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Zur Frage der Priifung des Besitzstandes an moralischen Begris und Gefiihlen. Von Dr. reed. Hermann Anstaltsarz~ in Merzig a. d. Saar. (Ei~egangen am 10. August 1910.) Es wird in der forensischen Psychiatrie seit langer Zeit als Mangel empfunden, dal3 wir bei der Prfifung der intellektuellen seelischen F~higkeiten haltmaehen mfissen, dab uns die MSglichkeit fehlt, affek- tire und moralisehe Werte objektiv zu prfifen oder gar zu messen. Wir finden uns eins~weilen mit dem seheinbaren Widersprueh ab, dal~ wir bei antisozialen Individuen pathologischen Charakters nicht so selten ausgezeichnete Kenntnis der religiSsen und gesetzliehen Vor- sehriften linden und andererseits moraliseh hoehwertige Eigenschaften, brave Lebensfiihrung bei Imbezillen, die so vorstellungsarm sind, dal~ mit ihnen eine Unterredung fiber moralisehe Begriffe unmSglich ist. Welter soll an dieser SteUe auf das Verh~ltnis der Entwicklung mora- liseher Begriffe, der moralischen Geffihlsveranlagung und der Intelli- genz untereinander nicht eingegangen werden. Es ist ja bekannt, dal~ noeh heute ein Teil der Forscher die ,,Moral" fiir die oberste ,,KrSnung des assoziativen Gedankengeb~udes", fiir das ,,hSchste Produkt einer hoehentwiekelten Intelligenz" h~lt, w~hrend andere (MS bi u s, B 1 e ul e r u.a.) bestreiten -- sicherlich mit Reeht --, dab moralisehes Ffihlen und Intelligenz ohne weiteres miteinander parallel gehen. Man beurteilt die moralisehen Eigenschaften eines Menschen nach seinem Charakter, und dieser wieder ist die, grol~enteils psychomoto- rische, Reaktion seiner Gefiihlsveranlagung auf die Reize der AuI~en- welt. Es ist also die Bewertung der bisherigen Lebensffihrung das brauchbarste Kriterium fiir die moralischen F~higkeiten der Seele. Leider sah man sieh aber vielfaeh gezwungen, allein auf Grundeiner sitt- lieh fehlerhaften Lebensffihrung eine pathologisehe Geistesbeschaffenheit zu behaupten, und so sicher den Faehmann darin oft sein Scharfblick ffihrt, so hat diese l~Iethode doch, besonders in foro, ihre Schattenseiten. Sie daft auf keinen Fall zum AnlaB werden, nun auch ffir den Status praesens einen Naehweis psyehischer, in erster L~n~e intellektueller Defekte erzwingen zu woUen, und in diesem Sinne m6chte ich eine

Zur frage der prüfung des besitzstandes an moralischen begriffen und gefühlen

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Page 1: Zur frage der prüfung des besitzstandes an moralischen begriffen und gefühlen

Zur Frage der Priifung des Besitzstandes an moralischen Begris und Gefiihlen.

V o n

Dr. reed. Hermann Anstaltsarz~ in Merzig a. d. Saar.

(Ei~egangen am 10. August 1910.)

Es wird in der forensischen Psychiatrie seit langer Zeit als Mangel empfunden, dal3 wir bei der Prfifung der i n t e l l e k t u e l l e n seelischen F~higkeiten haltmaehen mfissen, dab uns die MSglichkeit fehlt, affek- tire und moralisehe Werte objektiv zu prfifen oder gar zu messen. Wir finden uns eins~weilen mit dem seheinbaren Widersprueh ab, dal~ wir bei antisozialen Individuen pathologischen Charakters nicht so selten ausgezeichnete Kenntnis der religiSsen und gesetzliehen Vor- sehriften linden und andererseits moraliseh hoehwertige Eigenschaften, brave Lebensfiihrung bei Imbezillen, die so vorstellungsarm sind, dal~ mit ihnen eine Unterredung fiber moralisehe Begriffe unmSglich ist. Welter soll an dieser SteUe auf das Verh~ltnis der Entwicklung mora- liseher Begriffe, der moralischen Geffihlsveranlagung und der Intelli- genz untereinander nicht eingegangen werden. Es ist ja bekannt, dal~ noeh heute ein Teil der Forscher die ,,Moral" fiir die oberste ,,KrSnung des assoziativen Gedankengeb~udes", fiir das ,,hSchste Produkt einer hoehentwiekelten Intelligenz" h~lt, w~hrend andere (MS bi u s, B 1 e ul e r u.a.) bestreiten - - sicherlich mit Reeht --, dab moralisehes Ffihlen und Intelligenz ohne weiteres miteinander parallel gehen.

Man beurteilt die moralisehen Eigenschaften eines Menschen nach seinem Charakter, und dieser wieder ist die, grol~enteils psychomoto- rische, Reaktion seiner Gefiihlsveranlagung auf die Reize der AuI~en- welt. Es ist also die Bewertung der bisherigen Lebensffihrung das brauchbarste Kriterium fiir die moralischen F~higkeiten der Seele. Leider sah man sieh aber vielfaeh gezwungen, allein auf Grundeiner sitt- lieh fehlerhaften Lebensffihrung eine pathologisehe Geistesbeschaffenheit zu behaupten, und so sicher den Faehmann darin oft sein Scharfblick ffihrt, so hat diese l~Iethode doch, besonders in foro, ihre Schattenseiten. Sie daft auf keinen Fall zum AnlaB werden, nun auch ffir den Status praesens einen Naehweis psyehischer, in erster L~n~e intellektueller Defekte erzwingen zu woUen, und in diesem Sinne m6chte ich eine

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allzu ausgiebige Verwendung des Begriffs ,,hShere Sehwaehsinnsformen" nicht gutheii]en. Es daft offen eingestanden werden, dab eine ganz grfindliehe Prfifung der geistigen F~higkeiten bei unverbesserliehen Gewohnheitsverbrechern uns oft entt~uscht, dat] wir nicht so selten eine vorziigliche Entwicldung abstrakter Begriffe, gute Urteils- und Kombinationsf~higkeit finden, dal] die etwa festgestellten tdeinen De- fekte bei wei era nieht die schwere moralische Mangelhaftigkeit er- kl~ren, daI3 also gerade eine k u n s t g e r e c h t e Intelligenzpriifung uns oft nieht das Recht gibt, bei zweifellos krankhaften Kriminellen von ,,Sehwaehsinn" zu reden. Die Sophistik, dab eine verbreeherische, haltlose Lebensfiihrung, eine ]ede Art ,,Selbstseh~digung" eben,,Sehwach- sinn" sei, sollte auf Grund unserer heutigen Kenntnisse fiber den de- generativen Charakter ( B i r n b a u m , GroB) endlich fallen gelassen werden.

Wenn wir nun die M6glichkeit einer hochstehenden Begriffsentwiek- lung bei Defekten der moralischen und sozialen ,Einfiihlung" zugeben, so miissen wir uns naeh Untersuchungsmethoden umsehen, die uns in die Lage versetzen, gerade die a f f e k t i v e K o m p o n e n t e der mora- lischen F~higkeiten hervortreten zu lassen. Wo schon die Besprechung einiger Gebote und Verbote oder die Beantwortung zweckm~i]iger Fragen moralischen Inhalts, wie sie z. B. CimbaP) angibt, Mgngel aufdeckt, liegt meistens eine deutliehe Imbezillit~t vor, es versagt dann, wie es bei Imbezilliti~t oft der Fall ist, die Entwieklung komplizierterer moralischer Begriffe an der intellektuellen Komponente, oder es wird unverstandenes bzw. yon Gefiihl nicht betontes Schulwissen reprodu- ziert. Um die Defekte der Einfiihlung reiner hervortreten zu lassen und die Reproduktion angelernter Redensarten einigermaBen aus- zuschalten, benutze ich seit einiger Zeit e ine Anzah l y o n B i lde rn (10--15), de ren jedes, in s t e i g e n d e r Schwie r igke i t , als H a u p t - geha l t e inen g e f i i h l s s t a r k e n oder mora l i sch e i n d r u c k s v o l l e n I n h a l t bes i t z t , z.B. naschendes Kind, das Entdeekung fiirehtet, die Vers6hnung zweier Duellgegner vor dem Tode, der Schutz eines Flfichtlings in einem Kloster (,,Das Reeht auf Sehutz im Heiligtum"), die Verzweiflung einer Sehiffersfrau am Meeresstrand bei Sturm, Kinder am Krankenbett der Mutter, drastisch-komische Karten usw. Vor- ausgesetzt wird dabei die vorher zu priifende F~higkeit, in zusammen- h~ngenden Bildern den Hauptinhalt, z. B. ~hrenlese, zu erkennen. Die Art, wie der Gef f ih l sgeha l t des Bi ldes er faBt bzw. g e d e u t e t wird, die s p o n t a n e n ~ u B e r u n g e n , die das Bild e rweek t , s ind of t sehr e h a r a k t e r i s t i s c h u n d i ibe r r a schend , nicht minder die Art , wie das Aufge faBte du rch Wor t u n d Geb/~rden k u n d -

1 } Ci m b al, Taschenbuch zur Untersuchung nervSser und psyehischer Krank- heiten. Berlin 1909. Verlag yon Julius Springer.

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an moralischen Begriffen und Geftlhlen 283

gegeben wird , vor a l lem G e s i c h t s a u s d r u c k und S t i m m u n g , in die der B e s c h a u e r des Bi ldes ger~t , der Tonfa l l der S t i m m e , mi t der er a n t w o r t e t . Es sind das freilich auch zum Tefl nur sub- jektive Eindrficke, abet als a f f e k t i v e A u s d r u c k s e r s c h e i n u n g e n s ind sic uns w e r t v o l l e r als bloI~e Worte. Vielleicht wird es auch noch mSglich sein, durch die photographische Platte und durch physio- logische Messungen der kOrperlichen Begleiterscheinungen yon Ge- mfitsbewegungen objektivere Anhaltspunkte zu gewinnen.

Ein anderes Reagens auf moralische Geffihlswerte bieten Erz~hlungen und Gedichte mit moralischem Inhalt; fiir einfach liegende F~lle geniigt z.B. die schon yon anderer Seite empfohlene bekannte Sterntaler- erzKhlung.

Endlich bietet der selbsterz~hlte und noch mehr der selbstgeschriebene Lebenslauf, der nach Ab~chlul~ der iibrigen Untersuchungen mit grSi~erem Verst~ndnis fiir das psychologisch Wichtige erfaf~t wird, h/~ufig Ge- legenheit, das e igene moralische Ffihlen des Exploranden zum Aus- druck zu bringen. Nimmt man nun noch die objektive Bewertung der bisherigen Lebensffihrung und die derzeitige Stellungnahme des Patienten zu seinen Verfehlungen hinzu, so gelingt es doch zuweilen, d u r c h H e r a n z i e h u n g al ler e rwKhnten H i l f s m i t t e l , fiber die mora l i s che G e f f i h l s v e r a n l a g u n g , die a f f e k t i v e K r i t i k und E i n f f i h l u n g sowie fiber die m o r a l i s c h - e t h i s c h e B e g r i f f s e n t - w i c k l u n g etwas Klarheit zu erlangen, unabhKngig yon reproduziertem Wortwissen, wie es bei unrichtiger Prfifungsmethode (Abfragen der 10 Gebote usw.) stSrend zutage tritt.

Bei hSherer Begriffsentwieklung babe ich freilich bisher auf die oben geschilderte Weise bei psychopathisehen Verbrechern eine oft recht feint und taktvolle Einfiihlung ffir moralische Werte konstatieren kSnnen und glaube, da$ durch weitere, insbesondere auf Fiirsorge- zSglinge ausgedehnte Untersuchungen der alten Streitfrage der ,,moral insanity" einige Gesichtspunkte hinzugeffigt werden k6nnen. Soweit die yon mir bisher erst begonnenen Untersuchungen ein Urteil gestatten, werden sie die neueren Anschauungen vonder Disharmonie und der pathologischen, schwankenden AffektibilitKt in der Seele des degene- rierten Verbrechers stfitzen und die St6rungen des Trieb- und Affekt- lebens, insbesondere in den sog. ,,Ausnahmszust~nden", hervorheben gegeniiber den bisher so vorwiegend betonten und ,,gesuchten" In- telligenzdefekten.