnen. Deutschland war in dieser Zeit ein Auswandererland. Das änderte sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts allmählich.

    – Weitere 46 bis 51 Millionen Asiaten verließen in demsel-ben Zeitraum ihre Heimat. Sie ließen sich zum Beispiel in Sibirien, das mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn zahlreiche Arbeitskräfte anlockte, oder der als wohlha-bend geltenden Mandschurei (heute im Nordosten Chi-nas) nieder.

    – Zwangsmigration infolge von Krieg und Vertreibung spielte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Eu-ropa und Asien eine große Rolle. Allein in der Zeit von 1939 bis 1943 während des Zweiten Weltkriegs wird die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten in Europa auf 30 Millionen geschätzt. Im Japanisch-Chine-sischen Krieg wird diese Zahl sogar noch deutlich über-troffen: Man schätzt, dass im Zuge dieses Kriegs von 1937 bis 1945 etwa 95 Millionen Menschen vertrieben wurden.

    – Heute leben circa 200 Millionen Menschen in der Fremde. Die Länder mit dem höchsten Migrationsanteil sind in der Gegenwart (2014) Katar (78 %) und Saudi-Arabien (71 %). In Deutschland leben ca. 9 % Menschen mit ei-nem ausländischen Pass, etwa 19 % Menschen mit einem Migrationshintergrund.

    – Auch für das Ruhrgebiet spielt Migration eine bedeu-tende Rolle. 12 % der heute im Ruhrgebiet lebenden Menschen haben einen ausländischen Pass. Diese Men-schen kommen aus etwa 140 verschiedenen Nationen, die meisten von ihnen aus der Türkei. Hinzu kommen die in Deutschland eingebürgerten Personen sowie jene mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Statistisch nicht erfasst sind zudem illegale Zuwanderer. Damit ist das Ruhrgebiet neben Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet der wichtigste Migrationsstandort in Deutschland. Doch die Bedeutung, die der Migration für die Geschichte und Identität des Ruhrgebiets zukommt, bemisst sich nicht allein an Zahlen.

    Zusammengestellt vom Autor

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    A ExplosivesurbanesWachstumimRuhrgebietdurchMigration1. In der eigenen Familiengeschichte forschen:

    Untersuchen Sie Ihre eigene Familiengeschichte, indem Sie Eltern und Großeltern befragen! Wann ist Ihre Familie in den Ort gekommen, in dem Sie heute wohnen? Woher kam sie? Wie und warum ist sie in Ihren heutigen Wohnort gelangt? Welche Rolle spielt Migration in Ihrer Familie? Stellen Sie Ihre Ergebnisse im Kurs vor. [II]

    2. Fertigen Sie auf der Basis des darstellenden Textes sowie D 4 eine Strukturskizze zum Thema „ Migration: Definition – Geschichte – Phänomene“ an. [I]

    3. „Jeder Mensch ist ein Migrant.“ Diskutieren Sie diese Aussage einiger Migrationsforscher vor dem Hintergrund der Fakten und Zahlen zur Geschichte der Migration aus D 4. [III]

    4. Beschreiben Sie die Bilder Q 1 und Q 2. Beschreiben Sie, welchen Eindruck die Darstellungen von Bo-chum von 1845 und 1890 auf Sie machen? Begrün-den Sie Ihre Eindrücke. [I]

    5. Recherchieren Sie Zahlen zum Bevölkerungs-wachstum in Bochum und anderen Ruhrgebiets-städten. Nutzen Sie dafür zum Beispiel die Surf-tipps im Onlineservice. [I]

    6. Benennen Sie Faktoren, die zu dem Wachstum der Ruhrgebietsstädte im 19. Jahrhundert geführt haben, und benennen Sie auch die Bedeutung der Migration in diesem Zusammenhang. [I]

    B Bedingtsichgegenseitig–MigrationdankMobilität7. Charakterisieren Sie mithilfe von D 1 und D 2

    die wachsende Bedeutung von Migration und Mobilität im Deutschen Kaiserreich. [II]

    ÜbergreifendeAufgaben8. Benennen Sie mithilfe des darstellenden Textes

    (S. 74 – 75) sowie des weiterführenden Textes „Das Ruhrgebiet in der BRD: Wirtschaftswunder und Gastarbeiter“ im Onlineangebot Erscheinungs-formen, Motive und Merkmale von Migration ins Ruhrgebiet im 19. und 20. Jahrhundert. [I]

    9. Das Ruhrgebiet: Ein Schmelztiegel der Kulturen? Führen Sie zu dieser Fragestellung mithilfe der Materialien und des darstellenden Textes des Kapitels 3.1 eine strukturierte Kontroverse durch. [III] 0

    10. Im Jahr 2010 forderte der Ruhrgebietshistoriker Klaus Tenfelde ein Denkmal für die Migranten und Migrantinnen des Ruhrgebiets.

    a) Entwerfen Sie Rollenkarten und führen Sie eine Talkshow zu der Frage durch, ob das Ruhrgebiet ein Denkmal für die Migranten und Migrantinnen braucht. [III] 0

    b) Sollten Sie ein Denkmal befürworten, entwerfen Sie Ideen und Skizzen für ein solches Denkmal. Wie sollte es aussehen? Welche Symbole, Per-sonen, Bilder und Texte sollte es enthalten? Wo könnte es stehen? Präsentieren Sie Ihre Entwürfe im Kurs. [III]

    11. Recherchieren Sie zu einem Phänomen der Mig-rationsgeschichte des Ruhrgebiets (zum Beispiel „Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg“) weitere Hin-tergrundinformationen und stellen Sie diese dem Kurs – zum Beispiel in Form einer PowerPoint-Präsentation – vor. Weitere Materiali-en finden Sie unter den Surftipps. [III]

    SurftippMigrationeh3a2e

    TippStrukturierte Kontroverseu25r7m

    1834–heute

    3Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

  • 80 81Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    3.2 MigrationundIntegration:Die„Ruhrpolen“

    AusderHeimat…Die „ostpreußischen Landschaften“ gelten noch in der Gegenwart als dünn besiedelt und mit ihren zahlreichen Seen und Wäldern als reizvoll. Auch im 19. Jahrhundert waren diese Gegenden agrarisch geprägt. Wer hier aufwuchs, der lebte von Wald- und Forstwirtschaft oder der Fischerei. Ostpreußen galt aufgrund seiner reichen Ernte als „Kornkammer des Reichs“. Doch ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum sowie die ausbleibende Industrialisierung sorgten für eine steigende Arbeitslosigkeit. Arbeiter wurden nicht selten in Naturalien wie Lebensmittel oder Heizmaterialien bezahlt. Das Ruhrgebiet, in dem gut bezahlte Arbeit wartete, zog deswegen viele preußische Landarbeiter an. Zu diesen wirt-schaftlichen Motiven der Auswanderung kamen politische hinzu. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 begann in den Gebieten an der Ostgrenze des Reichs eine strenge Germanisierungspolitik. Die polnischsprachige Bevölkerung wurde diskriminiert.

    Als„Ruhrpolen“werdendiecirca450000von1871bis1914ausdenpreußischenProvinzenöstlichderElbeinsRuhrgebietzugewandertenpolnischsprachigenMenschenbezeichnet.DerBegriffistmissverständlich,dennlangenichtalle„Ruhrpolen“betrachtetensichauchalsPolen.InsbesonderedieMasuren,dieguteinDrittelvonihnenausmachten,grenztensichdurchihrenevangelischenGlaubenvondenstrengkatholischenPolenab.DieEinwoh-nerdesRuhrgebietsnahmensolcheUnterscheidungenallerdingsnichtwahrundbenutz-tendenvereinheitlichendenBegriff„Ruhrpolen“odersprachenabwertendvon„Polacken“.

    InderFremde…Die Masuren und Polen, die zwischen 1871 und 1914 ins Ruhrgebiet gelangten, sprachen in der Regel kein Deutsch und waren ein naturnahes Leben und Landarbeit gewohnt. Nun lebten sie in einem urbanen Industriezentrum in äußerst beengten Verhältnissen. Als un-gelernte Arbeiter ohne Kenntnis der Sprache ihrer Vorgesetzten oder der ohnehin wenigen Unfallwarnschilder in den Betrieben erfüllten sie die beschwerliche Arbeit in der Bergbauin-dustrie. Die guten Verdienstmöglichkeiten stellten für die in ihrer Heimat stets unterbezahl-ten oder arbeitslosen Migranten jedoch einen attraktiven Anreiz dar. Oftmals arbeiteten sie sogar unter dem durchschnittlichen Lohnniveau. Dies bescherte ihnen zwar die Aner-kennung ihrer Vorgesetzten, zugleich jedoch wurden sie in der deutschen Arbeiterschaft als „Lohndrücker“ angefeindet. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Po-len und Masuren sich zunächst vom Gewerkschaftsleben abschotteten. Dies änderte sich jedoch, als ein Streik polnischer Bergleute 1899 niedergeschlagen wurde und seine Ziele komplett verfehlte. Als Konsequenz gründeten Polen nun eigene Gewerkschaften, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Zugute kam ihnen dabei, dass sie als „Inlandspolen“ – also als Polen mit einer deutschen Staatsbürgerschaft – das Recht besaßen, eigene Vereine zu gründen. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die „Ruhrpolen“ durch zahlreiche Interessen-vertretungen und Vereine bestens organisiert. Sie engagierten sich politisch, religiös und gewerkschaftlich. Viele „Ruhrpolen“ fühlten sich nach anfänglichen Abschottungstenden-zen im Ruhrgebiet mehr und mehr zu Hause und planten nicht zurückzukehren.

    …eineneueHeimatfinden?Dass von einer rundum gelungenen Integration im Falle der „Ruhrpolen“ letztlich nicht ge-sprochen werden kann, liegt besonders an den antipolnischen Stimmungen im Kaiserreich und nach dem Ersten Weltkrieg. Das zeigt sich exemplarisch an der Rolle der katholischen Kirche. Mit polnischen Messen waren deutsche Priester zunächst auf die Bedürfnisse der streng gläubigen Polen eingegangen. Ab 1895 übte jedoch der preußische Staat vermehrt Druck auf die Kirche aus, das „gefährliche“ Nationalbewusstsein der Polen nicht länger zu unterstützen. Daraufhin verschlechterte sich das Verhältnis vieler Polen zur Kirche, die bis dahin ein wichtiger Anker im Integrationsprozess der Migranten zwischen Anpassung und Bewahrung der eigenen Identität gewesen war. Hinzu kamen antipolnische Stimmungen in der deutschen Gesellschaft, die auch Teile der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets umfasste. Viele Deutsche vertraten das Vorurteil, dass Polen schmutzig, ungebildet und kriminell seien. Deutsche Nationalisten empfanden die polnische Minderheit als Gefährdung einer reinen deutschen Identität. Mit der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg und der Wiedergründung eines polnischen Staates verstärkten sich diese Vorurteile noch. Denn der von der deut-schen Bevölkerung als ungerecht empfundene Versailler Vertrag sah auch die Abtretung preußischen Staatsgebiets vor. So machten viele „Ruhrpolen“ nach 1918 von der Möglich-keit Gebrauch, in den neuen polnischen Staat abzuwandern. Ein weiterer Teil wanderte in die Industriegebiete in Belgien und Frankreich ab. Von den gut 450 000 in das Ruhrgebiet zugewanderten Polen und Masuren waren schon 1925 nur ca. 100 000 verblieben. Nach 1925 verstärkte sich bei diesen Verbliebenen der Trend zur Anpassung und Aufgabe der eigenen Identität. Dies zeigt sich exemplarisch an dem Skandal um die masurischen Mitspieler der Fußballmeistermannschaft des FC Schalke 04 von 1934. Ähnliche Fragen stellten sich aber auch in anderen Zechenvereinen, sei es in Dortmund, Herne oder Bochum. Nach 1945 präg-ten immer stärker italienische, jugoslawische, türkische und arabische Einwanderer das Ruhrgebiet. Nur wenige Spuren – zum Beispiel polnische Namen wie der des in den 1980er- und 1990er-Jahren bekannten Tatort-Kommissars Schimanski aus Duisburg – erinnern bis heute an ihre Geschichte.

    1 Q4 – Q5 , S. 83 – 84

    1 Perspektivenwechsel, S. 92 – 93

    ArbeitsmigrationsströmeindasRuhrgebiet2.Hälfte19.Jahrhundert

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    1 Erinnern Sie sich an Erdkunde „räumliche Auswirkung von Migration in Her-kunfts- und Zielgebieten“

    1834–heute

    3Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

  • Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

    A Integration–nichtgewollt?

    B UmworbeneundbeneideteArbeitskräfte

    FahnedespolnischenKnappenvereinsDortmund-Eving,1898 „Tow. Katolickie polskich/Górników/pod. opieka sw Barbary/w Eving (= Verein der katholischen Bergleute aus Polen unter dem Schutz der Heiligen Barbara).

    StraßenszenederDreieck-Zechen-siedlungimStadtteilHochlarmarkinRecklinghausen Die Dreiecksiedlung Hochlarmark ist ein typisches Beispiel einer neuen Wohnsiedlung für zugewanderte Zechen arbeiter. Zwischen 1901 und 1903 wurden zunächst 62 Vierfamilienhäuser mit zweieinhalb Geschossen erbaut. Die Häuser verfügten über größere Gärten zur Selbstversorgung sowie angebaute Ställe mit Heuboden für Kleinvieh. Die Wohnungen besaßen eine Grundfläche von 75 m².

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    „Ausunshätteauchmehrwerdenkönnen…“ Eine polnische Hausfrau, 1903 geboren, berichtet rückblickend von ihrer Kindheit im Ruhrgebiet:Aus uns hätte auch mehr werden können, aber als wir aus der Schule kamen, konnten wir keine Lehrstelle bekommen. Ich war bestimmt nicht die Dümmste in der Schule, ich hatte ein gutes Zeugnis, aber ich konnte einfach keine Lehrstelle bekommen – schon wegen meines polnischen Namens. Zur höheren Schule konnte unsereins schon gar nicht – wie hät-ten die Eltern das Schulgeld1 aufbringen sollen?In der Volksschule waren wir mit deutschen Kindern zu-sammen. Morgens um acht gab’s Biblische Geschichte. Und wer kam zuerst dran? Immer die Kinder aus polnischen Fa-milien. Und für die war’s fast ein Ding der Unmöglichkeit, die Bibelsprüche fließend auswendig zu können. Denn zu Hause wurde ja polnisch gesprochen! Dann nahm die Leh-rerin einen langen Stock und hat damit uns Mädchen auf die Finger gehauen, bis die dick und geschwollen waren. Wir Kinder haben bitterste Tränen geweint.2 Ich hab die Prügel am eigenen Körper erlebt. Als Kind von zwölf Jahren hab ich schon geholfen, Geld zu verdienen, und es hat mir Spaß gemacht. Ich war in einer Bäckerei un-tergekommen, hab da sonntags geholfen. Na ja, die Messe

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    versäumte ich schon mal. Am Montag kam die Lehrerin und fragte: „Warum warst du nicht in der Kirche?“ – „Ja, nun, weil ich krank und müde war.“ Da sagt sie: „Wie? Sonntags müde?“ – „Ja, Sie wissen doch, dass ich arbeite.“ – „Das darf nicht sein, das ist keine Ordnung. Hast du deine Schularbeiten gemacht?“ Die Schularbeiten hatte ich. Aber dann hat sie mir Fragen gestellt, die konnte ich nicht beant-worten. Also hat sie mich verhauen. In der Pause um zehn Uhr bin ich zur Mutter gegangen und hab gesagt: „Sieh dir mal meinen Ellenbogen an!“ Die Mutter ist zur Schule ge-kommen, hat mit der Lehrerin gesprochen. Das zog seine Kreise, allmählich sind mehr Beschwerden eingelaufen, und allmählich ging das Prügeln zurück. Die Mütter haben ihre Kinder in Schutz genommen. Und was sollten sie auch sonst tun? Wir bekamen ja nirgendwo Recht als Polen, wir haben uns selbst verteidigt.Zit. nach: Stadt Recklinghausen (Hg.): Hochlamarker Lesebuch. Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte, Oberhausen 1981, S. 25 – 26. © 1981 by assoverlag, Oberhausen

    1 Zur Finanzierung von Schulen und Lehrern wurde im Kaiserreich und der Weimarer Republik eine Gebühr (Schulgeld) erhoben. Die Gebühr stieg bei einem Wechsel zu einer höheren Schule (von der Volksschule zur Mittelschule oder Gymnasium). Das Schulgeld für Volksschulen wurde 1933 abgeschafft.

    2 Körperliche Züchtigung war lange Zeit ein verbreitetes Bestra-fungs- und Disziplinierungsmittel in den Schulen.

    Der„Volkskundler“WilhelmBrepohlüberden„TypusP“imRuhrgebiet1938/39 Wilhelm Brepohl, deutscher Soziologe und Volkskundler, trat am 1. Mai 1933 der nationalsozialistischen Partei NDSAP bei und leitete ab 1935 die von ihm gegründete „Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet“. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er zunächst einen Lehrauftrag, dann ab 1957 eine Honorarprofessur an der Universität Münster.So geht der Begriff Polack zwar aus von den herkunftsmä-ßig als Polen zu bezeichnenden Menschen, aber er braucht heute nicht immer auf wirkliche Polen zutreffen; im Ruhr-gebiet wird er verwendet für alles, was die Volksmeinung ablehnt, bekämpft, verurteilt, verachtet, er ist längst keine Herkunftsbezeichnung mehr, sondern die Marke für eine bestimmte Menschenart. Besser als ‚Polack‘ ist für sie viel-leicht die Bezeichnung ‚Typus P‘, um sie von unsachlichen Begleitmerkmalen zu entkleiden. […]Zum Typus P gehört sowohl die charakterliche wie die geis-tige Unzulänglichkeit. Als Asoziale1 zeichnen sie sich durch ihre Haltlosigkeit aus. Sie fordern geradezu die Hilfe der öffentlichen Hand. Aus ihrem Kreis entstammen die Für-sorgezöglinge ebenso wie der entscheidende Teil der Hilfs-schulkinder. Sie haben auffallend viel mit den Gerichten

    zu tun, und in den Gebieten, in denen sie sich ansammeln, wächst die Kriminalität. […]Sollen noch einmal Polen ins Ruhrgebiet?[…] Zwar sind solche Menschen für die gröbste Arbeit und für Hilfedienste unerlässlich, doch stören sie die Be-triebsgemeinschaft, indem sie Misstrauen und Unfrieden stiften. Auch für die Bildung eines Volkstums an der Ruhr sind sie ein Hemmnis wegen ihrer gemeinschaftsstörenden Eigenschaften. Vor allem ist darauf zu achten, dass sie sich nicht mit den guten und tüchtigen Elementen mischen. Zwar haben sie aus sich schon die Neigung, sich nur mit anderen Minderwertigen zu verbinden, und ihre kinder-reichen Ehen sind ein Herd der Entartung. Sie müssten in Siedlungen möglichst zusammengehalten und beaufsichtigt werden. Das Polenproblem im Ruhrgebiet. Kurze Zusammenfassung der beiden Denkschriften W. Brepohl, I. „Die Eindeutschung der Polen an der Ruhr“, und II. „Der Polack im Ruhrgebiet“ von der Gelsenkirchener Forschungs-stelle für das Volkstum im Ruhrgebiet, Gelsenkirchen 1939. Zit. nach: Tenfelde, Klaus u. a. (Hg.): Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch, Essen 2010, S. 666 – 668.

    1 Asoziale: ein, besonders von der NS-Politik 1933 – 1945, verwendeter diskriminierender Begriff für Obdachlose, Prostituierte, Bettler, Suchtkranke etc.

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    1834–heute

    3Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

  • 84 85Erfahrungen mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive

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    AnwerbungvonMasurenfürdieneueZeche„Victor“inRauxel1908 Die Zeche „Victor“ warb 1908 um neue Arbeitskräfte aus Masuren, einer Region in Ostpreußen mit überwiegend evangelischslawischer Bevölkerung:Masuren!In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen Industriebezirkes, eine reizende, ganz neu er-baute Kolonie der Zeche „Victor“ bei Rauxel. Diese Kolo-nie besteht vorläufig aus über 40 Häusern. In jedem Hause sind nur vier Wohnungen, zwei oben, zwei unten. In jede Wohnung gehören etwa drei bis vier Zimmer. Jedes Zim-mer, sowohl oben als auch unten, ist also schön groß, hoch und luftig, wie man sie in den Städten des Industriebezirkes kaum findet. Zu jeder Wohnung gehört ein sehr guter, hoher und trocke-ner Keller, sodass sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln etc. sehr gut erhalten werden. Ferner gehört dazu ein ge-räumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. So braucht der Arbeiter nicht je-des Pfund Fleisch oder seinen Liter Milch zu kaufen. Endlich gehört zu jeder Wohnung auch ein Garten von etwa 23 bis 24 Quadratruten1. So kann sich jeder sein Gemüse,

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    sein Kumpst (Sauerkohl) und seine Kartoffeln, die er für den Sommer braucht, selbst ziehen. Wer noch mehr Land braucht, kann es in der Nähe von Bauern billig pachten. Außerdem liefert die Zeche für den Winter Kartoffeln zu billigen Preisen. […]Die ganze Kolonie ist von schönen breiten Straßen durch-zogen, Wasserleitung und Kanalisation sind vorhanden. Abends werden die Straßen elektrisch erleuchtet. Vor jedem zweiten Haus ist noch ein Vorgärtchen, in dem man Blu-men oder Gemüse ziehen kann. Wer es am schönsten hält, bekommt eine Prämie. […]Masuren! Es kommt der Zeche hauptsächlich darauf an, brave, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hin-einzubekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt werden. So bleiben die Masuren ganz unter sich und haben mit Polen2, Ost-preußen usw. nichts zu tun. Jeder kann denken, dass er in seiner masurischen Heimat wäre.Zit. nach: Brüggemeier, Franz-Josef: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889 – 1919, München 1983, S. 25 – 27.

    1 Eine alte Maßeinheit, die im 19. Jahrhundert noch sehr gebräuchlich war. Wegen ihrer Uneinheitlichkeit hatte sie jedoch keinen hohen Vergleichswert. 1 Quadratrute schwankt zwischen 7,13 und 36,25 m².

    2 Polen und Masuren hatten insbesondere wegen ihrer unterschied-lichen Konfessionalität (Masuren waren evangelisch, Polen katho-lisch) ein schwieriges, konfliktreiches Verhältnis.

    A Integration–nichtgewollt?1. Beschreiben Sie die Fahne des polnischen Knap-

    penvereins (Q 1). [I]2. Charakterisieren Sie das Selbstverständnis des

    polnischen Knappenvereins, wie es sich aus Q 1 ergibt. [II]

    3. Benennen Sie mithilfe des darstellenden Textes (S. 80 – 81), Q 2 und Q 3 die Probleme und Vorurteile, die eine gelungene Integration der „Ruhrpolen“ erschwerten. [III]

    B UmworbeneundbeneideteArbeitskräfte4. Analysieren Sie Q 5 unter besonderer Berücksichti-

    gung der Intention und der Adressaten des Anwer-beaufrufs für Arbeiter. [II]

    5. Ordnen Sie Q 5 in den historischen Kontext ein, in-dem Sie Hintergrundinformationen zu Wohn- und Arbeitsbedingungen im Ruhrgebiet um 1900 sowie zu den Masuren recherchieren. Nutzen Sie dazu auch Q 4. [II]

    6. Stellen Sie sich vor, Sie leben als Masure um 1900 im Ruhrgebiet. Ein Freund von Ihnen möchte auf-grund des Anwerbeaufrufs der Zeche „Victor“ (Q 5) von Masuren ins Ruhrgebiet ziehen. Berichten Sie ihm in einem Brief vom Leben im Ruhrgebiet: den Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Schwierig-keiten und Vorteilen im Zusammenleben mit den deutschen Arbeitern sowie von den Verdienstmög-lichkeiten. Geben Sie Ihrem masurischen Freund abschließend einen Ratschlag, ob er sich für einen Umzug ins Ruhrgebiet zur Arbeit auf der Zeche „Victor“ entscheiden sollte. [III] 0

    ÜbergreifendeAufgaben7. Diskutieren Sie, inwieweit man bei den „Ruhr-

    polen“ von einer gelungenen Integration sprechen kann. Überlegen Sie auch, welche Kriterien Sie für eine gelungene Integration zugrunde legen und begründen Sie Ihre Ansicht. [III]

    8. Recherchieren Sie Hintergrundinformationen zur Geschichte der Masuren und präsentieren Sie die-se in einem Referat im Kurs. [III]

    SurftippMasurenj8ue5q

    Differenzierungsmaterial

    0 Arbeitshilfen zur Aufgabe 6 j87a5q

    1834–heute

    3Fremdsein,VielfaltundIntegration–MigrationamBeispieldesRuhrgebiets

  • 300 301Die moderne Industriegesellschaft zwischen Krise und Fortschritt

    11 VomHochimperialismuszumersten„modernen“Krieg

    11.1 DerImperialismusalsTeilderModerne

    DieeuropäischenMächteexpandierennachÜberseeIm 15. Jahrhundert wagten sich immer häufiger Kaufleute und Abenteurer aus Europa auf die für sie größtenteils unbekannten Weltmeere. Meist gefördert durch die jeweilige Regie-rung gingen diese „Entdeckungsfahrten“ zunächst von Portugal und Spanien, später auch von anderen Staaten aus. Möglich gemacht wurde dies durch Neuerungen auf verschiede-nen Ebenen, wie verbesserte Kartografie oder neue Schiffstypen. Das sich herausbildende frühkapitalistische Wirtschaftssystem brachte private Geldgeber hervor, die bereit und in der Lage waren, die kostenintensiven Expeditionen zu finanzieren. Zu den Motiven zählte nicht zuletzt die Aussicht auf die Entdeckung neuer Handelswege zu den wohlhabenden Reichen Asiens. Später kam die Erschließung neuer lukrativer Geschäftsfelder hinzu, nicht zuletzt des profitablen Sklavenhandels. Nachdem Ende des 15. Jahrhunderts spanische und portugiesische Expeditionen einen Seeweg in den Indischen Ozean und – durch Zufall – den amerikanischen Kontinent „entdeckt“ hatten, entstanden bald in zahlreichen westeuropäi-schen Staaten große Handelsgesellschaften, die an den neuen Märkten teilhaben wollten.

    UnterschiedlicheWegedesKolonialismusIm Laufe des 16., 17. und 18. Jahrhunderts bildeten sich unterschiedliche Formen eines euro-päischen Kolonialismus heraus. Spanien und Portugal errichteten in Mittel- und Südamerika eine direkte Herrschaft, in denen der indigenen Bevölkerung nur die Rolle der unzivilisier-ten, billigen Arbeitskräfte zukam. Angesichts der Folgen ihrer Herrschaft, der große Teile der einheimischen Kulturen zum Opfer fielen, wurde die Einwanderung von Sklaven aus Afrika als Arbeitskräfte und europäischer „Fachkräfte“ forciert. Siedlerkolonien mit direkter Herrschaft errichtete später auch England in Australien oder Russland in Sibirien.Der von den großen Handelsgesellschaften geprägte Kolonialismus basierte zumeist auf einer indirekt ausgeübten Kontrolle mittels erzwungener Abhängigkeiten der lokalen Herr-schaften. Entsprechend beschränkten sie sich auf feste Stützpunkte entlang der wichtigs-ten Seewege. Diese sollten den Handelsgesellschaften den Zugang zu den profitablen Han-delswaren in Afrika (Sklaven, Gold) und Asien (Gewürze, Luxusgüter) sichern. Dank eigener Söldnertruppen eigneten sie sich oft auch eigene Gebiete an, um dort begehrte Nutzpflan-zen in Plantagen zur Weiterverarbeitung in Europa anbauen zu lassen (zum Beispiel Zu-ckerrohr in der Karibik zur Rumherstellung in Europa). Mit der wirtschaftlich-militärischen Expansion einher ging aber auch das Bestreben der christlichen Missionierung.

    DieIndustrielleRevolutionermöglichtdas„europäischeJahrhundert“In der Zeit des Imperialismus, der seine Hochzeit zwischen 1880 und 1914 erreichte, wandel-ten sich die Motive und die Ziele der Kolonialmächte, zu denen sich nun auch die außereu-ropäischen Mächte USA und Japan gesellten. An die Stelle der Handelsgesellschaften traten nun moderne Nationalstaaten.

    1 Erinnern Sie sich an die Reiseerzählungen des 16. Jh. während der Einführungsphase

    1 Kapitel 10.1 und 10.2

    Die Industrielle Revolution, die wachsende Mobilität und Kommunikation verändertenim19.JahrhundertnichtnurdasLebenderMenschen,sondernauchdasVerständnisvonstaatlicherMachtundPrestige.AlsGroßmachtgaltnun,werZugriffaufdiewichtigenRoh-stoffederWeltalsGrundlagefürmoderneIndustrienbesaß,wermittelsKapital,ExportenundnotfallsmitMilitärglobalpräsentwarunddirektoderindirektbestimmendenEinflussausübte.DiesschufnichtzuletztinEuropaeinSelbstbild,dasbisheutenachwirkt.

    1 Kapitel 1.1, S. 258 – 259

    Die von der Industriellen Revolution hervorgerufenen tief greifenden Veränderungen in den Bereichen der Mobilität (Eisenbahn, Dampf- und Kühlschiffe), Kommunikation (Telegrafie) und Forschung (Naturwissenschaften) schufen Bedingungen, in denen viele europäische Regierungen größere Machtmittel erlangten. Die neuen Produktions- und Transportmög-lichkeiten verschafften den modernen Industriestaaten erdrückende Wettbewerbsvorteile auf dem sich globalisierenden Weltmarkt. Die moderne, industriell gefertigte Waffentech-nik wie das Maschinengewehr ermöglichte ihnen eine wachsende militärische Überlegen-heit. Neue Medikamente und Kanonenboote gestatteten das Vordringen auch in tropische Regionen über die großen Flüsse. Diese Entwicklung ging einher mit der Herausbildung eines übersteigerten Überlegenheits-gefühls unter Einfluss des Sozialdarwinismus. Es wurde als die „Bürde des weißen Mannes“ angesehen, die „rückständigen Rassen“ nach Vorbild Europas so gut es gehe zu zivilisieren.

    DerKolonialismuspasstsichdenkapitalistischenBedürfnissenanDas auf beständiges Wachstum ausgerichtete kapitalistische System der Industriegesell-schaften spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Die moderne Wirtschaft forderte den Zu-griff auf immer mehr Rohstoffe. Gleichzeitig mussten für die eigenen Produkte nun auch außereuropäische Märkte geöffnet werden, notfalls mit Gewalt. Auf der Berliner Kongo-Konferenz (1884 – 1885) steckten die europäischen Mächte, ohne Rücksicht auf die lokalen Verhältnisse, über die sie oft gar nicht wirklich im Bilde waren, ihre Interessenssphären in Afrika ab. Es kam zu einem wahren Wettlauf um die Durchsetzung expansiver Ansprüche. Auch erst spät entstandene Nationalstaaten wie das Deutsche Reich oder Italien beeilten sich, bei diesem Wettlauf noch so viel wie möglich von den übrig gebliebenen Regionen in Besitz zu nehmen. Stellte sich die deutsche Regierung unter Otto von Bismarck nur zögernd hinter die Interessen deutscher Unternehmer in Afrika, so änderte sich dies unter seinen Nachfol-gern gravierend. Je mehr das Deutsche Reich in den 1890er-Jahren zu einer der führenden Industrie- und Exportmächte aufstieg, desto lauter wurde die Lobby für eine energische imperialistische Außen- und Kolonialpolitik.

    ZuschussgeschäftoderZugewinnanMacht?Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war ein Großteil des afrikanischen Kontinents un-ter die Kontrolle europäischer Kolonialmächte gefallen. Es änderte daran wenig, ob nun Herrschaft unmittelbar mittels eigener Verwaltung ausgeübt wurde oder sich direkte und indirekte Herrschaftsformen mischten. Die Eroberung, die Ausbeutung der örtlichen Res-sourcen und die rassistische Politik forderten Millionen von Toten und zerstörten vielerorts gesellschaftliche Strukturen. Wo Mangel an Arbeitskräften auftrat, wie beim Eisenbahnbau in den USA oder auf Zuckerrohrplantagen in Südafrika, sprang ein zunehmend organisierter Weltmarkt mit billigen Arbeitskräften aus dem bevölkerungsreichen Asien ein. Nicht wenige Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Die Aufnahmefähigkeit der Kolonien für europäische Industriewaren stand meist nicht im Verhältnis zum finanziellen Aufwand, den die Kolonialverwaltung kostete. Manchmal gelang es, durch geförderte Kolonialbegeis-terung von den wachsenden innenpolitischen und sozialen Problemen abzulenken, die die Industrialisierung hervorgebracht hatte. Umso intensiver wurde die Bedeutung der Kolo-nien für den Glanz und das Ansehen des eigenen Landes, aber auch die zivilisatorische Ver-antwortung in der Welt hervorgehoben. So forderte der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow 1897 einen „Platz an der Sonne“ für die deutsche Nation, während Kaiser Wil-helm II. in Umdeutung eines älteren Gedichtes von Emanuel Geibel äußerte: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Der Wettstreit der Mächte gewann allerdings an Sprengkraft, nachdem die wichtigsten Regionen aufgeteilt waren. Die Konflikte mehrten sich und drohten immer häufiger nach Europa zurückzuspringen.

    JosephRudyardKipling(1865–1936)Britischer Schriftsteller, neben dem „Dschungelbuch“ u. a. Gedicht „The White Man’s Burden“ (dt.: „Die Bürde des weißen Mannes“)

    BernhardHeinrichMartinKarlvonBülow(1849–1929)Deutscher Politiker, Staatssekretär des Äußeren 1897 – 1900, Reichskanzler 1900 – 1909

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    ZusatzmaterialGedicht „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“389i5r

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  • A NeueIndustriemächtefordernihrenAnteilanWeltgeltung

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    TheSleepingSickness, Karikatur des US-Künstlers Gordon Ross (1873 – 1946) in dem US-Satiremagazin Puck vom 25. Oktober 1911. „Sleeping Sickness“ war ein umgangssprachlicher Ausdruck für die tropische Schlafkrankheit (Afrikanische Trypanosomiasis), die von der Tsetsefliege übertragen wird. Die Schlafkrankheit zählte neben der Malaria zu den gefährlichsten Tropenkrankheiten und galt daher als Inbegriff der Gefährlichkeit der zentralafrikanischen Tropen.

    AnspruchaufangemesseneGrößeinderWelt Auszüge aus der Reichstagsrede von Bernhard von Bülow anlässlich der vorgesehenen Änderung des Flottengesetzes, 11. Dezember 1899. Hintergrund war die Diskussion um den teuren Auf- und Ausbau einer eigenen militärischen Hochsee-flotte: […] In unserm neunzehnten Jahrhundert hat England sein Kolonialreich, das größte, das die Welt seit den Tagen der Römer gesehen hat, weiter und immer weiter ausgedehnt, haben die Franzosen in Nordafrika und Ostafrika festen Fuß

    gefasst und sich in Hinterindien ein neues Reich geschaffen, hat Russland in Asien seinen gewaltigen Siegeslauf begon-nen, der es bis zum Hochplateau des Pamir1 und an die Küsten des Stillen Ozeans geführt hat. Vor vier Jahren hat der chinesisch-japanische Krieg2, vor kaum anderthalb Jah-ren der spanisch-amerikanische Krieg3 die Dinge weiter ins Rollen gebracht, große, tiefeinschneidende, weitreichende Entscheidungen herbeigeführt, alte Reiche erschüttert, neue und ernste Fermente der Gärung4 in die Entwicklung ge-tragen. […] Der englische Premierminister hatte schon vor längerer Zeit gesagt, dass die starken Staaten immer stärker und die schwachen immer schwächer werden würden. […]

    Wir wollen keiner fremden Macht zu nahe treten, wir wol-len uns aber auch von keiner fremden Macht auf die Füße treten lassen (Bravo!) und wir wollen uns von keiner frem-den Macht beiseite schieben lassen, weder in politischer noch in wirtschaftlicher Beziehung. (Lebhafter Beifall.) Es ist Zeit, es ist hohe Zeit, dass wir […] uns klar werden über die Haltung, welche wir einzunehmen haben gegenüber den Vorgängen, die sich um uns herum abspielen und vorberei-ten und welche die Keime in sich tragen für die künftige Ge-staltung der Machtverhältnisse für vielleicht unabsehbare Zeit. Untätig beiseite stehen, wie wir das früher oft getan ha-ben, entweder aus angeborener Bescheidenheit (Heiterkeit) oder weil wir ganz absorbiert waren durch unsere inneren Zwistigkeiten oder aus Doktrinarismus – träumend beiseite stehen, während andere Leute sich in den Kuchen teilen, das können wir nicht und wollen wir nicht. (Beifall.) Wir können das nicht aus dem einfachen Grunde, weil wir jetzt Interessen haben, in allen Weltteilen. […] Die rapide Zu-nahme unserer Bevölkerung, der beispiellose Aufschwung unserer Industrie, die Tüchtigkeit unserer Kaufleute, kurz, die gewaltige Vitalität des deutschen Volkes haben uns in die Weltwirtschaft verflochten und in die Weltpolitik hin-eingezogen. Wenn die Engländer von einem Greater Britain reden, wenn die Franzosen sprechen von einer Nouvelle France, wenn die Russen sich Asien erschließen, haben auch wir Anspruch auf ein größeres Deutschland (Bravo! rechts, Heiterkeit links), nicht im Sinne der Eroberung, wohl aber im Sinne der friedlichen Ausdehnung unseres Handels und seiner Stützpunkte. […] Wir können nicht dulden und wol-len nicht dulden, dass man zur Tagesordnung übergeht über das deutsche Volk. […] Es ist viel Neid gegen uns in der Welt vorhanden (Zuruf links), politischer Neid und wirt-schaftlicher Neid. Es gibt Individuen, und es gibt Interes-sengruppen, und es gibt Strömungen, und es gibt vielleicht auch Völker, die finden, dass der Deutsche bequemer war

    und dass der Deutsche für seine Nachbarn angenehmer war in jenen früheren Tagen, wo trotz unserer Bildung und trotz unserer Kultur die Fremden in politischer und wirt-schaftlicher Hinsicht auf uns herabsahen, wie hochnäsige Kavaliere5 auf den bescheidenen Hauslehrer. (Sehr richtig! – Heiterkeit.) Diese Zeiten politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher und politischer Demut sollen nicht wiederkehren. (Leb-haftes Bravo.) Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List6 zu sprechen, die Knechte der Menschheit werden. Wir werden uns aber nur dann auf der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, dass es für uns ohne Macht, ohne ein starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt. (Sehr richtig! rechts. Widerspruch links.) Das Mittel, meine Herren, in dieser Welt den Kampf ums Dasein durchzufechten ohne starke Rüstung zu Lande und zu Wasser, ist für ein Volk von bald 60 Millionen, das die Mitte von Europa bewohnt und gleichzeitig seine wirt-schaftlichen Fühlhörner ausstreckt nach allen Seiten, noch nicht gefunden worden. (Sehr wahr! rechts.) In dem kom-menden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Ambos sein. […]Auf: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k10_bsb00003566_00534.html (Zugriff 10.03.2015)

    1 Pamir = zentralasiatisches Hochgebirge (Kirgisien, Tadschikistan, Afghanistan, Westchina)

    2 1. japanisch-chinesischer Krieg August 1894 – April 1895. Das angrei-fende Japan siegt und gewinnt die Kontrolle über Taiwan, Korea und Teile der Mandschurei.

    3 spanisch-amerikanischer Krieg 1898. USA steigen zur Kolonialmacht auf. Spanien verliert seine letzten wichtigen Kolonien.

    4 Fermentation = chemischer Umwandlungsprozess von Stoffen durch Bakterien, biochemischer Verarbeitungsverfahren in Genuss-mittelherstellung

    5 Kavalier = ital./frz. Begriff für Ritter6 Friedrich List (1789 – 1846), dt. Wirtschaftstheoretiker, Unternehmer

    und Diplomat

    ZusatzmaterialQ 2 als Audiodatei5g6b28

    ÓInfoKarikaturdetails33z2di

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    11VomHochimperialismuszumersten„modernen“Krieg

  • D1

    KolonialeAufteilunginAfrikaamVor-abenddesErstenWeltkriegs Auch wenn manche Kolonialmächte nicht selten indirekt über abhängige lokale Fürsten herrschten, so hatten Anfang des 20. Jahrhunderts wenige Kolonialmächte doch große Teile Afrikas und Asiens unter ihre Kontrolle gebracht. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es jedoch immer häufiger zu offenen Rivalitäten der Kolo-nialmächte um Einflusszonen in der weit-gehend aufgeteilten Welt.

    InfoKoloniale Konfliktherde weltweit eg3u6d

    ÓZusatzmaterialQ 3 als Audiodatei tj87tz

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    NationalesLebenausderSichtderNaturwissenschaft Auszug eines Vortrags des britischen Mathematikprofessors Karl Pearson (1857 – 1936):Wie viele Jahrhunderte, wie viele Tausende von Jahren hatte der Kaffer1 oder der Neger2 große Gebiete in Afrika inne, un ge stört durch den weißen Mann? Dennoch haben ihre Stammes fehden noch keine Zivilisation hervorgebracht, die auch nur ansatzweise der des Ariers3 vergleichbar wäre. Er-ziehen und fördern Sie sie, wie Sie wollen, ich glaube nicht, dass es Ihnen gelin gen wird, ihren Grundstock4 zu ändern. Die Geschichte zeigt mir einen Weg, und nur einen Weg auf, wie ein hoher Zivilisationsstand hervorge bracht wird, näm-lich als Kampf von Rasse gegen Rasse und dem Überle ben der körperlich und geistig fitteren Rasse. […] Es findet ein Kampf von Rasse gegen Rasse und von Nation gegen Na tion

    DiekünftigeGeschichtewirdimKolonialministeriumgemacht Gabriel Hanotaux, französischer Kolonialminister, 1902:Schon 1830 hatte Frankreich in Afrika Fuß gefasst und meis-terhaft an die Tradition der rö mischen Kolonisation jenseits des Mittelmeeres angeknüpft. Das Jahrhundert musste al-lerdings noch fortschreiten, ehe ein anderer, nicht weniger bedeutender Staatsmann eine ganze Generation fast gegen ihren Willen in das weitreichende Unternehmen stürzte, das für Frankreich ein zweites Kolonialreich schaffen sollte. Ju-les Ferry1 diktierte den Plan der neuen Eroberung: Tunesien, Tongking2, der Kongo und Madagaskar3 als um fangreiches Viereck, das seitdem den Rahmen der neuen Niederlassun-gen bildet. Es war auch höchste Zeit. Hätte die beständige Intuition des großen Staatsmannes die Be wegung nicht an-tizipiert, wäre er ihr nicht vorangegangen, und hätte Frank-reich nicht die sen Vorsprung gewonnen, so wäre es – wie man seither gut sehen könne – überall auf Widerstand und Konkurrenz gestoßen und dies hätte seinen Aufstieg sicher-lich in Schranken gehalten. Die Welt war gewarnt und ließ sich nicht überraschen. Europa, im Er wachen begriffen, ließ sich nicht distanzieren. Es war die Stunde einer kurzlebigen,

    statt. Früher war es ein blinder, unbewusster Kampf von wilden Stäm men. Heute, im Falle des weißen Mannes, ist es der sorgsam geführte Ver such einer Nation sich an eine permanent ändernde Umgebung anzupassen. […]Sie werden erkennen, dass meine Sicht – ich nenne sie die wissenschaftli che Sicht auf eine Nation, ein organi-sches Ganzes bildet: Eine hohe innere Leis tungsfähigkeit beruht darauf, dass ihre Mitglieder sich im Wesentlichen aus den besseren Beständen rekrutieren, und ihre äußere Leistungsfähig keit be ruht auf Kampf, vor allem in Form von Krieg gegen minderwertige Rassen, sowie gemeinsam mit gleichwertigen Rassen auf dem Kampf um Handels wege, dem Kampf um die Bezugsquellen von Rohmaterialien und Nahrungs mitteln. Dies ist der naturhistorische Blick auf die Menschheit, und ich glaube nicht, dass Sie ihn in seinen Hauptzügen widerlegen kön nen. […] Ist es nicht eine Tat-sache, dass das tägliche Brot für Millionen un serer Arbei ter darauf beruht, dass sie jemanden haben, für den sie ar bei-ten können? Dass, wenn wir den Kampf um Handelsrouten, freie Märkte, Öd land aufgeben, wir indirekt unsere Lebens-

    B FortschrittoderAusbeutung–eineFragederPerspektive?

    mittelversorgung aufgeben. Ist es nicht eine Tatsa che, dass unsere Stärke darauf und auf unseren Kolo nien beruht, und dass unsere Kolonien durch die Vertreibung minder werti-ger Rassen erworben wurden und gegenüber gleichwerti-gen Rassen nur mithilfe des Respekts vor der gegen wärtigen Macht unseres Empires aufrechter halten werden können?[…] Der Kampf von Stamm gegen Stamm, von Nation gegen Nation mag sei ne Schattenseite haben, aber wir sehen im Endeffekt den allmählichen Fort schritt der Menschheit zu höherer intellektueller und körperlicher Leis tungs fähigkeit. […] Der Weg des Fortschritts ist übersäht von zerstörten Natio nen, Spu ren von Hekatomben5 minderwertiger Ras-sen sind erkennba r und Opfer, die den schmalen Pfad zur Perfektion nicht gefunden haben. Dennoch sind diese Toten in Wahrheit die Trittsteine, auf denen die Mensch heit heute zu einem höheren und intensiveren emotionalen Leben empor gestiegen ist.Sources of the Western Tradition II, S. 246 f., Aspects of Western Civiliza-tion II, S. 257, Übers. von M. Peters-Hilger.

    1 Kaffer, beruht auf arab. Begriff Kāfir (=Ungläubiger). Die Europäer verwendeten ihn abwertend für die Bevölkerung des südlichen Afrikas.

    2 Neger = Ausdruck für Menschen dunkler Hautfarbe, seit 19. Jh. meist diskriminierend verwendet.

    3 Arier = gemeint sind Europäer4 Gemeint sind die angeblich minderwertige „rassischen Eigenschaf-

    ten“ der Afrikaner. 5 Hekatombe = Begriff in der griech. Antike für teure Tieropfer

    gün stigen Gelegenheit. In weniger als einem halben Jahr-zehnt wir die Welt aufgeteilt sein, die noch freien Länder werden okkupiert und die neuen Grenzen definitiv gezogen sein. Für neue Expansionen wird kein Platz mehr sein, es sei denn, um den Preis schreck licher Erschütterungen. ha-ben wir nicht gesehen, wie in weniger als einer Gene ra tion Afrika, das bis dahin jahrhundertelang vergessen und un-wirtlich vor den Toren Eu ropas lag, plötzlich ins allgemeine Blickfeld trat, sich Europa öffnete und sich den Ge setzen und Kalkülen des weltweiten Fortschritts unterwarf? Ge-rade in diesem ge heim nisvollen Afrika, auf nicht endende und endlose Territorien, auf gewaltige Täler, die von den großen Flüssen Senegal, Niger, Kongo, Chari4 und Ubangi5 durchströmt werden, auf diese unendlichen Weiten mit den verschiedensten Klimata, Bevölkerungen und Re ligi onen hat Frankreich seine Herrschaft ausgedehnt; mit anderen Worten, es hat sich dort neue Aufgaben geschaffen. […] Jen-seits des Mittelmeeres […], auf dem er weiterten Gebiet der alten römischen Welt, birgt Französisch-Afrika (Algerien, Tunesien, Senegal, Kongo und der Sudan) in Verlängerung des Mutterlandes unsere ent schei den den Probleme. Dort wird eines Tages die Kornkammer der Menschheit liegen, die Quel le neuer Reichtümer, auf dem die Form eines Drei-ecks bildenden Kontinent mit den ab schüssigen Ebenen, von dem aus man die drei Meere beherrscht, nimmt es eine do mi nierende strategische Position ein. Frankreich wird sich kaum der Größe seiner Auf gabe bewusst. Ermüdet von den Anstrengungen der Eroberung, schöpft es neuen Atem am Vorabend neuer Anstrengungen. […] Die künftige Ge-schichte wird im Ko lo ni al mi nisterium gemacht. Dort wird über die Zukunft der Nation entschieden […]. Man mö ge mich recht verstehen. Es geht nicht allein um eine gewaltige Zurschaustellung von Er oberungen; es geht auch nicht um die Vergrößerung des öffentlichen und pri va ten Reichtums; es geht darum, über die Meere hinweg in gestern noch unzi-vilisierten Län dern die Prinzipien einer Zivilisation auszu-breiten, deren sich eine der ältesten Na ti o nen der Erde sehr zu Recht rühmen kann; es geht darum, in unserem Umkreis und in wei ter Ferne so viele nette Frankreichs zu schaffen, es geht darum, inmitten der stür mi schen Konkurrenz der anderen Rassen, die sich alle auf denselben Weg begeben ha ben, unsere Sprache, unsere Sitten, unser Ideal, den Ruf Frankreichs und des Roma nen tums zu bewahren.Wolfgang Mommsen, Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen, Sigmaringen 1977, S. 107 – 109.

    1 Jules François Ferry = franz. Ministerpräsident 1880 – 1885, Befürworter expansiver Kolonialpolitik

    2 Tongking = europ. Begriff für das Gebiet nördliche Vietnam3 Madagaskar = Inselreich vor der südöstlichen Küste Afrikas

    (1787 – 1897)4 Schari, franz. Chari = Hauptzufluss zum Tschadsee5 Ubangi = zweitgrößter Nebenfluss des Kongo

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    11VomHochimperialismuszumersten„modernen“Krieg

  • 306 307Die moderne Industriegesellschaft zwischen Krise und Fortschritt

    Differenzierungsmaterialien

    0 Arbeitshilfen zu den Aufgaben 8, 9 9n3v2e

    . Erweiterungsangebot zu den Aufgaben 7., 4. c), 10. 5xcv8e

    Ó Differenzierungsmaterialien0 Arbeitshilfen zu den Aufgaben 1b, 2b, 3c, 5b, 7b, 8b

    ki92zm

    . Erweiterungsangebot zur Aufgabe 2c dn8b3j

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    ZeitgenössischeafrikanischePerspektiven:� a) Sultan Machemba, Anführer der Yao in Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania) zum deutschen Kommandanten Her-mann von Wissman 1890:Ich habe Ihren Worten zugehört, aber kann keinen Grund finden, warum ich Ihnen ge horchen sollte – ich würde eher sterben wollen … Ich werfe mich Ihnen nicht zu Füßen, denn Sie sind wie ich eine Schöpfung Gottes. Ich bin Sultan hier in meinem Land. Sie sind Sultan in Ihrem. Hören Sie: Ich sage nicht, dass Sie mir gehorchen sollen: Weil ich weiß, dass Sie ein freier Mensch sind. Das gilt auch für mich. Ich werde nicht zu Ihnen kommen.

    b) Prempeh I. (1870 – 1931), König des Ashanti-Reiches (im heutigen Ghana), das im 19. Jahrhundert immer mehr unter britische Oberhoheit gezwungen wurde, zu britischen Gesand-ten 1891:Der Vorschlag, dass die Ashanti, so wie wir heute leben, sich des Schutzes Ihrer Ma jestät der Königin erfreuen sollen, war Gegenstand sehr ernster Erwägungen, und ich bin froh, Ihnen sagen zu können, dass wir zu dem Schluss gekom-men sind, dass mein Königreich der Ashanti sich niemals einer solchen Politik unterwerfen wird. wir Ashanti müssen bleiben, wie wir schon immer waren, um allen Menschen gegenüber freundlich bleiben zu können.

    c) Macombe Hanga, Anführer der Bárue in Mosambik, zu einem portugiesischen Besu cher 1885:Ich sehe die weißen Männer mehr und mehr in Afrika ein-dringen, an allen Seiten mei nes Landes sind Geschäftsleute am Werk. Mein Land wird diese Reformen eines Tages übernehmen müssen, und ich bin darauf vorbereitet, mich ihnen zu öffnen. Ich möchte auch gerne gute Straßen und Eisenbahnen haben … Aber ich werde jener Makombe blei-ben, wie es meine Väter waren.“

    d) Wobogo, 1890 – 1897 König der westafrikanischen Mossi (im heutigen Burkina Faso), zum französischen Offizier Captain De nave 1895:Ich weiß, dass die Weißen mich töten möchten, um mein Land zu bekommen. Und Ihr behauptet, dass Ihr nur hel-fen wollt, mein Land besser zu organisieren. Aber ich finde mein Land völlig in Ordnung, so wie es ist […] Ich weiß, was für uns gut ist und was ich möchte: Ich führe meinen eigenen Handel. Außerdem: Schätzt euch glücklich, dass ich keinen Befehl gebe, um eure Köpfe abzuschlagen. Geht end-lich weg und – vor allem – kommt niemals zurück.a) – d) Lutz van Dijk, Die Geschichte Afrikas, Frankfurt/M. 2004, S. 99 f.

    Q6

    GulliverAfricanus Karikatur von Leslie Illingworth (1902 – 1975) in der britischen Satirezeitschrift Punch 1953. Anspielung auf den satirischen Roman „Gullivers Reisen“ des irischen Schriftstellers Jonathan Swift (1667 – 1745). „Gullivers Reisen“ (1726) war ursprünglich eine sozialkritische, satirische Anklage gegen die Zustände in Großbritannien. Im 19. Jahr-hundert wurde es mehr und mehr zu einem entpolitisierten Kinderbuch verändert. In der ersten seiner vier Reisen, stran-det der Reisende Gulliver als Schiffsbrüchiger auf der Insel, wo er am Strand einschläft. Als er erwacht, ist er am ganzen Körper am Boden gefesselt und sieht sich von den winzigen, kaum 20 cm (sechs Zoll) großen Einwohnern des einheimi-schen Königreichs Liliput umringt.

    A NeueIndustriemächtefordernihrenAnteilanWeltgeltung1. Betten Sie die Karikatur Q 1 in ihren historischen

    Kontext ein. Gehen Sie dabei wie folgt vor:a) Beschreiben Sie die Elemente der Karikatur Q 1. [I]b) Arbeiten Sie die in der Karikatur Q 1 Ihrer Mei-

    nung nach wichtigen enthaltenen Elemente her-aus. [II] 0

    c) Beurteilen Sie, inwieweit die US-amerikanische Karikatur historische Tatsachen widerspiegelt und inwieweit Verzerrungen/Verfälschungen erkenn-bar sind. [III]

    2. Setzen Sie sich mit der Reichstagsrede von Bülow (Q 2) auseinander:

    a) Identifizieren Sie Passagen, die das Kräfteverhält-nis auf dem europäischen Kontinent charakterisie-ren sollen. [II]

    b) Erläutern Sie die Bedeutung von Bülows Metapher „Hammer oder Amboß“. [II] 0

    c) Ordnen Sie die Rede in den historischen Kontext des Wandels der deutschen Außenpolitik vor und nach der Entlassung Bismarcks im Jahre 1890 ein. [II] .

    d) Erläutern Sie, ggf. unter Einbeziehung Ihres Vor-wissens zum weiteren Verlauf der Geschichte, mögliche Konsequenzen für Beziehungen der eu-ropäischen Mächte zueinander. [II]

    e) Beurteilen Sie Bülows Aussagen aus der Sicht an-derer europäischer Mächte. [II]

    f) Bewerten Sie von Bülows Sicht auf die Außenpo-litik aus heutiger Perspektive, etwa unter Verweis auf die normativen außenpolitischen Prinzipien des Grundgesetzes (Präambel, Artikel 23, 24, 25, 26, 32, 45, 59, 73) und eigene Wertmaßstäbe. [III]

    B FortschrittoderAusbeutung–eineFragederPerspektive?3. Analysieren Sie den Auszug des Pearson-Vortrags

    (Q 3).a) Arbeiten Sie Karl Pearsons Menschenbild anhand

    von Schlüsselbegriffen heraus. [II]b) Charakterisieren Sie seine Vorstellung von Fort-

    schritt. [II]c) Informieren Sie sich über Charles Darwins Evoluti-

    onstheorie und erklären Sie den Zusammenhang zu Karl Pearsons Ausführungen. [II] 0

    d) Setzen Sie sich kritisch mit Pearsons Behauptung auseinander „Dies ist der naturhistorische Blick auf die Menschheit, und ich glaube nicht, dass Sie ihn in seinen Hauptzügen widerlegen kön nen.“ (Z. 27 – 29) [III]

    4. Arbeiten Sie die Rolle, die Gabriel Hanotoux den Franzosen beim Kolonisationsprozess zuweisen möchte, heraus. (Q 4) [II]

    5. Setzen Sie sich arbeitsgruppenteilig mit den afri-kanischen Perspektiven (Q 5) auseinander.

    a) Arbeiten Sie die Haltung des jeweiligen Anführers zur betreffenden Kolonialmacht sowie sein eige-nes Selbstverständnis heraus. [II]

    b) Beurteilen Sie – begründet – die Chancen der Kolonialmacht, sich bei dem jeweiligen Anführer durchzusetzen auf einer Skala von 0 – 6. [III] 0

    6. Beurteilen Sie, welche konkreten Handlungs-optionen es für diese Afrikaner gegeben haben mag. [III]

    7. Vergleichen Sie die beiden Karikaturen Q 1 und Q 6: a) Arbeiten Sie Ähnlichkeiten und Unter schiede her-

    aus. [II]b) Entwickeln Sie auf Basis Ihres Vergleichs drei

    Fragen, die sich aus den Erkenntnissen ergeben könnten. [III] 0

    ÜbergreifendeArbeitsvorschläge:�8. Projektidee: Erarbeiten Sie auf Basis eigener Re-

    cherchen und den Materialien im Online-Service dieses Buches eine Mindmap zu folgender Problem stellung: Die Sicht auf Afrikaner in der (Kinder-)literatur des 19. Jahrhunderts – ohne Be-deutung für heute? [III] 0

    Arbeitsvorschläge

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    1880–1918

    11VomHochimperialismuszumersten„modernen“Krieg

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