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478 Fortsehritte der Kieferorthopiidie Bd. 24 H. 3 u. 4 (1963) Aus der Abteilung fiir Kieferorthopi~die (Leiter: Prof. Dr. Dr. reed. G. P. F. Sehmuth) der Univ.-Zahn- und Kieferklinik Kbln (Direktor: Prof. Dr. med. K. Fr. Sehmidhuber) Zur Frage der Extraktion im Seitenzahngebiet. ~ Kritische Betrachtungen iiber Nachuntersuchungsbefunde Von Claus W. Schwarze, KSln Als Erfolg kann ein Behandlungsergebnis nur dann angesehen werden, wenn es auch fiber die Retentionszeit hinaus ohne Ver/~nderungen bestehen bleibt. In- wieweit mit der Behandlung solehe Dauererfolge erzielt wurden, kann nur an Hand yon Nachuntersuchungen gekl/irt werden. Aus den wenigen bisher bekannt ge- wordenen Beobachtungen geht hervor, dal~ gute Resultate im Sinne von Dauer- erfolgen nicht immer erzielt wurden. Die Beobachtung yon Migerfolgen veranlal3t uns, nach den Ursachen zu suchen, um daraus gewonnene Erkenntnisse bei der Behandlung zu berficksichtigen. Im folgenden sollen an Hand yon Nachuntersuchungen einige Fragen behan- delt werden, die mit Extraktionen im Seitenzahngebie~ -- insbesondere der Pr/i- molaren -- in Zusammenhang stehen. Unsere Naehuntersuchungen erfolgten 2 bis 9 Jahre naeh Ende derBehandlung. Das Alter bei Behandlungsbeginn lag zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr. Die Behandlungsdauer betrug 2 bis 8 Jahre. Das Alter der nachuntersuehten Patienten lag zwischen dem 16. und 27. Lebensjahr. Von 192 kontrollierten Patienten wlarden jene F/ille herausgesueht, bei denen nieht die volle Anzahl der Pr/tmolaren vorzufinden war, was in 23 yon diesen 192 F/tllen zutraf. Bei dieser Auswahl sind Aplasie- und Extraktionsf/ille zun~ehst nieht getrennt worden, da sie gleiehermagen einer kritisehen Betraehtung unter- zogen werden sollen. Bei genauerer Prfifung fanden sieh unter diesen 23 F/~llen 6 Aplasief/~lle. Zwei- mal waren (tie beiden unteren 2. Pr/~molaren und einmal die beiden oberen 2. Pr//- molaren nieht angelegt. Bei den fibrigen 3 F/~llen handelte es sieh um die Nieht- anlage einzelner Pr/imolaren. Lediglieh dreimal wurde eine ausgleiehende Extrak- tion entspreehender Z/~hne des Gegenkiefers vorgenommen; bei diesen F/~llen war die Seitenverzahnung einwandfrei. Die fibrigen 3 F/ille zeigten eine ungesieherte Seitenzahn-Okklusion. Besonders unbefriedigend war der Erfolg bei einer Patientin mit Niehtanlage der beiden oberen 2. Prgmolaren; bier wurden die Folgen der vers/~umten aus- gleiehenden Extraktion im Unterkiefer besonders deutlieh. Am Schlul3 der Be- handlung war der frontale ~berbil3 gesiehert; bei der Naehuntersuehung naeh 4 Jahren zeigte sieh jedoeh ein frontaler Kopfbil3 und eine erhebliehe Tendenz zur Progenie. In allen 6 Aplasief/fllen waren die Lfieken -- aueh jene der ausgleiehend extrahierten Z/~hne -- gesehlossen. ~berrasehenderweise konnte dartiber hinaus mit einer Ausnahme ein Engstand in der Ober- und Unterkieferfront beobaehtet werden. Bei dem Ausnahmefall waren die 4 Weisheitsz/ihne nieht angelegt.

Zur Frage der Extraktion im Seitenzahngebiet. — Kritische Betrachtungen über Nachuntersuchungsbefunde

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478 Fortsehritte der Kieferorthopiidie Bd. 24 H. 3 u. 4 (1963)

Aus der Abteilung fiir Kieferorthopi~die (Leiter: Prof. Dr. Dr. reed. G. P. F. Sehmuth) der Univ.-Zahn- und Kieferklinik Kbln (Direktor: Prof. Dr. med. K. Fr. Sehmidhuber)

Zur Frage der Extraktion im Seitenzahngebiet. ~ Kritische Betrachtungen iiber Nachuntersuchungsbefunde

Von Claus W. Schwarze, KSln

Als Erfolg kann ein Behandlungsergebnis nur dann angesehen werden, wenn es auch fiber die Retentionszeit hinaus ohne Ver/~nderungen bestehen bleibt. In- wieweit mit der Behandlung solehe Dauererfolge erzielt wurden, kann nur an Hand yon Nachuntersuchungen gekl/irt werden. Aus den wenigen bisher bekannt ge- wordenen Beobachtungen geht hervor, dal~ gute Resultate im Sinne von Dauer- erfolgen nicht immer erzielt wurden. Die Beobachtung yon Migerfolgen veranlal3t uns, nach den Ursachen zu suchen, um daraus gewonnene Erkenntnisse bei der Behandlung zu berficksichtigen.

Im folgenden sollen an Hand yon Nachuntersuchungen einige Fragen behan- delt werden, die mit Extraktionen im Seitenzahngebie~ - - insbesondere der Pr/i- molaren - - in Zusammenhang stehen.

Unsere Naehuntersuchungen erfolgten 2 bis 9 Jahre naeh Ende derBehandlung. Das Alter bei Behandlungsbeginn lag zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr. Die Behandlungsdauer betrug 2 bis 8 Jahre. Das Alter der nachuntersuehten Patienten lag zwischen dem 16. und 27. Lebensjahr.

Von 192 kontrollierten Patienten wlarden jene F/ille herausgesueht, bei denen nieht die volle Anzahl der Pr/tmolaren vorzufinden war, was in 23 yon diesen 192 F/tllen zutraf. Bei dieser Auswahl sind Aplasie- und Extraktionsf/ille zun~ehst nieht getrennt worden, da sie gleiehermagen einer kritisehen Betraehtung unter- zogen werden sollen.

Bei genauerer Prfifung fanden sieh unter diesen 23 F/~llen 6 Aplasief/~lle. Zwei- mal waren (tie beiden unteren 2. Pr/~molaren und einmal die beiden oberen 2. Pr//- molaren nieht angelegt. Bei den fibrigen 3 F/~llen handelte es sieh um die Nieht- anlage einzelner Pr/imolaren. Lediglieh dreimal wurde eine ausgleiehende Extrak- tion entspreehender Z/~hne des Gegenkiefers vorgenommen; bei diesen F/~llen war die Seitenverzahnung einwandfrei. Die fibrigen 3 F/ille zeigten eine ungesieherte Seitenzahn-Okklusion.

Besonders unbefriedigend war der Erfolg bei einer Patientin mit Niehtanlage der beiden oberen 2. Prgmolaren; bier wurden die Folgen der vers/~umten aus- gleiehenden Extraktion im Unterkiefer besonders deutlieh. Am Schlul3 der Be- handlung war der frontale ~berbil3 gesiehert; bei der Naehuntersuehung naeh 4 Jahren zeigte sieh jedoeh ein frontaler Kopfbil3 und eine erhebliehe Tendenz zur Progenie. In allen 6 Aplasief/fllen waren die Lfieken - - aueh jene der ausgleiehend extrahierten Z/~hne - - gesehlossen. ~berrasehenderweise konnte dartiber hinaus mit einer Ausnahme ein Engstand in der Ober- und Unterkieferfront beobaehtet werden. Bei dem Ausnahmefall waren die 4 Weisheitsz/ihne nieht angelegt.

Cl. W. Schwarze, Zur Frage der Extraktion im Seitenzahngebiet 479

Aus den Beobachtungen an den Aplasief/~llen geht hervor, daB zur Sieherung eines Dauererfolges eine ausgleiehende Extraktion aueh dann bereehtigt ist, wenn kein direkter Grund zur Zahnentfernung im Gegenkiefer vorliegt.

1%i 17 yon den 23 Behandetten wurde - - haupts~ehlich aus Platzbesehaffungs- grfinden fiir die Eekz~hne - - die Extraktion einzelner oder mehrerer Pr/tmolaren vorgenommen. Bei 8 yon diesen 17 Patienten wurden entweder die vier ersten oder zweiten Pr~molaren entfernt. Trotzdem zeigte die Naehuntersuehung bei diesen Patienten einen frontalen Engstand im Ober- und Unterkiefer. Das Be- handlungsergebnis war im fibrigen zufriedenstellend, besonders im Hinbliek auf eine einwandfreie Seitenverzahnung. Gelegentliehe Restliicken bei AbschluB der Behandlung waren bei der Nachuntersuchung gesehlossen.

In zwei weiteren F~llen erfolgte die Extraktion von 2 Pr/imolaren im Ober- und Unterkiefer einseitig. Auch hier konnte nicht nur ein LiickensehluB, sondern darfiber hinaus ein frontaler Engstand im Ober- und Unterkiefer beobachtet werden. Das Nachuntersuchm~gsergebnis kann, bis auf den nachtr/iglich auf- getretenen Frontengstand, als zufriedenstetlend bezeichnet werden. Die Verzah- nung war in beiden F/Hlen einwandfrei.

In 7 F&llen wurde nut ein einzelner Pr/~molar entfernt. In keinem dieser 7 F~lle war die Verzahnung bei der" Nachuntersuchung einwandfrei. ~Ieist handelte es sieh um einen singul/~ren Antagonismus auf tier Extraktionsseite. Die Einordnung der Frontz/~hne - - besonders der Eekz~hne --- war zwar gelungen, dutch die Un- stimmigkeiten in der Seitenverzahnung stellte sieh das Ergebnis jedoeh nut als Teilerfolg dar.

In den vorgenannten F&llen war der Behandlungserfolg sehon zweifelhaft. Als Migerfolg muBte jedoeh ein Fall bezeiehnet werdon, bei dem n~mlieh die Extrak- tion zweier oberer Pr/imolaren erfolgte, ohne dab ell1 Ausgleieh im Unterkiefer vorgenommen wurde. Hier zeigte die Naehuntersuehtmg nach 4 Jahren eine deut- liehe Versehlechterung; der am Sehlug der Behandlung gesieherte frontale Uber- bib war inzwisehen in einen KopfbiB mit einer deutliehen Tendenz zur Progenie fibergegangen. Wahrseheinlieh ist dieser Migerfolg - - ghnlieh wie bei dem bereits gesehilderten Aplasiefall - - auf eine vers/~umte ausgleieheIlde Extraktion zuriick- zuffihren.

In der iiberwiegenden 3[ehrzahl der 192 naehuntersuehten F~lle fiel besonders ein mehr oder weniger stark ausgepr&gter Frontengstand auf, der sieh etwa vom 16. bis zum 20. Lebensjahr gebildet hatte. Dieser Frontengstand war nieht in allen F&llen ein Rezidiv, sondern stellte sieh als neuer Befund dar, der VeranIas- sung gab, r6ntgenologiseh die Anlage der }Veisheitsz/ihne zu kontrollieren. Ver- mutlieh kann der restlose Liiekensehlug und der dariiber hinaus beobaehtete Frontengstand tats/~ehlich auf den Mesialsehub der Weisheitsz/ihne zurfiekgeffihrt werdem Diese Annahme wird dureh die Feststellung unterst/itzt, dab in einem der 23 Fglle, bei dem n&mlich die 4 Weisheitsz~hne nieht angelegt waren, ein naeh- tr~glieher.Frontengstand nieht eingetreten ist.

Aus den aufgefiihrten Beobaehtungen kann absehliegend folgendes z u s a m - m e n f a s s e n d gesagt werden:

1. Die oft ge/~uBerten Befiirehtungen, dab L/ieken an der Stelle nieht angelegter oder extrahierter Pr/tmolaren sieh evtl. nicht sehlieBen wfirden, haben sieh bei unseren Naehuntersuehungen in allen F&llen als unbegriindet erwiesen. Dies traf aueh ffir die F&lle zu, bei denen eine Extraktion im Gegenkiefer lediglieh als Aus- gleieh erfolgte, wodurch zun&ehst eine gr6gere Liieke entstand.

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2. Aueh im Falle nicht angelegter Priimolaren sollte eine ausgleichende Ex- traktion entspreehender Pr/imolaren im Gegenkiefer erfolgen. Diese Forderung ist besonders dann bereehtigt, wenn 2 Pr~molaren im Oberkiefer nicht angelegt sind, weil sich - - wie beobaehtet wurde - - bei nieht durehgeffihrter ausgleiehender Extraktion eine Tendenz zur progenen Verzahnung herausbilden kann.

3. Die Extraktion eines einzelnen Pr~molaren ffihrt zu Okklusionsst6rungen. Um dies zu vermeiden, sollte in der Regel ein Ausgleich im Gegenkiefer erfolgen.

4. Die Beobachtung, dab in der Zeit des Weisheitszahndurehbruehes sich in vielen F/illen ein Frontengstand bildet, sollte in verstfirktem Mage unsere Beach- tung finden, besonders naehdem dies aueh bei 8 F~llen festgestellt wurde, bei denen bereits 4 Pr/~molaren w/~hrend der Behandlung extrahiert worden waren.

5. In Ausnahmef/~llen kann yon einer ausgleieheilden Extraktion im Gegen- kiefer abgesehen werden, so z. B. bei ausgesproehenen Spgtfiillen der Klasse II/1. bei denen die ausgepr/igte sagittale Stufe zugleich mit der falschen Okklusion der Seitenz/ihne sehon dureh die Extraktion zweier oberer Pr/imolaren ausgegliehen werden kann. Ebenso kann aueh im Falle einer Progenie nur die Extraktion zweier unterer Pr/imolaren angezeigt sein. In seltenen F/illen mit sehr breiten oberen Sehneidez/ihnen (SI-Wert fiber 36) ist wegen der bereits vorhandenen Unstimmig- keit in der Sagittalen evtl. die alleinige Ex~raktion zweier oberer Pr/imolaren ver- tretbar. Dies sind jedoeh Grenzf/ille, die einer besonderen individuellen Beurtei- lung und Uberlegung bed/irfen.

6. Die Extraktion eines einzelnert Pr/imolaren kann in Ausnahmef/illen erfolg- reich aueh dutch die Extraktion eines einzelnen Frontzahnes im Gegenkiefer kom- pensiert werden.

7. Falls die Extraktion von Pr/imolaren erst naeh dem Durehbrueh der zweiten Molaren erfolgt, ist eine R6ntgenkontrolle der Weisheitsz/thne erforderlich, um eine Beurteilungsgrundlage daffir zu erhalten, ob sieh evtl. verbleibende Rest- lfieken sehliegen werden.

Die allgemeinen Gesiehtspmlkte for die Extraktion von Pr~molaren sind hin- 1/inglieh bekannt. Ausgleiehende Zahnentfernungen haben - - wie aus unseren Naehuntersuehungen hervorgeht - - zur Sichermlg yon Dauererfolgen besondere Bedeutung; sie sollten deshalb aus prophylaktisehen Griinden aueh darm erfolgen, wenn zur Zeit der Behandlung aus Platzbesehaffurtgsgrfinden (lie Notwendigkeit zu dieser MaBnahme zun/~ehst nieht besteht.

Anschr i f t d. VcrL: Dr. C l a u s W. S c h w a r z c , 5 K61n-Lindenthal, Kerpener Str. 32