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Ethik Med (2000) 12:122–138 Originalarbeiten Zur fernsehmedialen Konstruktion von Bioethik – Eine Analyse der Gestaltungsmerkmale von Fernsehdokumentationen über die Sterbehilfe Giovanni Maio On the construction of bioethics in the media of television – a narrative analysis of the characteristics of television documentaries on withholding treatment Abstract. A narrative analysis of a sequence from a documentary on the with- holding of treatment in persistent vegetative state allows the discernment of sev- eral characteristics of the approach of the media to medical ethical problems: (1) The arrangement of the story units in the film sequence corresponds to estab- lished patterns of movie dramaturgy. (2) The documentary “hollywoodizes” mo- rality; it interprets the arena of the problem in the realm of the movie theatre and not in the realm of ethical discourse. (3) The moral decision occurs in the return to mythical narrative structures which show a tendency to confirm perceived es- tablished world interpretation. (4) Morality is reduced to black and white char- acterizations. (5) The ethical conflict is transmitted through the plane of person- al action which tends to blot out complex interdependencies. (6) Private happi- ness forms the basis for an essential set of criteria for all actions and decisions. The rational weighing of criterion is not easily transmittable by television; in- stead, television, due to its audiovisual sensory nature, has a great potential to awaken insight into and understanding of specific situations and personal expe- rience. Thus television can supplement the philosophical discipline of her- meneutical bioethics in generating sympathy and deeper understanding. Key words: Television – Media – Withholding treatment – Hermeneutical bioethics – Persistent vegetative state – Film Zusammenfassung. Die narrative Analyse der Gestaltungsmerkmale einer Se- quenz aus einer Dokumentation über den Therapieverzicht beim Apallischen Syndrom lässt einige Charakteristika des medialen Zugangs auf medizinethische Probleme deutlich werden: 1. Die Anordnung der Erzähleinheiten der Filmse- quenz entspricht einem etablierten Schema der Spielfilmdramaturgie. 2. Die Do- kumentation „hollywoodisiert“ die Moral, sie interpretiert das Problemfeld im Horizont des Kinos und nicht im Horizont des ethischen Diskurses. 3. Die mora- lische Entscheidung erfolgt im Rekurs auf mythische Narrationsstrukturen, die PD Dr. Giovanni Maio Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Medizinische Universität zu Lübeck, Königstrasse 42, 23552 Lübeck, Deutschland © Springer-Verlag 2000

Zur fernsehmedialen Konstruktion von Bioethik - Eine Analyse der Gestaltungsmerkmale von Fernsehdokumentationen über die Sterbehilfe

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Ethik Med (2000) 12:122–138

Originalarbeiten

Zur fernsehmedialen Konstruktion von Bioethik –Eine Analyse der Gestaltungsmerkmale von Fernsehdokumentationen über die SterbehilfeGiovanni Maio

On the construction of bioethics in the media of television – a narrative analysis of the characteristics of television documentaries on withholding treatment

Abstract. A narrative analysis of a sequence from a documentary on the with-holding of treatment in persistent vegetative state allows the discernment of sev-eral characteristics of the approach of the media to medical ethical problems: (1)The arrangement of the story units in the film sequence corresponds to estab-lished patterns of movie dramaturgy. (2) The documentary “hollywoodizes” mo-rality; it interprets the arena of the problem in the realm of the movie theatre andnot in the realm of ethical discourse. (3) The moral decision occurs in the returnto mythical narrative structures which show a tendency to confirm perceived es-tablished world interpretation. (4) Morality is reduced to black and white char-acterizations. (5) The ethical conflict is transmitted through the plane of person-al action which tends to blot out complex interdependencies. (6) Private happi-ness forms the basis for an essential set of criteria for all actions and decisions.The rational weighing of criterion is not easily transmittable by television; in-stead, television, due to its audiovisual sensory nature, has a great potential toawaken insight into and understanding of specific situations and personal expe-rience. Thus television can supplement the philosophical discipline of her-meneutical bioethics in generating sympathy and deeper understanding.

Key words: Television – Media – Withholding treatment – Hermeneutical bioethics – Persistent vegetative state – Film

Zusammenfassung. Die narrative Analyse der Gestaltungsmerkmale einer Se-quenz aus einer Dokumentation über den Therapieverzicht beim ApallischenSyndrom lässt einige Charakteristika des medialen Zugangs auf medizinethischeProbleme deutlich werden: 1. Die Anordnung der Erzähleinheiten der Filmse-quenz entspricht einem etablierten Schema der Spielfilmdramaturgie. 2. Die Do-kumentation „hollywoodisiert“ die Moral, sie interpretiert das Problemfeld imHorizont des Kinos und nicht im Horizont des ethischen Diskurses. 3. Die mora-lische Entscheidung erfolgt im Rekurs auf mythische Narrationsstrukturen, die

PD Dr. Giovanni MaioInstitut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Medizinische Universität zu Lübeck, Königstrasse 42, 23552 Lübeck, Deutschland

© Springer-Verlag 2000

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eine Tendenz zur Bestätigung etablierter Weltdeutungen aufweisen. 4. Die Moralwird auf kontrastierende Charakterisierungen verengt. 5. Der ethische Konfliktwird im Horizont handlungstragender Personen vermittelt, was eine weitgehendeAusblendung komplexerer Zusammenhänge mit sich bringt. 6. Das private Glückgilt als wesentlicher Bewertungsmaßstab aller Handlungen und Entscheidungen.All diese Komponenten machen die im Fernsehen dargestellte Ethik zu einer me-dialen Konstruktion. Die rationale Abwägung von Bewertungskriterien hat fürdas Fernsehen strukturelle Zugangsschwierigkeiten, aber dafür verfügt das Fern-sehen gerade durch die audiovisuelle Sinnlichkeit über ein großes Potential, Ein-sicht und Verständnis in spezifische Situationen und Erlebniswelten zu wecken.Daher kann gerade das Fernsehen eine Ergänzung der hermeneutischen Bioethiksein, indem sie Anteil nehmen lässt und tiefes Verstehen weckt.

Schlüsselwörter: Fernsehen – Medien – Sterbehilfe – Hermeneutische Ethik –Apallisches Syndrom – Film

1. Einleitung

Die Bioethik als philosophische Disziplin und das Fernsehen als modernes Massenmedium stehen in einer vielschichtigen Beziehung zueinander. Auf dereinen Seite verbindet sie die Affinität zu „Menschheitsfragen“, auf der anderenSeite trennt sie der methodische Zugang zur Beantwortung dieser Fragen. Ge-rade dieser unterschiedliche methodische Zugang ist eine Erklärung für das oftgespannte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Fernsehen. Was bei den oft ge-nug in diesem Zusammenhang vorgebrachten Beanstandungen nur zu gerneübersehen wird, ist die Tatsache, dass Bioethik und Fernsehen nicht als in sichabgeschlossene Phänomene dieser Gesellschaft betrachtet werden dürfen. Viel-mehr bedingen sie sich gegenseitig. So wäre die Bioethik heute nicht das, wassie ist, wenn nicht das Fernsehen die Problemfälle aufgegriffen hätte, um diesich die Bioethik im Laufe ihrer dreißigjährigen Geschichte gestritten hat. Nochbevor von der Disziplin Bioethik die Rede war und erst recht in den Siebziger-jahren hat das Fernsehen gemeinsam mit der Presse dazu beigetragen, dass diebreite Gesellschaft sich der ethischen Implikationen „medizinischer“ Entschei-dungen bewusst wurde. Man denke nur an die verschiedenen umstrittenen Fällein der Bioethikgeschichte; ob es nun der Fall um Karen Ann Quinlan (1975), umBaby Fae (1984) oder das Erlanger Baby (1993) war, letztlich ist es – freilichneben der Presse – dem Fernsehen zuzuschreiben, dass die Öffentlichkeit mitProblemen konfrontiert wurde, die im Gefolge den Bioethiker auf den Plan rie-fen. Das BBC hat von 1982 bis 1985 mit „Doctors’ Dilemma“ gar eine eigeneSendung gehabt, die ausschließlich medizinethische Themen behandelte. Ange-sichts dieser Affinität des Fernsehens für den Bereich der Bioethik, stellt sichdie Frage, ob nicht das Fernsehen als solches zur Geburt und zur Fortexistenzder Bioethik-Bewegung beigetragen hat und noch beiträgt.

Wenn ich nun betone, dass die Bioethik ohne das Fernsehen nicht das wäre,was sie heute ist, so gilt dies nicht nur für die Institutionalisierung, sondern für dieInhalte der Bioethik gleichermaßen. Bedenkt man, dass in den frühen Diskussi-onssendungen der Sechzigerjahre nicht mehr nur Ärzte und Patienten zu Proble-men wie etwa dem der Sterbehilfe befragt wurden, sondern dass zunehmend auch

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der Bioethiker als Experte auf dem Bildschirm erschien, so hatte die mediale Präsenz des Ethikers zur Folge, dass dieser sich zwangsläufig – um in seiner Existenzberechtigung nicht grundlegend in Frage gestellt zu werden – an dieSpielregeln des Fernsehens anpassen musste. Der Ethiker stand unter diesen me-dialen Bedingungen unter Erfolgsdruck, und dieser Erfolg bemisst sich in fernseh-medialen Kategorien danach, ob die Aussage des Bioethikers als konkret,anschaulich und anwendbar wahrgenommen wird. Es ist gerade die nicht zuletztfernsehmedial bedingte Ausrichtung der Bioethik auf Entscheidungsfindung, es istdie medial bedingte Notwendigkeit einer Beherrschung von Komplexität, die ge-rade in der nordamerikanischen Bioethik-Diskussion ihre Spuren hinterlassen hat.

So weit der Einfluss des Fernsehens auf die Bioethik. Aber auch umgekehrtkann von einem Einfluss der Bioethik auf das Fernsehen gesprochen werden.Denn durch die zunehmende Präsenz der Bioethiker im gesellschaftlichen Dis-kurs veränderte sich auch die Ausrichtung der Fernsehberichterstattung in Sachen Bioethik [9]. Während sich die Rolle der Fernsehberichterstatter in denSechziger- und Siebzigerjahren darauf konzentrierte, als Warner und Mahner zufungieren, trug die sich ausbreitende faktische Existenz der Ethiker dazu bei,dass Medizinjournalisten und Filmautoren ihre Kassandrarolle zunehmend auf-gaben und stattdessen entweder nun die Bioethiker selbst zur Zielscheibe mach-ten oder sich vielmehr auf die Innensicht des Kranken konzentrierten. Auch die-se Entwicklung ist nicht allein durch die zunehmende Präsenz der Bioethiker zuerklären, aber die Bioethik hat hier zweifelsohne einen Einfluss auf die Fernseh-berichterstattung gehabt.

Angesichts dieser Wechselwirkungen zwischen Bioethik und Fernsehenmöchte ich mich im weiteren auf folgende Fragen konzentrieren: Worin beste-hen nun konkret die Berührungspunkte von Fernsehen und Bioethik? Was unter-scheidet den medialen Zugang auf medizinethische Probleme vom philoso-phisch-ethischen Zugang? In welcher Weise ist die Bioethik, wie sie im Fernse-hen vermittelt wird, eine mediale Konstruktion, und welche Implikationen hatdiese Bioethik-Konstruktion für die Ethik selbst?

2. Bioethik und Fernsehen: Berührungspunkte

Schon ein flüchtiger Blick auf das Fernsehprogramm macht deutlich, dass bio-ethische Fragen dankbare Themen der Fernsehberichterstattung sind. Doch wieist dies zu erklären? Zu den evidenteren Gemeinsamkeiten von Fernsehen undBioethik gehört deren thematische Ausrichtung. Auf der einen Seite sind es dievon der Ethik schwerpunktmäßig behandelten Menschheitsfragen, die existenti-ellen und jeden Menschen betreffenden Grundfragen des Lebens, die gerade we-gen ihrer Universalität weniger strukturelle Zugangsprobleme zum Fernsehenhaben. Eng mit dieser Komponente ist die zweite thematische Gemeinsamkeitverknüpft, die darin besteht, dass gerade bioethische Probleme einen narrativenZugang ermöglichen wie es viele andere wissenschaftliche Disziplinen nichttun. So ist die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch, nach genetischer Dia-gnostik oder nach Therapiebegrenzung sehr leicht in eine Geschichte zu ver-packen, weil sie auf menschliche Krisen- und Grenzsituationen rekurriert. DieseZugänglichkeit für die Narration stellt daher eine zentrale Verbindungslinie vonBioethik und Fernsehen dar. Die dritte Komponente der gemeinsamen themati-schen Ausrichtung von Bioethik und Fernsehen besteht in der beiderseitigen

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Affinität für das Neue. Auch wenn das Neue von der Bioethik anders aufge-griffen wird als vom Fernsehen, so liegt es doch auf der Hand, dass Bioethikwie Fernsehen dazu neigen, sich auf neue Entwicklungen zu stürzen. Gerade dasFernsehen ist darauf angewiesen, sich als Medium der Aktualität zu präsentie-ren, und so ist es kein Wunder, dass die technischen Innovationen in Medizinund Naturwissenschaften für sich genommen schon telegen sind. So muss dieFrage gestellt werden, inwiefern gegebenenfalls die Zentrierung der Bioethikauf aktuelle und innovative Entwicklungen auch als Produkt einer fernsehme-dial geprägten öffentlichen Diskussion betrachtet werden kann.

Waren die genannten verbindenden Elemente thematischer Natur, so zieltdie zweite Verbindungslinie von Bioethik und Fernsehen auf gemeinsame ideo-logische Grundmuster. Seit der Einführung des dualen Systems im Jahre 1984ist das deutsche Fernsehen noch mehr als zuvor auf die Einschaltquote angewie-sen, und dieses Angewiesensein führt unweigerlich zur Anpassung des Pro-gramms an den „Mainstream“. Diese Anpassung muss nicht zwangsläufig miteiner – wie oft beklagt wird – Verelendung der Kultur einhergehen. Ganz sicheraber geht die Kommerzialisierung des Fernsehens mit der Tendenz einher, nochmehr als zuvor die Optik des „Durchschnittsverbrauchers“ aufzusetzen und sichthematisch an dessen Bedürfnisse und Sehgewohnheiten anzupassen. In Bezugauf bioethische Themen bedeutet dies, dass das Fernsehen dazu neigen wird,eher die Sicht des Kranken aufzugreifen als die Sicht der Ärzte, denn der Zu-schauer vermag sich als potentiell Kranker eher in der Sichtweise des Patientenwiederzufinden denn in der Sichtweise des Arztes. Nun ist es bemerkenswert,dass gerade diese Ausrichtung auf die Sichtweise des Patienten ein besonderesCharakteristikum auch der Bioethik gewesen ist. So war es auch und vor allemdie Emanzipation des Patienten, es war das erwachte Selbstbewusstsein desmündigen Bürgers, das in den späten Sechzigerjahren eine Rekonzeptualisie-rung des medizinischen Handelns erzwang [23]. Gerade die Ausrichtung auf dieInteressen des Kranken stellt eine wichtige Verbindungslinie zwischen Bioethikund Fernsehen dar, was sich letztlich auch in der latenten Medizinkritik wider-spiegelt, welche für die bioethische Literatur genauso symptomatisch ist wie fürdie Medizinberichterstattung.

Es lässt sich also festhalten: Die Bioethik ist telegen. Dies steht in Zu-sammenhang mit den Wurzeln, der thematischen Ausrichtung, dem Selbstver-ständnis und nicht zuletzt mit den ideologischen Grundmustern der Bioethik.Nach dieser kursorischen Darlegung der Affinität von Fernsehen und Bioethikmöchte ich im folgenden danach fragen, nach welchen Grundmustern das Fern-sehen ethische Themen aufgreift.

3. Narrative Analyse einer „bioethischen“ Dokumentation

Die Frage nach den fernsehspezifischen Darstellungsweisen von Bioethik sei aneinem konkreten Beispiel erörtert, wobei es mir hier lediglich um eine Exempli-fizierung und nicht um Repräsentativität gehen kann. Als Exempel sei das Pro-blemfeld der Therapiebegrenzung beim Apallischen Syndrom herangezogen, einProblemfeld, das sich für unsere Fragestellung deswegen eignet, weil es ein ver-gleichsweise gängiges medizinethisches Problem darstellt, das in den letztenJahren auch in Deutschland kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Esgibt verschiedene Schichten des Sprechens über das Thema der Therapiebegren-

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zung beim Apallischen Syndrom, verschiedene rhetorische Register, verschiede-ne argumentative Strategien. Darum ist es nützlich, die verschiedenen Arten zuuntersuchen, in denen es thematisiert wird. Arten des Sprechens über einen Ge-genstand sind zugleich Arten, ihn zu aspektivieren, ihn in die Kommunikationeinzugliedern, an Erfahrung und persönliche Betroffenheit anzubinden oder ihndagegen zu blockieren. Die rhetorischen Unterschiede im Sprechen über Sterbe-hilfe korrespondieren daher mit der Art und Weise, das Thema zu kontextuali-sieren. In unterschiedlichen Kontexten entstehen unterschiedliche Argumente.Man sieht schnell, dass die Fernsehbeiträge zum Thema immer wieder mit Fall-beispielen arbeiten. Das Beispiel ist einer der Königsschritte der Rhetorik, dieKasuistik eine ihrer größten Disziplinen. Aber Beispiele haben Haken und Ösen.Nicht immer belegen sie, was sie scheinbar belegen. Sie entfalten eine eigeneDynamik, artikulieren eine eigene Stimme zum Gegenstand. Und sie enthalteneine Wertdimension, die das Sprechen mit Beispielen immer auch zu einemSprechen mit Werthorizonten macht.

Dank eines in den letzten 14 Jahren aufgebauten Archivs aus mehreren tausendFernsehbeiträgen bioethischen Inhalts war es mir möglich, die Fernsehdokumenta-tionen speziell zu dieser Thematik herauszusuchen und auf Gemeinsamkeiten in ih-ren narrativen Grundmustern zu untersuchen. Allein für den Zeitraum 1997 bis1999 lassen sich ein knappes Dutzend Dokumentationen ausmachen, die spezielldie Problematik der Therapiebegrenzung beim Apallischen Syndrom behandeln.Aus diesen verschiedenen Sendungen möchte ich eine Episode aus der Dokumen-tation „Leben oder sterben lassen“ herausgreifen, einer Dokumentation von SilviaMatthies, die im Rahmen eines Arte-Abends zum Thema „Todesschmerz: Sterbe-begleitung kontra Todesspritze“ am 11.09.1997 ausgestrahlt wurde. In diesem Bei-trag wird eine Fallgeschichte in mehreren Schritten in folgender Weise erzählt:

(Erster Akt: Exposition)[Kreischendes Geräusch von Bremsen und quietschenden Reifen]Sprecherin: August 1989. Ein junger Motorradfahrer verunglückt. Mit ei-

nem Schädelhirntrauma wird er ins nächste Krankenhaus eingeliefert. Schon amzweiten Tag werden die Angehörigen vor eine höchst befremdende Alternativegestellt.

Mutter: Er hat zu uns gesagt [...], Ihr Sohn ist schwer krank, und er ist gehirn-tot, wir haben das festgestellt, daß er gehirntot ist, und daß das alles nichts mehrwird, und stellen Sie sich vor, Sie sehen im Wald einen Affen, und er kommt wie-der zu sich, genauso, hat er gesagt, dann macht er hhh-hhh-hhh, denn mehr kanner nicht mehr. Und wir sollen uns entscheiden, wegen seiner Niere, die haben wirschon untersucht, die ist einwandfrei. Und da waren wir im Moment natürlich ge-schockt. Man weiss in so einer Situation und zwei Tage nach dem Unfall sowiesonicht, was man machen soll, da ist man sowieso kopflos. Äh. Und dann sind wirheimgefahren, voller Sorge, was zu tun, was ist richtig, was nicht.

Sprecherin: Bei dem Gespräch mit dem Oberarzt waren auch Ulrike Eis-manns jetziger Mann und Herberts Vater anwesend. Sie sollten sofort die Zustim-mung zur Organ-Entnahme unterschreiben. Der Oberarzt spricht immer wiedervon dem „Volldepp“, der zu erwarten sei, wenn Herbert wieder zu Bewußtseinkäme. Die Angehörigen sind geschockt. Sie lehnen eine Organentnahme ab.

(Zweiter Akt: Konfrontation)Mutter: Und dann sind wir heruntergefahren und haben das dem Doktor

[Name unkenntlich gemacht] gesagt, da hat er uns wieder in ein Extrazimmer

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kommen lassen, und von da an hat er mich ganz schlecht behandelt. Da hat ernur noch schriftlich – da war hinten, da war so ein Tisch, und da hat er nurschriftlich alle Tage, was so anfällt, so hingelegt. Und in der dritten Woche, woder Herbert unten gelegen ist, in dem Intensiv-Zimmer, da hab ich gefragt: Na,was ist jetzt, was meinen Sie zum Herbert? Das hab ich Ihnen doch schon ge-sagt, da brauchen Sie mich doch gar nicht mehr fragen! Sie wissen’s dochschon! Ich hab Ihnen die Antwort doch schon am zweiten Tag gegeben.

Interviewerin: Ist er denn bei der Prognose geblieben, daß nichts mehr wird?Mutter: Ja, da ist er hundertprozentig bei geblieben, das einzige, was wir ge-

hört haben von diesem Tag an ist, was das denn kostet!Sprecherin: Immer wieder weist der Oberarzt darauf hin, wie unverantwort-

lich teuer die nutzlose Behandlung des Jungen sei. Eine diagnostische Prognose,die sich als fatale Fehleinschätzung erweisen sollte.

Heute, acht Jahre nach dem Unfall, ist Herbert fast vollständig rehabilitiert. Außer einer Gehbehinderung und einem schlechten Kurzzeitgedächtnis ist bei demjetzt Dreißigjährigen nichts zurückgeblieben. In der Klinik hatte die Mutter mit Argusaugen darüber wachen müssen, dass ihr im Koma befindlicher Sohn nicht alslebendiger Leichnam behandelt wurde, bei dem jede Therapie vergeblich ist – erstwurde eine Lungenentzündung unzureichend behandelt, dann ein gebrochener Arm.

Mutter: Der Herbert hatte den Arm bei seinem Unfall gebrochen, aber – einkleiner Bruch war das nur, und – als ich eines Tages wieder die Treppen hoch-kam und klingelte, da kamen mir zwei Pflegerinnen entgegen, und da hab ichmir gedacht: Mei, warum kommen die mir heute alle beide so schleichend ent-gegen, vielleicht ist jetzt der Herbert doch gestorben. Nein, da haben sie demHerbert den Arm noch einmal gebrochen.

Interviewerin: Und warum?Mutter: Und – äh – das, weil sie Spastik haben, und in dem Moment, wo die

Spastik kam, das haben mir alle erzählt, da ziehen sie die Arme so hoch, die habendas wahrscheinlich nicht gewusst und wollten den Arm mit Gewalt wieder runter-reißen – und haben sie ihn gebrochen. Und dann haben sie den Herbert aber nichtgleich in den OP, zum Operieren, sondern haben ihn im Bett liegen lassen, unddann haben sie ihn wieder raus in den Stuhl, und der Herbert, der war ja da nochim Koma, und er hat da aber immer gejammert, gejammert, gejammert, und dahab ich gesagt „Ja operiert’s ihn doch endlich – der hat doch wahnsinnigeSchmerzen“ – „nein, der hat keine Schmerzen, der ist gehirntot, der merkt nichts,der merkt überhaupt nichts“. Nein hab ich gesagt, der ist bis jetzt immer ganz stillim Bett gelegen, und seit ihr ihm den Arm gebrochen habt, seitdem jammert erdoch, also muss er doch Schmerzen haben, er muss sie doch spüren.

(Dritter Akt: Auflösung)[Musik]Sprecherin: Die Mutter sollte Recht behalten. Nach sechs Wochen fängt

Herbert, zur Verblüffung des Klinikpersonals, wieder selbständig an zu atmen.Doch weiterhin lässt ihm der Oberarzt hohe Dosen von Valium verabreichen,damit er keine spastischen Krämpfe bekommt, wie es heißt. Auf Betreiben derAngehörigen kommt Herbert schließlich in eine Spezialklinik für Komapatien-ten. Dort schlägt man wegen der hohen Valium-Dosierungen bei einem Apalli-ker die Hände über dem Kopf zusammen. Herbert muss erst einmal von Valiumentzogen werden. Der Junge ist auf 37 Kilogramm abgemagert und in einem er-barmungswürdigen Zustand. Doch mit der richtigen Pflege geht es langsam

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bergauf. Nach drei Monaten im Wachkoma kommt Herbert langsam wieder zuBewusstsein. Sein Zustand bessert sich von Tag zu Tag. Er kann noch sprechen,schreiben, rechnen und lesen. Nach fünf Jahren Klinikaufenthalten kommt erendlich wieder nach Hause. Jetzt wohnt er in einer eigenen Wohnung.

(Epilog: Implicatio)[Ende der Musik]Interviewerin: Wie ist das jetzt eigentlich für Sie, freuen Sie sich an Ihrem

Leben, obwohl sie noch leicht gehbehindert sind, macht es Ihnen Spaß?Herbert: Na klar, ja, es macht mir Spaß, ich war sogar im Urlaub schon,

letztes Jahr, in Frankreich. Es macht mir Spaß, ich gehe fort ins Kino mit denKumpels. Essen geh ich manchmal, chinesisch Essen. Also das Leben machtmir Spaß, muss ich sagen.

Sprecherin: Seine Mutter glaubt fest daran, dass Herbert mit einer richtigenTherapie bald wieder alleine laufen kann. Gibt es heute noch Situationen, in denen Herbert mit seinem Schicksal hadert?

Herbert: Na klar, das hat ja wohl jeder. Wieso gerade ich? Das hätte ja je-dem anderem passieren können, aber das ist schlecht, dass das einem anderenpassieren könnte, das wünscht man keinem.

Interviewerin: Meinen Sie, dass Sie überlebt hätten, wenn sich Ihre Mutterund Ihr Vater nicht so für Sie eingesetzt hätten?

Herbert: Nein, dann hätte ich gewiss nicht überlebt. Wenn niemand zu ei-nem hält, dann ist man verloren.

Betrachtet man diese Sequenz allein im Hinblick auf ihre narrative Struktur,so lässt sich unschwer eine klassische Handlungsabfolge erkennen, eine Anord-nung der Erzähleinheiten, wie sie sonst in der Theater- oder Spielfilmdramatur-gie üblich ist. Der Drehbuchautor Syd Field hat für den Bereich der Spielfilm-narrationen ein etabliertes Schema dramaturgischer Abfolge beschrieben, dassich in Anlehnung an den antiken Dreierakt aus den drei Komponenten (I) Ex-position (II) Konfrontation (III) Auflösung zusammensetzt ([11] S. 14). Und ge-nau dieses standardisierte Grundmuster des Spielfilms lässt auch die ausge-wählte Dokumentation bzw. die herausgegriffene Sequenz erkennen.

(I) In der Exposition wird Handlung, Zeit und Ort festgelegt und das Perso-nengefüge etabliert. Konkret wird in diesem ersten Akt nach dem Unfall als aus-lösendes Ereignis der Konflikt zwischen dem Protagonisten Mutter und demAntagonisten Klinik/Oberarzt aufgebaut. Der Kranke selbst ist hier die aktions-unfähige Figur, die in die Position des Kindes gerückt wird (Stichwort „Junge“).Das Motiv ist das der Prognose, letztlich also das der Prophezeiung, speziell derProphezeiung gegen die Hoffnung. Perspektivisch taucht dieses Motiv der Pro-phezeiung als Entscheidungsdilemma der Mutter auf, und zwar im semantischenRaum der Gegenüberstellung von Affe und Mensch. Auffällig an diesem erstenAkt ist die Verwendung des rhetorischen Stilmittels der „insinuatio“, die sichdarin ausdrückt, dass am Texteingang Informationen gegeben werden, die dieEmotionen des Rezipienten in die Richtung lenken, die der beabsichtigten Mei-nungsbildung entsprechen ([14] S. 90). Die Entscheidung der Mutter gegen dengroben Oberarzt wird in dieser Strategie als nachvollziehbare Ablehnung prä-sentiert. Damit sichert sich der Erzähler die Sympathie des Rezipienten für dieMutter und verstärkt die Glaubwürdigkeit der zugrundeliegenden Botschaft.

(II) Auf die Exposition folgt die Konfrontation als Charakteristikum deszweiten Aktes. Die dramaturgische Einheit der Konfrontation funktioniert meist

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nach dem Schema, dass das Ziel der Hauptfigur bekannt ist und hier Hindernisseaufgebaut werden, die den Protagonisten davon abhalten sollen, sein Ziel zu er-reichen. Spannung entsteht, wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Sympathie-träger einer bösen Lage entkommen kann. Die Episode mit dem Armbruch unddie Intensivierung des Schmerzes dienen gerade diesem dramaturgischen Zweck,die Hürde zu erhöhen und die Betonung von Widerständen und Machtansprüchenzu erreichen. Vor dieser Erzähleinheit wird in unserem Filmbericht die Chronolo-gie der Erzählung aufgegeben. Der „outcome“ der Geschichte ist erzählt, das Ende also rhetorisch abgesichert. Von dieser Position aus ist kein Einwand mehrformulierbar. Darum geht es: der Status der Geschichte als Beweismittel für dieEntmündigung des Patienten in der Klinik und für die Missachtung der Pflichtder Medizin zur Hilfe. Selbst die unzulängliche Flüssigkeit im Umgang mit derFachsprache authentifiziert die Position der Mutter als Anwältin und Sprecherinihres hilflosen Sohns, weil sie die Differenz von Laien-Patienten und Profi-Doktoren verschärft und radikalisiert. Die folgende Rückkehr zum Konflikt zwi-schen Klinik und Mutter/Komapatient intensiviert die thematische Orientierungauf diesen Konflikt. Er bildet die Grundlage der dramatischen Struktur.

(III) Die dritte Erzähleinheit, die Auflösung der Geschichte ist die wohl augenfälligste Allusion an konventionelle narrative Strukturen, wie sie in denMythenerzählungen genauso repräsentativ sind wie in der Dramaturgie gängigerSpielfilme. Die Auflösung der Geschichte ist hier nichts anderes als das Motivdes wundersamen Umbruchs. Mit diesem Wunder als „happy end“ wird der hohe Einsatz der Mutter legitimiert und zugleich die Inkompetenz des Ober-arztes unterstrichen. „Die Geschichte des Films ist die Geschichte des Helden,der allen Widrigkeiten zum Trotz sein Ziel erreicht“, so hat Syd Field dasGrundmuster dramatischer Struktur beschrieben ([11] S. 105), und genau diesliefert der dritte Akt unseres Filmbeispiels.

(IV) Im Anschluß an die Auflösung hat der Erzähler einen Epilog eingebaut.Diese abschließende dramaturgische Einheit entspricht der klassischen „Moralvon der Geschichte“, der rhetorischen „implicatio“. Der Epilog lenkt signifikan-terweise von der Konkretheit des Falles ab und formuliert eine ganz unspezifi-sche Feier der Bedeutung familiärer Nähe. Mit dieser Anstimmung auf das Hohelied der elterlichen Liebe wird eine idealisierte Sicht der Familie als Wiegeallen Glücks vermittelt. Eine Geschichte wie die, die der Film enthält, wird kaumjemand ablehnen – der Sieg der Mutter über die Klinik und die Rettung des Soh-nes, das ist ein Liebesbeweis, wie er intensiver kaum ausgestaltet werden könnte.

4. Gestaltungsmerkmale der Fernsehberichterstattungoder: Was trennt die „Fernseh-Ethik“ von der philosophischen Ethik?

Die wiedergegebene Fallgeschichte mag zwar eine zufällig herausgegriffenesein, doch angesichts der verblüffenden Ähnlichkeit dieser Dokumentation mitden anderen gesichteten Dokumentationen zu diesem Thema erscheint es ge-rechtfertigt, diese Fallgeschichte als ein Beispiel für viele zu nehmen und da-nach zu fragen, welche charakteristischen Merkmale der fernsehmedialen Dar-stellung (medizin)ethischer Themen hier erkennbar werden, die in ihrer Gültig-keit über diese eine Fallgeschichte hinausgehen.

a) „Hollywoodisierung“ der Moral: Wir haben gesehen, dass das Beispiel demMuster einer einfachen Alltagserzählung folgt. Die Geschichte handelt eigent-

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lich nur mittelbar von der Behandlung von Wachkoma-Patienten. Im Grunde istes eine „success story“, in der der Helfer sich durchsetzt, die Objekt-Person ge-rettet wird und der Opponent Oberarzt unterliegt – und am Ende werden die be-dingungslose Liebe des Helfers, sein Schutz und seine Fürsorge belohnt. DieMedienwissenschaftlerin Anne Karpf hat für diese Form den treffenden Begriffdes “romantic little-person-against-the-state stories’’ geprägt ([15] S. 60). ImGegensatz zur Philosophie kann das Fernsehen abstrakte Ideen nicht diskursivdarstellen; daher ist es darauf angewiesen, Ideen zu visualisieren und vor allemzu dramatisieren. Fernsehberichte werden somit nach den Gestaltungselementender Dramaturgie und nach medienästhetischen Darstellungskonventionen stili-siert. So ist es zu erklären, dass nicht nur fiktionale Sendungen, sondern auchFernsehdokumentationen im Vermittlungsprozess dramaturgische und inszena-torische Mittel als eine gängige Struktur verwenden, Strategien, die ihren Ur-sprung im antiken Theater oder zumindest im klassischen Spielfilmmuster ha-ben. Medizinethische Themen werden im Fernsehen durch Krisen und Konflik-te, Spannung und Lösung verdichtet und vertieft, jeweils nach dem dramaturgi-schen Diktat von “active, intense and immediate’’ ([18] S. 113) oder – um beimantiken Theater zu bleiben – durch das Setzen auf die Affekte der Rührung(eleos) und der Furcht (phobos). Das Fernsehen hollywoodisiert auf diese Weisedie Konflikte, es interpretiert sie im Horizont des Kinos und eben nicht im Hori-zont des ethischen Diskurses.

Hieraus wäre zu folgern, dass die fernsehmedial vermittelte Bioethik nur einTeilspektrum der philosophischen Bioethik sein kann, da das Fernsehen vor-nehmlich Themen aufgreift, die auch dramaturgisch zugänglich und vermittelbarsind. Die bioethischen Themen, die nicht inszeniert werden können, fallen somitaus dem Fernsehraster heraus. Wenn wir also festhalten können, dass alleinschon die Selektion der Themen eine fernsehmediale Konstruktion ist, so stelltsich die Frage, ob auch nicht die Darstellung der Themen spezifischen fernseh-medialen Mechanismen folgt.

b) Moralische Entscheidung durch mythische Narrationsstrukuren: Gerade derFilm von Silvia Matthies weist einige narrative Strukturen auf, die eine deut-liche Motivbindung an antike Mythen erkennen lassen. Da ist unübersehbar das Motiv des David gegen Goliath auszumachen, das Bestehen des „kleinen“Patienten gegen die Macht der Medizin und gegen die Wahrscheinlichkeit des Sterbens. Und da ist das mythische Motiv von Orpheus und Eury-dike, der Beweis der Liebe und die Wiedererweckung des/der toten Geliebten.Die Verbindung unserer Fallgeschichte mit dem Mythos kommt schon in derdargelegten Handlungsstruktur zum Ausdruck. Denn die erwähnte 3-Akt-Abfolge lässt eine deutliche Parallelität zum narrativen Aufbau der Mythen er-kennen, den Joseph Campbell in der Abfolge von Aufbruch, Initiation undRückkehr beschrieben hat [6]. Aufbruch – Inititiation – Rückkehr, dies sindauch die Handlungsabfolgen unserer Fallgeschichte. Wenn wir also annehmenkönnen, dass sich das Fernsehen bei der Vermittlung medizinethischer Themenmythischer Narrationsstrukturen bedient, so hat dies mehrere Implikationen fürdie Moral, die durch diesen Zugang transportiert wird:

b.1 Bewertung über Symbole: Die Funktion des Mythos besteht vor allem darin,Sinn zu stiften. Sinnstiftende Geschichten aber bedienen sich nicht der Spracheder Differenzierung, der Argumentation, der Begründung. Vielmehr setzen my-thische Grundmodelle darauf, beim Zuschauer Erinnerung und Identifikation

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auszulösen. Sie müssen eine Brücke zur Alltagssicht schlagen, knüpfen daher anprototypische Geschichten, an individuelle Erfahrungen an und sprechen denMenschen eher auf der unbewusst assoziativen Ebene denn auf der rationalenEbene an [2; 6; 28]. Folgt man dieser Mythos-Konzeption, so resultiert für dieMoral, dass eine gute Entscheidung in der mythischen Narration demnach nichtdie durch gute Argumente fundierte Entscheidung ist, sondern die Entscheidungdes „Guten an sich“, das nicht begründet, sondern fest postuliert wird. Daher er-scheint es gerechtfertigt, die Moral, die durch den Mythos verkündet wird, alseine symbolisch vermittelte Moral zu betrachten. Ab dem Moment also, wo sichdas Fernsehen mythischer Erzähleinheiten bedient, entwickelt es damit Vermitt-lungsformen, die ein über die Handlung hinausreichendes symbolisches Poten-tial enthalten. Und gerade über diese Symbolik werden bestimmte Verhaltens-und Lebensmodelle propagiert, denn die Mediensymbole werden eher durch ih-re ästhetische denn durch ihre moralische Kraft wirksam. Die Bilder und Sym-bole implizieren also schon in ihrer Ästhetik eine moralische Vorentscheidung.In unserem Fall bekommt der Zuschauer wenig über den moralischen Konfliktvermittelt; dafür aber wird ihm über den Symbolcharakter bestimmter Hand-lungs- und Bildmotive ein bestimmtes Weltdeutungsmodell angeboten, dem ersich kaum entziehen kann. Dem Zuschauer werden auf diese Weise zwar Ein-drücke, aber keine Hintergründe vermittelt, denn die Fallgeschichte dient vor-rangig als Exemplifizierung einer bereits vorbestimmten Sinnstiftung.1 Geradedies ist das Charakteristische des Fernsehens: Es ist darauf angewiesen, nichtnur über die Welt der Tatsachen zu berichten, es muss die Tatsachen, die es auf-greift, wertend interpretieren, um ihnen dadurch eine allgemeine Bedeutung zugeben [16], und diese Weltdeutung erfolgt über Symbole.

b.2 Bestätigung etablierter Weltdeutungen: Schon die standardisierte Hand-lungsstruktur des Mythos, wie sie in der Aufteilung der narrativen Grundeinhei-ten von Aufbruch, Initiation und Rückkehr zum Ausdruck kommt,2 gibt bereitsvor, dass das Ziel des Mythos als überzeitliche Erzählung nur in der Erlösungoder in der Versöhnung liegen kann. Diese Zielrichtung kommt auch bei unse-rem Beispiel sehr deutlich zum Ausdruck, stand doch am Ende die „Versöh-nung“ mit der Familie im Mittelpunkt. „Das Fernsehen erfüllt die Funktion reli-giöser Vergewisserung, Stabilisierung und Tröstung“, so die Publizistin undTheologin Johanna Haberer ([13] S. 131), und solange Fernsehnarrationen anmythische Erzählstrukturen anknüpfen, vermitteln sie damit unwillkürlich kol-lektive Vorstellungen und Wertestrukturen [28]. Solange das Fernsehen dieseFunktion erfüllt, wird es also kaum etablierte Welterklärungs- und Weltdeu-tungsmodelle kritisch beleuchten können. Die Funktion des Mythos ist daherweniger die kritische Infragestellung, sondern vielmehr die Bestätigung etablier-ter Weltdeutungen, die Affirmation des „Mainstream“ – und gerade diese Scheuvor der grundsätzlichen Infragestellung des scheinbar Selbstverständlichen istvielleicht der markanteste Unterschied zur Ethik als philosophische Disziplin.Für das Apallische Syndrom wäre aus philosophisch-ethischer Sicht bedeutsam,beispielsweise den Begriff der Sondennahrung zu hinterfragen und die Frage zu-

1 Bourgeois hat dies sehr schön in folgenden Worten ausgedrückt: «Les symboliques dégagent l’horizon, elles ouvrent des voies, mais elles n’aident pas forcément à réaliser.» ([4] S. 166)2 Eine ähnliche Grundstruktur mythischer Erzählungen hat Silverstone in der Handlungs-abfolge von „pollution – guilt – purification – redemption“ vorgelegt. ([35] S. 22)

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zulassen, ob denn die Gabe einer Sondenkost tatsächlich als Ernährung betrach-tet werden müsse oder ob nicht auch die Subsumierung der Sondennahrung un-ter dem Begriff der Medikation zulässig sein könnte. Diese ethisch entscheiden-de Frage wird in all den gesichteten Fernsehdokumentationen nicht gestellt,denn zu sehr sind die etablierten Bedeutungsmuster der Zuschauer geprägt vonder Vorstellung der Nahrungsgabe – und damit auch der Sondennahrung – alsSymbol für die Anerkennung und Wertschätzung des ernährten Menschen alsZugehöriger einer Gemeinschaft. Und diese symbolische Bedeutung wäre fern-sehmedial nur durch eine andere symbolische Bedeutung zu relativieren, kaumaber durch abstrakte Rationalitätsansprüche an die Definition von Ernährung.Daher gibt das Fernsehen konstitutiv bereits eine Vorentscheidung über das Er-gebnis der „Fernsehethik“ vor, und das Ergebnis ist eine „Ethik“, die populäreÜberzeugungen bestätigt und verstärkt und die damit zugleich ein popularisier-tes Wissen schafft ([33] S. 91). Fernsehen ist hier also nicht nur Rezipient eta-blierter Mythen, es verfestigt diese Mythen und schafft allein dadurch Realität.

c) Verengung der Moral auf kontrastierende Charakterisierungen: Die kontrastie-rende Figurengestaltung ist ein altes Konzept der Theaterdramaturgie. Mit derKontrastierung sind insbesondere die Stereotypisierung und Schematisierung ver-knüpft, die letztlich dazu dienen, die Verständlichkeit visueller Codierungen zu un-terstützen. Dies hat nicht zuletzt mit dramaturgischen Notwendigkeiten zu tun,denn Spannung wird gerade durch den groben Widerspruch der Charaktere erzeugtund dadurch eine Reizverstärkung evoziert. Die Überzeichnungs- und Vergröbe-rungstendenzen des Fernsehens implizieren eine Einbuße an Differenziertheit, undauch hierin ist ein besonderer Unterschied zum philosophischen Zugang auszuma-chen. In unserem dargelegten Fallbeispiel kommt die kontrastierende Charakteri-sierung deutlich zum Ausdruck, vor allem in der Dichotomie von: „Oberarzt läsststerben“ kontra „Familie lässt leben“. Aber auch auf der visuellen, auf der filmäs-thetischen Ebene fällt das Stilmittel der Kontrastierung auf; so ist vor allem dieKontrastierung Natur/Blumen gegen Industrie/Technik für unsere Sequenz auffal-lend. Die Kommentare über die Klinik werden mit Metaphern unterlegt wie Indu-striearchitektur, Neonlicht und rauchende Schlote, die das negative Klinik-Bildtransportieren sollen. Dem gegenüber stehen Bilder von Blumen und Wiesen, miteinem Aufschwenk auf den wundersam Geretteten. Ähnlich auch die visuelle Rhe-

Abb. 1. Aus der Dokumentation „Leben odersterben lassen“, von Silvia Matthies (Arte,1997). Foto: Bayerischer Rundfunk

Abb. 2. Aus der Dokumentation „Wachkoma –Zwischen Leben und Tod“, von Max Rachals(Vox, 1998). Foto: Vox

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torik in der Gegenüberstellung vom kalten Kliniksetting (siehe Abb. 1) und diedurch die Nahaufnahme vermittelte intime warme Atmosphäre der häuslichen Pflege – die kalte Klinik-Patient-Beziehung hier und die heiße Mutter-Kind-Beziehung dort. Diese Kontrastierung wird noch verstärkt durch den Einsatz derMusik: Musik der Ruhe und der Entspannung zu den Naturaufnahmen, Musik derSpannung und der Drohung zu den Klinik- und Industriebildern. Mit diesen Stili-sierungen wird die moralisch als richtig erachtete Entscheidung oder Handlung ästhetisch geschönt, während die „falsche“ Haltung kontrastiv dargestellt wird.

Durch den Einsatz dieser Stilmittel wird die Neigung des Fernsehens erkennbar,ethische Probleme vorzugsweise in der Dichotomie von Pro und Kontra darzustel-len, ohne der komplexen Situationsbeschreibung und den vielen Nuancen ausrei-chend Raum zu lassen (siehe [4; 30]). Unverkennbar trägt auch unser Exempel zurAkzentuierung von Meinungsverschiedenheiten bei, es betont die Differenzen undverringert die Konsens- und Kompromissbereitschaften. Auch dies also ein we-sentlicher Unterschied zum philosophischen Zugang. Dennoch – und dies muss andieser Stelle ausdrücklich betont werden – kann man das Fernsehen nicht als Rea-litätsverzerrer betrachten, denn letztlich ist jeder Filmautor darauf angewiesen, dieRealität zu stilisieren, die irgendwo in der Lebenswelt oder auch nur in der kogni-tiven Welt der Zuschauer beheimatet ist: „La télévision grossit les traits, focaliseles intérêts, mais elle n’invente pas le monde dans lequel elle intervient. Elle lefait voir, elle le fait entendre et pressentir, elle le module ou le transpose, elle ledramatise ou le poétise, elle ne le crée pas.“ ([4] S. 194).

d) Transportierung von Werten durch Personenbindung: Eng mit den ersten ge-nannten Gestaltungsmerkmalen von Fernsehdokumentationen ist auch das dritteMerkmal verknüpft, wonach der darzustellende ethische Sachverhalt im Horizonthandlungstragender Personen vermittelt wird. Die Dramaturgie verlangt, dass diezu erzählende Geschichte nicht an abstrakten Theorien festgemacht, sondern dasssie anhand der Erlebniswelt der Protagonisten vermittelt werde. Diese Vermitt-lung der Inhalte in Form von personengebunden Handlungsverläufen hat mehrereweitreichende Implikationen für die fernsehmediale Darstellung der Bioethik:

d.1 Identifikation mit dem Protagonisten: Durch die Personenbindung wird demZuschauer eine sachlich begründbare eigene Meinungsbildung verwehrt, da dieEntscheidung des Zuschauers vor allem durch die Identifikation mit den Pro-tagonisten zustande kommt und nicht durch die Abwägung von Argumenten. DieProtagonisten personifizieren bestimmte Lebensmodelle und Handlungsideale.Dadurch dienen sie oft als Projektionsfläche für die Wünsche der Zuschauer ([2]S. 245), haben also Vorbildcharakter, und dieser Vorbildcharakter hat Einfluss aufdas moralische Urteil des Zuschauers (siehe [26]). Über diese Vorbild-Protagoni-sten werden Empfindungen transportiert, die je nach Intensität so „übertölpelnd“wirksam werden können, dass sie allein durch ihren Erlebnischarakter den Zu-schauer für die intendierte Wirkungsabsicht vereinnahmen. Genau dies geschiehtja in unserem Fallbeispiel, bei dem das Wertgefüge, nach dem die Mutter sichverhält, mit dem Wertgefüge korrespondiert, das der Beitrag vorträgt. Die „intui-tive“ Entscheidung des Zuschauers gegen eine Therapiebegrenzung wird nur aufdem Boden des Identifikationsappells mit Herberts Mutter gefällt, dem sich derZuschauer kaum entziehen kann. Gerade diese kasuistische Argumentation ist je-doch eine höchst fragile, denn dem einen Beispiel stehen andere entgegen. Dar-um ist die Argumentation mit Beispielen oft darauf angewiesen, das Einverständ-nis des Adressaten implizit herzustellen. Das kann geschehen, indem Vorurteile

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3 Die Neigung des Fernsehens zur Personenbindung paart sich gerade in den letzten Jahrenmit einer allgemeinen Tendenz des Fernsehens zur Betonung innerer Erlebniswelten, eineTendenz, die eindeutig die ehemals gesellschaftskritische Post-68er-Haltung abgelöst hat (siehe hierzu näher [25]).

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durch das Beispiel bestätigt und moralische oder politische Positionen für denAdressaten angeboten werden, die er kaum ablehnen kann. Die fernsehmedialvermittelte Moral ist also eine Moral für ganz spezifische Konstellationen, seltenaber eine Moral, die über die gewählte Kasuistik hinaus Gültigkeit beanspruchenkönnte. Hier liegt eine weitere Differenz zur philosophischen Ethik.

d.2 Ausblendung des Kontextes: Dadurch, dass die Fernsehthemen an indivi-duelle Erfahrungen geknüpft werden, begrenzt die Perspektive des jeweiligen Protagonisten für sich schon den Weltausschnitt, der damit vermittelt werdensoll ([2] S. 176), so dass man sagen kann, dass die Personengebundenheit fernsehmedialer Vermittlungsformen zu einer Ausblendung komplexerer Zu-sammenhänge neigt, die außerhalb des Identifikationsspektrums liegen. Auf die-se Weise trägt das Fernsehen also dazu bei, öffentliche Debatten einzuengen undnur die Aspekte zu betonen, die an privaten Geschichten festgemacht werdenkönnen, ohne dabei den sozialen Kontext mit zu thematisieren, denn „es istleichter zu zeigen, was jemand macht, wie jemand aussieht, worüber gesprochenwird, als wie eine Vielzahl von Menschen über größere räumliche, soziale undzeitliche Distanzen hinweg wechselseitig voneinander abhängig sind“ ([22] S. 361). Das Fernsehen neigt in seiner Darstellungsweise dazu, nur vereinzelteAusschnitte aus nur noch vage zu erahnenden größeren Zusammenhängen dar-zubieten. Diese Fragmentierungstendenz führt in der Kombination mit der Er-eignisorientiertheit des Fernsehens dazu, dass letztlich vordringlich die ethi-schen Probleme fernsehmedial bearbeitet werden, für die eine klare, unmittelba-re und vor allem am Individuum darstellbare Lösung angeboten werden kann,denn die Lösung als solche ist für das Fernsehen entscheidender als die Argu-mente. Dies ist der Grund dafür, dass beispielsweise das Problemfeld der Organ-transplantation verhältnismäßig oft in Fernsehdokumentationen aufgegriffenwird. Denn gerade die Transplantation ist 1. ein spektakuläres Ereignis am Indi-viduum, 2. eine unmittelbare Lösung für das Individuum 3. eine ideale Helfer-geschichte von Individuum zu Individuum, 4. eine mythenbesetzte Wunderhei-lung an einem Individuum und 5. eine stabilisierende Geschichte der Hoffnungfür alle. Wenn das Fernsehen die Transplantation im Horizont solcher Narratio-nen vermittelt, so bleibt sozusagen systemimmanent das abstraktere Problem-feld der Allokation und aller sozialen Implikationen jedoch weitgehend außerAcht. Und so wird auch in unserem Beispiel aus dem Problemfeld der Sterbehil-fe eine private Story gemacht, ohne dass ein Wort über die sozialen Bedingun-gen dieses Problemfeldes fällt. Durch die an der Personenbindung orientierteErzählstruktur werden somit Welten illuminiert, die nicht nur in ihren narrativenDimensionen, sondern auch in ihren Wertedimensionen einfache Welten sind.

d.3 Psychologisierung der Konflikte: Mit der Personenbindung ist schließlich ei-ne weitere Konsequenz für die fernsehmediale Vermittlung von Bioethik verbun-den, nämlich die Tendenz zur Psychologisierung der Konflikte. Ethische Proble-me werden dadurch zum einen nur im Horizont individueller Dilemmaerlebnissedargestellt, zum andern liegen auch die fernsehmedialen Lösungsvorschlägemeist eher im Bereich privater Phronesis als im Bereich des Sozialen oder Politi-schen.3 In unserem Fernseh-Fallbeispiel kommt gerade diese Individualisierung

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und Psychologisierung deutlich zum Ausdruck, denn ganz offensichtlich wird beiSilvia Matthies das Problem der Sterbehilfe zu einem Kommunikationsproblemstilisiert. Gerade im Umgang mit der Sterbehilfe ist die fernsehmediale Zentrie-rung auf individuelle Erfahrungen von besonderer Bedeutung, denn auf dieseWeise werden nur die Argumente vermittelbar, denen ein positiver „Outcome“zugrundegelegt werden kann. Wie z.B. sollte man eine Geschichte erzählen, de-ren Ende nicht wundersam, sondern in Siechtum und Tod bestünde? In unsererGeschichte ist daher die Mutter die Erzählerin und zugleich die Sympathieträge-rin; doch wenn der Patient nicht wieder genesen wäre, so hätte die Geschichte ih-ren Sinn verloren, und daher erscheint für den Problembereich des ApallischenSyndroms das Argument für den Therapieabbruch – auch unabhängig von dersymbolischen Bedeutung der Nahrung – wesentlich schwerer für eine fernsehme-diale Aufbereitung zugänglich als das Argument gegen den Therapieabbruch.4

Dies ist ein Hinweis darauf, daß die „Ethik“ im Fernsehen als eine fernsehmedia-le Konstruktion zu betrachten ist, die über die Produktions- und Selektionsprinzi-pien des Mediums definiert wird und sich nicht aus der Thematik selbst ergibt.Und diese Prinzipien bedingen auch die Formulierung einer ganz spezifischenMoral, nämlich einer Moral des privaten Glücks.

e) Das private Glück als Bewertungsmaßstab: Freilich würde es der Vielfalt derFilmautoren, aber auch der Vielfalt der Sendeformen nicht gerecht werden, woll-te man hier allzu Unterschiedliches auf einen gemeinsamen inhaltlichen Nennerbringen. Doch am Beispiel des Apallischen Syndroms zeigt sich, dass sich die fürdie Fernsehberichterstattung ausgesuchten Geschichten auffällig ähneln. Die eineÄhnlichkeit ist das immergleiche Ende der „wundersamen Heilung“, die andereÄhnlichkeit die latente Medizinkritik, eine weitere die Glorifizierung familiärerFürsorge, und gerade letztere ist von besonderer Bedeutung für den normativenCharakter der Fernsehberichte. Einen Hinweis darauf, welche Wertvorstellungder Geschichte implizit zugrundeliegt, liefert beispielsweise das Ende des drittenAktes, der Aufschluss über die Grundannahmen eines geglückten Lebens gibt.Die Interviewerin fragt Herbert, ob das Leben ihm auch Spaß mache. Der Be-fragte bestätigt dies in doppelter Weise und liefert zwei persönliche Definitions-modelle von persönlichem Glück an. Mit ihrer Frage verweist die Interviewerinimplizit darauf, dass für die Filmautorin nicht die Frage nach dem „Was soll ichtun?“ im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Frage „Wie kann ich glücklichwerden?“ Der Akzent liegt hier also auf dem individuell definierten Glück, unddie Geschichten entstehen durch die Bedrohung dieses Glücks. Deswegen sind jaKrankheiten ein beliebtes Motiv der Dramen, weil die Krankheit sich als Bedro-hung des privaten Glücks bestens eignet. Gerade in der Gegenüberstellung vonprivatem Glück und der Tragik der Krankheit wird in unserem Beispiel das ethi-sche Problem konstruiert. Und die Lösung des „ethischen“ Problems liegt in derWiederherstellung des verlorenen Glücks. Dadurch nun, dass die Lösungsvor-schläge des Fernsehens für ethische Probleme im Bereich des Privaten liegen, be-ziehen sich die moralischen Appelle, die das Fernsehen kultiviert, insbesondereauf die persönliche Aufopferung und auf die gegenseitige Hilfe, auf Caritas undEmpathie. Berg-Walz hat in Zusammenhang mit den Fernsehbotschaften von ei-ner „sinnlichen, sinnfälligen, gefälligen Vereinzelung“ ([1] S. 314) gesprochen,

4 Dies gilt allerdings nur für den bewusstlosen Patienten. Der Tod auf Verlangen hingegen istein in der Filmgeschichte sehr verbreiteter Topos; er gehört geradezu zu den beliebtesten Mo-tiven im Horizont der Sterbehilfe.

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und damit ist ein wesentliches Charakteristikum der „Fernseh-Moral“ benannt,die dem Individualismus und dem privaten Glück verhaftet bleibt.

5. Die fernsehmediale Aufbereitung der Ethik als Konstruktion – und als Chance

Wenn ich die fernsehmediale Konstruktion von Bioethik als Titel für diesen Bei-trag gewählt habe, so zeigt sich spätestens nach der Darlegung der Gestaltungs-merkmale des Fernsehens, wie dies zu verstehen ist. Das Fernsehen konstruiertBioethik, weil es eine eigene Fernseh-Bioethik schafft, die als Produkt eigenerDarstellungskonventionen betrachtet werden muss. Ich würde sogar noch einenSchritt weitergehen und die These aufstellen, dass wo das Fernsehen über Bio-ethik berichtet, es ihm gar nicht primär um die Ethik geht, sondern um das Erzäh-len einer Geschichte, zu der die Medizin lediglich den Konfliktstoff liefert. DasFernsehen ist darauf angewiesen, Geschichten zu erzählen, aber der narrative Fo-kus ist auf andere Werte gerichtet als diejenigen, von denen vorgeblich gehandeltwird. Eine Geschichte wie die des jungen Motorradfahrers zeigt, dass das Themaeiner Geschichte nicht unbedingt mit seiner Moral übereinstimmen muss. DieTherapiebegrenzung beim Apallischen Syndrom ist nur scheinbar das Thema; imGrunde geht es um eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur der Spielfilm – so eine derKernthesen dieses Beitrages – auch die Fernsehdokumentation interpretiert dieKonflikte im Horizont des Kinos und nicht im Horizont des ethischen Diskurses,und die Moral, die durch die Kino-Geschichte verkündet wird, ist nur eine impli-zite Moral, die von der Abstraktheit spezifischer Konflikte ablenkt und dafür anbestimmte Archetypen von Vorstellungen und Normen anknüpft. So berichtetSilvia Matthies nicht wirklich über das Apallische Syndrom, sondern über dieBedeutung der familiären Fürsorge, über die Bedrohung (durch die Medizin),über die Hoffnung, über die Liebe zu einem Menschen. Diese mythenähnlicheForm der Geschichtenerzählung hat – wie wir gesehen haben – viele Verkürzun-gen, Raffungen, Schematisierungen zur Folge. Intuitiv wäre der Wissenschaftlerdazu geneigt, Fernsehberichterstattungen als prätentiös zu betrachten, und raschkommt diesem der Gedanke, dieses Problem müsse doch medial ganz anders auf-gezogen werden; ethische Theorien, Argumentationsstrukturen, ja alte Denkerkommen da in Frage. Aber – so stellt sich schlussfolgernd die Frage – wäre einesolche Erwartung nicht eine unreflektierte und unberechtigte Überstülpung derwissenschaftlichen Methode auf das Medium Fernsehen, das sich doch an ande-ren Gestaltungselementen orientiert und einem anderen Selbstverständnis ver-pflichtet ist? Das Fernsehen ist darauf angewiesen, das „docere“ mit dem „delec-tare“ zu verbinden, und es tut dies selbst bei Nachrichtensendungen. Daher sindauch die Reportage, das Feature oder der Dokumentarfilm letztlich immer nur ei-ne Mischung von Information und Unterhaltung – dies entspricht auch seinemgesetzlich geschützten Auftrag. Diese Grundbedingung des Fernsehens bei derBewertung von „Bioethik-Sendungen“ außer Acht zu lassen und dem Fernseheneine „sachlichere“ Berichterstattung anzuempfehlen, käme einem wissenschafts-rationalen Imperialismus gleich. Die Methoden der wissenschaftlichen Expertenauf das System Fernsehen zu übertragen, würde einer Expertokratie Vorschub lei-sten, und vor allem würde damit das Potential des Fernsehens verspielt.

All der erarbeiteten Unterschiede zwischen Ethik und Fernsehen zum Trotzkann die Quintessenz unserer Ausdifferenzierungen nicht darin liegen, dass

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Ethik und Fernsehen getrennte Wege gehen sollen. Vielmehr kann das Fernse-hen auch zur Ethik einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten, denn dieSchwäche des Fernsehens ist gleichzeitig seine Stärke! Die rationale Abwägungvon Bewertungskriterien ist fernsehmedial schwer zu vermitteln, aber dafürkann das Fernsehen durch die sinnliche Darstellung lebensnaher Erlebnismo-mente Sinnzusammenhänge und damit auch Wertestrukturen schaffen, wozuSachzusammenhänge alleine nicht fähig wären. Das Fernsehen hat gerade durchdie audiovisuelle Sinnlichkeit ein großes Potential, Einsicht und Verständnis inspezifische Situationen und Erlebniswelten zu wecken. Will man dem Medien-wissenschaftler Peter Kottlorz folgen, so kompensiert das Fernsehen die ratio-nalistischen Strukturen unserer Gesellschaft, und seine Bildhaftigkeit deutetKottlorz in Anlehnung an Alois Huter als „epochale Antwort unserer Kultur aufdie einseitige Betonung der Verstandeskultur“ ([18] S. 162).

Die Soziologin Dorothy Nelkin hat in Bezug auf das Fernsehen kritisiert,dass „journalists look for personal stories and individual cases, though this maydistort research that has meaning only in a broader statistical context“, dochNelkin übersieht hierbei, dass Statistik alleine keinen Sinn stiften kann. Faktenkönnen für sich genommen keine Einsicht in die Bedeutsamkeit bestimmterHaltungen oder Handlungen gewähren. Hierfür bedarf es einer Deutung derFakten, einer Sinnzusprechung, und genau diese Rolle erfüllt das Fernsehen.Das Fernsehen erzählt die Geschichten, die notwendig sind, um die Welt zu deu-ten. Gerade die Ethik kommt ohne diese deutenden Momente nicht aus. “...thestep of recognizing ethical problems requires professional competence of a veryparticular sort, not solely an intellectual expertise but more saliently a narrativesensitivity to the central secrecy of human situations’’, so Rita Charon ([7] S.265). Mit seinen Geschichten kann das Fernsehen genau diese narrative Sensibi-lität liefern. Das Fernsehen kann damit eine wichtige Ergänzung der hermeneu-tischen Bioethik sein, indem es Anteil nehmen lässt und tiefes Verstehen weckt.

Danksagung: Dank schulde ich Prof. Dr. Hans Jürgen Wulff vom Kieler Institut für NeuereDeutsche Literatur und Medien für vielfältige Anregungen.

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