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15. September 2009 Stefan Bergheim +49 69 7896382 [email protected] www.fortschrittszentrum.de Zukunftsforschung für Staaten Vorbereitungen in der Gegenwart Die Zukunft ist nicht vorhersehbar – aber man kann sich auf sie vorberei- ten und sie ist sogar gestaltbar. Staatliche Zukunftsforschung heute kann einen wertvollen Beitrag zu einer besseren Entwicklung der Gesellschaft in der Zukunft liefern. Sie ist ein öffentliches Gut, das der Markt alleine nicht bereitstellt. In der Zukunftsforschung geht es vor allem um breit angelegte, offene, disziplinen- und ressortübergreifende Prozesse der Kommunikation und um flexible Netzwerke. Nicht gefragt sind dicke Gutachten, neue Plattfor- men für alte Überzeugungen oder „bessere“ Prognosen. Moderne Methoden der Zukunftsforschung wie die Szenarioanalyse, das Visionieren, die Robuste Entscheidungsfindung oder die Kausale Mehr- ebenenanalyse strukturieren die offene Kommunikation. Momentan werden diese Methoden in Deutschland von staatlichen Akteuren kaum eingesetzt. In anderen Ländern ist staatliche Zukunftsforschung – in unterschiedli- chen Ausgestaltungen – fest etabliert. Beispiele sind das Zukunftspro- gramm der britischen Regierung oder die Risikobewertung und Horizont- beobachtung in Singapur. Auch in Deutschland könnte ein weit verzweigtes Netzwerk von Forschern entstehen, mit einem staatlich finanzierten Institut für Zukunftsfragen als wichtigen Netzwerknoten. Gemeinsame, ressortübergreifende inhaltliche Projekte verschiedener staatlicher Akteure würden die Zukunftsfähigkeit Deutschlands verbessern. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 1973 1978 1983 1988 1993 1998 2003 2008 Großbritannien USA Schweden Irland Deutschland Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und staatliche Zukunftsforschung Quelle: Conference Board und Groningen Growth and Development Centre, Total Economy Database BIP pro Kopf in Tausend 2008 EKS$ Gründung UK Zukunftsprogramm Gründung NESC Strategie 1986-90 Gründung Institut für Zukunftsstudien

Zukunftsforschung für Staaten - fortschrittszentrum.de · Zukunftsforschung für Staaten Seite 3 Wenige Schritte, um mit den besten der Welt mitzuhalten Netzwerk aus Regierungseinrich-tungen,

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15. September 2009

Stefan Bergheim

+49 69 7896382

[email protected]

www.fortschrittszentrum.de

Zukunftsforschung für Staaten Vorbereitungen in der Gegenwart

Die Zukunft ist nicht vorhersehbar – aber man kann sich auf sie vorberei-

ten und sie ist sogar gestaltbar. Staatliche Zukunftsforschung heute kann

einen wertvollen Beitrag zu einer besseren Entwicklung der Gesellschaft in

der Zukunft liefern. Sie ist ein öffentliches Gut, das der Markt alleine nicht

bereitstellt.

In der Zukunftsforschung geht es vor allem um breit angelegte, offene,

disziplinen- und ressortübergreifende Prozesse der Kommunikation und

um flexible Netzwerke. Nicht gefragt sind dicke Gutachten, neue Plattfor-

men für alte Überzeugungen oder „bessere“ Prognosen.

Moderne Methoden der Zukunftsforschung wie die Szenarioanalyse, das

Visionieren, die Robuste Entscheidungsfindung oder die Kausale Mehr-

ebenenanalyse strukturieren die offene Kommunikation. Momentan

werden diese Methoden in Deutschland von staatlichen Akteuren kaum

eingesetzt.

In anderen Ländern ist staatliche Zukunftsforschung – in unterschiedli-

chen Ausgestaltungen – fest etabliert. Beispiele sind das Zukunftspro-

gramm der britischen Regierung oder die Risikobewertung und Horizont-

beobachtung in Singapur.

Auch in Deutschland könnte ein weit verzweigtes Netzwerk von Forschern

entstehen, mit einem staatlich finanzierten Institut für Zukunftsfragen als

wichtigen Netzwerknoten. Gemeinsame, ressortübergreifende inhaltliche

Projekte verschiedener staatlicher Akteure würden die Zukunftsfähigkeit

Deutschlands verbessern.

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Großbritannien

USA

Schweden

Irland

Deutschland

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und staatliche Zukunftsforschung

Quelle: Conference Board und Groningen Growth and Development Centre, Total Economy Database

BIP pro Kopf in Tausend 2008 EKS$

Gründung UK

ZukunftsprogrammGründung NESC

Strategie 1986-90

Gründung Institut

für Zukunftsstudien

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 2

Inhaltsverzeichnis 1. Fünf Schlussfolgerungen für Deutschland………………...3 1. Ein Netzwerk entstehen lassen……………………………………..………….…3

2. Eine Abteilung für Methoden der Zukunftsforschung.….………….…...3

3. Ein Institut für Zukunftsfragen gründen.……..…………………………..…4

4. Gemeinsame Zukunftsprojekte durchführen….…………...…………......4

5. Enge internationale Zusammenarbeit.……………………..……..……….…4

2. Methodik der Zukunftsforschung…….……………....……...5 Sich in der Gegenwart stärker machen….…………….……….…………………5

Heute bessere Entscheidungen treffen………………………….………………..6

3. Zukunftsforschung als Antwort auf hohe

Komplexität………………………………………………………..……6 Muster früh erkennen…………………………………………………………....……7

4. Entwicklung der Zukunftsforschung….…………………....8

5. Beispiele aus sieben Ländern….…………………………….…..9 Großbritannien: Das Zukunftsprogramm.…………………….…………..……9

USA: RAND und der Nationale Geheimdienstrat…………….……………..10

Kanada: Politikforschungsinitiative …………………….……….……………..11

Irland: Der Nationale Wirtschafts- und Sozialrat.……………….….……….12

Singapur: Risikobewertung und Horizontbeobachtung …..………..……12

Schweden: Institut für Zukunftsstudien………………………………...……..13

Deutschland: Büro für Technikfolgen-Abschätzung……………...….…….14

6. Gute Zukunftsforschung in der Praxis.….…..…………...15

7. Kommentiertes Literaturverzeichnis………….….……….17

Anhang: 10 Methoden der Zukunftsforschung…………...20 1. Horizontbeobachtung, 2. Trendanalyse, 3. Delphi, 4. Themenbaum,

5. Landkarten, 6. Systemanalyse, 7. Szenarioanalyse, 8. Visionieren,

9. Robuste Entscheidungsfindung, 10. Kausale Mehrebenenanalyse;

Einordnung der 10 Methoden

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 3

Wenige Schritte, um mit den

besten der Welt mitzuhalten

Netzwerk aus Regierungseinrich-

tungen, Wissenschaft, Zivilgesell-

schaft und Unternehmen

Methodische Kompetenz stärken

1. Fünf Schlussfolgerungen für Deutschland

Diese Studie gibt einen Überblick über das weite Feld der Zukunftsfor-

schung und deren Methoden sowie über Einrichtungen staatlicher Zu-

kunftsforschung („government foresight“) in verschiedenen Ländern. Mit

wenigen Schritten wäre es möglich, auch in Deutschland ein System

staatlicher Zukunftsforschung entstehen zu lassen, das mit den besten der

Welt mithalten könnte. Eventuell könnte dies dazu beitragen, dass das

Wirtschaftswachstum in Deutschland wieder mit dem anderer Länder

mithalten kann, die in der Grafik auf Seite 1 dargestellt sind.

Dies sind vorab die 5 Schlussfolgerungen der Studie:

1. Ein Netzwerk entstehen lassen

Gemeinsames Ziel staatlicher Einrichtungen der Zukunftsforschung in

Deutschland auf Ebene von Bund und Ländern sollte ein weit verzweigtes

Netzwerk von kompetenten Forschern sein, um ein hohes Maß an Zu-

kunftsfähigkeit für den gesamten Staat zu ermöglichen. Zu diesem Netz-

werk gehören Organisationen innerhalb der Regierung (vgl. 2. und 3.), in

der Wissenschaft (Fraunhofer Institute etc.), der Zivilgesellschaft (z. B.

Denkfabriken) und im Unternehmenssektor. Hilfreich wäre ein hohes Maß

an Durchlässigkeit zwischen diesen vier Sektoren und den verschiedenen

Einrichtungen innerhalb eines Sektors. Zukunftsfähigkeit wird auch

dadurch geschaffen, dass Personen die Methoden in einer Organisation

kennen und anwenden lernen und dann mit dem Wechsel in eine andere

Organisation dieser zur Verfügung stellen.

2. Eine Abteilung für Methoden der Zukunftsforschung einrichten

Die Methoden der Zukunftsforschung wurden in den letzten Jahrzehnten

immer weiter verbessert. Für das breite Spektrum an teilweise hochkom-

plexen Methoden (siehe Anhang ab Seite 19) und deren kompetenter

Anwendung sind Fachleute notwendig. Die methodische Kompetenz sollte

allen staatlichen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Abteilung oder

das Referat mit etwa 10 Forschern könnte in/an einem Ministerium wie in

Großbritannien, in einem eventuell zu gründenden Institut für Zukunfts-

fragen oder zentral im Kanzleramt angesiedelt sein. Diese Abteilung (oder

Referat) sollte im Sinne des Netzwerkansatzes eigene kleine Projekte

durchführen, wobei sie Nutzer für die Methoden identifizieren muss. Die

Erfahrungen mit den Projekten können dann in künftige Anwendungen

der Methode einfließen.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 4

Ähnliche Herausforderungen in

anderen Ländern

Staatlicher Netzwerkknoten

Gemeinsame, ressortübergreifen-

de inhaltliche Projekte

3. Ein Institut für Zukunftsfragen gründen

Wenn zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stehen, dann könnte der

Bund ein Institut für Zukunftsfragen mit interdisziplinärem Ansatz schaf-

fen. Dieses könnte mit etwa 20 Forschern ein Netzwerkknoten für langfris-

tig relevante Themen bilden. Aufgabe wäre es nicht, dicke Studien zu

verfassen oder Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften für einen engen

Leserkreis zu veröffentlichen. Vielmehr sollte es selber Projekte im Sinne

des Netzwerkansatzes durchführen und in eingeschränktem Umfang über

eigene inhaltliche Expertise verfügen. Die Agenda könnte das Institut

gemeinsam mit dem Geldgeber bestimmen. Es könnte am oder im Kanz-

leramt angesiedelt sein wie in Frankreich, als eigenständige Organisation

wie in Schweden oder als konsensfördernde Einrichtung, die von den

gesellschaftlichen Akteuren kontrolliert wird, wie in Irland.

4. Gemeinsame Zukunftsprojekte durchführen

Angesichts der Komplexität der Herausforderungen moderner Gesell-

schaften ist es für die Zukunftsfähigkeit eines Landes wichtig, dass inner-

halb des Staatssektors gemeinsam ressortübergreifend an inhaltlichen

Projekten gearbeitet und miteinander kommuniziert wird. Eingebunden

werden sollten auch die entsprechenden nachgelagerten Behörden und

die Bundesländer. Die Projekte können von verschiedenen Einrichtungen

angestoßen und koordiniert werden: vom Kanzleramt, von Ministerien,

vom Institut für Zukunftsfragen oder auch von Behörden. Sie können

zunächst für den internen Gebrauch des Staates durchgeführt werden.

Aber erst die öffentliche Sichtbarkeit und Diskussion erlauben die Einbin-

dung einer großen Zahl von Beteiligten und damit eine Weiterentwick-

lung des Themas und eine breite Umsetzung der Erkenntnisse.

5. Enge internationale Zusammenarbeit

Viele der methodischen, organisatorischen und inhaltlichen Fragen treten

nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Ländern der Welt auf.

Zudem lassen sich viele Zukunftsthemen wie die Bedrohung durch den

Terrorismus oder der Klimawandel nur gemeinsam lösen. Daher ist eine

enge internationale Vernetzung der staatlichen Zukunftsforscher aus

Deutschland sinnvoll. Die OECD und die UN bieten dafür Foren an und das

britische Foresight Programme organisiert regelmäßig einen „Internatio-

nal Foresight Workshop“.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 5

Die Zukunft lässt sich nicht prog-

nostizieren

Mehrere Zukünfte diskutieren

Neue Perspektiven, Zusammen-

hänge und Fragen

Entscheidungen heute haben

Auswirkungen auf die Zukunft

2. Methodik der Zukunftsforschung

Die Zukunftsforschung müsste eigentlich in der Mehrzahl „Zukünftefor-

schung“ (futures studies) heißen, da in der Regel mehrere Zukünfte disku-

tiert werden. Sie kann definiert werden als die Verwendung eines breiten

Methodenspektrums, um gemeinsam und strukturiert über mögliche

Zukünfte nachzudenken, um besser auf sie vorbereitet zu sein und sie – wo

möglich – zu gestalten. Zukunftsforschung kann institutionalisiert wer-

den, indem Organisationen und Prozesse aufgebaut werden, die es ermög-

lichen strukturiert über die Zukunft zu diskutieren. Die verwendeten

Methoden unterscheiden sich teilweise deutlich von denen, die in

„etablierten“ Organisationen gesellschaftlicher Forschung eingesetzt

werden, wie der Anhang hier ab Seite 19 zeigt.

In der Zukunftsforschung geht es nicht darum, die Zukunft „richtig“ zu

prognostizieren. Das Credo der Zukunftsforscher ist: „Die Zukunft lässt

sich nicht prognostizieren!“ Eine große Zahl von Fehlprognosen in der

Vergangenheit unterstreicht diese Aussage und rät zu Bescheidenheit (vgl.

z. B. Philip Tetlock in „Expert political judgement“). Ebenso wenig Erfolg

versprechend ist der Versuch, unterschiedlichen Zukunftsszenarien Wahr-

scheinlichkeiten zuzuordnen.

Sich in der Gegenwart stärker machen

Entscheidungen werden in der Gegenwart getroffen, haben aber Auswir-

kungen auf die Zukunft und gestalten diese mit. Basis für die Entschei-

dungen sind unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit. Zukunftsfor-

schung ist ein Weg, sich in der Gegenwart stärker zu machen und besser

auf die Zukunft vorzubereiten. Schon über dem Tempel des Orakels von

Delphi fand sich die Inschrift „Erkenne Dich selbst“.

In Projekten der Zukunftsforschung ist der Weg Teil des Ziels. Organisati-

onen und Teams sollen gestärkt werden. Gemeinsame Ziele und Annah-

men werden herausgearbeitet, indem miteinander kommuniziert wird. Es

sollen neue Perspektiven eröffnet, unerwartete Zusammenhänge aufge-

deckt, Chancen und Risiken verdeutlicht, die Fantasie beflügelt und fun-

damentale Fragen aufgeworfen werden. Werte, Annahmen und tief sit-

zende Erwartungen werden zu Tage befördert – und man kann sich dann

über diese hinaus bewegen und ganz neue Erkenntnisse gewinnen. Es geht

somit nicht darum, sich weiter im Komfort der gewohnten Umgebung zu

bewegen. Vielmehr wird alles auf den Prüfstand gestellt. Das mag nicht

immer angenehm sein, ist aber für eine offene Vorbereitung auf die Zu-

kunft notwendig. Auf diesem Weg begleitet in vielen Fällen ein externer

Moderator bzw. Unterstützer, der die Methoden gut kennt und anwenden

kann, aber nicht unbedingt Experte zu den Inhalten sein muss.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 6

Geschichten über wünschens-

werte Zukünfte erzählen

Unerwünschte Zukünfte weniger

wahrscheinlich machen

Lineares, mechanistisches Welt-

bild ist veraltet

Komplexe, adaptive, evolutionäre

Systeme sind relevant

Das offene Nachdenken der Zukunftsforschung bedeutet, dass man nicht

alle Aufmerksamkeit auf eine einzige Zukunft richten sollte, da man dann

auf alternative Zukünfte nicht vorbereitet wäre. Herman Kahn, einer der

Pioniere der Systemanalyse bei der RAND Corporation in den USA, brachte

es auf den Punkt: „Über etwas nicht nachzudenken macht es wahrscheinli-

cher.“ Ähnlich ist für Riel Miller, den Leiter von Xperidox Futures Consul-

ting in Paris, Zukunftsfähigkeit die Kompetenz, über die Potentiale der

Gegenwart nachzudenken und die Zukunft entstehen zu lassen, indem

Geschichten über mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zu-

künfte entwickelt und gedeutet werden.

Heute bessere Entscheidungen treffen

Nachdem man so strukturiert über mögliche Zukünfte nachgedacht hat,

gilt es im Anschluss daran Entscheidungen abzuleiten. Hier befindet sich

die Schnittstelle zur Strategie, in der auf Basis der eigenen Werte die Ziele

ausgewählt und die entsprechenden Handlungen vorbereitet werden, mit

denen diese Ziele erreicht werden sollen.

Einerseits gilt es eine oder mehrere wünschenswerte oder bevorzugte

Zukünfte aus der Vielzahl möglicher Zukünfte herauszufiltern und zu

versuchen, diese wahrscheinlicher zu machen. Andererseits kann es auch

darum gehen, unerwünschte Zukünfte durch entsprechendes Handeln

weniger wahrscheinlich zu machen. Letztlich sollte die Zukunftsforschung

die Grundlage für gute Strategien und bessere Entscheidungen liefern.

Zukunftsforschung hilft auch dabei, die Größen und Indikatoren zu identi-

fizieren, anhand deren Beobachtung man frühzeitig (bzw. frühzeitiger als

ohne die Zukunftsanalyse) erkennen kann, auf welche Zukunft man sich

zu bewegt.

3. Zukunftsforschung als Antwort auf hohe Komplexität

Noch heute scheint die dominante Denkweise in vielen gesellschaftlichen

Bereichen auf dem geschlossenen, hierarchisch strukturierten Denk- und

Wirtschaftssystem der Industriegesellschaft aufzubauen, das sich ständig

leicht verbesserte und wo Planung eher möglich war. In diesem linearen

System mit klaren Ursache-Wirkung-Zusammenhängen gab es einfache

Regeln und wenig Unsicherheit.

Die großen Entscheidungen der Gegenwart betreffen jedoch nicht diese

weitgehend geschlossenen und nach Regeln funktionierenden Systeme,

sondern wir haben es mit komplexen und offenen Systemversionen zu

tun. Diese komplexeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 7

Nicht-lineare, dynamische Verän-

derungen möglich

Szenarioanalyse zu Finanzmärk-

ten Anfang 2007…

Systemischer, transformierender

Wandel

Beispiel Finanzkrise ab 2007

haben sich im Laufe der Zeit und im Zuge des Fortschritts (z. B. Globalisie-

rung) herausgebildet. In evolutionären Modellen der Biologie oder auch

der Volkswirtschaftslehre (vgl. Richard Nelson und Sidney Winter) bedeu-

ten Fortschritt und Entwicklung immer auch mehr Komplexität, mehr

Variationen und mehr Interaktionen. Da die großen Themen komplex und

disziplinenübergreifend sind, verfolgt die Zukunftsforschung in der Regel

einen interdisziplinären Ansatz.

Komplexe, adaptive und sich selbst weiter entwickelnde soziale Systeme

zeichnen sich durch nicht-lineare, dynamische und quer verbundene

Veränderungen aus, die völlig unerwartete Größenordnungen annehmen

können. In der Regel bestehen sie aus einer fast unüberschaubaren Zahl

von Elementen, die nach zunächst nicht erkennbaren Mustern agieren. Die

größte Schwachstelle eines solchen Systems ist oft das am wenigsten

beachtete Teilelement.

Die Finanzkrise der Jahre ab 2007 ist eines der jüngsten Beispiele dafür. In

einem angeblich effizienten und im Gleichgewicht befindlichen globalem

Finanzsystem gingen seit Mitte 2007 einige Banken bankrott – und bevor

die dahinter liegenden Muster erkannt waren, kam es Ende 2008 zu einer

tiefen Rezession der Weltwirtschaft. Die Finanzkrise zeigt auch, dass erst

nach dem Ereignis die kritischen Teilelemente herausgearbeitet und die

Muster des Systems beschrieben werden können. Weitere jüngere Beispie-

le sind die Asienkrise mit ihren weltweiten Auswirkungen, die Terroran-

schläge vom 11. September 2001 und Epidemien wie SARS oder die so

genannte Schweinegrippe.

Muster früh erkennen

Professionelle Zukunftsforscher arbeiten daher mit Modellen eines syste-

mischen und transformierenden Wandels statt nur mit inkrementellen

Veränderungen des gegenwärtigen Zustandes, wie sie in traditionellen

Ansätzen von Planern und Prognostikern auf Basis von bestehenden

Trends und heutigen Bedingungen angenommen werden. Es wäre die

falsche Schlussfolgerung, wenn man in Anbetracht der Komplexität des

Umfeldes den Kopf in den Sand stecken würde und eigenes Handeln ein-

stellen würde. Vielmehr geht es darum, mit Hilfe der Methoden der Zu-

kunftsforschung Muster so früh wie möglich zu erkennen und dann rasch

und kompetent darauf zu reagieren. Immer öfter muss man sich statt zu

optimieren mit Experimenten vorantasten.

In Bezug auf die Finanzmarktkrise ist die relevante Frage nicht, ob wir sie

hätten prognostizieren können. Vielmehr gilt zu fragen, warum wir –

insbesondere in Europa und in Deutschland – so lange gebraucht haben,

um die Krise zu erkennen (die Europäische Zentralbank hob noch im Juli

2008 die Zinsen an; erst spät wurde strukturiert über staatliche Konjunk-

turprogramme nachgedacht) und dann Reaktionen zu entwickeln.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 8

…hätte eventuell zu geringeren

Kosten staatlicher Eingriffe ge-

führt

Zukunft ist nicht vorbestimmt,

aber auch nicht vollständig kon-

trollierbar

Weiterentwicklung oft nach dra-

matischen, unerwarteten Ereig-

nissen

Militärische Forschung führte zu

Innovationen

Ein Anfang 2007 – also ein Jahr nach dem Höhepunkt des amerikanischen

Immobilienbooms – durchgeführter Szenarioprozess staatlicher Stellen

hätte eventuell ein vergleichbares Krisenszenario skizziert, die wichtigsten

Indikatoren für dieses Szenario herausgearbeitet und Maßnahmen für den

Fall seines Eintretens entwickelt. Oder der Szenarioprozess hätte zumin-

dest die Reaktionskompetenz des politischen und regulatorischen Systems

gestärkt, da man miteinander strukturiert über Modelle und Annahmen

geredet hätte. Möglicherweise hätte dann unter dem Strich das Ausmaß

staatlicher Eingriffe sogar kleiner ausfallen können.

4. Entwicklung der Zukunfts-forschung

Die Wurzeln der Zukunftsforschung reichen bis in die Antike zurück. So

wurde das Orakel von Delphi befragt oder Innereien von Tieren interpre-

tiert. Im Verlauf der Jahrhunderte haben unterschiedliche Weltsichten die

Einstellung der Menschen zur Zukunft geprägt. Bis zur Aufklärung ging

man vielfach von einer vorbestimmten Zukunft aus, in die man gerne

etwas hineinblicken wollte. Mit der Aufklärung setzte sich mehr und mehr

ein mechanistisches, von Isaac Newton geprägtes Weltbild durch, in dem

der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft alles kontrollieren kann. Mittler-

weile hat sich eine bescheidenere Sichtweise durchgesetzt, nach der wir

weder in der Lage sind alle Zusammenhänge zu verstehen, noch unsere

Zukunft vollständig selbst in der Hand haben.

Die moderne Zukunftsforschung ist weit entfernt von Kaffeesatzleserei

und Kristallkugel. Viele große methodische und institutionelle Weiter-

entwicklungen der Zukunftsforschung wurden durch dramatische und

unerwartete Ereignisse angestoßen. Die Große Depression in den 1930er-

Jahren und der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor 1941 setzten in den

USA ein strukturierteres Nachdenken und Vorbereiten auf die Zukunft in

Gang. So ernannte Präsident Truman im Jahr 1947 einen „Director of

Central Intelligence“, um sicherzustellen, dass alle relevanten Informatio-

nen zwischen den Geheimdiensten ausgetauscht und gemeinsam bewertet

werden. Die Wirtschaftskrise Anfang der 1990er-Jahre ließ in Skandina-

vien neue Einrichtungen der Zukunftsforschung entstehen. Und die

Asienkrise sowie die Terroranschläge des 11. September 2001 hatten ähnli-

che Folgen in Asien.

Der Ursprung vieler Methoden der Zukunftsforschung liegt insbesondere

in den USA in Arbeiten für das Militär. Die „war games“ (Kriegsspiele), die

die RAND Corporation in den 1950er-Jahren im Auftrag der US-Regierung

entwarf, hatten zum Ziel, besser auf einen möglichen Atomkrieg mit der

Sowjetunion vorbereitet zu sein. Unter Herman Kahn entwickelte sich aus

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 9

Zukunftsforschung immer besser

organisiert

Gute Praxis in anderen Ländern

Zukunftsforschung oft ganz oben

aufgehängt

Strategie und Zukunftsforschung

– gemeinsam oder getrennt?

den Kriegsspielen die Szenariomethode (siehe Seite 22). Auch die 1964

erstmals (wieder von RAND) systematisch durchgeführte Delphi-

Befragung befasste sich schwerpunktmäßig mit militärischen Themen wie

Waffensystemen und Raumfahrt. Noch heute liegt ein klarer Schwerpunkt

staatlicher Zukunftsforschung in den USA im militärischen Bereich.

Insgesamt ist die Zukunftsforschung heute ein breites Feld mit vielen

unterschiedlichen Akteuren, die mehr oder weniger wissenschaftlich

fundiert arbeiten. Es gibt internationale Verbände wie die eher US-

dominierte World Future Society (WFS), die eher international aufgestellte

World Futures Studies Federation (WFSF) und die Association of Professi-

onal Futurists. Es gibt wissenschaftliche Zeitschriften wie „Futures – The

Journal of Policy, Planning and Futures Studies”, das „Journal of Futures

Studies“, den „World Future Review: A Journal of Strategic Foresight“ oder

„Foresight - The Journal of Future Studies, Strategic Thinking and Policy”.

An den Universitäten von Houston und auf Hawaii wird Zukunftsfor-

schung gelehrt. Viele Unternehmen mit dem prominentesten Beispiel der

Ölfirma Shell verwenden seit Jahren Ansätze der Zukunftsforschung.

5. Beispiele aus sieben Ländern

Viele Staaten rund um den Globus unterhalten Einrichtungen der Zu-

kunftsforschung, mit dem Ziel bessere strategische Entscheidungen tref-

fen zu können. Hier werden einige Institutionen vorgestellt, um Anregun-

gen für eine mögliche Weiterentwicklung der staatlichen Zukunftsfor-

schung in Deutschland zu bekommen.

Oft ist die Zukunftsforschung zentral im Büro des Premierministers oder

des Präsidenten angesiedelt. Zukunftsforschung für die Gesellschaft

insgesamt ist ein öffentliches Gut, welches der Markt nicht zur Verfügung

stellt (Unternehmen betreiben Zukunftsforschung zu ihren Themen).

Daher erfolgt die Finanzierung überall zumindest teilweise aus Steuermit-

teln. Die Institution selbst kann auch selbständig außerhalb der Regierung

stehen wie in Schweden und Irland. In allen Ländern hängen die instituti-

onelle Ausgestaltung und der Auftrag stark von einzelnen leitenden Per-

sonen ab, so dass sich nach Wahlen oft Veränderungen ergeben.

Großbritannien: Das Zukunftsprogramm

In Großbritannien gibt es eine Strategie-Einheit des Premierministers

(Strategy Unit), die im Büro des Premierministers (Cabinet Office) angesie-

delt ist. Zudem ist eine Zukunfts-Einheit (Foresight Programme) dem

Ministerium für Wirtschaft, Innovation und Qualifikationen unterstellt.

Das Foresight-Programm der britischen Regierung entstand unter dem

konservativen Premierminister John Major Anfang der 1990er-Jahre mit

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 10

RAND: Bessere Politik durch

Forschung und Analyse

950 Forscher aus 45 Ländern

dem Schwerpunkt auf Technologiethemen. Auftrag ist es, wissenschaft-

lich fundierte Zukunftsvisionen zu erarbeiten, die der Regierung bessere

strategische Entscheidungen ermöglichen. Von Anfang an ging es darum,

viele Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zusam-

menzubringen. An den Konsultationen Mitte der 1990er-Jahre waren etwa

10.000 Menschen beteiligt. In jedem Projekt sind mehrere Ministerien

dabei. Die Erkenntnisse der Projekte werden über viele Kanäle der Öffent-

lichkeit zugänglich gemacht. Momentan beschäftigt man sich unter ande-

rem mit mentalem Wohlergehen, Versorgung mit Nahrungsmitteln,

nachhaltigem Energiemanagement und Übergewicht.

Gründungsjahr: 1993 Forscher: Projektbezogen Webseite: www.foresight.gov.uk

USA: RAND und der Nationale Geheimdienstrat

In den USA existiert eine große Zahl von staatlichen Einrichtungen der

Zukunftsforschung, von denen viele aus dem Militär- und Sicherheitsbe-

reich kommen. Eine der ältesten und bekanntesten ist die RAND Corpora-

tion in Kalifornien. Das erklärte Ziel von RAND (Research ANd Develop-

ment) ist es, durch Forschung und Analyse bessere Politik und Entschei-

dungen zu ermöglichen. RAND entstand 1948 als Ableger des Flugzeug-

bauers Douglas, um nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs Wohlergehen

und Sicherheit der USA zu fördern.

Die unabhängige, gemeinnützige Organisation wird primär durch staatli-

che Gelder finanziert, aber auch durch Zuwendungen und Projektaufträge

von Stiftungen und Unternehmen. RAND ist eine Denkfabrik (think tank)

mit Zukunftsforschung, bezeichnet sich als unabhängig und objektiv und

versucht mit qualitativ hochwertigen, empirisch unterlegten und interdis-

ziplinären Projekten die großen Fragen der Zeit anzugehen.

Mit seinen 950 Forschern bearbeitet RAND ein fast unüberschaubares

Themenspektrum von der nationalen Sicherheit über Gesundheit bis hin

zur Zukunft der Kunst. Hauptziel ist die Entstehung neuer Ideen. RAND

tritt zwar sehr zurückhaltend auf, aber es darf vermutet werden, dass diese

Organisation ein ganzes Land nachhaltig verändert hat. Methodisch ist

RAND auf jeden Fall seit Jahrzehnten führend. Begriffe wie „Monte Carlo

simulation“ , „systems analysis“ und Methoden wie „Delphi“ und „Robust

Decision Making“ wurden hier erfunden. Viele berühmte Zukunftsfor-

scher, die heute zum Teil an anderen Orten arbeiten, waren bei RAND. Der

Sitz in Kalifornien bietet Abstand zur Tagespolitik in Washington D.C.

Gründungsjahr: 1948 Jahresbudget: USD 230 Mio. (2008) Forscher: 950 aus fast 45 Ländern Webseite: www.rand.org

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 11

Nationaler Geheimdienstrat

Globale Trends 2025

Querschnittsthemen und ressort-

übergreifende Zusammenarbeit

Der Nationale Geheimdienstrat (National Intelligence Council) fungiert als

Zentrum strategischen Denkens in der amerikanischen Regierung und ist

dem Direktor der Geheimdienste unterstellt. Unter anderem geht es dort

darum, die Kenntnisse von Menschen außerhalb der Regierung einzubin-

den, um so den Horizont der Mitarbeiter in den Geheimdiensten zu erwei-

tern. Er befasst sich primär mit außen- und sicherheitspolitischen The-

men.

Die Vorläuferorganisation entstand 1950 in Reaktion auf den japanischen

Angriff auf Pearl Harbor. Ein „Board of National Estimates“ wurde ge-

gründet, um gemeinsame Bewertungen von Trends und Bedrohungen aus

dem Ausland durch die gesamte Regierung zu erstellen. 1973 wurde der

Expertenrat durch die „National Intelligence Officers“ ersetzt, die dann

1979 zum National Intelligence Council umbenannt wurden. Fehlprogno-

sen waren natürlich auch hier zu verzeichnen: im September 1962 kam

man zu der Einschätzung, dass die Sowjetunion keine Raketen auf Kuba

stationieren würde – nur einen Monat später war das Gegenteil bewiesen.

Die heutigen Themen erstrecken sich von Terrorismus über ansteckende

Krankheiten und Klimawandel bis hin zu neuen Technologien. Viele der

Studien sind nur für den internen Gebrauch der Regierung gedacht und

werden erst nach Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine

besonders sichtbare Ausnahme ist das Projekt „Globale Trends“ mit der

jüngsten Studie „Global Trends 2025 – A transformed world“, in der auf

100 Seiten die wichtigsten globalen Entwicklungen skizziert und vier

Szenarien für die Jahre bis 2025 vorgestellt werden.

Gründungsjahr: 1979 (1950) Forscher: 17 Webseite: www.dni.gov/nic

Kanada: Politikforschungsinitiative

In Kanada unterstützt die Politikforschungsinitiative (Policy Research

Initiative PRI) seit 1996 die Arbeit der Bundesregierung durch Forschung

zu langfristiger Strategie und zu Querschnittsthemen. Die PRI ging aus

einer Planungseinheit hervor und entstand aus der Erkenntnis, dass hori-

zontale Themen und ressortübergreifende Zusammenarbeit immer wich-

tiger werden. Zukunftsforschung ist hier Teil eines Spektrums von Werk-

zeugen der politischen Strategie.

Gründungsjahr: 1996 Forscher: ca. 30, davon 3 mit Schwerpunkt Zukunftsforschung Webseite: www.policyresearch.gc.ca

Ursprünglich war die Rolle der PRI hauptsächlich die eines Netzwerkbau-

ers, Moderators und Unterstützers. Im Jahr 2002 kamen dann zusätzliche

eigene Forschungsaufgaben hinzu. Themen sind zurzeit „Strategie der

Regulierung“, „Nachhaltige Entwicklung“, „Investition in die Jugend“ und

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 12

Viele gesellschaftliche Akteure

beteiligen

Berühmte „Entwicklungsstrategie

1986-1990“

Weiterentwicklung: Futures

Ireland

Szenariomethode konnte wichtige

Ereignisse nicht erfassen

„Kulturelle Vielfalt“. Das größte Projekt ist Canada@150, in dem die wich-

tigsten Herausforderungen Kanadas im Jahr 2017 – also zur 150-Jahrfeier –

identifiziert und bewertet werden.

Irland: Der Nationale Wirtschafts- und Sozialrat und

Futures Ireland

Der Nationale Wirtschafts- und Sozialrat (National Economic and Social

Council, NESC) in Irland wurde 1973 eingerichtet, um langfristige strategi-

sche Analysen über Irlands Herausforderungen zu erstellen. Im Rat sind

Vertreter der Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Landwirtschaft,

Zivilgesellschaft und Wissenschaft vertreten. Er berichtet dem Premiermi-

nister und wird von diesem finanziert. Die Forschungsarbeit leistet ein

Sekretariat mit 7 Forschern.

Aufgabe des NESC ist es, Analysen und Berichte über Themen zu erstellen,

die für die effiziente Entwicklung der Wirtschaft und die soziale Gerech-

tigkeit wichtig sind. Er kann entweder von sich aus ein Thema aufgreifen

oder wird von der Regierung damit beauftragt. Wichtig ist, dass ein gesell-

schaftlicher Konsens über gemeinsame Ziele der Beteiligten entwickelt

wird. Bevor die Finanzkrise 2008/09 die Arbeit dominierte, waren die

Forschungsthemen die finanzielle Situation von Kindern, Innovationspoli-

tik, die EU und Klimawandel.

Berühmt ist der NESC für die 1986 vorgelegte „Entwicklungsstrategie 1986-

1990“, die eine der Ursachen für den wirtschaftlichen Aufstieg Irlands war.

Im Jahr 1990 wurde als Folgeprojekt eine „Strategie für die 1990er-Jahre“

entwickelt. Die strukturierten Arbeiten über die Jahrzehnte haben dem Rat

ermöglicht, bereits im März 2009 einen 130-seitigen Bericht mit dem Titel

„Irlands fünfteilige Krise: eine ganzheitliche nationale Reaktion“ (Ireland’s

Five-Part Crisis: An Integrated National Response) zu veröffentlichen, was

auf Ebene von Staaten wohl einmalig ist.

Methodisch neue Wege geht das 2007 vorgestellte Projekt „Futures Ire-

land“ (www.futuresireland.ie), in dem die momentan vorherrschenden

Annahmen und Einstellungen auf den Prüfstand gestellt werden sollen,

die das allgemeine Denken und die Politik in Irland prägen. Neue Kapazi-

täten der Zukunftsforschung sollen geschaffen und Querdenken ermög-

licht werden. Der Abschlussbericht wird im Herbst 2009 veröffentlicht.

Gründungsjahr: 1973 Forscher: 7 Webseite: www.nesc.ie

Singapur: Risikobewertung und Horizontbeobachtung

Modernste Methoden der Zukunftsforschung werden in Singapur in dem

Prozess „Risikobewertung und Horizontbeobachtung“ (Risk assessment

and horizon scanning Singapore, RAHS) angewandt. Er wurde im Jahr

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 13

Netzwerkansatz in Wissenschaft

und Zivilgesellschaft

Offenes Forum für gesellschaft-

liche und politische Debatten

2005 begonnen, unter anderem, weil die bis dahin regelmäßig verwendete

Szenariomethode nicht in der Lage war, Ereignisse wie die Asienkrise 1997

oder die Terrorangriffe des 11. September 2001 im Vorfeld in die strategi-

schen Diskussionen einfließen zu lassen.

Das RAHS ist dem Koordinationszentrum für nationale Sicherheit der

Regierung unterstellt, das auch für die inhaltliche Ausrichtung und die

finanzielle Ausstattung zuständig ist. Es sieht sich als Teil einer Netzwerk-

struktur primär innerhalb des Regierungsapparates, aber auch mit Ver-

bindung zu Wissenschaft und Zivilgesellschaft in Singapur und internati-

onal. Das RAHS ist Zentrum für methodische Weiterentwicklungen,

Datensammlung, Trendbeobachtung und Horizontbeobachtung.

Die meisten Projekte sind geheim, aber auf dem internationalen RAHS

Symposium im Herbst 2008 wurde unter anderem über religiösen Radika-

lismus und militärische Themen gesprochen.

Gründungsjahr: 2005 Forscher: Anzahl nicht verfügbar Webseite: rahs.org.sg

Zudem gibt es im Amtssitz des Premierministers ein Büro für strategische

Politik (Strategic Policy Office, SPO) mit 16 Mitarbeitern, die in einer Stra-

tegiegruppe und einer Zukunftsgruppe arbeiten und Experten für Szena-

rioanalyse sind. Die Einheit entstand 1995 als Büro für Szenarioplanung

und bekam 2003 ihren heutigen Namen. RAHS und SPO arbeiten eng

zusammen.

Schweden: Institut für Zukunftsstudien

Eine der ältesten Einrichtungen staatlicher Zukunftsforschung in Europa

ist das schwedische Institut für Zukunftsstudien (Institutet för Fram-

tidsstudier) beziehungsweise seine Vorgängerorganisationen. Unter dem

Sozialdemokraten Olof Palme wurde bereits 1973 beim Büro des Minister-

präsidenten ein Sekretariat für Zukunftsstudien eingerichtet. Die Mitte-

Rechts-Koalitionsregierung ordnete das Sekretariat 1980 dem Rat zur

Koordination und Planung von Forschung unter. Erst 1987 wurde unter

sozialdemokratischer Regierung das heutige Institut gegründet. Die Fi-

nanzierung kommt hauptsächlich aus dem Staatshaushalt.

Das Institut dient als offenes Forum für gesellschaftliche und politische

Debatten, um Chancen und Alternativen zu erforschen und Handlungsop-

tionen aufzuzeigen. Es gibt selbst keine Politikempfehlungen, wodurch

eine klare Trennung zur politischen Strategie besteht, welche für die

Handlungen zuständig ist. Die interdisziplinäre, wissenschaftliche Zu-

kunftsforschung erfolgt auf Projektbasis, aber es gibt auch langfristige

Themenschwerpunkte. Die Projekte der Jahre 2009 bis 2013 sind (1) Integ-

ration und Pluralismus in der Gesellschaft der Zukunft, (2) Soziale Aus-

grenzung – Ursachen und Wirkungen, (3) Finanzierung des Wohlfahrts-

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 14

Deutscher Schwerpunkt auf Tech-

nologiethemen

staates, und (4) Zukunftsforschung zur Zukunftsforschung. Die ganz

langfristigen Themen befassen sich mit Bevölkerung, Regionen, Kindern,

Armut und dem europäischen Sozialmodell.

Gründungsjahr: 1987 (1973) Forscher: ca. 50 Webseite: www.framtidsstudier.se

Deutschland: Büro für Technikfolgen-Abschätzung

In Deutschland liegt der Schwerpunkt der staatlichen Zukunftsforschung

auf Technik- und Technologiethemen. 1990 wurde beim Deutschen Bun-

destag das Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) eingerichtet mit

dem Ziel, Beiträge zur Verbesserung der Informationsgrundlagen für

forschungs- und technologiebezogene Beratungs- und Entscheidungspro-

zesse im Deutschen Bundestag zu leisten. Das TAB ist eine organisatori-

sche Einheit des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemana-

lyse (ITAS) der Helmholtz-Gemeinschaft. Themen der letzten Jahre um-

fassten unter anderem die CO2-Lagerung, Energiespeicher, elektronische

Petitionen und transgenes Saatgut.

Gründungsjahr: 1990 Forscher: ca. 10, viele von anderen Organisationen bezahlt Webseite: www.tab.fzk.de

Der Prozess zur Technologievorausschau des Bundesministeriums für

Bildung und Forschung baut auf Befragungen und Literaturrecherche auf

und will 10 bis 15 Jahre in die Zukunft blicken. Der Prozess wird von den

Fraunhofer Instituten für System- und Innovationsforschung und für

Arbeitswirtschaft und Organisation unterstützt.

Die Bundeswehr hat seit April 2006 im Zentrum für Transformation in

Strausberg ein Dezernat Zukunftsanalyse. Dort werden sicherheitspoliti-

sche Zukunftsszenarien erarbeitet.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 15

10 Eigenschaften guter Zukunfts-

forschung für Staaten

6. Gute Zukunftsforschung in der Praxis

Aus dem Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der Zukunftsfor-

schung, ihrer Entwicklung im Laufe der letzten Jahrzehnte und der institu-

tionellen Praxis in anderen Ländern lassen sich 10 Eigenschaften guter

Zukunftsforschung für Staaten ableiten, die ähnlich auch für Unterneh-

men und zivilgesellschaftliche Akteure gelten:

1.1.1.1. Bessere Entscheidungen Bessere Entscheidungen Bessere Entscheidungen Bessere Entscheidungen werden werden werden werden ermöglichermöglichermöglichermöglichtttt.... Ziel staatlicher

Zukunftsforschung ist es, einige der vielen staatlichen Entschei-

dungen zu verbessern und Reaktionszeiten zu verringern. Dazu

müssen passende Strukturen, Institutionen und Fähigkeiten exis-

tieren bzw. aufgebaut werden – mit all den institutionellen und

menschlichen Herausforderungen, die dies mit sich bringt.

2.2.2.2. StrukturierteStrukturierteStrukturierteStrukturierterrrr, offene, offene, offene, offenerrrr Lernprozess Lernprozess Lernprozess Lernprozess wird wird wird wird ananananggggeeeestoßen.stoßen.stoßen.stoßen. Allen Be-

teiligten ist bewusst, dass es nicht in erster Linie um eine Prognose

der Zukunft geht, sondern um einen strukturierten Lernprozess, in

dem intensiv miteinander kommuniziert wird und unterschiedli-

che Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Neue Ideen wer-

den zugelassen und (Gedanken-)Experimente ermöglicht.

3.3.3.3. Teil der strategiTeil der strategiTeil der strategiTeil der strategischen Führungsverantwortungschen Führungsverantwortungschen Führungsverantwortungschen Führungsverantwortung.... Eine klare Un-

terstützung von höchster politischer Stelle ist Voraussetzung für

den Erfolg. Zukunftsforscher müssen vom Regierungschef/in be-

auftragt, finanziert und/oder zumindest genutzt werden. Nur so

ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Zukunftsforschern und

Strategen sowie zwischen verschiedenen Einrichtungen der Regie-

rung zu komplexen Querschnittsaufgaben möglich.

4.4.4.4. Klare Frage, klarer ZeitKlare Frage, klarer ZeitKlare Frage, klarer ZeitKlare Frage, klarer Zeithorizont.horizont.horizont.horizont. Konkrete Projekte gehen jeweils

von einer klar formulierten Frage und einem bestimmten Zeitho-

rizont aus. Es wird in der Regel nicht mit nur einer Zukunft, son-

dern mit mehreren Zukünften gearbeitet.

5.5.5.5. Breites Methodenspektrum Breites Methodenspektrum Breites Methodenspektrum Breites Methodenspektrum wird gewird gewird gewird genutznutznutznutztttt.... Die Zukunftsfor-

schung nutzt ein breites Spektrum von Methoden und Disziplinen.

Methoden reichen von der Horizontbeobachtung bis zur Kausalen

Mehrebenenanalyse (siehe Anhang ab Seite 19). Eingesetzt werden

sowohl qualitative als auch quantitative Werkzeuge. Das Spekt-

rum der Disziplinen reicht von den Naturwissenschaften über

Wirtschaftswissenschaften bis zu den Sozialwissenschaften und

zur Philosophie.

6.6.6.6. Netzwerkansatz Netzwerkansatz Netzwerkansatz Netzwerkansatz wird wird wird wird verfolgverfolgverfolgverfolgtttt.... Es wird ein Netzwerkansatz ver-

folgt, der hohe Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 16

stellt, aber erlaubt, viel von dem aufzugreifen, was im Umfeld pas-

siert. Das Netzwerk umfasst auch Akteure aus Unternehmen, Wis-

senschaft und Zivilgesellschaft.

7.7.7.7. Offene Systeme Offene Systeme Offene Systeme Offene Systeme werden werden werden werden ermöglichermöglichermöglichermöglichtttt.... Institutionen und Netzwer-

ke sind durchlässig und offen für Quereinsteiger, Querdenker und

unterschiedliche Typen von Menschen: Generalisten und Spezia-

listen, Praktiker und Wissenschaftler, Introvertierte und Extrover-

tierte.

8.8.8.8. Ergebnisse Ergebnisse Ergebnisse Ergebnisse werden werden werden werden leicht zugänglich machen.leicht zugänglich machen.leicht zugänglich machen.leicht zugänglich machen. Eine effiziente

Kommunikation der Ergebnisse ist ebenso wichtig wie deren in-

haltliche Qualität. Den Nutzern wird der Zugang zu den Ergebnis-

sen so leicht wie möglich gemacht.

9.9.9.9. In die Gesellschaft hinein wirken.In die Gesellschaft hinein wirken.In die Gesellschaft hinein wirken.In die Gesellschaft hinein wirken. Eine große Offenheit zur Ge-

sellschaft wird angestrebt, um möglichst viele Beteiligte mitzu-

nehmen. Das bedeutet, dass im Prozess ein ganzheitlicher Ansatz

mit vielen Betroffenen notwendig ist und gegen Ende des Prozes-

ses eine breite Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit mit

Publikationen, Vorträgen und Konferenzen steht.

10.10.10.10. International gut veInternational gut veInternational gut veInternational gut vernetzen.rnetzen.rnetzen.rnetzen. Die Zukunftsforschung ist interna-

tional bestens vernetzt, um neue Methoden, Projekte und Er-

kenntnisse aus anderen Ländern aufzunehmen und Doppelarbeit

zu vermeiden.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 17

7. Kommentiertes Literaturver-zeichnis

Im Haupttext wurde zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit auf Fußnoten

und spezifische Quellenverweise verzichtet. Die verwendeten Quellen sind

hier aufgeführt und kommentiert. Das Feld der Zukunftsforschung ist

ausgesprochen breit, sodass nur ein kleiner Ausschnitt der Literatur ge-

zeigt werden kann. Einen deutlich ausführlicheren, 40-seitigen kommen-

tierten Literaturüberblick beinhaltet der Anhang des Einleitungskapitels

in „Futures Research Methodology 3.0“.

Aaltonen, Mika (2007): The third lens Aaltonen, Mika (2007): The third lens Aaltonen, Mika (2007): The third lens Aaltonen, Mika (2007): The third lens –––– Mul Mul Mul Multtttiiii----ontology senseontology senseontology senseontology sense----making making making making

and strategic decisionand strategic decisionand strategic decisionand strategic decision----mmmmaking. aking. aking. aking. Ashgate. Ashgate. Ashgate. Ashgate.

Aufbauend auf Einblicke der Komplexitätsanalyse wird hier das Zusammenspiel

zwischen Raum und Zeit in drei unterschiedlichen Umfeldern analysiert: linear,

unruhig und visionär. Der Schwerpunkt liegt darauf, die Gegenwart richtig zu

erkennen, um dann entsprechende strategische Entscheidungen zu treffen.

Bell, Wendell (2003): Foundations of Futures Studies – History,

purposes, and knowledge, 2. Auflage. Transaction Publishers.

Der Soziologieprofessor aus Yale gibt einen umfassenden Überblick über die

Entstehung der Zukunftsforschung und ihre Methoden.

European Foundation for the Improvement of Living and Working

Conditions (2003): Handbook of Knowledge Society Foresight. Dub-

lin.

Praxis- und anwendungsorientierte Übersicht über den Prozess von Zukunfts-

projekten von der Themensetzung bis zur Bewertung der Ergebnisse. Nur elekt-

ronisch verfügbar.

Glenn, Jerome C. und Theodore J. Gordon (Hrsg.) (2009): Futures

Research Methodology - Version 3.0. The Millennium Project

WFUNA.

Ein fast unglaublicher Reichtum an methodischer Kompetenz auf einer CD mit

1300 Seiten Text. Hier schreiben die großen Namen wie Theodore Gordon

(Erfinder des Delphi), Sohail Inayatullah (Kausale Mehrebenenanalyse) und

Robert Lempert (Robuste Entscheidungsfindung). Erhältlich über:

www.millennium-project.org

Glenn, Jerome C., Theodore J. Gordon und Elizabeth Florescu (2008):

2008 State of the Future. The Millennium Project WFUNA.

Erscheint jährlich mit einer CD, die 6.300 Seiten Informationen enthält. Kapitel

4 in der 2008er Ausgabe befasst sich mit Zukunftsforschung von Staaten.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 18

Gordon, Adam (2009): Future Savvy. Amacom.

Erläutert, wie man sinnvoll mit Prognosen umgeht, indem man zum Beispiel die

Absichten und Anreize des Prognostikers erkennt und die Qualität der zu Grun-

de liegenden Daten beleuchtet.

Horizon Scanning Centre (2009): Exploring the future - Tools for

strategic thinking.

Der elektronisch verfügbare Werkzeugkasten der britischen Umfeldbeobachter

zeigt auch, wie methodische Kompetenz allgemein zugänglich gemacht werden

kann. Verfügbar über: hsctoolkit.tribalctad.co.uk/ .

Lempert, Robert J., Steven W. Popper und Steven C. Bankes (2003):

Shaping the next one hundred years – New methods for quantitative,

long-term policy analysis. The RAND Pardee Center.

Beschreibt zunächst die Herausforderungen langfristiger Politikanalyse und

bringt einen Überblick über die Geschichte der Zukunftsforschung. Im Hauptteil

wird die von den Autoren entwickelte Methode der Robusten Entscheidungsfin-

dung mit Anwendungen vorgestellt. Eine elektronische Version ist kostenlos

verfügbar.

Loescher, Michael S., Chris Schroeder und Charles W. Thomas

(2000): Proteus – Insights from 2020. The Copernicus Institute

Press.

Beeindruckender und leicht lesbarer Bericht über ein Szenarioprojekt der US-

Geheimdienste unter Federführung des „National Reconnaissance Office“ in den

Jahren 1999 und 2000. Es werden fünf mögliche Zukünfte für das Jahr 2020

vorgestellt.

Miller, Riel (2007): Futures literacy: A hybrid strategic scenario

method. Futures 39, Seiten 341-362.

Entwickelt drei Stufen der Zukunftsfähigkeit: (1) Selbsterkenntnis, (2) Entde-

ckung und (3) Wahl. Auch er verbindet eine strukturierte Analyse der Gegen-

wart mit der Enthüllung neuer Einblicke und dann der strategischen Entschei-

dung. Aber er beschreibt zudem, wie die Werte und Annahmen aus der ersten

Stufe in die Entscheidungen der dritten Stufe einfließen.

Mulgan, Geoff (2009): The art of public strategy – Mobilizing power

and knowledge for the public good. Oxford University Press.

Einer der Köpfe hinter der institutionellen Neuausrichtung von Strategie- und

Zukunftsforschung der britischen Regierung unter Toni Blair erläutert, wie eine

gute Regierung funktionieren kann und welchen Wert Langfristdenken hat.

Mulgan arbeitet heute für die unabhängige Denkfabrik „Young Foundation“.

Ogilvy, James A. (2002): Creating better futures. Oxford University

Press.

Ogilvy hat mit Peter Schwartz die Szenariomethode entwickelt und in Yale

Philosophie gelehrt. Das Buch steckt voller Optimismus und erklärt die Werk-

zeuge, die wir brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Gegenwart.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 19

Petersen, John L. (2008): A vision for 2012 – Planning for extraordi-

nary change. Fulcrum.

Einer der wichtigsten Vertreter der Methode des Visionierens erläutert seine

Vision für das Jahr 2012 (mit Fokus auf die USA) und die entsprechende Strate-

gie für heutiges Handeln.

RAHS Singapur (2008): Thinking about the future: Strategic Antici-

pation and RAHS. National Security Coordination Secretariat.

Enthält einen längeren Beitrag über die Entstehungsgeschichte von RAHS

sowie Beiträge zu Methoden von vielen internationalen Autoren wie David

Snowden (Cognitive Edge), John L. Petersen (The Arlington Institute) und John L.

Casti (IIASA).

Schwartz, Peter (1991): The art of the long view. Currency Double-

day.

Der Klassiker zur Szenarionalyse. Betont die Bedeutung von offener Kommuni-

kation, der interdisziplinären und institutionenübergreifenden Vorgehensweise

und der Lernerfahrung eines Szenarioprozesses.

Shaping Tomorrow (2009): A guide to practical foresight.

Geleitet von Michael Jackson arbeitet die Firma „Shaping Tomorrow“ mit

hunderten Kunden rund um die Welt zusammen und kann einschätzen, was in

der Praxis machbar ist. Der Führer ist verfügbar unter: practicalfore-

sight.wetpaint.com.

Tetlock, Philip E. (2005): Expert political judgement: How good is it?

How can we know? Princeton University Press.

Seit Mitte der 1980er-Jahre sammelt Tetlock Prognosen und kommt zu dem

Schluss, dass Experten nicht besser sind als andere Menschen (aber besser als

Affen). Er erklärt die psychologischen Gründe dafür und findet einen negativen

Zusammenhang zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit, die ein Experte be-

kommt und der Prognosequalität. Relativ gut schneiden flexible, offene Men-

schen und quantitative Modelle ab.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 20

Anhang: 10 Methoden der Zukunfts-forschung

Das Feld der Zukunftsforschung bietet ein breites Spektrum an Methoden

für unterschiedliche Fragestellungen, Zeithorizonte und Budgets. Hier

sollen nur 10 davon vorgestellt werden, die in der Praxis angewandt wer-

den und wissenschaftlich fundiert sind. Die Darstellungen stützen sich auf

drei Quellen, die im Literaturverzeichnis näher beschrieben sind: die

„Futures Research Methodology 3.0“ des Millennium Project der Vereinten

Nationen, das „Horizon Scanning Toolkit“ des Horizon Scanning Center

der britischen Regierung, sowie „A Guide To Practical Foresight“ von

Shaping Tomorrow, einem privaten Unternehmen.

1. Horizontbeobachtung

Eine der einfachsten Methoden der Zukunftsforschung ist die Horizont-

oder Umfeldbeobachtung (horizon/environmental scanning). Die Grund-

idee ähnelt dem des Krähennestes (Ausguck) auf der Mastspitze eines

Segelschiffs, von dem aus in unbekannten Gewässern frühzeitig auf Mög-

lichkeiten und Gefahren hingewiesen werden sollte, um z. B. die eigenen

Richtungsentscheidungen so früh wie möglich anzupassen. Im Idealfall ist

die Horizontbeobachtung ein laufender Prozess, aber sie kann auch zeit-

lich begrenzt eingesetzt werden.

Horizontbeobachtung wird von allen Menschen und allen Zukunftsfor-

schern betrieben – mehr oder weniger systematisch. Ein typisches profes-

sionelles Beobachtungssystem beginnt mit einer Kernfrage, zum Beispiel

der Zukunft des Nahrungsmittelsektors. Es werden alle relevanten Infor-

mationen erfasst, die das Internet, Publikationen, Konferenzen und wich-

tige Personen liefern. Die Informationen werden systematisch in einer

Datenbank aufgearbeitet, um sie später elektronisch analysieren zu kön-

nen. Dazu müssen Kategorien verwendet werden wie z. B.: Aus welchem

Bereich kommt die Information (Technologie, Konsumenten etc.)? Wie

wichtig ist die Information? Wie weit ist der Zeithorizont? Ist die Informa-

tion umstritten? Wer sind die Akteure? Wann und von wem wurde die

Information herausgegeben? Ein öffentlich zugängliches Beispiel ist

www.sigmascan.org.

Die Horizontbeobachter werten die Informationen gemeinsam mit dem

Management (dem Schiffskapitän) aus, analysieren Zusammenhänge,

suchen Widersprüche und offene Fragen. Auf Basis dieser Analyse wird

der Beobachtungsprozess angepasst und eventuell werden neue Prioritä-

ten gesetzt.

Das Ergebnis ist ein System kollektiver Intelligenz, das für die Entscheider

leicht zugänglich ist und sich weiterentwickeln kann. Aus den Entschei-

dungsprozessen ergeben sich in der Regel neue Fragen und Prioritäten, die

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 21

dann in das Beobachtungssystem eingespeist werden, damit die Horizont-

beobachtung auch für zukünftige Entscheidungen relevant bleibt.

2. Trendanalyse

In der Trendanalyse wird versucht, aus der gerichteten Entwicklung einer

Variablen in der Vergangenheit (Trend) auf zukünftige Entwicklungen zu

schließen. Interaktionen zwischen verschiedenen Trends werden beleuch-

tet und die tiefer liegenden Treiber der Trends erforscht. In der Regel wird

mit großen Datenbanken gearbeitet, in die für jeden Trend ein Titel, eine

Beschreibung, der Zeithorizont, die Bedeutung, die Treiber, die Konse-

quenzen usw. eingetragen werden. Oft werden ähnliche oder parallel

laufende Trends auch zu Gruppen zusammengefasst, um die Zahl der

Trends und damit die Komplexität zu reduzieren.

Im Unterschied zu den meisten anderen Methoden versucht man mit der

Trendanalyse oft eine Prognose zukünftiger Entwicklungen, indem die

Trends fortgeschrieben werden. Das erste Problem dabei ist, dass die

wirklich wichtigen Trends der Zukunft heute möglicherweise noch nicht

sichtbar sind. Aus dieser Erkenntnis hat sich die Analyse schwacher Signa-

le entwickelt, also von Entwicklungen, die noch kein Trend sind, aber einer

werden könnten. Ein zweites Problem ist, dass der entscheidende Punkt

für die Zukunft möglicherweise nicht der Trend selbst ist, sondern wie die

Gesellschaft mit ihm umgeht. Die Beispiele Demografie und Zuwanderung

zeigen, dass ein Trend zwar klar erkannt wurde, die gesellschaftliche

Reaktion darauf aber die Auswirkungen des Trends bestimmt.

3. Delphi

Die Delphi-Methode wurde Anfang der 1960er-Jahre in der Denkfabrik

RAND entwickelt und ist einer der älteren Ansätze der Zukunftsforschung.

Es werden Einblicke aus einem breiten Spektrum an Disziplinen und

Menschen zusammengefasst und ein Konsens über die künftige Entwick-

lung eines Themas hergestellt. Delphis bieten sich an, wenn die Mitglieder

der Gruppe weit voneinander entfernt sitzen.

Am Beginn steht eine klar definierte Fragestellung, z. B. welches werden

die neuen Technologien des Jahres 2025 sein? Dann folgt ein iterativer

Prozess von Befragungen, der von einer Kernmannschaft gesteuert wird.

In der ersten Runde sollen die Experten auf eine Liste von Fragen antwor-

ten. Am Ende der Runde darf jeder die anonymisierten Antworten der

anderen Teilnehmer sehen und hat die Möglichkeit, seine Antwort im

Lichte dieser Informationen anzupassen. Auf Basis dieser Antworten

entwickelt die Kernmannschaft dann nach Rücksprache mit dem Auftrag-

geber eventuell eine zweite oder sogar eine dritte Runde von Fragen. Am

Ende des Prozesses steht ein zusammenfassender Bericht.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 22

In den USA werden Delphis heute kaum noch verwendet, da sie unter dem

Kernproblem leiden, dass sich Zukunft nicht prognostizieren lässt. Statt

ein breites Spektrum an Zukünften aufzuspannen, soll mit dem Delphi ein

Konsens über die Entwicklung in der Zukunft erzielt werden. Letztlich

wird in einem disziplinierten Prozess die gängige Meinung herausgearbei-

tet, die aber in der Regel falsch liegt.

4. Themenbaum

Mit einem Themenbaum wird die Kernfrage in immer feiner aufgeteilte

Unterthemen gegliedert, um im Idealfall alle relevanten Elemente abzubil-

den. Das Ergebnis ist eine hierarchische Darstellung ähnlich eines Organi-

gramms. Oft wird diese Methode in Verbindung mit anderen Methoden

verwendet, um sicherzustellen, dass die Kernfrage bis ins Detail und in

einer für alle Beteiligten sichtbaren Struktur analysiert wird. Ein Themen-

baum kann zum Beispiel Ausgangspunkt für eine Horizontbeobachtung

sein.

Die Methode erfordert relativ geringe Kenntnisse und ist am besten auf

mittlere Zeithorizonte anzuwenden. Man befindet sich noch außerhalb des

Systems, versucht aber, dieses so gut wie möglich in seiner Gesamtheit zu

erfassen.

5. Landkarten

Landkarten (Roadmaps) erlauben ganz allgemein von einem Ausgangs-

punkt zu einem Ziel zu gelangen. Sie zeigen Kreuzungen, Nebenstraßen

und Verzweigungen auf. Sie sind eher ein Planungs- als ein Prognosein-

strument und sinnvoll einzusetzen, wenn der Anwender bereits ein be-

stimmtes Ziel hat. Es geht darum, einen Konsens über die Vorgehensweise

(den Weg) zu finden, Engpässe zu identifizieren und viele Akteure und

Informationen mit einzubeziehen.

Als Methode der Zukunftsforschung bauen die Landkarten einerseits auf

historischen Studien auf, die z. B. versuchen die Pfade zu großen Innovati-

onen zu erforschen. Andererseits auf Planungstechniken, die den kriti-

schen Pfad eines Projektes aufzeigen. Landkarten werden von Unterneh-

men eingesetzt, die neue Forschungsprioritäten identifizieren möchten

oder von staatlichen Einrichtungen, die den kostengünstigsten Pfad zu

einem Ziel suchen.

In der Praxis werden zuerst die Kernfrage, der Planungshorizont, die

Akteure und der Detailgrad (Maßstab) der Karte bestimmt. Dann werden

die relevanten Elemente der Karte gesetzt und ihre Bestimmungsgründe

erfasst. Anschließend wird ein Zeitplan aufgestellt, wann welches Element

in welcher Ausprägung erwartet wird. Am Ende steht dann ein Aktions-

plan, wie man das Ziel am besten erreichen kann.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 23

Besonders oft werden Landkarten im Technologiebereich eingesetzt, so

zum Beispiel in einem Projekt der Europäischen Kommission zum Thema

eGovernment (www.egovrtd2020.org) oder von der US-Regierung zur

CO2-Bindung. Landkarten fußen auf dem Ingenieursansatz, sie werden

weitgehend außerhalb des Systems erstellt, sind recht aufwändig, aber nah

an der Implementierung von Politik.

6. Systemanalyse

Auch die Systemanalyse ist eine alte Methode, die in den letzten Jahren

immer mehr verfeinert wurde und immer öfter verwendet wird. Sie wird

immer dann eingesetzt, wenn das Problem schwer zu durchschauen ist,

sich Dinge schnell verändern, viele Menschen miteinander in Kontakt

sind, das Umfeld eine Rolle spielt und verschiedene Interessen und Sicht-

weisen existieren. Somit wird es nötig, einen strukturierten Blick auf das

gesamte System zu werfen, um Rückkopplungen zu erkennen: Alles hängt

mit allem zusammen. Die Systemanalyse ist ein zutiefst interdisziplinärer

Ansatz, in dem Biologie, Mathematik, Physik, Neuropsychologie, Sozial-

wissenschaften und viele andere Disziplinen einen Beitrag leisten.

Die Analyse beginnt mit einer Kernfrage und einem gemeinsamen Ziel.

Dann werden die Systemelemente, deren Interaktion und die Systemgren-

zen erfasst. Sollen zum Beispiel in einem Modell des Bestandes von Füch-

sen neben den Kaninchen auch Jäger vorkommen? Das System wird dann

in der Regel in einem Flussdiagramm dargestellt.

Wenn möglich, werden dann Daten über das System gesammelt, um seine

Entwicklung im Zeitablauf zu testen und mögliche Lücken des Modells

aufzuspüren. Wenn sich z. B. die tatsächliche Entwicklung des Bestandes

von Füchsen nicht mit den anderen Variablen im System erklären lässt,

dann fehlt etwas.

Auch bei der Systemanalyse stehen die Analysten außerhalb des Systems,

sie sehen aber, dass sie sich der Realität nur annähern können. Die Metho-

de ist relativ aufwändig und eignet sich besonders für mittlere Zeithori-

zonte.

7. Szenarioanalyse

Die Szenarioanalyse ist eine besonders oft verwendete Methode, in der es

darum geht, verschiedene Geschichten über die Zukunft zu entwickeln. Sie

wurde in den 1950er-Jahren von Herman Kahn am RAND eingeführt und

seit den 1970er-Jahren mit viel Erfolg von der Ölfirma Shell eingesetzt.

Ursprünglich umfasste die Methode nur drei Szenarien (Weiter wie bisher;

Es wird deutlich schlechter; Es wird deutlich besser); heute werden in der

Regel vier Szenarien erarbeitet. Bei RAND geht man sogar noch weiter und

lässt mit Unterstützung von Computern ein ganzes Spektrum von Szena-

rien errechnen.

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 24

Die heute am weitesten verbreitete Vorgehensweise wählt zunächst aus

einer großen Zahl von Einflussfaktoren die beiden wichtigsten und größ-

ten Unsicherheiten aus. Diese werden jeweils in einer hohen und einer

niedrigen Ausprägung an ein Achsenkreuz geschrieben, woraus sich vier

Kombinationen ergeben. Dann werden – unter Berücksichtigung der

anderen Einflussfaktoren – vier in sich konsistente Geschichten entwi-

ckelt. Es findet ein gemeinsamer Lernprozess statt, in dem neue Zusam-

menhänge aufgedeckt, Annahmen hinterfragt und Unsicherheiten be-

nannt werden.

Es sollte jedoch nicht erwartet werden, dass eines der entwickelten Szena-

rien tatsächlich eintritt. Vielmehr liegt der Wert der Vorgehensweise

darin, dass man auf ganz unterschiedliche Zukünfte vorbereitet ist und im

Laufe der Zeit mit Hilfe ausgewählter Indikatoren vielleicht erkennen

kann, auf welches Szenario (oder deren Kombination) man sich zu bewegt.

Dann können die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden, um

die Entwicklung je nachdem zu verstärken oder zu bremsen oder sich

einfach nur auf sie einzustellen.

8. Visionieren

Mit der gemeinsamen Entwicklung und Beschreibung einer wünschens-

werten Vision der Zukunft („Visioning“) sollen attraktive Handlungsopti-

onen für die Gegenwart herausgearbeitet werden. Alle heutigen Entschei-

dungen betreffen die Zukunft – warum sollten wir sie dann nicht an einer

attraktiven Zukunft ausrichten? Es geht darum, eine Richtung, ein Leitbild

bzw. ein Ziel für kollektives Handeln zu entwickeln, welches natürlich auf

den tieferen Werten und Präferenzen der Beteiligten aufbauen muss.

Die Methode bringt alle relevanten Beteiligten zusammen, nimmt sie mit

und bewegt sie zum Handeln. Die Vision muss einerseits über das heute

Existierende hinausgehen, andererseits in einem klaren Zeitrahmen von

rund 10 Jahren erreichbar sein. Auch diese Methode ist alt. Bestes Beispiel

für eine Vision ist John F. Kennedys „in dieser Dekade einen Mann auf den

Mond und zurückbringen“. Heute wird die Methode insbesondere vom

Institute for Alternative Futures in Arlington (USA) weiterentwickelt.

Im 1. Schritt erarbeitet die Gruppe gemeinsam, wie die gewünschte Zu-

kunft des Systems aussieht. Dazu können Brainstormings durchgeführt

werden oder es werden Geschichten erzählt. Neben der Zukunft des gan-

zen Systems wird dann auch für jeden Einzelnen herausgearbeitet, wie

seine Zukunft in dieser Vision aussieht, damit sie für jeden konkret wird.

Anschließend kann ein noch breiterer Kreis von Interessenten in die

Arbeit mit dieser Vision eingebunden werden, um mehr Unterstützer zu

gewinnen.

Im 2. Schritt wird gefragt, wie nah man heute an dieser Vision ist. Daraus

leitet sich ab, welche Elemente von wem und mit welchem Aufwand

Zukunftsforschung für Staaten

Seite 25

geändert werden müssen, um die Vision zu erreichen. Anschließend wird

ein Zeitplan für diese Veränderungen erstellt, der für die Kommunikation

nach außen wichtig ist.

Der Vorteil des Visionierens ist, dass man mit den Teilnehmern im System

arbeitet und die soziale Komplexität der Fragestellung berücksichtigt

werden kann. Zudem ist die Methode technisch nicht besonders aufwän-

dig. Ein Nachteil ist, dass neben der einen gewünschten Zukunft andere

mögliche Zukünfte (vgl. Szenarioanalyse) aus dem Blick geraten können

und man auf diese eventuell unzureichend vorbereitet ist.

9. Robuste Entscheidungsfindung

Die Methode der Robusten Entscheidungsfindung (Robust Decision Ma-

king) wurde in den 1990er-Jahren am RAND von Robert Lempert, Steven

Popper und Steven Bankes entwickelt, um mit Problemen umzugehen, in

denen große Unsicherheit oder Uneinigkeit über die Struktur des Systems,

über Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen und sogar über die Bewertung

von Ergebnissen herrscht. Die besten Fähigkeiten von Computern und

Menschen werden miteinander kombiniert, um systematisch mit einer

großen Zahl von zwangsläufig fehlerhaften Prognosen über die Zukunft

umzugehen. Menschen sind nicht nur gut darin, Muster zu erkennen und

neue Hypothesen aufzustellen, sondern auch darin, unangenehme Fakten

und Zusammenhänge auszublenden. Letzteres lässt der Computer nicht

zu, der zudem über die Fähigkeit verfügt, mit großen Datenmengen umzu-

gehen und auch lange Kausalketten zu verfolgen.

Statt der alten, aber nicht zu beantwortenden Frage „Was bringt die Zu-

kunft?“, wird nun gefragt „Was können wir heute tun, um die Zukunft in

unserem Sinne zu gestalten?“. Die Menschen schlagen Strategien vor, die

dann vom Computer getestet werden. Der Computer zeigt Zukünfte auf, in

denen die gewählten Strategien zu schlechten Ergebnissen führen. Mit

diesen Erkenntnissen können die Strategien angepasst, also robuster

gemacht werden.

Es geht darum, die Handlungsoptionen der Gegenwart und deren Auswir-

kungen auf die Zukunft systematisch zu verstehen. Gesucht werden robus-

te Optionen für die Politik heute, die über ein breites Spektrum möglicher

zukünftiger Entwicklungen zu guten Ergebnissen führen. Robust sind

politische Strategien in der Regel dann, wenn sie adaptiv sind, sich also an

neue Entwicklungen anpassen können. Bei RAND wurde die Methode der

Robusten Entscheidungsfindung auf Fragen des Klimawandels, Terroris-

mus, nationaler Sicherheit, Hochschulbildung und Technologievoraus-

schau angewendet.

Robuste Entscheidungsfindungen sind recht aufwändig und eignen sich

für sehr langfristige Fragestellungen. Es gibt keine Interaktion mit dem

Zukunftsforschung für Staaten

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System, aber es wird ein breites Spektrum möglicher Entwicklungen

zugelassen.

10. Kausale Mehrebenenanalyse

Eine der neuesten, aber zugleich aufwändigsten Methoden für langfristige

Fragestellungen ist die so genannte Kausale Mehrebenenanalyse (Causal

Layered Analysis), die Sohail Inayatullah in den 1980er- und 90er-Jahren

entwickelte. Auch hier geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen,

sondern einen Raum für alternative Zukünfte zu öffnen. In einem interak-

tiven, kommunikationsreichen Prozess werden verschiedene, bisher

getrennt gehaltene Ansätze miteinander kombiniert: Daten, Bedeutungen,

Strukturen und Geschichten. Grob gesprochen werden Naturwissenschaf-

ten, Sozialwissenschaften, Philosophie und Mythologie zusammenge-

bracht.

Die Mehrebenenanalyse besteht aus vier Ebenen:

1. Die erste Ebene ist die so genannte Litanei, die offizielle Sicht der

Wirklichkeit. Sie ist aber nur die Spitze des Eisbergs.

2. Die zweite Ebene ist die Systemperspektive, die Frage nach den ge-

sellschaftlichen Ursachen der Litanei.

3. In der dritten Ebene geht es um die Weltsicht, Ideologien und An-

nahmen.

4. Die vierte Ebene umfasst die Mythen und Metaphern, mit denen

Individuen und Gesellschaften arbeiten.

In der Praxis beginnt ein Prozess mit der Litanei und man arbeitet sich

dann gemeinsam immer tiefer zu den jeweiligen Ursachen voran, bis man

bei den Mythen ankommt. Von dort aus werden neue, alternative Zukünf-

te entwickelt, die andere Litaneien und gesellschaftliche Zustände umfas-

sen. Im entscheidenden letzten Schritt werden Handlungsnotwendigkei-

ten abgeleitet.

Ein Anwendungsbeispiel könnte das Thema (Litanei) „Überbevölkerung“

sein, das unter anderem etwas mit der Geburtenrate und der Rolle der Frau

zu tun hat (Systemperspektive). Dahinter steht aber in der Regel die Welt-

sicht, dass weniger Menschen besser sind, da dann die knappen natürli-

chen Ressourcen eher ausreichen (anstatt der Weltsicht, dass mehr Men-

schen auch mehr neue Lösungen erarbeiten können). Auf der Ebene der

Mythen stehen dahinter möglicherweise Ängste vor anderen (Armuts-

wanderungen) oder die karitative Fürsorge für andere Menschen. Von

diesen Erkenntnissen aus kann man das Thema wiederum auf den oberen

Ebenen ganz anders betrachten, möglicherweise über den Ressourcen-

verbrauch oder soziale Sicherungssysteme reden (Sicherheit senkt Gebur-

tenraten) und es eröffnen sich eventuell ganz neue Perspektiven.

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Einordnung der 10 Methoden

Die beschriebenen Methoden lassen sich nach verschiedenen Kriterien

einordnen. So bewertet das Horizon Scanning Center der britischen Regie-

rung unter anderem das Maß an notwendigen Kenntnissen für eine Me-

thode sowie den Zeithorizont der Fragen, für die sie am besten zu verwen-

den wäre. Die nachstehende Grafik ordnet die 10 eben beschriebenen

Methoden entlang dieser beiden Achsen an und verwendet die Bewertun-

gen des Horizon Scanning Center (Ausnahme: Robuste Entscheidungsfin-

dung, hier Bewertung durch den Autor).

Beispielsweise benötigen Horizontbeobachtung und Trendanalyse keine

besonders großen methodischen Kenntnisse und sind für mittlere Zeitho-

rizonte besonders sinnvoll. Die Kausale Mehrebenenanalyse und die

Robuste Entscheidungsfindung benötigen ein hohes Maß an Methoden-

kenntnis und sind für besonders langfristige Fragen geeignet.

Der Zukunftsforscher Mika Aaltonen verwendet in „Futures Research

Methodology 3.0“ eine kompliziertere Einordnung. Erstens unterscheidet

er, ob die Methode außerhalb des zu untersuchenden Systems angewandt

wird oder eine Interaktion mit dem System ermöglicht (vertikale Achse in

der folgenden Grafik). Zweitens unterscheidet er, ob die Methode Regeln

verwendet, um das System zu steuern oder ob Neues entstehen kann

(horizontale Achse in der Grafik).

Horizontbeobachtung, Themenbäume und Landkarten sind Ingenieursan-

sätze, in denen das System (vgl.: die Maschine) von außen beobachtet wird

und klare Regeln aufgestellt werden. Delphi, Systemanalyse und Robuste

Entscheidungsfindung sind Methoden systemischen Denkens, die auch

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von außen betrachten, aber Mehrdeutigkeit und Neues zulassen. Visionie-

ren und Kausale Mehrebenenanalyse sind Methoden der sozialen Komple-

xität. Sie arbeiten im System und lassen Mehrdeutigkeit zu.

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