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Galizische Juden in Wiesbaden Unter den Ostjuden bil- deten die Juden aus dem früheren Galizien in Wies- baden die größte Gruppe. Ein großer Teil von ihnen stammte aus Westgalizien, das nach dem 1. Weltkrieg polnisch wurde. Meist heirateten sie unter- einander, sodass recht viele von ihnen mitei- nander verwandt waren, viele bereits aus Galizien, andere erst seit der Heirat in Deutschland. Paul Lazarus, der letzte Rab- biner der Hauptgemeinde am Michelsberg, äußert sich in seiner Schrift über „Die Jüdische Gemeinde Wies- baden 1918 – 1942“ auch über die drei ostjüdischen Bethaus-Gemeinschaften in Wiesbaden. Die Zuge- wanderten hätten sich in Wiesbaden „naturgemäß zunächst fremd gefühlt“ und nach einem Stück Hei- mat verlangt, „nach einem Gottesdienst, wie sie ihn von Hause aus gewöhnt waren, nach Thorastudien, nach Zusammensein mit den Landsleuten“. Nach dem Zeitzeugnis des 1915 in Wiesbaden gebo- renen Moritz Tiefenbrunner gab es in Wiesbaden 25 chassidische Familien.Fast alle von ihnen stammten aus Galizien. G.S. 04/13 Jakob, Ephraim und Jenny Licht wuchsen in einer gesetzestreuen chassidischen Familie auf. Baruch Juda und Eva Licht, ihre Eltern, sind 1902 zusammen mit ihrer ältesten Tochter Doris aus Dabrowa im damals österreichischen Galizien nach Wiesbaden gekommen. Die Familie Licht hatte acht Kinder, von denen sieben in Wiesbaden geboren wurden. Die Eltern betrieben einen Handel mit Weißwaren, anfangs als Etagenhandel in der Wohnung, seit 1924 in Ladenräumen im Haus Michelsberg 26, das Baruch Juda Licht gehörte. Jakob David Licht wurde als drittältestes Kind am 30. November 1905 in Wiesbaden geboren. Er war Uhrmacher und betrieb von 1928 bis 1934 im Haus der Eltern ein Uhren- und Goldwaren- geschäft. Mit der aus Berlin stammenden Perla Offen hatte er zwei Söhne, Leo und Samy. Jakob und Perla heirateten 1936 und zogen mit den Kindern nach Berlin. Am 28. Oktober 1938 wurde Jakob nach Polen abgeschoben und zog vermutlich nach Dabrowa, dem Heimatort seiner Eltern. Vor der Abschiebung gelang Perla mit den zehn bzw. sechs Jahre alten Kindern die Flucht zu ihren Eltern nach Brüssel. Dort lebten sie in einem Schrank versteckt, konnten bei einer Raz- zia auf abenteuerliche Weise fliehen und lebten illegal in Frankreich. Zuletzt gelang ihnen die Flucht in die Schweiz, wo sie überlebten. Jakob wurde Anfang 1940 in ein nicht näher benann- tes Arbeitslager deportiert. Als er dort versuchte, illegale Papiere zu fälschen, wurde er erschossen. Leo, der ältere Sohn ist 1947 im Palästinakrieg gefallen. Samy, der Jüngere, hielt sich 1955 als US-Soldat in Wiesbaden auf. Ephraim Ferdinand Licht kam am 30. März 1908 Wiesbaden zur Welt. Er arbeitete im Geschäft seiner Eltern. Im Mai 1931 verunglückte er im Alter von 23 Jahren zusammen mit seinem älteren Bruder Heinrich bei einem Verkehrsunfall, als die beiden mit dem Auto wegen einer Panne an der Frankfurter Straße bei Erbenheim anhalten mussten. Während sie versuchten, die Panne zu beheben, wurden sie von einem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Auto erfasst und mitgeschleift. Heinrich ist an den dabei erlittenen schweren Verletzungen zwei Tage nach dem Unfall ver- storben. Ephraim überlebte trotz schwerer Verletzungen. Am 28. Oktober 1938 wurde er zusammen mit seinen Eltern aus Wiesbaden nach Polen abgeschoben und zog mit ihnen nach Tarnow nahe Dabrowa woher die Eltern stammten. Seit Dezember 1942 lebten sie im Ghetto Tarnow. Dort ist Ephraim sehr wahrscheinlich zusammen mit den Eltern ermordet worden. Jenny Scheindel Licht verh. Gartenhaus wurde am 12. August 1910 in Wiesbaden geboren. Bis zu ihrer Heirat mit Leopold Rattner-Gartenhaus aus Düsseldorf im Jah- re 1935 wohnte sie im Haus ihrer Eltern am Michelsberg 26 und zog dann mit ihrem Mann nach Düsseldorf. Am 28. Oktober 1938 wurden auch Jenny und Leo- pold Gartenhaus mit ihrem zweijährigen Sohn an die polnische Grenze abgeschoben. Es ist anzunehmen, dass sie ebenfalls zu Jennys Eltern nach Tarnow zogen und im dortigen Ghetto ermordet wurden. Zur Erinnerung an die Geschwister Jakob, Ephraim und Jenny Licht Patenschaft für das Erinnerungsblatt: Aktives Museum Spiegelgasse © Aktives Museum Spiegelgasse Jakob Licht vor seinem Geschäft im Haus Michelsberg 26 - ca. 1931 v. l. n. r. Jenny, die Mutter Eva Licht, Jakob, Jakobs Frau Perla Ephraim Licht ca. 1916/17

Zur Erinnerung - Aktives Museum Spiegelgasse · Eva Licht mit ihren acht Kindern - ca. 1916/17 oben Mitte Doris, links von ihr eine nicht zur Familie gehörende Person; darunter v.l.n.r

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Page 1: Zur Erinnerung - Aktives Museum Spiegelgasse · Eva Licht mit ihren acht Kindern - ca. 1916/17 oben Mitte Doris, links von ihr eine nicht zur Familie gehörende Person; darunter v.l.n.r

Galizische Juden in Wiesbaden

Unter den Ostjuden bil-deten die Juden aus dem früheren Galizien in Wies-baden die größte Gruppe. Ein großer Teil von ihnen stammte aus Westgalizien, das nach dem 1. Weltkrieg polnisch wurde. Meist heirateten sie unter-einander, sodass recht viele von ihnen mitei-nander verwandt waren, viele bereits aus Galizien, andere erst seit der Heirat in Deutschland.Paul Lazarus, der letzte Rab-biner der Hauptgemeinde am Michelsberg, äußert sich in seiner Schrift über „Die Jüdische Gemeinde Wies-baden 1918 – 1942“ auch über die drei ostjüdischen Bethaus-Gemeinschaften in Wiesbaden. Die Zuge-wanderten hätten sich in Wiesbaden „naturgemäß zunächst fremd gefühlt“ und nach einem Stück Hei-mat verlangt, „nach einem Gottesdienst, wie sie ihn von Hause aus gewöhnt waren, nach Thorastudien, nach Zusammensein mit den Landsleuten“. Nach dem Zeitzeugnis des 1915 in Wiesbaden gebo-renen Moritz Tiefenbrunner gab es in Wiesbaden 25 chassidische Familien.Fast alle von ihnen stammten aus Galizien. G.S.

04/13

Jakob, Ephraim und Jenny Licht wuchsen in einer gesetzestreuen chassidischen Familie auf. Baruch Juda und Eva Licht, ihre Eltern, sind 1902 zusammen mit ihrer ältesten Tochter Doris aus Dabrowa im damals österreichischen Galizien nach Wiesbaden gekommen. Die Familie Licht hatte acht Kinder, von denen sieben in Wiesbaden geboren wurden. Die Eltern betrieben einen Handel mit Weißwaren, anfangs als Etagenhandel in der Wohnung, seit 1924 in Ladenräumen im Haus Michelsberg 26, das Baruch Juda Licht gehörte.

Jakob David Licht wurde als drittältestes Kind am 30. November 1905 in Wiesbaden geboren. Er war Uhrmacher und betrieb von 1928 bis 1934 im Haus der Eltern ein Uhren- und Goldwaren-geschäft. Mit der aus Berlin stammenden Perla Offen hatte er zwei Söhne, Leo und Samy. Jakob und Perla heirateten 1936 und zogen mit den Kindern nach Berlin. Am 28. Oktober 1938 wurde Jakob nach Polen abgeschoben und zog vermutlich nach Dabrowa, dem Heimatort seiner Eltern. Vor der Abschiebung gelang Perla mit den zehn bzw. sechs Jahre alten Kindern die Flucht zu ihren Eltern nach Brüssel. Dort lebten sie in einem Schrank versteckt, konnten bei einer Raz-zia auf abenteuerliche Weise fliehen und lebten illegal in Frankreich. Zuletzt gelang ihnen die Flucht in die Schweiz, wo sie überlebten. Jakob wurde Anfang 1940 in ein nicht näher benann-tes Arbeitslager deportiert. Als er dort versuchte, illegale Papiere zu fälschen, wurde er erschossen. Leo, der ältere Sohn ist 1947 im Palästinakrieg gefallen. Samy, der Jüngere, hielt sich 1955 als US-Soldat in Wiesbaden auf.

Ephraim Ferdinand Licht kam am 30. März 1908 Wiesbaden zur Welt. Er arbeitete im Geschäft seiner Eltern. Im Mai 1931 verunglückte er im Alter von 23 Jahren zusammen mit seinem älteren Bruder Heinrich bei einem Verkehrsunfall, als die beiden mit dem Auto wegen einer Panne an der Frankfurter Straße bei Erbenheim anhalten mussten. Während sie versuchten, die Panne zu beheben, wurden sie von einem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Auto erfasst und mitgeschleift. Heinrich ist an den dabei erlittenen schweren Verletzungen zwei Tage nach dem Unfall ver-storben. Ephraim überlebte trotz schwerer Verletzungen.

Am 28. Oktober 1938 wurde er zusammen mit seinen Eltern aus Wiesbaden nach Polen abgeschoben und zog mit ihnen nach Tarnow nahe Dabrowa woher die Eltern stammten. Seit Dezember 1942 lebten sie im Ghetto Tarnow. Dort ist Ephraim sehr wahrscheinlich zusammen mit den Eltern ermordet worden.Jenny Scheindel Licht verh. Gartenhaus wurde am 12. August 1910 in Wiesbaden geboren. Bis zu ihrer Heirat mit Leopold Rattner-Gartenhaus aus Düsseldorf im Jah-re 1935 wohnte sie im Haus ihrer Eltern am Michelsberg 26 und zog dann mit ihrem Mann nach Düsseldorf. Am 28. Oktober 1938 wurden auch Jenny und Leo-pold Gartenhaus mit ihrem zweijährigen Sohn an die polnische Grenze abgeschoben. Es ist anzunehmen, dass sie ebenfalls zu Jennys Eltern nach Tarnow zogen und im dortigen Ghetto ermordet wurden.

Zur Erinnerungan die Geschwister Jakob, Ephraim und Jenny Licht

Patenschaft für das Erinnerungsblatt: Aktives Museum Spiegelgasse

© Aktives Museum Spiegelgasse

Jakob Licht vor seinem Geschäft im Haus Michelsberg 26 - ca. 1931

v. l. n. r. Jenny, die Mutter Eva Licht, Jakob, Jakobs Frau Perla

Ephraim Licht ca. 1916/17

Page 2: Zur Erinnerung - Aktives Museum Spiegelgasse · Eva Licht mit ihren acht Kindern - ca. 1916/17 oben Mitte Doris, links von ihr eine nicht zur Familie gehörende Person; darunter v.l.n.r

Eva Licht mit ihren acht Kindern - ca. 1916/17oben Mitte Doris, links von ihr eine nicht zur Familie gehörende Person; darunter v.l.n.r.

Moritz, Ephraim Ferdinand, Cheskel Heinrich, Abraham Adolf, Frieda, Eva Licht, Jenny Scheindel, Jakob David

Doris, die älteste Tochter, zeigt ein Foto des Vaters, der damals als Österreich-Ungarischer Staatsbürger Soldat war und am 1. Weltkrieg teilnahm.

Die Fotos wurden dem AMS von Nachfahren zur Verfügung gestellt.

Perla und Jakob Licht - ca. 1930 Die SöhneSamy und Leo

ca. 1945

Samy Licht als Soldatbei der US-Army in Wiesbaden

1955