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Zur Frage der pathologischen Kunst. Yon Prof. Dr. phil. et med. W. Weygandt (Hamburg). Mit 4 Textabbildungen. (Eingegangen am 19. September 1924.) Er6rterungen fiber die Frage des Pathologischen in der Kunst ge- h6ren in jene Ausdehnung des eng umschriebenen Fachs der Psychiatrie, in jene Grenzgebiete, deren erstmalige Bearbeitung in intensiver und extensiver Weise das unverg~ngliche Verdiens$ yon Paul Julius M6biu~ ist, dem man freilich auch schon, so hoch er an philosophischem und literarischem Wissen stehen mochte, yon mancher Seite einen Einbruch der Barbaren in die Kulturgefilde vorwarf. An mannigfachen Vor- l~ufern hat es ihm nicht gefehlt, wie beispielsweise auch die bekannte Dissertation yon Groddeck aus dem Jahre 1849 ,,De morbo democratico, novae insaniae forma" nach anderer Richtung eine Ausdehnung der Psychiatrie ins Grenzland erkennen lieB. Es er6ffnen sich vorwiegend Probleme, deren LSsung nicht mit jener Exaktheit erhofft werden kann, wie etwa bei der Feststellung histopathologischer Hirnver~nderungen oder der experimentellen Prfi- fung der assioziativen Denkvorg~nge, wenn schon auch hierbei dem subjektiven Ermessen oft noch reichlich Spielraum bleibt. Allerdings wird die Anwendung der auf rein i~sthet.isierender Betrachtung fulBen- den Methoden sich mit Wahrscheinlichkeit, mit Plausibelmachen, mit ~berredung begniigen, w~hrend wit sonst Beweis und GewiBheit an- zustreben gew6hnt sind, und wird somit mehr oder weniger ab- ffihren yon einer streng naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie einst Galilei formuliert hatte in dem Satz ,,Natura seritta in lingua matematica". Wenn ein Autor, wie es auf kunstpatho- logischem Gebiet nicht selten vorkam, yon der ihn erschiitternden Wirkung seiner Objekte spricht, so verl~Bt er damit bereits den wissenschaftlichen Standpunkt, indem er sich nicht mehr als ob- jektiven, souver/~nen Beobachter ffihlt, sondern lediglich als seine eigene Versuchsperson betrachtet. Von vornherein wird man sich dariiber im klaren sein, dab manche Entscheidung doch letzten Endes dem Geffihl des Beurteilers fiberlassen bleiben mug. So hat, um ein drastisches Beispiel zu bieten, M6bius bei der Prfifung der Diktion Nietz.~ches auf etwaige Einflfisse der beginnenden Paralyse die als Ana-

Zur frage der pathologischen kunst

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Zur Frage der pathologischen Kunst. Yon

Prof. Dr. phil. et med. W. Weygandt (Hamburg).

Mit 4 Textabbildungen.

(Eingegangen am 19. September 1924.)

Er6rterungen fiber die Frage des Pathologischen in der Kunst ge- h6ren in jene Ausdehnung des eng umschriebenen Fachs der Psychiatrie, in jene Grenzgebiete, deren erstmalige Bearbeitung in intensiver und extensiver Weise das unverg~ngliche Verdiens$ yon Paul Julius M6biu~ ist, dem man freilich auch schon, so hoch er an philosophischem und literarischem Wissen stehen mochte, yon mancher Seite einen Einbruch der Barbaren in die Kulturgefilde vorwarf. An mannigfachen Vor- l~ufern hat es ihm nicht gefehlt, wie beispielsweise auch die bekannte Dissertation yon Groddeck aus dem Jahre 1849 ,,De morbo democratico, novae insaniae forma" nach anderer Richtung eine Ausdehnung der Psychiatrie ins Grenzland erkennen lieB.

Es er6ffnen sich vorwiegend Probleme, deren LSsung nicht mit jener Exaktheit erhofft werden kann, wie etwa bei der Feststellung histopathologischer Hirnver~nderungen oder der experimentellen Prfi- fung der assioziativen Denkvorg~nge, wenn schon auch hierbei dem subjektiven Ermessen oft noch reichlich Spielraum bleibt. Allerdings wird die Anwendung der auf rein i~sthet.isierender Betrachtung fulBen- den Methoden sich mit Wahrscheinlichkeit, mit Plausibelmachen, mit ~berredung begniigen, w~hrend wit sonst Beweis und GewiBheit an- zustreben gew6hnt sind, und wird somit mehr oder weniger ab- ffihren yon einer streng naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie einst Galilei formuliert hatte in dem Satz ,,Natura seritta in lingua matematica". Wenn ein Autor, wie es auf kunstpatho- logischem Gebiet nicht selten vorkam, yon der ihn erschiitternden Wirkung seiner Objekte spricht, so verl~Bt er damit bereits den wissenschaftlichen Standpunkt, indem er sich nicht mehr als ob- jektiven, souver/~nen Beobachter ffihlt, sondern lediglich als seine eigene Versuchsperson betrachtet. Von vornherein wird man sich dariiber im klaren sein, dab manche Entscheidung doch letzten Endes dem Geffihl des Beurteilers fiberlassen bleiben mug. So hat, um ein drastisches Beispiel zu bieten, M6bius bei der Prfifung der Diktion Nietz.~ches auf etwaige Einflfisse der beginnenden Paralyse die als Ana-

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logie zu ,,Vorliebe" geltende Wortneubildung ,,Vorha[~" auf Rechnung der sieh entwickelnden 1)syehose gesetzt, wahrend Aloys Riehl in seiner Monographie den Ausdruck ,,VorhaS" als Beispiel genialer WortschOpfer- kraft Nietzsches auffal~t.

Jene Grenzgebiete erfordern streng genommen die Betrachtungs- weise yon zwei verschiedenen Standpunkten, und somit auch eine bei einem Beurteiler seltener anzutreffende Sachkunde und Erfahrung auf zwei an sich voneinander entfernt liegenden Wissensgebieten. Eine solche Betrachtungsweise ist allerdings fiir uns 1)sychiater nicht ganz �9 neu, da ja die seit alters gefibte forensische Beti~tigung, mindestens de lege ferenda, auch bereits ein gewisses Eingehen auf die Begriffswelt des Juristen erfordert. Gleiches gilt ffir andere Greuzgebiete unseres Faches, so ffir die von Robert Sommer so erfolgreich gefSrderte Erblich- keitsforschung, ffir die vergleichende Psychiatrie, auch ffir die psychia- trischerseits betriebene Serologie, ttirnhistopathologie u. a. m.

Allzu angstliche Gemiiter haben freilich nicht nur bei der forensischen 1)sychiatrie und Kriminalpsychologie, sondern mehr noch bei der Frage der 1)sychopathologie der Kunst zur bescheidenen Zuriickhaltung psychiatrischerseits gemahnt; wir sind ja nun einmal von alters her ge- wShnt, von den verschiedensten Seiten zurfickgesetzt zu werden und dem womSglich noch zuvorzukommen. Abet gerade hinsichtlich des t)athologischen in der Kunst haben die ~sthetiker und Kunsthistoriker da, wo sie glaubten, ffir ihre Exegese Gesichtspunkte aus der Welt des Mediziners verwenden zu kSnnen, sich selber keineswegs vor einem sol- chen Schritt gescheut. Justi hat z. B. in seinem Werk fiber Velasquez versucht, die Zwerge und Idioten des grol~en Spaniers ~uch medizinisch zu deuten. Bei der Analyse Adol/ Menzels scheinen auch Sche//ler und Deri geneigt, innere Beziehungen zwischen dem von Menzel be- vorzugten kleinen Bfldformat und seiner zwerghaften l~igur zu ver- muten. Allerdings dfirfte hier ein wesentlich komplizierterer Zusammen- hang bestehen, als ein Nichtmediziner zu ahnen vermag, indem die Zwergfigur Menzels ebenso wie seine bekannte Asexualit~t, die der Kfinstler in seinem Testament noch besonders hervorhob, hypophys~r bedingt sind, wohl durch Einwirkung eines auch im Schadelbau aus- gesprochencn Hydrocephalus internus, der weiterhin dutch Rinden- beeinflussung jene so manchen Epileptikern eigene Neigung zur Akribie resultieren liel], die sich in Menzels kiinstlerischem Schaffen, ~llerdings nicht in seiner Handschrift kundgibt; nebenbei war der Kiinstler ambi- dexter oder wohl ursprfinglich Linksh~inder, was sich vielfach auf epileptoider Grundlage findet.

Mag nun auch die Er6rterung der psychopathologischen Kunst ienseits yon Zahl und Mal~ stehen, so sollte doch der Drang nach Er- kenntnis im Vordergrund bleiben, start dal~ alles letzten Endes auf

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einen Appell an die Geffihlssphiire hinausliiuft. Mit Recht hat selbs~ D~ri davor gewarnt, die Kunsterkliirung selbst wieder zu einem Sprach- kunstwerk, zu einer Dichtung werden zu lassen, wie z. B. bei der Schil- derung eines von Monet gemalten Spargelbundes gesagt wurde: ,,Der ganze Kosmos ist in diesem Stilleben eingeschlossen," oder wenn Ddubler sich fiber Kandinsky derart iiui~ert: ,,Er zeigt uns Wahrzeichenver- glasungen, Entscheidungskristalle, blaue Kundgebungen des Beschlusses yon ihren EinkSrperungen in Taten. Er bringt uns sogar gelb erregt in das Abenteuer irdischer Betiitigungen aus seelenlila Wunschgeburten." Auch manche der ~irztlicherseits versuchten Kunstexegesen scheinen einer derartigen Betrachtungsweise zuzuneigen, der ja durch die ganz auf das Gleichnis eingestellte Methode der Psychoanalyse entsprechend vorgearbeitet ist.

Prinzhorn hat bekanntlich in verdienstvoller Weise nach Anregungen Wilmanns' Beitri~ge zur pathologischen Kunst gesammelt und mit erst~unlichem Aufwand yon Kenntnissen und Scharfsinn die kiinst- lerischen Versuche Geisteskranker unserem Verst~ndnis n~her zu bringen gesucht. Dabei scheint es ibm freilich ergangen zu sein, wie so manchen Biographen, die dazu neigen, das Objekt ihrer Betrachtung und Dar- stellung auf ein mSglichst hohes Piedestal zu setzen, es zu verherr- lichen, zu heroisieren und aus Eigenem mSglichst viel Gedankliches hineinzuinterpretieren. So scheint es mir besonders bei der Exegese der 10 Hauptfiille zu liegen. Wohl mSchte ich fiir das Bild ,,Wtirg- engel" seines Schizophrenen Franz Pohl ihm gern zugeben, daii es auch in einer modernen Kunstausstellung einen 1)latz einnehmen kSnnte; wenn indes der Autor s~gt: ,,Was ist hier schizophren ? wir vermSgen es nicht sicher zu sagen", so mSchte ich doch nach 3 Richtungen den Einflul~ der Krankheit annehmen: 1. zun~chst in dem l~bergang yon der Zeichentechnik in die Plastik durch Einkerbung des Papiers bei dem Strahlenkranz; 2. in dem hSchst gleichgfiltigen Gesichtsausdruck des Opfers, wogegen der ebenso teilnahmslose Ausdruck des Engels der Idee des wahllosen Wiirgens gut entspricht; 3. in der vSlligen Um- drehung der Beine des Opfers um 180 Grad ; wi~hrend es auf dem Riicken liegt, sind die Beine derart erhoben, als ob es auf dem Bauch liegen oder eher noch auf dem Kopf stehen wfirde..Fraglich kSnnte erscheinen, ob bei Paul Brendels Schnitzerei , ,Hindenburg" die Exegese im wesent- lichen auf der Heroisierung des kranken Kiinstlers beruht oder ob der Autor nicht doch etwas als Philisterschreck wirken wollte, indem er beh~uptet, ,,dai~ mancher lieber dies Ahnenbild des Schizophrenen, denn die iiblichen Wirtshausphotogr~phien, als gfiltiges Bild des volks- tiimlichen Zeitgenossen gelten lassen wird."

Selbst die feinsinnigen Analysen Jaspers fiber schizophrene Maler und Dichter scheinen nicht ganz frei yon der Heroisierungstendenz.

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Wenn er bei dem letzten Endes undurchfiihrbaren Versuch, die Be- deutung Strindberg8 und van Goghs gegenseitig abzumessen, so in- kommensurabel sie auch sind, dem letzteren die Palme reicht, der ihn fasziniert habe, w~hrend Strindberg ihn indifferent liel~, vermag ich ihm nicht zu folgen. Er sucht wohl die schizophrene Komponente im Werdegang van Gogh8 herauszuarbeiten, wenn er auch auffallender- weise nicht darauf eingeht, daI~ bereits die Erscheinung des Malers selbst schwere degenerative Ziige erkennen l~l~t, wie aus der Mehrheit seiner Selbstbildnisse hervorgeht, die deutlich eine fliehende Stirn und vorspringende Jochbogen aufweisen. Mag auch mit Recht davor gewarnt werden, den Begriff , ,krank" als Werturteil in herabsetzendem Sinn zu unterstreichen, so k5nnte doch bei dem Versuch der Formu- lierung des Schizophrenen im Werk van Goghs entschiedener auf die fast stereotype Motivwlederholung, vor allem die Zypressen, sowie auf die immer bizarrer werdende Technik hingewiesen werdcn, wie die ganze Natur sich geometrischen Gebilden n~hert, die Zypressen sich in flammenartige Erscheinungen umwandeln und Sonne und Sterne durch Spiralen und konzentrische Kreise wiedergegeben oder besser gesagt symbolisiert werden, bis schliel~lich die auch yon Jaspers hervorgehobene Verarmung und Neigung zum Schmieren einsetztl).

Mit l~echt weist Jaspers auf eine schwer definierbare Erscheinung bei beginnender Schizophrenie hin, wenn sich in den Kranken anschei- nend eine metaphysische Tiefe offenbare, etwas, das Schaudern und Seligkeit erregt, etwa erschiitternde musikalische Leistungen, leiden- schaftlich unberechenbare Ziige in der Lebensfiihrung usw.

Betrifft eine solche Wesensver~inderung, fast mOchte man sagen Seelenvertiefung, nur die Schizophrenie? Ich mug es verneinen. Ich denke an jene psychische Vorstufe des epileptischen Anfalls mit einem extrem gesteigerten Glticksgefiihl, wie es in klassischer Weise Dosto- jewskij geschildert hat. Ferner kSnnen wir denken an eigenartige Wand- lungen bei beginnender Paralyse, etw~ die Erscheinung des ,,Ddj~ vu", die mSglicherweise der Nietzscheschen Lehre yon der Wiederkehr des Gleichen zugrunde liegt, in der M6bius ein Friihsymptom der Paralyse des Denkers erblickt; der 1)hilosoph schilderte selbst, wie ihm die Idee der Wiederkehr gekomme n sei auf einem Spaziergang am Silv~planer See bei dem ein eigenartiges Gefiihl hervorrufenden Anblick eines ungeheuren Felsblockes~). Das erinnert an die feine Schilderung von Zola in seinem ,,Doktor Pascal", wie ein angehender Paralytiker bei dem Anblick einer wilden Felsenlandschaft yon Grauen iiberfallen wird.

1) Vgt. auch Weygandt, La psicopatologia nell 'artc, ~errara 1923. 2) Vgl. auch O. Fischer, Eine psychologische Grundlage des Wiederkunft-

gedankens, Zeitschr. f. angew. 1)sychol., Band 5, S. 487 (1911). Ich habe mich bereits 1902 dartiber ge~u~ert bei Besprechung von MSbius, ?~ber das 1)athologische bei ~ietzsche.

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Wir kSnnen ~ber in Erweiterung jener von Jaspers der Schizophrenie zugesprochenen Initialsymptome an jene tiefgreifenden Sensationen denken, die durch ErschOpfung und durch vielerlei Gifte ausgelSst werden unter schwercr StSrung des seelischen Gleichgewichts und Wck- kung seltsamer, fremdartiger Stimmungen und Vorstellungen. Schlie~J- lich diirften mit derartigen Erscheinungen auch in Beziehung zu setzen sein die Affektverschiebungen bei heftigem psychischen Schock, wie sie Bdlz gelegentlich der ErdbebenstSl~e in Japan schilderte, wie much die Vorstellungsflucht Abstfirzender und die Sensationen, fiber die yore Ertrinkungstod Gerettete berichten.

Ob wirklich von Schizophrenen ausgehende Eindriicke in allgemei- nerer Weise zu einer nicht lang ertr~iglichen Erschfittcrung ffihren, wie Jaspers nach eigener Erfahrung schildert, bleibe d~hingestellt. Geistvoll und fruchtbar, wenn auch schwer erwcislich sind seine Dar- legungen eines hysteroiden Grundzuges im Mittelalter und eines schizo- iden in unseren Jahren. Es werdcn damit wohl Zusammenh~nge der Beachtung nigher gebracht, die gewil~ Aufmerksamkeit und Bearbeitung yon verschiedcnsten Seiten verdienen. Darum ist es auch gewil~ nicht sehr zweckm~i~ig, da~ die Kunstleistungen Geisteskranker sozusagen monopolisiert werden und gelegentlich auch die Warnung erging, Meinungen fiber die Beziehungen zwischen Kunst und Pathologie in die allgemeine Prcsse zu bringen. Um so mehr gilt das, als Neigung zu bestehen scheint, die Beurteiler, die sich nicht zur neopsychologischen oder psychoanalytischen Richtung restlos bekennen, wenn schon manche Grundgedanken ziemlich allgemcin anerkannt sind, von vorn- herein als Artcriosklerotiker oder Neandertaler abzutun. Die er- w~hnte, schon yon Deri betonte Gefahr, die ein geistvoller Subjek- tivismus auf einem, wenn auch anders schwer zug~inglichem Gebiet wissenschaftlicher Erkl~irungsbedfirftigkeit n~iherrtickt, k6nnte schliel~- lich auch noch zu einer Beriihrung mit der Parapsychologie ftihren.

Gehen wit vom nfichternen, psychiatrischen Standpunkt aus, so k6nnen wit 4 Gruppe~..vo0_Beziehungen zwischen kfinstlerischer Bethtigung und psychischer Erkrankung unterscheiden.

1. Es kann die kfinstlerische Tatigkeit schon in gesunder Zeit yon dem lndividuum ausgeiibt worden sein und bei Beginn der Erkr~nkung un- abhangig und unbeeinflul]t neben dieser hergehen. Es gibt F~ille schwerer Schizophrenie und Paraphrenie dieser Art, abet auch bei beginnender Paralyse kann unter Umst~inden noch geraume Zeit kfinstlerische Be- tAtigung erfolgen, wie es beispielsweise bei Manet wahrend einiger Jahre seiner Paralyse zutraf.

2. Der entgegengesetzte Fall ist der, dais die Krankheit eine be- stehende Kiinstlersehaft raseh verniehtet. Vielleicht am h~iufigsten kommt es vor, da~ die kiinstlerisehe Produktion beim Einsetzen der

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Krankheit baldigst versiegt. F/~lle von Dementia praecox gehSren ebenso hierher wie besonders wieder die Paralyse, beispielsweise bei Hans Malcart.

3. Die auffallendste Beziehung ist die, da~ die psychische Alteration schlummernde Keime kiinstlerischer Anlage zu wecken scheint, manch- real noch in verhi~ltnismi~ilig sp~ten Lebensiahren. Hierher gehSren

die interessanten F/~lle Prinzhorns, wie Paul Brendel und Kunst- schlosser Franz Pohl. In gewissem Sinne kSn- nen wir auch bei Kon- tad Ferdinand Meyer d~ran denken, desse~l schriftstellerische Ti~tig- keit ganz iiberwiegend nach seinen depressiven Phasen zur Entfal tung kam.

M6glicherweise kom- men pathoide Reize auch in Betracht bei anderen F~llen von Spi~tentwick- lung oder Steigerung im Senium, ersteres etw~ bei Fritz Reuter auf dip- somaner Basis, vielleicht auch bei Liliencron, letz- teres bei Holcusai.

4. Eine der Ana- lyse im einzelnen groBe

Abb. 1..~us AndersensM~trchen, bearbeitet von Carl ttenniger, Schwierigkeit bietende Verlag Abel una miner, Leipzig. Gruppe stellt den Fall

dar, dal~ eine vor der Erkrankung bereits ausgeiibte kiinstlerische Ti~tigkeit weiterhin fort- gesetzt wird, doch in einer deutlichen Beeinflussung durch die Krank- heir, unter Umstanden.unter Stilwandel und nicht selten unter tech- nischem Verf~ll. Hierher li~{~t sich van Gogh rechnen.

Ein Fall unserer Klinik, der bereits yon P/ei/er in seiner Mono- graphie 1) herangezogen wurde, gehSrt hierher. Eine schon friih zeich- nerisch erfolgreich ti~tige Kunstgewerblerin schuf Entwiirfe, Stickereien, Wandbeh~tnge, malte Plakate, zeichnete Schattenbilder und machte

1) Der Geis teskranke und sein ~Verk, Leipzig 1923.

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Scherenschnitte. Dann illu- strierte sie Biicher, besonders M~rchen, in eigenartiger, pre- tiSser Weise, mit lebhafter Farbenfreude und ausgespro- chenem Schmucksinn ; das Wesentliche wurde dabei immer mehr zurfickgedr~ngt zugunsten bedeutungsloser, dekorativer Zut~ten. Die 7 Zwerge des M/irchens kostfi- mierte sie wie KSnige aus dem Morgenland, phantastische Zie- rate schmiicken den Hiitten- raum, und als Hintergrund fiir Schneewittchens KSrper erschien ein krauses, unent- zifferbares Etwas. Besondercn Beifall fanden ihre zartsinnigcn Illustrationen zu Andersens Mi~rchen (Abb.1). Die,,Schnee- kSnigin" zeigt eine reizende Szene des Kindes mit dem Raben in einer Winterland- schaft, die duftige, geradezu japanische TSne aufweist; selfsame SchnSrkel umflattern dabei das Kind. Allerdings ist P[ei[ers Ansicht, dab eine in das KSrbchen schliipfende Schlange wohl auf halluzina- torischen Einfliissen beruhe, nicht zutreffend; es handelt sich vielmehr nur um einen SchnSrkel oder Zipfel, wie auch die 1)atientin selbst versichert. An sich ~ber liegen auch in den letztgeschilderten Produk- tionen schon leise schizoide Ankl~nge. Nun brach die Psychose in akuter Form aus. Die Kranke schrie in Verfol- gungsideen, sie verbrannte ihre

Abb. 2.

Abb. 3.

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Briefe, wollte durchs Fenster, sprang in den Garten, wurde gewaltti~tig. Sodann herrschte Sperrung mit Mutismus vor; zweifellos h~lluzinierte sie lebhaft. Zunachst hat die kiinstlerische Bet~ttigung aufgehSrt, dann etwa nach 2 Jahren erwachte sie wieder, doch entstanden nur schwache, ge- schmacklose Zeichnungen. Allm~ihlich aber begann Patientin wieder, flotter zu zeichnen und eifrig zu sticken. Es handelt sich um eine Art Brokatstickerei mit rein abgetOnten Farben und zierlichen Formen; ferner um Portr~tskizzen, teils unmittelbar und treffsicher hingeworfen, teils auch mit undefinierbaren schizoiden Zutaten versehen. Gelegentlich

Abb. 4.

feiert sie expressionistische Farbenorgien, so bei einem wiisten Bildnis (Abb. 2) und einem phantastischen Elefanten (Abb. 3). Zweifellos sind in den bizarren Farbentibergiingen und zeichnerischen Verzerrungen schizoide Ziige zu erkennen, aber nicht mehr in einer psychisch schwachen,, schmierigen, technisch geringwertigen Weise, wie in der ersten Zeit nach der akuten Phase. Es ist erstaunlich, wie der Kunsttrieb immer wieder die Krankheit durchbricht und manches bewirkt, dem schizoide Merkmale nicht mehr anhaften. Neuerdings forint Patientin gern aus Abfalllappen moderne Puppen, deren Ge- sichter sie flott koloriert (Abb. 4); gewi~ wiirden sich dicse Figuren kunstgewerblich gut verwerten lassen. Bei gutem Willen und etwas Phantasie wiirden sich much in diese Gebilde, insbesondere ihre

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H~ltung und Physiognomik, geheimnisvolle Ideen hineininterpretieren und tiefschiirfende ~n~lysierende Erkl~rungen beifiigen l~ssen, wie es yon Prinzhorn bei seinem ,,bescheidenen Tier" oder dem ,,doppel- kSpfigen Nilpferd" usw. so reichhaltig geschehen ist.

Es w~re dann ~ber doch letzten Endes mehr der Geist der Inter- pretation zu bewundern, ~ls der schwer zugi~ngliche des Kranken selbst. Die Auffassung P/ei[ers, dab wit letzten Endes aus schizoiden Werken wenig Werte zu gewinnen vermSgen, hat tatshehlich hohe Wahrscheinlich- keit fiir sich. Durch jene phantasiebeschwingte Exegese wiirden wir Ge- f~hr laufen, aus dem Bercich objektiver ErSrterung uns zu verirrcn in eine poetische Einfiihlung und in eine homiletische Bctr~chtungsweise, wie es Schilder rut, wcnner hShere Ehrfurcht vor den Kr~nken fordert. Psychiatrische iForschung treiben wir dann nicht mchr, so erbaulich auch derartige neopsychologische Exkurse klingcn m6gen, wie wir sie ~uf unser Gebiet anwendbar schon bei Paulus im R6merbrief (8, 26) angedeutet finden: ,,Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, der Geist vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen."

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIV. ~