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Zur Frage der anatomischen Grundlage der Ath@tose double und der posthemiplegisehen Bewegungsst~rung iiberhaupt. 1) Von Oskar Fischer. (Ausgeffihrt mit Unterstiitzung der Gesellschaft zur FSrderung deutscher Kunst und Wissenschaft in BShmen in der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.) Mit 2 Textfiguren und 6 Tafeln. ( Eingegangen am 27. September 1911.) Dis Kenntnis der Pathologie der nach cerebralen Herdaffektionen manchmal auftretenden eigenartigen Muskelkr~mpfe, welche nach ihrer Form Hemiathose, Hemichorea oder Hemiparalysis agitans genannt werden, ist wegen ihrer groBen Seltenheit noeh in vieler Hinsieht sehr l~ckenhaft. Man faBt diese Bewegungsst5rungen wohl aus dem Grunde, weil sie meist nach hemiplegisehen Attacken auftreten, im allgemeinen als posthemiplegische BewegungsstSrungen zusammen, aber mit Unreeht, weil es F~lle gibt, bei denen dis StSrung ohne hemiplegische Insulte und ohne merkbare L~hmungssymptome entsteht: ein Beweis daffir, dab die Hemiplegie und die Hemichorea auf im Prinzip verschiedene StSrungen zur[ickzufiihren sind, die aber trotzdem sehr h~ufig neben- einander vorzukommen pflegen. Seit langem ist es bekannt, da~ die bezeichneten drei Formen kli- nisch mindestens verwandt sind; es hat sich herausgestellt, dab dis gleiehen und gleiehartig lokalisierten Herderkrankungen bald Hemi- chorea, bald Hemiathetose hervorrufen; man hat welter gesehen, dab verschieden lokalisierte Herderkrankungen im Gehirn zu diesen Be- wegungsstSrungen ffihren; deswegen faBte man friiher diese Dyskinesien nicht als Zeichen einer bestimmten Lokalisation auf, sondern als eine Begleiterscheinung versehiedener, vielleicht mehr diffuser Cerebral- erkrankungen. Diese Erkl~rung konnte aber nieht befriedigen; denn bei der nahen klinisehen Verwandtsehaft aller der genannten drei Formen von cerebraler Dyskinesie mul~te man zu der Vorstellung einer mehr einheitlichen pathologisehen Grundursaehe gelangen. Kahler und Pie k 2) waren dis ersten, welche dis damaligen pathologischen Befunde 1) Nach einem in der Wissenschaftlichen Gesellschaft deutscher /~rzte in BShmen am 16. November 1910 in Prag gehaltenen Vortrage. ~) Vierteljahrsschr. f. prakt. Heilk. 1879. z. f. d. g. Nettr. u. Psych. O. VII. 31

Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athétose double und der posthemiplegischen Bewegungsstörung überhaupt

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Page 1: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athétose double und der posthemiplegischen Bewegungsstörung überhaupt

Zur Frage der anatomischen Grundlage der Ath@tose double und der posthemiplegisehen Bewegungsst~rung iiberhaupt. 1)

Von Oskar Fischer.

(Ausgeffihrt mit Unterstiitzung der Gesellschaft zur FSrderung deutscher Kunst und Wissenschaft in BShmen in der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.)

Mit 2 Text f iguren und 6 Tafeln.

( Eingegangen am 27. September 1911.)

Dis Kenntnis der Pathologie der nach cerebralen Herdaffektionen manchmal auftretenden eigenartigen Muskelkr~mpfe, welche nach ihrer Form Hemiathose, Hemichorea oder Hemiparalysis agitans genannt werden, ist wegen ihrer groBen Seltenheit noeh in vieler Hinsieht sehr l~ckenhaft. Man faBt diese Bewegungsst5rungen wohl aus dem Grunde, weil sie meist nach hemiplegisehen Attacken auftreten, im allgemeinen als posthemiplegische BewegungsstSrungen zusammen, aber mit Unreeht, weil es F~lle gibt, bei denen dis StSrung ohne hemiplegische Insulte und ohne merkbare L~hmungssymptome entsteht: ein Beweis daffir, dab die Hemiplegie und die Hemichorea auf im Prinzip verschiedene StSrungen zur[ickzufiihren sind, die aber trotzdem sehr h~ufig neben- einander vorzukommen pflegen.

Seit langem ist es bekannt, da~ die bezeichneten drei Formen kli- nisch mindestens verwandt sind; es hat sich herausgestellt, dab dis gleiehen und gleiehartig lokalisierten Herderkrankungen bald Hemi- chorea, bald Hemiathetose hervorrufen; man hat welter gesehen, dab verschieden lokalisierte Herderkrankungen im Gehirn zu diesen Be- wegungsstSrungen ffihren; deswegen faBte man friiher diese Dyskinesien nicht als Zeichen einer bestimmten Lokalisation auf, sondern als eine Begleiterscheinung versehiedener, vielleicht mehr diffuser Cerebral- erkrankungen. Diese Erkl~rung konnte aber nieht befriedigen; denn bei der nahen klinisehen Verwandtsehaft aller der genannten drei Formen von cerebraler Dyskinesie mul~te man zu der Vorstellung einer mehr einheitlichen pathologisehen Grundursaehe gelangen. K a h l e r und P ie k 2) waren dis ersten, welche dis damaligen pathologischen Befunde

1) Nach einem in der Wissenschaftlichen Gesellschaft deutscher /~rzte in BShmen am 16. November 1910 in Prag gehaltenen Vortrage.

~) Vierteljahrsschr. f. prakt. Heilk. 1879. z. f. d. g. Nettr. u. Psych. O. VII. 31

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in ein System zu bringen versuchten, und sie fanden, dab sieh beinahe in allen hergehSrenden F~llen die Herde um die Pyramidenbahn grup- piert haben; sie schlossen daraus, daG die Hemichorea die Folge einer durch die benachbarten Herde hervorgerufenen Reizung der Pyramiden- bahn ist. Es zeigte sich jedoch, daG diese Theorie den Tatsaehen nicht vollkommen entspricht; auf Grund eines ziemlich reinen Fanes kam dann B o n h o e f f e r 1) nach Sichtung des damaligen Materiales zu einer etwas anderen Auffassung; er fand n~mlich, daG nieht die Pyramiden- bahn die fiihrende Linie darstellt, um die sich die zur Hemichorea fiihren- den Herde gruppieren, sondern die Bindearmbahn, und daG es zu einer Hemichorea nur dann kommt, wenn das letzterw~hnte Fasersystem l~diert ist. Diese Bahn ist sehr lang, sie l~Gt sich vom Kleinhirn bis zu den Stammganglien verfolgen, wobei sie eine totale Kreuzung in der Haube eingeht; darnach kSnnen Herde, die in verschiedener t lShe vom Pons bis zur HShe des Thalamus liegen, zu Hemichorea fiihren und je naehdem, ob sie sich oberhalb oder unterhalb der Bindearm- kreuzung befinden, mug es zur Entwicklung gekreuzter oder unge- kreuzter Symptome kommen.

Es ist nun klar, dab diese nur ein sehr sehmales Areal einnehmende Bahn aueh yon ganz winzigen Herden wesentlich alteriert werden kann, von Herden, welche dem freien Auge besonders bei der gewShnlichen makroskopischen Sektionsmethode unsichtbar bleiben kSnnen; des- wegen mug man von jedem als einwandfrei geltenden Falle verlangen, dab er genau m i k r o s k o p i s c h und an S e r i e n s c h n i t t e n untersucht werde, welcher Forderung aber nur reeht wenige :F~lle der Literatur entsprechen; denn nur mit Hilfe eines derartig untersuchten Materiales kSnnen die bisherigen Theorien auf ihre Wertigkeit gepriift werden.

Abgesehen von dieser Prinzipialfrage, gibt es aber noch manches nicht unwiehtige Nebenproblem zu 15sen. So ist es auffallend, daG die Hemichorea eine eigentlich sehr seltene Erkrankung ist, trotzdem Herde yon einer solehen Lokalisation, die fiir die Hemichorea typisch sind, relativ hgufig zur Beobachtung gelangen; warum es einmal zu dieser BewegungsstSrung kommt, das andere Mal nicht, ist noch unklar. Es ist dann weiter bemerkenswert, daG ein und dieselbe Lokalisation eines gleichartigen Herdes einmal Hemichorea, das andere Mal Hemiathetose oder Hemitremor hervorrufen kann; dafiir gibt es heute noeh keine einwandfreie Erklgrung. Auch aus diesen Griinden erscheint es not- wendig, jeden zur Beobaehtung gelangenden einsehl~gigen Tall einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen; im folgenden wird ein neues histologisch genau untersuchtes Material geliefert, welches geeignet ist, zur LSsung der erwahnten Fragen beizutragen.

1) Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. I. 1897.

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und der posthemiplegischen BewegungsstSrung tlberhaupt. 465

1. Fal l : A t h 6 t o s e d o u b l e , d i e s i c h l a n g s a m p r o g r e d i e r t

e n t w i c k e l t h a t t e u n d d u r c h e i n e k S r n i g p i g m e n t S s e E n t -

a r t u n g d e r G a n g l i e n z e l l e n i m G l o b u s p a l l i d u s b e i d e r L i n s e n .

k e r n e b e d i n g t wa r .

17j~hriger C~ wurde zur Klinik am 26. April aufgenommen; kleiner, sehr graziler Bursche, der hilflos aufgefunden wurde.

Das Auffallendste am Pat. ist eine hochgradige Muskelunruhe, die in langsam steifen Bewegungen der gesamten K6rpermuskulatur besteht und zu oft ganz bizarren Verdrehungen und Verrenkungen der Gliedmal3en und des ganzen KSr- pers fiihrt:

Der KSrper wird hin und her bewegt, meist nach hinten gewendet, die Stim gerunzelt, die Augen ganz fest zusammengekniffen, die gesamte Gesichtsmusku- latur mit dem Platysma in diverse Grimassen verzerrt, der Mund bald krampf- haft geSffnet, bald trismusartig geschlossen, manchmal auch seitlich verzogen. Der Rumpf wird gedreht, die Schultern bald symmetrisch, bald asymmetrisch bewegt; die Arme, deren Bewegungen am st~rksten und ausgiebigsten sind, werden vornehmlich in langsamen und ausfahrenden Bewegungen - - meist nach hinten - - geschwenkt, die H~nde am h~ufigsten zur Faust geballt, manchmal die Finger auch unregelm~flig bewegt und gespreizt; die Beine sind meist - - wenn Pat. sich im Bett befindet - - an den Leib angezogen und machen nur geringe Zwischen- bewegungen. Die Atmung ist dabei sehr stark gestSrt; Pat. inspiriert eine Zeit- lang sehr langsam, meist durch die Nase, dann 5ffnet sich der Mund krampfhaft die gesamte Hals- und Schlundmuskulatur prel3t sich zusammen und die Zunge wird krampfhaft nach hinten retrahiert; in diesem Stadium setzt die Atmung auf etwa 20 Sekunden aus, ohne dal3 aber der Pat. - - wie man es sonst erwarten wiirde - - cyanotisch oder wenigstens rot im Gesicht wird. Dann 15st sich der Krampf unter einem heiseren, exspiratorischen, grunzenden Laut.

Diese Muskelunruhe dauert, solange man sich mit dem Pat. besch~ftigt; das Muskelspiel steigert sich besonders dann, wenn man von dem Kranken irgend- eine Muskelaktion verlangt, wobei dann die Muskulatur des KSrperteiles, der die verlangte Muskelaktion ausfiihren soll, am st~rksten krampft, wogegen die anderen Teile des KSrpers viel weniger beteiligt sind.

H~ufig formieren sich die ,,Muskelkriimpfe" in der Weise, dab sie dutch eine Art sehr komplizierter Gegenaktion die gerade verlangte Handlung verhindern. Wenn man den Kranken z. B. auffordert, irgend etwas mit den Augen zu fixieren, so werden die Augen sehr fest zugekniffen, Pat. macht daun siehtlich Anstren- gungen, um die Augen zu 5ffnen, wobei sich wiederum das Gesicht in wirr auf ein- anderfolgende Grimasseu verzerrt, aber mehr als unregelm~13ige kleine Zuckungen der Augenlider bringt er nicht zustande. Schliei~lich versucht er mit den sich ebenfalls verrenkenden zur Faust geballten tt~nden die Augen zu iSffnen, d. h. er setzt meist die linke zur Faust geballte Hand an die Augenbrauen an und driickt die Braue etwas nach oben, worauf sich dann beide Augen sehr prompt 5ffnen, um fiir kurze Zeit often zu bleiben.

Wenn man den Kranken auffordert, etwas auszusprechen, so pressen sieh zu- erst die Lippen und Kiefer sehr fest aufeinander, so daI3 Pat. aufler einem un- axtikulierten Grunzen keine Laute yon sich geben kann; nach einiger Zeit gelingt es ihm in einer Bewegungsphase, wenn er gerade den Mund weir aufgesperrt hat, verschieden differenzierte Grunzlaute hervorzubringen, in denen man nach einiger GewShnung hochgradig verstiimmelte Silben und Worte erkennen kann; auf diese Weise wird es dann mSglich, sich, wenn auch sehr miihsam, mit ihm zu verst~n- digen.

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Wenn der Pat. aufgefordert wird, den Mund zu 6ffnen, so prel3t sieh dieser im ersten Moment ebenfalls krampfhaft zusammen, worauf dann das Offnen des Mundes mi t einem ~hnliehen , ,Kniff" gelingt, wie beim Offnen der Augen; er legt die Faust an das Kinn und prel~t dieses herunter, worauf sich dann der Mund 5ffnet und wieder l~ngere Zeit often bleibt. Wenn dagegen eine zweite Person in diesem trismusartig geschlossenen Zustand den Mund des Kranken gewaltsam zu 5ffnen versueht, so bieten die Kiefer einen beinahe gar nieht zu iiberw~ltigenden Widerstand. Versucht man ihm gewaltsam die Augen zu 5ffnen und hebt naeh maneher Miihe sehlieBilch das Oberlid ein wenig in die ttShe, so flieht sofort der Bulbus nach oben.

Aueh der Gang ist hochgradig gestSrt: Wenn Pat. aufgefordert wird zu gehen, so macht er zuerst einige unsiehere Schritte, dann bleibt er stehen, winder sieh hin und her, duekt sieh plStzlieh ruckweise nieder, macht dann Bewegungen, wie wenn er umfallen sollte, stellt sich wieder gerade auf, dann macht e rwiede r plStzlieh einige kurze Sehritte, indem die Beine bald schleifend, bald stampfend und sehr h~ufig sich iiberkreuzend vorw~rts geschoben werden. Der FuB wird dabei bald mit der Spitze, bald mit der Ferse oder auch mit dem Rande aufgesetzt.

Besonders stark ist die StSrung beim Essen: Wenn man ihm eine Semmel zu essen gibt, so fiihrt er dieselbe schon nnter grol3en Schwierigkeiten zum Mund, dann muB er mit Hilfe der Faust den Mund 5ffnen, stopft dann unter mancherlei ausfahrenden Bewegungen die Semmel in den welt geSffneten Mund, nach mehr- fachen Verzerrungen des Gesichtes klappen dann plStzlieh die Kiefer zusammen, und auf diese sehr komplizierte Weise beil~t er ein Stiiek yon der Semmel ab. Im Munde bleibt der Bissen oft l~ngere Zeit liegen, dana kommt es auch zu den sehon geschilderten Unterbrechungen der Atmung und langsam, immer und immer unterbrochen kaut er an dem Bissen, bis er ihn herunterschilngt; bei diesem so komplizierten ManSver wSrde man mit Sieherheit ein Versehlueken erwarten, doch kommt es nieht dazu. Pat. vermag aueh mit Messer, Gabel und LSffel zu essen, er tr inkt auch, indem er sieh selbst das Trinkgefi~l~, das er mit beiden H~nden h~lt, zum Munde fiihrt; es geht dabei aber immer sehr viel durch Verschiitten verloren.

]Kit vieler Miihe und Anstrengung kann er auch sehreiben; das rut er so, dab er unter diversen Zwischenbewegungen den Bleistift erfal~t, dann die Hand, welehe sehreiben soil, mit der anderen Hand am Handgelenke festh~It und so unter Verdrehungen und Verzerrungen des Gesichtes ungelenkige, welm auch leserliehe Schriftzeigen macht.

Am st~rksten werden die Kr~mpfe, wenn man von dem Patienten irgend- eine motorische Leistung verlangt oder wenn er sich beobaehtet wei r ; die Un- ruhe ist dagegen vie1 sehw~cher, wenn er sieh unbeobaehtet w~hnt, ja manchmal setzt sie aueh fiir kurze Zeit aus; dann kann er gehen, essen, versehiedene Hand- lungen verrichten, ohne dal3 die Ka'~impfe stSrend eLawirken; kaum merkt er aber, dab er beobaehtet wird, stellen sich die , ,Kr~mpfe" wieder ein. Auch sistiert die Muskelunruhe, wenn Pat. einer bestimmten T~tigkeit, namentlich im unbe- obaehteten Zustande, t in ganz besonderes Interesse zuwendet; dies ist besonders beim Stehlen der Fall ; denn der Pat., der sehon in seiner Kindheit ein vollkommen verwahrlostes und verbrecherisches Individuum war, stiehlt alles, worauf er kommt, namentileh abet El]waren; sehon naeh sehr kurzem Aufenthalte auf der Kilnik hatte er herausgefunden, wo die W~rter Semmeln und sonstige trockene El~waren aufbewahrt batten. Bei einem solchen Diebstahl hatte ich auch Gelegenheit ihn zu beobachten; er schlieh sich durch die ge- 5ffnete Tiir in das W~rterzimmer, und naehdem er sieh behutsam umgesehen hatte, ob niemand zusehaut, zog er sehneil eine Tischlade heraus und entnahm derselben vorsiehtig und ohne Ger~usch 2 Semmeln; dabei waren

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seine Bewegungen vollkommen harmonisch und zweckentsprechend; als er dann durch ein absiehtliehes GerKusch aufgeschreekt sieh umsah und reich be- merkte, blieb er h~ehst ersehrocken ruhig stehen und bliekte reich Kngstlich, aber ruhig an; erstaunlich und ganz ungewShnlich war dabei die ruhige beinahe starre Haltung des ganzen KSrpers; wie er aber angefahren wurde, waft er die Semmeln weg und ging langsam heraus; beim Weggehen setzten die gewohnten Krampfbewegungen wieder ein.

Ganz ~hnlieh verhielt er sich, als er zum Zwecke der Beobachtung eine Isolier- zelle bewohnte; wenn er vollkommen abgeschlossen war und ringsherum Ruhe herrschte, so blieb auch er motoriseh ruhig; sogar beim Essen trat die Muskel- unruhe kaum hervor; wie er aber ein Ger/~nsch hSrte oder sich beobaehtet wuBte, dann geriet er wieder in die gewohnte Muskelunruhel).

Im Schlafe sistierten die KrKmpfe vollkommen; im leisen Schlaf, z. B. kurz vor dem Erwachen, zeigte sich sehr h~ufig ein leichtes Verzerren des Gesiehtes.

Was den somatischen Befund betrifft, so war Pat. sehr klein und grazil ge- baut, es bestand keinerlei Parese oder Sensibilit~tsstSrung, auch keine wesent- liehe StSrung der Reflexe; die Sehnenreflexe, welehe aus naheliegenden Griinden schwer zu priifen waren, erscheinen etwas lebhaft; auch der Tonus der Musku- latur liel~ sich nicht genau untersuehen, doch sehien alles eher fiir eine Hyper- tonie als fiir eine Hypotonie zu sprechen.

Die anamnestisehen Daten waren sehr sp~rlich; fiber die Familie des Kran- ken war nichts zu erruieren ; bis zu seinem 14. oder 15. Lebensjahre war Pat. voll- kommen normal entwickelt, denn er war zu dieser Zeit wegen Verwahrlosung in einer Korrektionsanstalt, wo er sich dureh allerlei Ungezogenheiten besonders hervortat ; aus der-Korrektionsanstalt entlief er, trieb sich wahrscheinlich als Landstreieher herum; in dieser Zeit zwischen dem 15. und 17. Lebensjahre mul3 die BewegungsstSrung eingesetzt haben.

Eine genaue Aufnahme des psychischen Status war natiirlich nicht dureh- fiihrbar, eine wesentliehe EinbuBe der Intelligenz war aber seinem Benehmen nach nieht anzunehmen; Pat. verstand alle Fragen und Aufforderungen, er hatte sich auch sehr bald in der Klinik orientiert; wo er konnte, neckte er W~rter und Kranke, von den letzteren mit grofler Vorliebe die Dementen, weil diese auf seine Neekereien gar nicht mehr aktiv reagierten; bei diesen l~eckereien sistierten die Kr~mpfe, so wie bei dem schon erwKhnten Diebstahl. Sonst war Pat. sehr reiz- bar und b5se, geriet leicht in Wut, briillte dann, schlug und bifl um sieh, und wenn er nieht anders konnte, so r~chte er sich an den W~rtern damit, dab er das Zimmer mit Urin oder auch gar mit Kot verunreinigte.

Im Laufe der Beobachtung wurde die BewegungsstSrung immer st/~rker und intensiver und hSrte aueh dann, wenn Pat. sich nicht beobaehtet w~hnte, nieht mehr auf; sehlieBlieh blieb die Muskulatur in einer tonischen Spannung, der KSr- per verblieb oft l~ngere Zeit in bizarren Stellungen, die Kr~mpfe wurden lang- samer, aber intensiver und steifer, die Nahrungsaufnahme war so behindert, daB er nur Fliissigkeiten sehlueken konnte, schliel31ich versehluekte er sieh auch dabei nnd mul3te mit der Sonde gefiittert werden; er ging dann an einer chronischen Lungentuberkulose am 15. Mai 1908 im Alter yon 21 Jahren zugrunde.

Das Gehirn wog im formolfixierten Zustande 1500 g, und ersehien von aul3en in keiner Weise pathologisch verandert. Auf dem Horizontalsehnitt durch die Bemisph/~ren zeigt sich beiderseits eine sehr auffiilhge Ver/inderung des Globus pallidus; dieser ist stark verkleinert, sieht wie zusammengesunken aus und f~llt dureh seine br~unliche Verf~rbung auf (Tafel XVI). Die Verfarbung ist in den

1) Die BewegungsstSrungen wurden auch seinerzeit kinematographiseh auf- genommen.

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vorderen Partien am intensivsten und 1/s nach hinten allmhhlich aus; das Ge- webe des Globus pallidus ist aber dabei sonst yon gleichm~Biger Beschaffenheit und weist keinerlei fiir Erweichungen oder Blutungen sprechende Liieken auf.

Das iibrige Gehirn erseheint makroskopisch ganz normal, auch das Kleinhirn erweist sich in keiner Weise ver~ndert.

Zur mikroskopischen Untersuchung wurden Stiickchen aus verschiedenen Gegenden der Hirnrinde entnommen, mit den wichtigsten Methoden (Glia-, Nissl-, Bielschows ky- , Os miu m- und Markscheidenf~rbung) untersucht und ganz normal befunden.

Das iibrige Gehirn wurde im ganzen chromiert, in Celloidin eingebettet und in ttorizontalschnittserien yon 40--60 ~ zerlegt; nur eine ganz diinne Seheibe des Linsenkerns, der inneren Kapsel und der angrenzenden Teile des Thalamus und Nucleus caudatus wurden unchromiert in Celloidin eingebettet. Da man nach dem makroskopisehen Befund am ehesten an eine grSbere Herdl~sion - - vielleieht an eine Blutung - - denken muBte, so wurde das Hauptge~ieht auf eine liiekenlose Serie gelegt; deswegen wurde es auch unterlassen, einzelne Stiiekchen der er- krankten Linsenkernpartie mit Osmium zu behandeln und nach Bie lsehowsky zu f~rben.

In den nach W e i g e r t gefis Horizontalschnitten zeigte sich die Atrophie des Nucleus lentiformis sehr deutlich ausgepr/~gt, wie dies auf der Tafel X V I I zu sehen ist, wo sich zum Vergleiche auch ein analoger Horizontalschnitt durch ein normales Gehirn befindet. Beide Photo- graphien ents tammen 50 # dicken Schnitten bei 1 l/2facher VergrSBerung. Es mul3 noch bemerkt werden, dab die Hemisph~ren dieses Falles im Vergleiehe zu dem normalen Fall etwas kleiner sind, indem namentlich das Marklager schmKchtiger entwickelt ist; diese Differenz t r i t t jedoch im Verh~ltnis zur Differenz der Linsenkerne ganz in den Hintergrund. An der Atrophie des Linsenkernes sind seine beiden Hauptbestandtei le nicht gleichm/~Big beteiligt. Es ist zwar das Putamen auch merklich kleiner, doch ist diese Atrophie im Verh/~ltnis zu der des Globus pallidus, der etwa um die HKlfte kleiner erscheint als im normalen Pr~parat , recht gering. Dabei ist der Globus pallidus im allgemeinen sehr mark- arm, und die Markarmut wird nach vorne immer intensiver, so dab der vorderste Abschnitt beinahe so blab gefKrbt ist wie das Pu tamen; es ist dies dieselbe Stelle, welche am ungefis Pris die st/~rkste Braunf~rbung aufweist. Weiter fiillt es auf, dab auch der Thalamus opticus und die innere Kapsel deutlich verschm/ichtigt sind, dab da- gegen der Nucleus caudatus keinerlei Verkleinerung aufweist.

Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigt sieh der atrophische Globus pallidus in folgender Weise ver~ndert.

Die geringere Schw~rzung im Weigertpr/iparat ist nicht nur durch eine hochgradige Verminderung, sondern auch durch eine Verschmi~ch- tigung der durchziehenden Markfasern bedingt. Die Ganglienzellen zeigen eine ganz sonderbare Veris sie sind im Nisslpr~parate durchwegs vergrSBert und kugelig aufgetrieben. Den geringsten Grad dieser Ver/~nderung zeigt Tafel X X I Fig. 1 a : in dem aufgetriebenen, rund-

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lichen Zelleib liegt ein deutlich geschwollener Kern mit vergrSBertem Nucleolus; im Plasmaleib liegen massenhafte feinste KSrnchen, die eine hell opakblaue Farbe angenommen haben und dazwisehen etwas dunkler gef~rbte, grSBere, kugelige (also wohl trSpfchenartige) Gebilde. J~hnlieh verKndert ist auch die Zelle Fig. 1 b, dech enthi~lt hier der Zell- leib nur die feinen, hellen KSrnchen. Fig. 3 entsprieht einer Ganglien- zelle, deren Zelleib eine unregelmKBig zerfranste Begrenzung hat und deren Plasma vom Kern etwas abgehoben ist, mehrere vakuolenartige Aufhellungen aufweist und dicht angeh~uft die feinen, blaBgef~rbten KSrnchen enth~lt.

Auf Fig. 2 ist eine Ganglienzelle abgebildet, die sieh von den bisher beschriebenen dadurch unterscheidet, dab der Kern keine scharfe Ab- grenzung zeigt, und nur als heller Hof um den stark geschwellten Nucleo- lus zu erkennen ist; am hnken Polder Zelle finden sich zusammengeh~ufte KSrnchen von tier dunkelblauer Farbe und verschiedener GrSBe, die sich von den friiher besproehenen KSrnchen besonders dadurch unter- scheiden, dab sic keine TrSpfchenform haben, sondern unregelm~Big und kriimelig aussehen. Nieht iiberall sind diese kriimeligen KSrnchen so dunkelblau gefKrbt, stellenweise zeigen sie eine hellere Farbe mit einer griinlichen Nuancierung.

Fig. 4 zeigt eine Zelle mit einem lang verzogenen Zelleib und einer Menge der trSpfchenartigen, verschieden stark gef~rbten KSrnchen; der Kern ist ebenfalls in die LKnge gezogen und zeigt nichts, was an einen Nucleolus erinnern wiirde.

In :Fig. 5 sieht man eine bl~uliche Masse, die von denselben verschie- den intensiv gefKrbten KSrnchen erfiillt ist; es diirfte dies wohl dem Plasmaleib einer untergegangenen Zelle entspreehen.

Fig. 6 sehen wir eine Bildung, die wir als die :Folge eines noch weiter gediehenen Zerfallprozesses einer Ganglienzelle ansehen miissen; ein dichter Klumpen trSpfchenartiger KSrnchen liegt hier im Gewebe, ohne dab yon dem Zelleib etwas zu sehen w~re, so wie wenn der Zelleib, in dem die KSrnchen ursprfinglieh gelegen waren, seine :FKrbbarkeit verloren und die KSrnchen ihren rKumlichen Zusammenhang deeh be- wahrt h~tten.

Am ungef~rbten Pr~parate resp. lm leicht mit Carmin angef~rbten Sehnitte sind die meisten Ganglienzellen aus dem Grunde brgunlieh gefgrbt, weft die kriimeligen KSrnchen eine intensiv goldgelbe Farbe aufweisen, wogegen ein Teil der trSpfchenfSrmigen KSrnehen - - und zwar die im Nisslpr~parate intensiv sich f~,rbenden- nur hellgelb sind. Die blaBblauen K5rnehen des Nisslpr~parates seheinen keine Naturfarbe zu haben.

Sonst ist die Substanz des Globus pallidus sehr reich an dunkel sich f~rbenden Gliakernen, deren Zelleib sich aber weder im Nisslpr~parate

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noch im tt~matoxylin- oder van-Giesonpr/iparate f/irbt. Viele dieser Zellen enthalten als Einschliisse KSrnchen, welehe mit den kriimeligen KSrnchen der Ganglienzellen vollkommen identisch sind; sie sind gold- gelb, kriimelig und f/irben sich mit Methylenblau tiefblau oder dunkel- griin. Diese KSrnchen liegen entweder ganz sp/~rlieh um die Kerne oder in dichteren Ansammlungen; man findet Zellen, in denen die KSrnehen dieht konzentriseh den Kern umsehlieften; weiter gibt es Gliakerne, um die die KSrnchen versehiedene unregelm/iBige, meist sternfSrmige Ansammlungen bilden, aus weleher Anordnung man wohl ersehliel~en kann, dab der zu diesen Kernen gehSrende Zelleib ebenfalls eine Stern- form haben mul3 (Tafel XXI, Fig. 1, 2 und 6 bei *). Diese sternfSrmigen Formen erinnern in vielem an die Abbildungen yon Alzhe imer (Bei- trs zur Kenntnis der pathologischen Neuroglia und ihre Beziehungen zu den Abbauvorg~ngen im Nervengewebe, Histologische und Histopatho- logisehe Arbeiten Bd. III, Tafel XXXI), die sternfSrmige mit fibrinoiden Granulis beladene Gliazellen darstellen; die Anordnung in den Gliazellen ist eine i~hnliche, wenn such die Granula selbst chemiseh ganz different sind (eine Art von Pigment in unserem Falle). Stellenweise gibt es such solehe KSrnehen, welehe in kleinen, rundliehen und lg, ngliehen Gruppen liegen, die scheinbar in keinerlei Beziehung zu einem Kern stehen, doch diirften sic am ehesten abgeschnittenen Zellforts/itzen entsprechen. Dann gibt es noch in Klumpen zusammengeballte KSrnchenhaufen, in deren Mitre man oft nur mit Miihe einen Zellkern erkennt; diese Zellen sind etwas dunkler gef/s und springen such schon bei ganz sehwacher VergrSBerung als dunkle Punkte in die Augen (Fig. 7).

An der Grenze des Globus pallidus zur inneren Kapsel finden sieh eigenartige KSrperchen, welche mit reichlichen FettkSrnchen gefiillten KSrnchenzellen/ihneln; in den zwischen den FetttrSpfchen befindlichen schmalen Plasmabriieken liegen ganz feine, mit Methylenblau sehr dunkelgefiirbte KSrnchen, welehe sonst im Gewebe nicht zu sehen sind. Manche dieser Zellen enthalten such keine Kerne mehr (Fig. 8).

Die meisten der mit KSrnehen roll gefiillten Gliazellen finden sich in der Ns der Gef/~l~e ; freie und nicht in Zellen eingeschlossene Abbau- produkte dieser Art - - denn als solche sind die KSrnchen wohl aufzu- fassen - - finden sich nur selten in den perivaseuls Rs (Fig. 9).

In den H/s fallen sonderbare knollige KSrper- chen auf, welche auf Fig. 10 dargestellt sin; es sind dies intensiv violett- gefs an der 0berfls stark gl/inzende, rundliche, 1/ingliche oder knollige Massen, die im ungef/irbten Pr/iparate entweder ganz farblos sind oder einen br/iunlichen Anflug haben; im ungefiirbten Pri~parate ist der Glanz noch viel intensiver als im gef/irbten. Nach diesem Glanz und in dem Verhalten bei der H/~matoxylinfs mul~ man sic als Kalkkonkremente ansprechen; zu dem vollkommenen Beweis wKre

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eine mikrochemische Reaktion notwendig gewesen; diese war aber nicht durchfiihrbar, da das ganze Gehirn vor dem Einbetten und Schnei- den entkalkt worden war, ein Verfahren, welches ich bei jedem in Serien- schnitte zu zerlegcnden Gehirne anwende, um das Messer vor eventuellen kleinen Kalkeinlagerungen zu schiitzen. Diese Konkremente entstehen wahrscheinlich aus Konglomeraten kleinster KSrnchen (Fig. 10); wenn man diese Bilder nebeneinander bctrachtet, so kommt man wohl mit Recht zu der Auffassung, sie als Phasen einer Entwicklung anzusehen, die sich so abspielen diirfte, dab die einzelnen inkrustierten KSrnchen, durch weitere Kalkauflagerungen zu kleineren Kugeln und sps zu grSl~eren verschieden geformten Knollen zusammenflieBen. Auf Grund des Vergleiches von ungefs H~matoxylin- und Methylenblau- pr~paraten scheint es mir nun sicher zu sein, dab sieh diese Inkrusta- tionen aus den auf Fig. 7 dargestellten runden und mit den kriimeligen Massen vollgefiillten Gliazellen entwickeln. Die verkalkten KSrnchen und Massen haben niimlich im Nisslprs eine griinliche Farbe und einen st~rkeren Glanz und zeigen s Formen wie im Hs toxylinpr~parate, lassen sich aber deswegen, weil der Glanz hier das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist, im Bride nicht so darstellcn.

Bei der Markscheidenfi~rbung nach W e i g e r t erscheinen die kriimeligen Granula und die Kalkkonkremente schwarz gef~rbt.

Eisen war weder in den Pigmentansammlungen noch in den Kon- krementen nachweisbar.

Die be sp rochene h i s to log i sche V e r s b e s c h r s sich nu r auf den Globus pa l l idus beider H e m i s p h s und einige Fleckchen grauer Substanz, welche in der inneren Kapsel zwischen dem Globus pallidus und dem Nucleus eaudatus eingestreut ist. Die anderen Teile der basalen groBen Ganglien sind histologisch normal.

Der geschilderte anatomisehe Befund ist nun in doppelter Hinsieht sehr bemerkenswert :

1. Durch die ganz eigenartige histologische Ver~nderung; 2. durch deren Beschrs auf die inneren Teile der Linsenkerne

und deren symmetrische Verteilung der Hemisphs Der ErkrankungsprozeB als solcher ist im allgemeinen als ein chro-

nisch progressiver DestruktionsprozeB der Ganglienzellen und der Mark- fasern aufzufassen; Ganglienzellen und Markfasern gehen zugrunde; yon den Markfasern kSnnen wir nichts mehr aussagen, als dab sie ver- mindert und verschm~chtigt sind; an den Ganglienzellen sehen wir abe r Ver~,nderungen, welche fiir deren langsamen Untergang sprechen. Die Erkrankung der Ganglienzellen besteht in einer Aufbls des Zell- leibes unter Bildung von kSrnigen Massen, die man nicht anders als Abbauprodukte im Sinne Alzhe imers auffassen kann. Da nieht alle notwendigen Tinktionsmethoden angewendet werden konnten, ist eine

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472 0. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage tier Athdtose double

geniigende Charakterisierung dieser Stoffe nieht mSglich, auf Grund der angewendeten Methoden lassen sich aber immerhin 3 Arten unter- scheiden:

1. Feine farblose, mit Methylenblau nur schwach sich fiirbende trSpfehenartige Gebilde;

2. grSBere, leieht gelblich tingierte mit Methylenblau wesentlich dunkler gef~rbte TrSpfchen;

3. gelbliehbraun gef~rbte, gl~nzende, mit Methylenblau griinliehblau bis tief dunkelblau sieh f~rbende kriimelige Massen.

Unter Bildung dieser Abbauprodukte geht die Zelle zugrunde, worauf es zum Abtransport derselben kommt; die sub 3 genannten Abbau- granula werden in Gliazellen aufgenommen und abtransportiert (fiber das weitere Sehicksal der anderen zwei Produkte war aus unseren Priiparaten niehts zu ersehliel~en); ein Tell der so beladenen Gliazellen gelangt in die Lymphscheiden der Gef~l~e; ein Teil bleibt aber liegen und wird dureh Kalkinkrust~tionen zu feinsten Kalkkonkrementen.

Ein solcher Destruktionsvorgang im Zentralnervensystem ist meines Wissens noeh nieht bekannt. Eine gewisse J~hnliehkeit diirfte aber dieser Prozel3 nur mit der Zellerkrankung bei der Tay -Saehs schen Idiotie und bei anderen heredit~ren Erkrankungen des Nervensystems habenl), indem hierbei die Ganglienzellen auch unter Aufbli~hu~g des Zelleibes und Bildung trSpfehenartiger, pigmentierter Abbau- produkte zugrunde gehen. Vielleicht h~tte man noch weitere J~hnlich- keiten auffinden kSnnen, wenn es mSglich gewesen w~re, die friiher er- w~hnten histologischen Methoden anzuwenden. Je d e n fa l l s h a b e n wir e i n e n ProzeI] su i g e n e r i s vor u n s , de r noch d a d u r c h b e s o n d e r s b e m e r k e n s w e r t e r s c h e i n t , da~ er s ieh s t r e n g u n d s y m m e t r i s e h a u f d e n G l o b u s p ~ l l i d u s b e i d e r L i n s e n - k e r n e b e s c h r ~ n k t . Diese eigenartige Lokalisation einer chronisch progressiven Erkrankung, fiir die wir kaum eine erw~hnenswerte Er- kl~rung haben, ist nun, da andere pathologische Ver~nderungen fehlten, als die einzige Ursache der chronisch progressiven doppelseitigen Athe- tose anzunehmen. Den bisherigen Erfahrungen widersprieht die Lokali- sation nicht, da bereits mehrfach F~lle bekannt geworden sind, bei denen sieh auf Grund von Linsenkernaffektionen Chorea resp. Athetose ent- wiekelt hat.

2. Fall2). P r o g r e s s i v e P a r a l y s e m i t r e c h t s s e i t i g e r H e m i -

1) Vgl. Str~u~ler: Uber Entwicklungsstiirungen im Zentralnervensystem bei der juvenilen progressiven Paralyse und die Beziehungen dieser Erkrankung zu den heredit~ren Erkrankungen des Zentralnervensystems. -- Diese Zeitschr. 2. 1910.

u) Der Fall wurde aus anderen Griinden yon Str~u~ler in der Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 2~', Heft 1 unter dem Titel: ,,~ber 2 weitere Fhlle yon Kom-

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und der posthemiplegischen Bewegungsst~rung tiberhaupt. 473

p leg ie , l i n k s s e i t i g e r O c u l o m o t o r i u s l ~ h m u n g u n d h e m i a t h a - t o t i s c h e n B e w e g u n g e n in de r p a r e t i s c h e n K 5 r p e r h g l f t e . E n c e p h a l i t i s c h e Z e r s t S r u n g e n des N u c l e u s r u b e r t e g m e n t i u n d de r u n t e r e n Tei le des T h a l a m u s u n d L i n s e n k e r n s de r l i n k e n Sei te .

46j~hriger c ~ - - vom 8. M~rz 1907 - - 11. April 1908 in Beobachtung der Klinik. Es handelte sich um eine typische progressive Paralyse, in deren Verlaufe eine alternierende rechtsseitige Hemiplegie entstanden war in der Form einer typischen rechtsseitigen Extremit~tenl~hmung mit einer vollkommenen Paralyse aller yore linken N. oeomolorius innervierten Muskeln. Die Gesichtsmuskulatur war dabei nicht merklich different, die Sensibilit~t intakt, die Sehnenreflexe durchwegs ge- steigert (erst sparer verschwanden die Patellarsehnenreflexe), rechts B abins k i. In dem paretischen rechten Arm traten schon bei gewShnlichen, besonders aber bei feineren Bewegungen, ausfahrende Nebenbewegungen auf, welehe sich manch- mal zu ganz grobem Schiitteln steigerten. H~ufig bewegten sich auch in der Ruhe die Finger der rechten Hand in einem unregelm~Big langsamen Durcheinander, woraus oft bizarre Handstellungen resultierten. Einigemale setzten diese Bewe- gungen der Hand in st~rkerem MaBe ein und maehten den Eindruck yon mehr krampfartigen Zuckungen, wobei es vorkam, da~ sieh auch die rechte Gesichts- seite und der rechte Ful3 an diesen langsamen aber dennoch intensiven Zuckungen beteiligten.

Bei der anatomischen Untersuchung land sich aul~er einer diffusen paralytischen Hirnrindenerkrankung eine eigenartige Herderkrankung im Hirnstamme, die in Form eines l~nglichen Wulstes den Hirnstamm durchzog, in dem sie yon der HShe der Vierhiigel bis vor die vordere Kommissur - - also bis an die Basis des Stirnhirns - - sich erstreckte. In der Vierhiigelgegend war die Gegend der Schleife, der Bindearm mit dem roten Kern, und der mediale Tell des HirnschenkelfuBes mit dem austretenden Oculomotorius zerst5rt, welter vorne die unteren Teile des Thalamus opticus und Nucleus lentiformis. Der Herd, der sich histologisch als eine besondere Form einer entziindlichen Destruktion darstellte, wurde yon St r~ul~ler als eine besondere Art yon Encepha- litis angesehen, die wohl mit der Lues des Tr~gers in irgendeinem histo- logisch nicht recht nachweisbaren Zusammenhang gewesen sein diirfte.

3. Fall. P r o g r e s s i v e P a r a l y s e m i t l i n k s s e i t i g e r H e m i - cho rea . A n a t o m i s c h s t a r k e A t r o p h i e de r r e c h t e n H e m i s p h ~ r e , wobe i de r T h a l a m u s u n d de r G l o b u s p a l l i d u s des L i n s e n - k e r n e s a m s t g r k s t e n e r g r i f f e n s ind .

39j~hriger c~. - - Vor 14 Jahren luetische Infektion, die wiederholt spezifisch behandelt wurde. Beginn der Paralyse vor 4 Jahren mit Demenz unter zirku- lgrem Verlauf; vor 1 Jahr mehrfaeh epileptiforme Anfglle, die vornehmlich die linke Seite betroffen hatten und eine linksseitige L~hmung zuriieklie~en.

In klinischer Beobaehtung seit 1. Januar 1908 bis 9. September 1909. Es be-

bination eerebraler gummSser Lues mit progressiver Paralyse" publiziert, wes- wegen bier aus der Krankengesehiehte nur das fiir unsere Frage Wichtige erw~hnt werden soll.

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474 O. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Ath6tose double

stand das Bild der typischen progressiven Paralyse mit weit vorgeschrittener stumpfer Demenz.

Somatisch: stark abgemagert; Pupillen ohne StSrung; cerebrospinale Pleo- eytose mittlercn Grades; linksseitige Hemiparese mit lebhaften, nicht differenten Sehnenreflexen und ohne B abinski; linksseitige Hemihyp~sthesie und Hemi- hypalgesie.

Sehr auff~llig ist das Verhalten des deutlich paretischen linken Armes: wenn Pat. ruhig im Bert liegt, so h~lt er st~ndig die linke Hand mit der rechten; l~Bt er die Hand los, dann ger~t sie sogleieh in ein grobschl~giges Zittern; wird er auf- gefordert, die Hand naeh vorw~rts zu strecken, so werden beide H~nde zuerst ruhig vorgestreckt, wobei die llnke immer etwas tiefer steht als die reehte; all- m~hlich ger~t aber die linke Hand zuerst in feinere, dann immer grSber werdende ausfahrende Bewegungen. Diese Bewegungsst5rung wird besonders stark, wean man den Pat. zu komplizierteren und feineren Aktionen der Hand veranlal~t; auch dann setzt die verlangte Bewegung ziemlich ruhig ein, aber allm~hlich ger~t die Hand in ein so grobes Wackeln, dal] es dem Pat. ganz unmSglich wird, die verlangte Bewegung ganz durehzufiihren.

Die Demenz und Stumpfheit steigerte sich allm~hlieh so, dal3 Pat. ganz un- zug~inglich wurde. 20.--28. April 1908 traten mchrmals epileptiforme Krgmpfe der linken KSrperseite auf, an die sich die zuerst von Kemmler 1) beschriebenen und dann von mir e) n~her studiertcn kurzen rhythmischen Zuckungen der Ex- tremit~ten von oft stundenlanger Dauer anschlossen. Daraufhin verst~rkte sich die Hemiparese und das Zittern und die ausfahrenden Bewegungen sistierten voll- kommen. Es entwickelte sich dann eine ]inksscitige ttemianopsie, sp~ter traten epileptiforme Anf~lle der rechten Seite auf und schlieBlich ging Pat. in tiefster VerblSdung am 19. September 1908 zugrunde.

Das Gehirn ist im allgemeinen stark atrophisch und hat im formol- fixierten Zustande ein Gesamtgewicht von 1180 g; dabei ist die rechte Hemisphere wesentlich kleiner, wiegt 406 g, wogegen die linke 520 g wiegt. Die Hemisph~ren wurden nach Celloidineinbettung in Horizon- talschnittserien zerlegt und die Sehnitte mit der W e i g e r t s c h e n Mark- scheidemethode gefgrbt. An den Sehnitten (Tafel X V I I I u. XIX) zeigt sich die starke Verkleinerung der rechten Hemisphgre in allen ihren Tei- len; es f~llt nur auf, da~ der Linsenkern und der Thalamus optieus ver- h~iltnism~Big starker atrophiert sind als die anderen Hirnteile, wogegen der Nucleus eaudatus eigentlich kaum als atrophisch bezeichnet werden kann; im Linsenkern selbst sind dcssen beide Teile auch nicht in gleieher St/irke atrophiert, denn der Globus pallidus erscheint viel kleiner als das Putamen. Diese Verkleinerung der einzelnen Stammganglien sieht man nicht nur an den einzelnen Schnitten, sondern aueh bei Ver- folgung der Serie, da der Thalamus und Linsenkern eine viel geringere HShe einnehmen als auf der Gegenseite.

Die Capsula interna ist stark versehm/ilert, und dementspreehend findet sich auch im Riickenmark eine starke Differenz der Pyramiden- bahnen.

1) Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik in Breslau. 1895. ~) Monatsschr. f. Psych. u. Neuro]. 2J, H. 3.

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und der posthemiplegischen BewegungsstSrung tiberhaupt. 475

Histologisch zeigt sich das typische Bild der progrcssiven Paralyse

mit reichlichem fleckweisen Markschwund und in den Zen t ra lwindungen

der rechten Hemisphi~re stellenweise spongiSser Rindenschwund.

4. Fall. P o s t h e m i p l e g i s c h e P a r a l y s i s a g i t a n s de s l i n k e n

A r m e s . A n a t o m i s c h a l t e E r w c i e h u n g s c y s t e de s N u c l e u s

l a t e r a l i s de s r e c h t e n T h a l a m u s o p t i c u s .

70j~hriger (:~ - - der vor 10 Jahren auf der linken Seite vom Schlage getroffen wurde; allm~hlich besserte sich die L~hmung, so dab es zu einer vollkommenen Restitution der Motilit~t kam, es blieb nur ein Zittern der linken Hand zuriick;

leig. 1. Nach Weig er t gef~trbter Frontalschnitt aus der rechten Hemisphiire des Fallcs 4. Alte Erweichungscyste im Nucleus

lateralis des Thalamus.

vor 4 Monaten ein zweiter Schlaganfall, worauf eine sensorische Aphasie ver- blieb.

In kl~nischer Beobachtung vom 6. Juni bis 11. Juni 1910: Der Kranke bot das Bild einer sensorischen Aphasie ; Pupillen normal; die linke Gesichtsh~lfte zeigte eine ganz leichte Parese, wogegen die Kraftleistung der Arme, wenn anch gering, so doch nicht different erschien, der linke Arm war dabei in leichter Contractur- steUung, die Finger der linken Hand waren so aneinander geschlossen, dab fast eine Geburtshelferstellung resultierte; dabei befand sich die Hand und der Unter- arm - - anch bei vollkommener Ruhe des Patienten - - in einem st~ndigen grob- schl~gigen Zittern, das bei intendierten Bewegungen intensiver wurde.

An den Beinen keine merkbaren Paresen, lebhafte, nicht differente Sehnen- reflexe, linksseitiger Bab in sk i . Der Kranke starb an einer Bronchopneumonie.

Mikroskopisch war das Gehirn normal . An frontalen Ser ienschni t ten

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476 O. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athdtose double

durch die Hemisph/s zeigte sich im rechten Tha l amus opt icus eine

a l te Erweichungscys te e twa in de r Mitre des Nucleus la tera l i s (Fig. 1); die Capsula i n t e rna war ganz in t ak t , auch war keine L ich tung der P y r a - m idenbahn zu kons ta t i e ren . Andere H e r d e r k r a n k u n g e n bes t anden nicht . I n der R inde fand sich ein ganz a k u t e r spongiSser R indenschwund , de r a m sti~rksten den l inken Schl/ i felappen ergriffen und auf diese Weise zur Aphas ie gef i ihr t ha t te . (Von diesem Ges ich t spunkte aus wurde der Fa l l yon mi r publ iz ie r t als Fa l l 11 in de r Arbe i t , ,Der spongiSse

Rindenschwund , ein besonderer Des t ruk t ionsvorgang der H i r n r i n d e " in dieser Zei tsehr i f t 7, 1. 1911.)

5. Fa l l . A k u t e n t s t a n d e n e r l i n k s s e i t i g e r H e m i b a l l i s m u s .

A n a t o m i s e h f r i s c h e B l u t u n g i n d a s r e c h t s s e i t i g e C o r p u s

s u b t h a l a m i c u m .

72jahrige Q - - wurde am 19. August 1907 friih hilflos vorgefunden und so- fort in die Klinik eingeliefert; sie war naeh den Angaben der Umgebung tags vor- her noch ganz gesund, eine Liihmung hatte nicht bestanden.

Das Auffallendste an der Pat. ist die hochgradige Unruhe; auch wenn sic sich selbst iiberlassen im Bette liegt, befindet sich die ganze linke K6rperseite in st~ndiger Bewegung; am starksten ist der linke Arm beteiligt: in versehiedener Weise wird er herumgeworfen, in die HShe, naeh vorne, zur Seite in diversen manehmal ganz blitzartigen, unregelmis Bewegungen gesehleudert. Die Sehulter ist an diesen Bewegungen ebenfalls, wenn auch in geringerem Grade, be- teiligt; die Finger werden in sehnellem Tempo gebeugt, gestreekt, gespreizt und nehmen dabei ganz bizarre Stellungen ein; die Bewegungen der Finger sind so, wie die der Schulter, viel langsamer als die des Armes.

Der Kopf und Hals werden meist im Sinne einer linksseitigen Drehung oder Neigung bewegt, aber in viel schwi~cherem Mafle und in 1/ingeren Abst~nden als die obere Extremitat; etwas stiirker ist die Beteiligung tier Gesiehtsmuskulatur: der Mund wird unwillkiirlich geSffnet (mit Priivalieren der linken H~lfte), der Unterkiefer seitlieh bin und her bewegt, die Zunge im Munde herumgew/~Izt und die Gesichtsziige grimassenartig verzogen, wobei die linke Gesichtshalfte immer eine sti~rkere Beteihgung zeigt.

Die Unruhe der unteren Extremiti~ten besteht in unregelms wirr dureh- einander gehenden Beuge- und Streekbewegungen der Zehen, in Rotationen des Fuges, in Bewegungen des Knies und der ttiiften; alle diese Bewegungen sind jedoch viel sehw~cher als die der oberen Extremitaten, so schwach, dal~ sie das Bein yon der Unterlage nieht einmal abheben kSnnen; am deutliehsten sind die Bewegungen der Zehen, am sehws die der Hiifte.

Die Stammmuskulatur ist aueh beteiligt: die Kranke ws sieh im Bette hin und her, ohne da$ man aber eine starkere Beteiligung der Muskeln der linken Seite bemerken konnte.

Wenn die Pat. irgendeine motorische Aktion, gleiehgiiltig welcher Art, aus- fiihren sell, wenn sie sich erheben will, sprechen sell, etwas erfaBt oder sieh zum Gehen anschiekt, dann werden die unwillkiirlichen Bewegungen viel starker und dabei manehmal so stiirmisch, dab es zu einem sehr krs Herumwerfen kommt, bei dem abet die reehten Extremits ganz ruhig bleiben.

Wenn die Kranke im Bette liegend sprieht, werden namentlieh die Bewegungen der Zunge und des Mundes lebhafter; dadureh wird die Spraehe verwaschen und kaum verst/~ndlich.

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und der posthemiplegischen Bewegungsst0rung tiberhaupt. 477

Im wachen Zustande hSren die Bewegungen gar nieht auf, nur ihre Intensit~t weehselt; erst vor dem Einschlafen werden sie allm~hlieh schw~eher und sistieren im Schlafe vollkommen.

S o m a t i s c h : Schw~chliehe, stark abgemagerte senile Kranke; die Augen mit Ausnahme einer leichten senilen Cataracta normal; eine Facialisdifferenz besteht nicht, die Zunge weicht nicht zur Seite, zittert nicht, die Kiefer sind vollkommen zahnlos ; der rechte Arm ist intakt, ziemlich kri~ftig, zeigt niehts von Ataxie. Wird eine motorisehe Aktion vom linken Arm verlangt, so versucht zwar Pat. die Be- wegungen auszuffihren, doch treten sofort die ehoreatischen Bewegungen in solcher St~rke auf, dab sie die gewollte Armbewegung vereiteln; erst nach mehr- fachem Hin- und Herschleudern des Armes gelingt es der Kranken sozusagen im Fluge die gewfinschte Bewegung auszufiihren. Die Untemuehung der groben Kraft ist dutch st~rkere Nebenbewegungen sehr erschwert; wenn es aber gelingt einen H~ndedruck oder eine kr~ftig gewollte Beugung oder Streekung zu erzielen, so f~llt dieselbe immer schw~cher als auf der recht~n SeRe aus; die grobe Kraft der unwillkiirhchen Bewegungen ist dagegen ziemlieh grog.

Die inneren Organe sind, soweit man bei der groflen Unruhe untersuehen kann, normal, die Bauchdecken schlaff, die Bauehreflexe fehlen; die Prfifung der groben Kraft ergibt, dab das linke Bein etwas sehw~cher ist als das rechte; der Patellar- reflex ist links starker, ebenso der Achillessehnenreflex; kein Fu~klonus, kein B a b i n s k i .

Pat. kann ohne Unterstfitzung fiberhaupt nieht gehen, dureh die choreati- schen Bewegungen ger~t sie in ein Sehwanken, welches sie gew5hnlieh naeh hinten zum Umfallen bringt; wenn sie unterstiitzt und geffhrt wird, so f~hrt beim Gehen das linke Bein nach allen Seiten aus.

Eine exakte Priifung der Sensibilit~t war bei der Pat. nicht durehffihrbar, es lie$ sich nur konstatieren, dal~ Nadelstiche am ganzen KSrper empfunden wur- den; fiber den Tonus der Muskulatur liel~ sieh ebenfalls nichts Sicheres fest- stellen.

Psychisch war die Pat. nicht alteriert, die Sprache war durch die Bewegungen des Mundes und der Zunge ersehwert und wurde nach einigen Worten vollkommen unverst~ndlich.

Der Zustand ~nd'erte sich nieht, und die Kranke ging nach 4t&giger Krank- heitsdauer an einem akuten ])armkatarrh am 22. August 1907 zugrunde.

Die Unte r suchung des Gehirns e rgab folgenden Befund: Das Gehirn is t e twas a t rophisch , die Meningen le icht verd ick t . An der un te ren Fl~che be ider S t i rn l appen von deren Spi tze bis e twa 1 cm vor die Fossa Sylvi i re ichend, dabe i beinahe die ganze Bre i te de r un te ren Fl~che ein- nehmend , l~ngliche, ziemlich symmet r i sche oberfl/s Defekte der Hi rn r inde ; die R inde fehlt dase lbs t vo l lkommen, der Defekt is t yon sulzigen und br/~unlich ve r fa rb ten Meningen i iberzogen. Eine ganz /ihnliche, ebenfal ls symmet r i sche Ver~nderung von e twa 2 qcm GrSl3e

l iegt an der Spi tze be ider Tempora l l appen ; e twas kleinere Defekte gleicher A r t und Gr56e l iegen d a n n noch in der vorders ten Pa r t i e der d r i t t en S t i rnwindung beidersei ts . Der H i r n s t a m m und die t t i r n n e r v e n

yon aul~en ohne Ver/~nderung. Das Kle inh i rn is t sehr s t a rk a t rophisch , der Nidus avis b i lde t eine

groBe weite Grube, in der eine Walnul~ bequem P la t z l inden kSnnte .

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478 O. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athdtose double

Die HemisphKren sind ungleich, die rechte viel kleiner als die linke, die Windungen springen stKrker als normal hervor; dem Aussehen nach diirfte die rechte Kleinhirnh/~lfte um etwa ein Viertel kleiner sein als die linke.

In der linken Kleinhirnh~lfte ist im Lobus biventer und Lobus

Fig. 2. Gehirn des Falles 5. Bei 1 Corpus subthalamium, bei 2 Substantia nigra Soemmeringii der linken Seite, da die obere Schnittflache photographier t ist. Das rechte Corpus subthala- mium ist dutch die Blutung zerstSrt; die Blu~ung erscheint hier grStter als in Wirklichkeit, well das benachbar te Gewebe dutch Blutfarbstoff imbiliert war und auf der Pla t te in gleicher

Nuance erschien wie die Blutung selbst.

post. inf. je eine l~ngliche etwa 1/2 qcm einnehmende Einsenkung der 0berfl~che, die yon br~unlich gef~rbten Meningen bedeckt ist.

Die basalen Arterien sind stark erweitert, verdickt und verkalkt. Dutch das in toto fixierte und zerteilte Gehirn wurde ein yon vorne

oben nach hinten unten gehender schiefer Schnitt gefiihrt, der so gerichtet war, daf~ er auch den Hirnschenkel, Pons und 0blongata in der Richtung

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und der posthemiplegischen BewegungsstSrung tib:erhaupt. 479

der Pyramidenfaserung traf. Dabei zeigte sich in der rechten subthala- misehen Region (Fig. 2) eine etwa fiber erbsengrol3e ganz frische Blutung.

Das Gehirn wurde dann nach Entkalkung chromiert, eingebettet, in Serien geschnitten und gef~rbt. Die Untersuchung der Schnittserie e rgab , dab die k le ine B l u t u n g das ganze Corpus s u b t h a l a m i - c u m der r e c h t e n Sei te und nur dieses betroffen hatt; die Blutung sal3 in dem Kern selbst, und man sah noeh deutlich die Aul3enfaseung desselben, die durch die Blutung etwas ausgeweitet worden ist (Tafel XX).

Eine sekund~,re Degeneration war bei der frischen, erst 4 Tage dauern- den Erkrankung nicht zu erwarten; es ist hervorzuheben, dab die Pyra- midenfaserung in ihrer ganzen L~nge intakt gefunden wurde.

Die oberfl~chlichen Rindendefekte des GroBhirns und Kleinhirns erwiesen sich bei der mikroskopischen Untersuchung als oberfl~chliche, alte Narben mit eingeschlossenem Pigment als Residuen des grSl3ten Teiles der alten Rindenerweichung.

Die beschriebenen 5 F~lle, bei denen es sich an und ffir sich um sehr seltene Erkrankungen handelt, sind entsprechend den eingangs er- w~hnten Forderungen einer genauen Untersuchung an Serienschnitten unterzogen worden; dadureh wurden Fehlerquellen, welehe die meisten F~lle der ~lteren Literatur aufweisen, vermieden, und unser MateriM scheint daher m. E. ffir die Lokalisationsfrage yon einer gewissen Be- deutung.

Die einfachsten Verh~ltnisse bietet wohl sicher Fall 5. Hier setzte die Hemiehorea ganz akut ein und dauerte nur 4 Tage; bis zum Tode der Pat., der nicht die Folge der Hirnerkrankung sondern einer schweren Darmerkrankung war; nur die im Gehirn vorgefundene ganz frische Blutung kann - - schon nach deren Alter - - die Ursaehe der Hemichorea gewesen sein; sic liegt nun in einem Gebiet, dessen Erkrankung nach B o nh o e f fe r am h~ufigsten fiir die Entstehung der Chorea in Betracht kommt. Alle bisher beschriebenen F~ille waren durchwegs ~ltere Er- weichungsherde, bei denen die Krampfzust~nde erst Slo~ter entstanden sind, so dab man immerhin annehmen konnte, dab die Chorea kein prim~res, sondern mehr ein sekund~res, in der Phase der Rfiekbildung des Herdes sich entwickelndes Herdsymptom sei. Nur ein erst kfirzlieh yon E c o n o m o besehriebener Fall (Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 12), der unserem Falle beinahe aufs Haar gleicht, beweist, daB die Hemiehorea als ganz selbst~ndiges Symptom aufzufassen ist, das unter Umst~nden sofort nach Entstehen des Herdes in Erscheinung tritt. E c o n o m o s Fall betrifft einen 71j~hr. ~ , der plStzlich an einer links- seitigen Hemiparese erkrankte, an die sieh am n~chsten Tage eine Hemi- chorea anschloB; Tod nach 9 Tagen; im Gehirn land sieh eine Blutung von KirschgrSl3e, die in der Regio subthalamica sitzend, die Substantia nigra Soemmeringii und das Corpus subthalamicum zerstSrt hatte. In

Z. f. d. g. Neut. u. Psych. O. VII. 32

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480 O. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athdtose double

unserem Falle ist die Blutung noch kleiner und betrifft das Corpus subthalamicum allein. Auf Grund diescs Befundes, welcher beweist, dab ein kleiner isolierter Herd im Bereich des Corpus subthalamicum Chorea erzeugt, eine Erkrankung, welche sonst nur durch eine Binde- arml~sion hervorgerufen wird, w~re man versucht, das Corpus subthala- micum als in das Bindearmsystem gehSrig anzusehen; fiir einen solchen Schlul~ scheint mir aber eine frische, wenn auch ganz kleine Blutung wegen des auf die Umgebung wirkenden Druckes nicht beweisf~hig genug. Jedenfalls spricht unser wie auch E c o n o m o s Fall fiir die Rich- tigkeit der B o n h o e f f e r s c h e n Theorie.

Auch im Fall 4 haben wir sehr einfache Verh~ltnisse vor uns: ein einziger kleiner alter Herd im Nucleus lateralis thalami mit einem Hemitremor, d e r n u r auf diesen einzigen Herd bezogen werden kann. Solch F~lle sind bisher nur in sehr beschr~nkter Zahl zur Untersuchung gelangt, denn soviel ich aus der Literatur ersehen konnte, sind bisher nur 5 F~lle von posthemiplegischem Hemitremor anatomisch untersucht worden, und bei allen werden nur makroskopische Befunde angefiihrt. In zwei Fi~llen ( G a l v a g n i , Rivista clin. 1883; L e y d e n , Virch. Arch. 29) waren Herde im Thalamus und bei drei F~llen (R a y m o n d, Etude anat. physiol, et clin. sur l'h6mich; D e m a n g e , Revue de m6d. 1882 und H e b o l d , Arch. f. Psych. 22) Herde in den ~ul3eren Partien des Linsen- kernes der Gegenseite gefunden worden. Diesen reiht sich unser Fall mit einem kleinen Herd im ~uBeren Tcile des Thalamus an.

Fall 2 und 3 zeigen keine scharf begrenzten Herderkrankungen und kSnnen deswcgen in keiner Weise als Bcweise angefiihrt werden; die anatomischen Ver~nderungen sind jedoch derart, dab sic in keiner Weise gegen die Bedeutung des Bindearmsystems sprechen wiirdcn. Im Falle 2 ist der Herd zu groB, er zerstSrt einen grol~en Teil des Thala- mus, Nucleus lentiformis und der Regio subthalamica, wobei auch ein Teil der Pyramidenbahn mit ergriffen ist, aber jcdenfalls zerstSrt er einen groBen Teil jenes Gebictes, welehe nach B o n h o e f f e r yon den in Betracht kommenden Fasern des Bindearmsystems durchzogen werden. Fall 3 reiht sich vollkommen an die bereits erw~hnten F~lle von Hemi- chorea bei Paralytikern an, bei denen man bisher immer eine starke Atrophie des Thalamus opticus gefunden hatte [vide A l z h e i m e r l ) , der auch einen solchen Fall beschreibt]; in unserem Falle ist zwar die ganze kontralaterale Hemisphere verkleinert, die Verkleinerung der basalen grof~en Ganglien aber unverh~ltnismiiftig ausgesprochen; dabei fiillt ein ungleichmKl~iges Verhalten auf; es ist n~mlich der Thalamus opticus atrophisch, der Nucleus caudatus dagegen nicht, und beim Nucleus lentiformis verhalten sich dessen beide Hauptteile verschieden. Der

1) Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progressiven Paralyse. Nissls histol, und histopathol. Arbeiten. Bd. I.

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und der posthemiplegischen BewegungsstSrung tiberhaupt. 481

Globus pallidus zeigt starke Atrophie, wogegen das Putamen kaum atrophiert erscheint. Die st/i, rkere Atrophie hat also Thalamus + Globus pallidus betroffen; das ist deswegen bemerkenswert, weil in ihrem Auf- bau die zwei Hauptteile des Nucleus lentiformis auch sehr verschieden sind und das Putamen darnach dem Nucleus caudatus, der Globus pallidus dem Thalamus n~her steht. Vielleicht findet sieh in dieser histologischen Verwandtschaft auch die Hauptursaehe der grol3en Differenzen in der Atrophie.

Wohl am interessantesten ist der Fall 1, schon deswegen, weil unsere Erfahrungen fiber die doppelseitige Athetose noch hSchst sp~rlich sind.

A priori kSnnte man annehmen, dab, wenn eine bestimmte Herd- erkrankung zu Hcmichorea resp. Hemiathetose ffihrt, eine doppel- seitige Herdaffektion derselben Lokalisation ein Krankheitsbild einer allgemeinen Chorea resp. Athetose machen kSnnte. Solche F~lle von doppelseitiger Choreo-Athetose sind auch bereits beschrieben worden.

Es sind dies folgende: K u r e l l a : Zentralbl. f. Nervenheilk. 1887, land als Ursache eine

multiple Pachymeningitis. E i sen lohr : Jahrb. der Hamburger Krankenanstalt 1896, h~lt

einen Herd im Halsmark als die Ursachc, und im Falle von R o s e n b a c h : Virch. Archiv 68 land sich bei einer tabischen Kranken

mit doppelseitiger Athetose der Extremit~ten ein einziger Herd im rechten Linsenkern.

Diese F~lle widerspreehcn nun scheinbar der Lehre yon der Be- deutung des Bindearmes ffir die Hemichorea, sie kSnnen aber in keiner Weise als Beweise angesehen werden, da eine genauere histologische Untersuchung des ganzen Gehirns nicht durehgeffihrt wurde.

Demgegeniiber wird von den folgenden F/~llen: Mi ih lendor f , Deutsches Archly f. klin. Med. 26, und May, Brit. med. Journ. 1874 berichtet, dal~ die doppelseitige BewegungsstSrung durch schwere Er- krankungen in der Briicke, in einem Falle durch einen Abscel3, im anderen durch einen Tumor hervorgerufen war. Beweisend sind auch diese F~lle keineswegs, da es sich um raumbeschr~nkende Prozesse gehandelt hatte, es lagen aber die Herde derartig, dal3 eine beiderseitige Bindearml~sion mSglich war.

Zu dieseu durch grobe anatomisehe ZerstSrungsprozesse hervor- gerufenen Erkrankungen stchen die F/~lle von An t on, Jahrbiicher f. Psych. 1896, und O p p e n h e i m und Cecile Vogt , Journ. f. Psych. u. Neur. 18 in einem gewissen Gegensatz.

Der Fall yon O p p e n h e i m - V o g t betrifft eine 24j~hrige Q, die seit ihrer Kindheit an einer typischen doppelseitigen Athetose mit schwerer Dysarthrie litt und an einer puerperalen Peritonitis starb (ihre bisher

32*

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482 0. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Athdtose double

lebende Mutter leidet an derselben Krankheit). Das Gehirn'war makro- skopisch normal, dagegen zeigte sich bei der mikroskopischen Unter- suchung :

1. eine sehr starke Atrophie des Nucleus lentiformis und caudatus, die sich streng symmetrisch in den beiden Hemisph~ren vor- fand,

2. eine eigenartige, im Weigertpr~parate erscheinende Marmorierung des Putamen beider Seiten, die darin ihre Ursache hatte, dal~ normales Grau mit einem Gewebe abwechselte, in dem die Gang- lienzellen vollkommen fehlten und welches dafiir sehr reich an Markfasern war.

Entziindliche Ver/inderungen fehlten, die E r k r a n k u n g m u 1~ t e als eine E n t w i c k l u n g s a n o m a l i e des Gehirns angesehen warden, die sich im Linsenkern lokalisierte. Da andere Vcr~nderungen fehlten, mul~ die doppelseitige Linsenkernerkrankung als die Ursache der Be- wegungsstSrung angesehen werden. Die Bedeutung dieses Falles liegt also vornehmlich in dem Beweis, dal] die Hcmiathetose nieht nur nach grSberen Hcrderkrankungen entstehen kann, sondern auch nach Ent- wicklungsanomalien, wenn dieselben derartig lokalisiert sind, da[~ das Bindearmsystem dadurch in seiner Funktion gesch~kligt wird.

Der Fall von A n t o n bezieht sieh auf einen 9j~hrigen (:~, bei dem seit dem ersten Lebensjahre auch eine doppelseitige Athetose bestand, und bei dem sich bei der Weigertf~rbung inselfSrmige Defekte der grauen Substanz beider Putamina gezeigt haben. Ant o ns Auffassung ging dahin, dal] die Defekte Reste eines vollkommen vernarbten throm~ botischen Destruktionsherdes sind; C 6cile Vogt glaubt nun, dab die Linsenkernver~nderung in dam Fall A n t o n kaum als Folge einer Er- weiehung angesehen werden kann, und dab man vielmehr dicse Linsen- kernver~nderungen als eine ~hnliehe Entwicklungsanomalie, wie in Vogts Fall, aufzufassen hgtte, wofiir, abgesehen von anderen yon Vogt angefiihrten Griinden, besonders auch die friihzeitige Entwicklung der BewegungsstSrung sprechen kSnnte.

Wenn diese Ansicht Vogts fiber A n t o n s Fall richtig ist, so wiirden diese F/s gegeniiber den vorher erw~hnten F~llen eine be- sondere Gruppe von doppelseitiger Athethose bilden, bei d e n e n die E r k r a n k u n g a n g e b o r e n ist und dureh eine im Linsenkern lokali- sierte Entwieklungsanomalie hervorgerufen worden ist.

Man findet nun in der Literatur noch F/~lle von Athetose double erw~hnt, die wohl schon nach der ganzen Entwicklung der Symptome weder in einer Entwicklungsanomalie noch in einer groben Erweichung oder Blutung ihre Ursache haben kSnnen, bei d e n e n die E r k r a n - k u n g weder a n g e b o r e n noch a k u t e n t s t a n d e n ist , s o n d e r n sieh ers t a l l m g h l i c h e n t w i c k e l t ha t t e .

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und der posthemiplegischen Bewegungssttirung tiberhaupt. 483

t I i g i e r demonstrierte im Jahre 1910 in der neurologisch-psychia- trisehen Sektion der Warschauer medizinischen Gesellschaft einen 26j~hrigen ~ , der seit dem 16. Lebensjahre an einer BewegungsstSrung leidet, die H i g i e r als Athetose double auffaBt; auch die Sprache des Kranken war stark gestSrt; die Krankheit war progredient.

Derselbe Autor demonstricrte im Jahre 1908 einen Kranken, der damals im 35. Lebensjahre stand und der seit seinem 13. Jahre an einer Athetose double mit starker StSrung der Sprache litt; bemerkenswert ist, dab ein Bruder des Pat. ebenfalls im 13. Lebensjahre an derselben BewegungsstSrung erkrankte.

Diese zwei F~lle H i g i e r s sind m. W. bisher nicht ausfiihrlich publi- ziert worden; eine ~hnliche Beobachtung habe ich auch sonst nirgends beschrieben gefunden, und auch von H i g i e r wird etwas Derartiges nicht erw~hntl). Unser Fall 1 reiht sich an diese F~lle von H i g i e r voll- kommen an; auch da handelt es sich um eine Erkrankung, welche im zweiten Dezennium einsetzt, die progredient ist und die auch die Sprache schwer seh~digt. Unser Fall ist nun anatomisch vollkommen gekl~rt: Das chronisch progressive Fortschreiten der Krankheit hat seinen Grund in dem chronisch progressiven DestruktionsprozeB der grauen Substanz des Globus pallidus, in Form einer bisher nicht bekannten Form der pigmentSsen Entar tung der Ganglienzellen mit dem selbstverst~nd- lichen Schwund des umgebenden Markgeflechtes; die Art des Prozesses bedingt die Art des Entstehens; die BewegungsstSrung selbst ist durch die doppelseitige Lokalisation in beiden Linsenkernen verursacht.

Darnach wfirde es scheinen, dab wir in den zwci F~llen yon H i g i e r und in unserem einen Fall Vertreter einer d r i t t e n G r u p p e v o r u n s h a b e n , e i n e r e r w o r b e n e n c h r o n i s c h - p r o g r e s s i v e n A t h e t o s e d o u b l e . Weitere Untersuchungen miissen zeigen, ob der in unserem Falle gefundene ProzeB ein Unikum darstellt, oder ob er ein Typus einer selbst~ndigen Krankheit ist. W~re letzteres der Fall, dann kSnnte man die doppelseitige Athetose in folgende drei Gruppen einteilen:

1. eine Gruppe yon Fi~llen, die dutch grSbere, doppclseitige Herd- erkrankungen (Blutung, Erweichung, Tumor, AbsceB), welche das Bindearmsystem treffen, bedingt sind;

2. eine angeborene Form, hervorgerufen durch eine Entwicklungs- anomalie - - nach den bisher bekannten F~llen - - beidcr Linsen- kerne;

1) Anmerkung bei der Korrektur: Lewandowsky erw~hnt in seiner Arbeit: Uber die BewegungsstSrungen der infantilen cerebralen ~Iemiplegie und Ath~tose double in der deutschen Zeitschrift fiir Nervenheilkunde Bd. 29 in einer An- merkung auf S. 363 ganz kurz einen (von mir bisher iibersehenen) Fall ,,von in der Entwickelung begriffener Ath~tose double bei einem 16jhhrigen C~, l:ei dem die StSrung bisher nut in den Beinen manifest war".

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3. eine erworbene, chronisch progressive Form, die sich in einer chronisch progressiven Erkrankung der Linsenkerne zeigt.

Wie ersiehtlich ist, passen alle unsere fiinf F~lle in den Rahmen der B o n h o e f f e r s e h e n Theorie, ia die F~lle 1, 4 und 5 kSnnen direkt als Beweis angefiihrt werden. Weiter ist ersichtlich, dab als grunds~tz- tiehe Bedingung fiir die Entstehung einer Hemichorea eine L~sion des Bindearmsystems anzusehen ist und dab die Art des Prozesses, der zu dieser L~sion gefiihrt hatte, nur eine sekund~re Bedeutung hat; denn die Natur des Prozesses, ob akut oder ehronisch entstanden, be- dingt nur das Entwicklungstempo der BewegungsstSrung. Nach dem bisher bekannten Material kSnnen Tumoren, Abscesse, Blutungen, Er- "weichungen und aueh Entwicklungsanomalien zur Hemichorea fiihren; man kann aber aueh in logischer Verfolgung des soeben Gesagten er- warten, dab auch Erkrankungen der in das Bindearmsystem eingereihten Ganglienzellen eine ~hnliche BewegungsstSrung hervorrufen kSnnen. Dies wird durch unseren Fall 1 bewiesen und durch Untersuchungen A l z h e i m e r s , die in einem Vortrage in der Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen und Irren~rzte in Baden-Baden am 20. und 21. Mai 1911 mitgeteilt wurden. A l z h e i m e r konnte n~mlich bei drei F~llen yon Chorea Huntington schwere Ganglienzellver~nde- rungen im Nucleus caudatus, Nucleus lentiformis und in dcr Regio sub- thalamica nachweisen; auch bei rheumatischer und septischer Chorea fanden sieh Erkrankungen in denselben Hirnpartien. Daraus folgt eben der SchluB, dal3 wohl alle choreatisehen und athetotischen Bewegungs- stSrungen auf Erkrankungen im Bindearmsystem zuriickzufiihren sind, was vielleicht auch fiir die Paralysis agitans anzunehmen sein wird; dafiir kSnnte die durch Thalamusherde hervorgerufene Hemiparalysis ~gitans sprechen.

Zum Schlusse mSchte ich noch ganz kurz eine klinische Beobachtung mitteilen, die sich auf einen F a l l p r o g r e s s i v e r P a r a l y s e m i t ge- k r e u z t e r C h o r e o a t h e t o s e bezieht.

6. Fall. 40j~hriger Hauptmann; Lues vor 9 Jahren; in meiner Beobaehtung vom 18. September 1909 bis 6. Februar 1910 und vom 24. September 1910 bis 29. April 1911 (Sanatorium Weleslawin bei I'rag).

Seit einigen Monaten megalomaniseh; typische Paralyse; Wassermann im Blute und Liquor positiv; cerebrospinale t'leocytose; Pupillenstarre, Spraeh- stSrung. Nucleinkur, in deren Verlauf sieh Pat. so besserte, dal~ man yon einer Heilung der Psychose sprechen konnte. Pat. versah durch 3 Monate wieder den Dienst als Truppenoffizier. Im ManSver sttirzte sein Pferd mit ihm, wobei er ein Kopftrauma erlitt, und einige Tage darauf erkrankte er von neuem. 3 Wochen spgter wurde er in bereits sehwer dementem Zustande und mit starker Sprach- stSrung eingebracht. Somatisch: Pupillenstarre, Tremores, fehlende l~eflexe an den unteren Extremit~ten, ohne Romberg, ohne Ataxie.

Im l inken Beine zeigte sich eine eigenartige Bewegungsunruhe: wenn Pat. ganz ruhig im Bette lag, bewegten sieh die Zehen des Ful3es immerfort in unregel-

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und der posthemiplegischen Bewegungsst(irung ttberhaupt. 485

m~Bigem Tempo durcheinander, der FuB wurde hin und her rotiert, das Knie gebeugt und gestreckt; die Bewegungen waren langsam, besonders die der Zehen, die Bewegungen der Unterschenkel schneller und jEher. Wenn Put. eine gewollte Bewegung ausfiihrt, setzt die Innervation zuerst ganz riehtig ein, aber dann kommt es zu einem zuerst sehwachen, spEter immer stErker werdenden Ausfahren und Zittern. Wenn Pat. z. B. aufgefordert wird, den Kniehakenversuch auszufiihren, so gelangt das Bein unter grobem Wackeln an das Knie des anderen Beines, waekelt dort immer weiter und so lange, bis es wieder auf die Unterlage gesenkt wird. Augensehlul~ /s an der BewegungsstSrung nichts. An den HEnden ist dabei weder Ataxie noeh sonst eine Bewegungsstiirung nachzuweisen.

Am 25. Dezember f~llt es dem Pat. selbst auf, dab die Finger der r e e h t e n H a n d Spontanbewegungen aufweisen, und zwar nieht in Ruhe, sondern nur bei Bewegungen; we'nn er z. B. beide H~nde mit gespreizten Fingern ausstreckt, so kommt es zu ruekweise einsetzenden und dabei langsam weiter verlaufenden ver- schiedenartigen Bewegungen der Finger der reehten Hand, die am deutliehsten im Daumen und Zeigefinger sind und die Pat. durch Anspannung der Armmusku- latur beinahe vollkommen zum Verschwinden bringen kann. Bei anderen Bewegun- gender Hand kommen die Bewegungen ebenfalls, wenn auch nieht so deutlieh, zum Vorschein.

Sp~ter treten wiederholt allgemeine epileptiforme Anf~lle auf; am 29. April 1911 wurde der Kranke in schwer dementem Zustand in h~usliche Pflege iibero geben; die BewegungsstSrung blieb ganz unver/s

Das Besondere dieses Fal les l iegt dar in , d a $ d i e c h o r e o a t h e t o -

t i s c h e B e w e g u n g s s t S r u n g s e l b s t i s u n d o h n e H e m i p a r e s e a u f g e t r e t e n i s t , daI~ es s i c h u m e i n e g e k r e u z t e H e m i p a r e s e d e s l i n k e n B e i ' n e s u n d d e r r e c h t e n H a n d h a n d e l t , d i e a u c h n i c h t g l e i c h z e i t i g , s o n d e r n n a c h e i n a n d e r s i c h e n t w i c k e l t h a t ; eine dera r t ige K o m b i n a t i o n is t m. W. noch n ich t bekann t . Sehr in te ressan t wKre in e inem solchen Fa l le die ana tomische Unte r suchung ; nach den bisher igen Er fahrungen der Hemichorea bei Pa ra lyse is t eine E r k r a n k u n g des Tha l amus opt icus anzunehmen; sie mfil~te aber auf den verschiedenen Sei ten verschieden lokal is ier t sein.

N a c h t r a g b e i d e r K o r r e k t u r .

I n der a l le r le tz ten Zeit k a m ein Fa l l zur Unte rsuchung , der zu der hier d i sku t ie r t en F r a g e in Beziehung s t eh t und der deswegen, ob- zwar eine genaue Unte r suchung noch auss teht , ganz kurz erw~hnt werden soll.

55j~hriger (:~, der seit etwa einem Jahre krank ist und unter einem an Paralyse erinnernden Demenzzustande eingeliefert wurde.

Am 9. September 1911 wurde er yon clonischen Kr~mpfen der reehten KSrperseite befallen, die in 3 Schiiben durch 3 Stunden andauerten; nachher ist Pat. leieht benommen, reagiert nur wenig auf Aufforderungen, zeigt eine sehlaffe Parese der reehten KSrperseite, dabei fEllt aber auf, dab er mit dem reehten Arm st~ndig hin und her schleudert, besonders wenn er aufgefordert wird, irgendeine Aktion mit dem Arm zu maehen; naeh 2 Stunden ver- schwindet dieses Herumschleudern.

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486 O. Fischer: Zur Frage der anatomischen Grundlage der Ath6tose double usw.

Pat. bleibt rechtsseitig gelKhmt und geht am 31. September naeh lgnger dauernden rechtsseitigen clonischen Kr~mpfen zugrunde.

Bei der Sektion fand sich eine ganz frische Erweichung, deren Alter auf 10--14 Tage zu sch~tzen war, die sich genau auf den inneren Teil des Nucleus lentiformis der linken Hemisphiire beschrKnkt und nur einige kleine AuslKufer ins Centrum semiovale aussendet.

Der Fall ist so aufzufassen, dal3 durch die frische, auf den Globus pallidus sich beschr~nkende Erweichung cine mit clonischen Krgmpfen einsetzende Hemiplegie entstand, der sich eine voriibergehende hemiehoreaghnliehe Bewegungsst6rung zugesellt hatte. Beweisend ist der Fall nieht, aber immerhin bemerkenswert.

Erkliirung der Tafeln XVI--XXI.

Tafel XVI.

Gehim des Falles I. Verkleinerung und Pigmentierung des Globus pallidus beider Linsenkerne. In Wirkliehkeit ist die Braunf~rbung nicht so intensiv, wio es auf der Photographic erscheint, da die braune Farbe in der Photographie immer dunkler ausf~llt.

Talel XVII.

Weiger t - Pr~parate yon 50/~. Reehts Fall I, links normales Gehirn. ll/~faehe VergrSBerung.

Talel XVIII u. XIX.

Horizontalschnitte durch die Hemisph~ren des Falles I I I ; Weigertprgparate; 50/~ natiirliche GrSBe; korrespondierende HShen beider Hemisph~ren; auf Tafel D sieht man, dal~ der reehte Linsenkern gegen die Basis zu viel friiher aufhSrt, also aueh niedriger ist als links.

Tafel XX. Weigertsehnitt aus dem Gehirn des Falles V. ZerstSrung des rechten Corpus

subthalamieum durch eine Blutung. ll/Jache VergrS•erung.

Tafel XXL Histologische Ver~nderungen im Falle I. Fig. 1--9 Methylenblaufgrbung; Fig. 10

Hgmatoxylinf~rbung; VergrSBerung in Fig. 1--6 und 9--10 600• Fig. 7 und 8 700 •