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Zur Klinik des gekreuzten Finger-Grundgelenkreflexes. Von Priv.-Doz. Dr. Georg Stietler. Mit 2 Textabbitdungen. (Eingegangen am 15. Mai 1923.) C. Mayer (Zur Kenntnis der Gelenkreflexe, Rektoratsschrift. Inns- bruck 1918) fand in 3 FMlen yon Hemiparese einen gekreuzten yon der gesunden Seite her ausl6sbaren Grundgelenkreflex; bei allen 3 Kranken handelte es sich um eine aus frfiher Kindheit stammende halbseitige Bewegungsst6rung, in einem der FMle waren auSer dem gekreuzten Grundgelenkreflex auch noch andere gekreuzte Muskel- und Gelenk- reflexe nachweisbar. C. Mayer hat unter Beibringung ausfiihrlicher Krankengeschichten seine Mitteilung dutch ein Bild vom gekreuzten Grundgelenkreflex des einen seiner Kranken belegt. Man sollte meinen, dab durch die jeder Kritik standhaltenden Beobachtungen C. Mayers fiir jedermann die reflektorische Natur der durch ausgiebige passive Beugung der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger erziel- baren Erfolgsph~nomene fiberzeugend erwiesen w~re. Dem ist aber nicht so. V. Dumpert (Journ. f. Psychol. u. Neurol. 29, 128. 1922) hMt auch nach Kenntnisnahme der Fiflle Mayers daran lest, dab es sich bei der yon Mayer als Grundgelenkreflex bescbriebenen Erscheinung um einen durch passive Volarflexion des Handgelenks bewirkten rein mecha- nisch zustande kommenden Vorgang handelt, wobei im besonderen die Daumenbewegung die Folge der passiven Dehnung des langen ])aumen- streckers sei. Diese Auffassung Dumperts ist um so verwunderlicher, als bei der yon C. Mayer angegebenen Art der Reflexprfifung zu atler- meist tiberhaupt yon einer passiven Handgelenksbeugung gar keine Rede ist bzw. eine solche sich unschwer vermeiden li~l~t, und man sich auBer- dem mit Leichtigkeit davon iiberzeugen kann, dab die Ausl6sbarkeit des Grundgelenkreflexes sich nicht im geringsten i~ndert, wenn man ihn bei einer Handstellung prtiff, die es unm6glich macht, dal~ es zu irgend- einer Volarflexion der Hand beim Niederdrficken der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger kommt. [Das ist z. B. der Fall, wenn man die Reflexpriifung nicht in der gew6hnlichen Weise bei nach vorne gehaltenem Vorderarm der Versuchsperson vornimmt, sondern den Vorderarm -- etwa unter Aufstfitzen des Ellbogens gegen eine Unter- lage -- ~enkrecht aufstellt und nun bci passiv leicht dorsalflektierter

Zur Klinik des gekreuzten Finger-Grundgelenkreflexes

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Page 1: Zur Klinik des gekreuzten Finger-Grundgelenkreflexes

Zur Kl in ik des gekreuzten Finger-Grundgelenkref lexes .

Von Priv.-Doz. Dr. Georg Stietler.

Mit 2 Textabbitdungen.

(Eingegangen am 15. Mai 1923.)

C. Mayer (Zur Kenntnis der Gelenkreflexe, Rektoratsschrift. Inns- bruck 1918) fand in 3 FMlen yon Hemiparese einen gekreuzten yon der gesunden Seite her ausl6sbaren Grundgelenkreflex; bei allen 3 Kranken handelte es sich um eine aus frfiher Kindheit stammende halbseitige Bewegungsst6rung, in einem der FMle waren auSer dem gekreuzten Grundgelenkreflex auch noch andere gekreuzte Muskel- und Gelenk- reflexe nachweisbar. C. Mayer hat unter Beibringung ausfiihrlicher Krankengeschichten seine Mitteilung dutch ein Bild vom gekreuzten Grundgelenkreflex des einen seiner Kranken belegt. Man sollte meinen, dab durch die jeder Kritik standhaltenden Beobachtungen C. Mayers fiir jedermann die reflektorische Natur der durch ausgiebige passive Beugung der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger erziel- baren Erfolgsph~nomene fiberzeugend erwiesen w~re. Dem ist aber nicht so. V. Dumpert (Journ. f. Psychol. u. Neurol. 29, 128. 1922) hMt auch nach Kenntnisnahme der Fiflle Mayers daran lest, dab es sich bei der yon Mayer als Grundgelenkreflex bescbriebenen Erscheinung um einen durch passive Volarflexion des Handgelenks bewirkten rein mecha- nisch zustande kommenden Vorgang handelt, wobei im besonderen die Daumenbewegung die Folge der passiven Dehnung des langen ])aumen- streckers sei. Diese Auffassung Dumperts ist um so verwunderlicher, als bei der yon C. Mayer angegebenen Art der Reflexprfifung zu atler- meist tiberhaupt yon einer passiven Handgelenksbeugung gar keine Rede ist bzw. eine solche sich unschwer vermeiden li~l~t, und man sich auBer- dem mit Leichtigkeit davon iiberzeugen kann, dab die Ausl6sbarkeit des Grundgelenkreflexes sich nicht im geringsten i~ndert, wenn man ihn bei einer Handstellung prtiff, die es unm6glich macht, dal~ es zu irgend- einer Volarflexion der Hand beim Niederdrficken der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger kommt. [Das ist z. B. der Fall, wenn man die Reflexpriifung nicht in der gew6hnlichen Weise bei nach vorne gehaltenem Vorderarm der Versuchsperson vornimmt, sondern den Vorderarm - - etwa unter Aufstfitzen des Ellbogens gegen eine Unter- lage - - ~enkrecht aufstellt und nun bci passiv leicht dorsalflektierter

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Hand den Reflex priift. Dann ist beim Niederdriieken einer Grund- phalange nicht nur keine Rede davon, dab die Hand irgendwie volar- warts gebeugt wiirde, sondern im Gegenteil, es wird durch das Nieder- driicken der Grundphalange die Dorsalflexion der Hand noeh weiter vermehrt, ohne dab an der AuslSsbarkeit des Reflexes sich irgend etwas gndern wiirde.

Der seinerzeitigen Anregung C. Mayers nach Sammlung weiterer Beobaehtungen yon gekreuztem Grundgelenkreflex folgend, habe ieh an einem grSBeren Material yon K r a n k e n mit Hemiparesis spastica, die aus friiher Kindheit s tammte, in 6 FMlen einen gekreuzten Grund- gelenkreflex nachweisen kSnnen und dies ganz kurz im Rahmen meines auf der letzten Jahresversammlung der Gesellsehaft deutscher Nerven- ~rzte in Halle gehaltenen Vortrages angefiihrt, t~ber einen dieser FMle, den ieh durch l~ngere Zeit genau beobachten konnte, m6chte ich im folgenden etwas eingehender beriehten. Ich sah den Kranken zuerst an der Beobachtungsabteflung des hiesigen allgemeinen Krankenhauses (Dir. Prim. v. Chiari) und konnte ihn spater in Gemeinsehaft mit Kellegen v. Kurz, dem ich aueh an dieser Stelle fiir die Unterstiitzung bei den Untersuchungen, fiir die A J n a h m e der Liebtbilder und fiir die Her- stellung der Zeichnungen meinen verbindlichsten Dank sage, in der ober- 6sterreiehisehen Irrenanstal t Niedernhart (Dir. Dr. Schnop]hagen) wiederholt untersuchen.

Josef Z., 67]~hrig, Bauernkneeht, fiel seit mehreren Monaten seiner Um- gebung auf durch besonders leichte Reizbarkeit, Zerstreutheit, zunebmende geistige SehwerfMligkeit, insbesonders VergeBliehkeit und verlorenes Wesen; er land sich in seiner Wohnung nicht mehr zurecht, wurde halb verhungert im Walde auf- gegriffen. Bei der Untersuchung land sich mangelhafte zeitliche und 6rtliche Orientierung, eine euphorische, aber labile und leicht ins Gereizte umschlagende Stimmungslage, umst/indliches, schwerfMliges Wesen, tiefgehende St6rung der Merld/~higkeit und des Gedachtnisses, Erschwerung der Auffassung und ausge- sprochene Urteilssehw/~ehe, Unaufmerksamkeit und abnorm rasche Ermiidbar- keit. Die schon dureh den hier nur skizzierten psychischen Befund gegebene Ver- mutung auf progressive Paralyse (einfache demente Form) wurde vollauf best/itigt durch die k6rperliche Untersuchung: Pupillen entrundet, different, liehtstarr, auf Konvergenz tr~ge, wenig ausgiebig reagierend; schlaffe Gesichtsziige, eharak- teristische Sprachst6rung. Liquor: Pandy + ; 7,7 Lymphocyten im Kubikmilli- meter (v. Kurz); WaR. im Serum + + + + , Meinicke-Reaktion + + + + , WaR. im Liquor + + + + (Dozent Schopper).

Bei Betrachtung des Kranken f/~llt ohne weiters die Hypoplasie und spastische Parese der linksseitigen GliedmaBen auf, nach Angabe der Umgebung des Kranken seit friihester Kindbeit bestehend, ohne dad N~heres fiber die Entwicklung der St6rung zu erfahren w/~re. Umfang des O. A. rechts 26,5 cm, links 23 cm. Linker Arm um 3 cm kiirzer als der rechte. Leichte Parese im linken unteren Facialis.

An der linken oberen Extremitdt leiehte Parese im Bereiche des Schulter- und Ellbogengelenkes, passives Emporheben des Armes im Schultergelenk gegen die Vertikale und passive auBerste ttandgelenkstreckung dureh m/~Bige Gelenks- ankylosierung behindert. Supination und Dorsalflexion der Hand paretisch, Prona- tion und Beugung hingegen ziemlich krMtig.

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Linke H a n d sSeht in Ruhe dauernd ulnarw/~rts abgelenkt und leicht flektiert, der Daumen leicht opponiert und in beiden Gelenken gestreckt, die Finger addu- ziert und in allen Gelenken leicht flektiert mit Neigung zu gelegentlicher st/irkerer Beugung. Aktive Streckung der Finger 2--5 in den Grundgelenken fast bis in die Ebene des Handrtickens mSglich, in Mittel- und Endgelenken weniger ausgiebig, Streekkraft durehgehends herabgesetzt. Pat. kann aktiv die Finger 4--5 kr~ftig, 2--3 nut unvoUkommen und paretiseh spreizen; die fast vollst/~ndige Adduction der Finger erfolgt ziemlich kraftlos und langsam, Beugung der Finger und Faust- seMuB kraftig; die Hand kann nur mit grSBerer Kraftaufwendung passiv geSffnet werden (was rechts nieht mOglich ist). Riickwartsfiihrung des ersten Metacarpus, Streekung in beiden Daumengelenken in normalem AusmaI3, aber paretisch. Pat. kann aktiv den Daumen unter deutlicher Kreiselung des 1. Metacarpus und Beugung des Grundgelenkes bei leichter Streckung im Endgelenke zwar nicht in ganz nor- malem AusmaB, aber doeh so weit opponieren, daft seine Kuppe die Endphalangen der aneinander liegenden Finger 3 und 4 beriihrt. Opposition und Adduction des Daumens paretisch. Linke untere Extremlt~it: An Umfang und L/~nge gleichfalls unterentwickelt, aktive Beweglichkeit im Hiift- und Kniegelenk weniger gesch~digt, Dorsalflexion des Fufles und der Zehen dcutlich paretisch, hingegen Plantarflexion kaum beeintrachtigt; Andeutung yon Varoequinusstellung, leichte Zirkumduktion des Beines beim Gehen.

Sensibil i tat - - soweit bei dem dementen Verhalten des Kranken priifbar - - anscheinend nicht gestSrt.

.Re/lexe: Triceps-, Knie- und Achillessehnenreflexe lebhaft, links gleich reehts. B. D. R. rechts auslSsbar, links nicht, Cr. R. links herabgesetzt. Babinski links positiv. Die Priifung des Grundgelenkreflexes an der rechten Hand ergib$ bei passiver ausgiebiger Beugung der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger eine deutliche Opposition des ersten Metacarpus bei gleichzeitiger deutlieher Beu- gang im Grundgelenke und leichter Streekung des Endgelenkes, hingegen fehlt der G. G. R. links bei AuslSsung an der linken Hand. Das Ldrische Vorderarm- zeiehen ist rechts deutlieh hervorrufbar (bei passiver/~uBerster Beugung des Hand- gelenkes deutliehe Kontraktion im Biceps und Supinator longus), fehlt links. Die Prtifung des G. G. R. rechts 15st nun auch an der l inken Hand eine deutliehe Reflexbewegung aus, die hinsichtlich der Daumenbewegung durchaus dem ty- pischen Reflexbflde des G. G. R. entspricht. Durch passive maximale Beugung der Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger an der rechten Hand begibt sich links der Daumen unter leiehter Kreiselung in die Oppositionsstellung bei gleichzeitiger Beugung im Grundgelenke und Streckung der Endphalange, deren Kuppe an den ulnaren Rand des 3. oder an den radialen Rand des 4. Fingers zu liegen kommt; hierbei kontrahieren sich deutlich die Muskeln des Daumenballens, der sieh dabei auch prall anftihlt. Eine Kontraktion im Bereiche des Kleinfinger- baUens, eine Runzelung seiner Haut oder eine Bewegung des 5. Metacarpus bzw. Fingers wurde bei wiederholten Friifungen nie beobaehtet, ebensowenig eine Kontraktion eines anderen kleinen Handmuskels, wohl abet h/~ufig eine Verst/ir- kung der habituellen leichten Beugung der Finger 2--5 in allen Gelenken. Das Bfld des gekreuzten Reflexes wird besonders ansehaulieh, wenn wir vor seiner AuslSsung den Kranken den Daumen abduzieren und strecken lassen, dies passiv vornehmen oder ein zuf/illige derartige Ausgangsstellung abwarten, well dann die Oppositions* und Beugebewegung im Reflexbilde besonders sehSn hervortritt. Abb. A l) zeigt die Ruhestellung der linken Hand, Abb. B die volle Reflexbewegung,

z) Abb. A und B stellen die bis in die kleinsten Einzelheiten getreuen Umdfl- zeichnungen dar, die Herr Kollege v. K u r z die groBe Freundlichkeit hatte yon den Lichtbildern durchzupausen.

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wobei deutlich erkennbar ist die Opposition des ersten Metacarpus, die Beugung im Grundgelenke und die Streekung der Endphalange des Daumens. Die aueh im Bride deutlieh erkennbare Beugung der Finger 2--5 wurde bereits oben er- wahnt.

Bei passiver mSgliehster Beugung des rechten Handgelenkes kommt es links zu einer leiehten Vorderarmbeugung (deutliches Vortreten der Bicepssehne, fiihl- bares AnschweUen des Supinator longus), also zum Auftreten eines gekreuzten L~rischen Ph~nomens. Hierzu sei noch bemerkt, dal~ beide Reflexe yon der kranken SeRe her auf die gesunde, wo, wie erwahnt, reizseitiger L~ri und Mayer positiv sind, nieht ausgel6st werden kSnnen.

Der paralytische ProzeB sehreitet bei dem Kranken, der sieh seit Juni v. J. in der Irrenanstalt befindet, langsam, aber stetig fort und es braucht wohl nicht eigens erw~hnt zu werden, da~ die Reflexpriifungen, die in der ersten Zeit der Beobachtung ohne Sehwierigkeit durchgefiihrt werden konnten und yore Kranlcen

Abb. A. Abb. B.

auch nicht besonders sch~erzha# emp]unden wurden, in letzterer Zeit infolge der zunehmenden Demenz und gesteigerten Reizbarkeit ganz wesentlich erschwert worden sind, auch haben v. Kurz und ich die Beobachtung gemacht, dab der reizseitige sowie aueh der gekreuzte G. G. 1~. und das L~risehe Ph~nomen in den letzten Woehen an Promptheit und Ergiebigkeit sichtlich abgenommen haben.

Es handel t sich sonach bei unserem Kranken um eine aus friihester Kindhei t s tammende Parese der linksseitigen Gliedmal~en einschlieBlich einer gleichseitigen unteren Facialisparese mit s tarkerem Befallenseiu der distalen Extremita tenabsehni t te , und zwar in erster Linie der Exten- soren yon H a n d und Finger bzw. Fu~ und Zehen im Sinne des Werniclce. schen Pr~di lekt ionstyp; als anatomische Grundlage dieser Motilit~ts- ~t6rung kann wohl nur eine Schhdigung des corticospinalen motorischen Projekt ionssystems in der reehten Hemisphere in Bet racht kommen, worauf aueh die Steigerung der Sehnenreflexe, das Fehlen bzw. die Herab- setzung des Bauchdecken- und Cremasterreflexes sowie der positive

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Babinski hinweisen. Die Erkrankung an progressiver Paralyse kann gegenfiber der halbseitigen Bewegungsst6rung, die anamnestiseh und vor allem mit Riicksicht auf die ausgesprochene Hypoplasie der befallenen Gliedmai~en zweifellos auf einen aus friiher Kindheit stammenden Herd bczogen werden muir, nur als ein Zufallsbefund be- wertet werden.

Was nun unserem Falle besonderes klinisches Interesse verleiht, ist der Nachweis gekreuzter Reflexe, eines gekreuzten Grundgelenk- und Handgelenkreflexes an der paretisehen Seite, die durch bestimmte an der gesunden Seite gesetzte Reize, deren Angriffspunkt die Gelenke sind, zur AuslSsung gelangen. Beide Gelenkreflexe sind reizseitig nur an der gesunden Extremit~t auslSsbar, fehlen an der paretischen und kSnnen auf der gesunden Seite yon der paretisehen Seite her nieht her- vorgerufen werden. Das Fehlen des reizseitigen G.G.R. an der pare- tisehen GliedmaBe entspricht durchaus der yon C. Mayer zuerst fest- gestellten und yon andern an zahlreichen Fhllen best~tigten Tatsache, daI~ die Aufhebung bzw. pathologisehe Herabsetzung des G.G.R. bei eerebralen L~thmungen und Paresen im Bereiche von Hand und Fingern als Zeiehen einer Py-bahnsch~digung zu gelten hat, dem klinisch im Bereiehe der obern Extremit~tt die gleiehe Bedeutung zukommt wie fiir die untere dem Naehweis des Babinskisehen Pbgnomens. Das Reflex- bild der gekreuzten Daumenbewegung wie des L~rischen Zeichens unterscheidet sich in nichts yon dem uns bekannten physiologischen Gepr~ge des reizseitigen Reflexes. Aus den beigegebenen Abbildungen ist unsehwer zu erkennen, dab es bei der reflektorisehen Erfolgsbewegung beim gekreuzten Grundgelenkreflex auBer zu einer Opposition des 1. Metacarpus aueh zu einer Beugung im Grundgelenke des Daumens kommt, wie es ja im physiologischen Reflexbilde die Regel ist. Ich wtirde dies nieht eigens hervorheben, wenn nieht Dumpert behauptete, beim G.G.R. niemals eine Flexion sondern immer nur eine Extension des Grundgelenkes beobaehtet zu haben, die bei st~rkerer Ausbildung des Phanomens eine ,,maximale" werde und sich sogar beruft auf die Ab- bildungen der Reflexbewegung in der ersten Ver6ftentliehung C. Mayers sowie in der Arbeit Goldsteins, was mir often gestanden nieht recht verstandlieh ist; sieht man doch ganz deutlich an allen diesen Abbil- dungen, wie auch an dem Bilde des gekreuzten G.G.R. in der eingangs genannten Arbeit C. Mayers, dab da8 Daumengrundgelenk in stump]er Beugung steht! Wie aus unserer Abb. 2 ungemein deutlich ersiehtlich ist, kommt es bei unserm Kranken h~tufig zugleieh mit der Erfolgs- bewegung des Daumens zu einer Zunahme der habituellen leiehten Beugung der Finger 2--5. Das gleiche zeigt sich in Mayers Abb. 2 (1. e.). Mayer ffihrte die leichte Beugehaltung der Finger in seinem Falle auf eine aueh sonst bestehende Neigung dieser Finger, aus aktiver Streek-

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stellung ganz allmahlich in Beugestellung zu geraten, zurfick. In unserem Falle hat man den Eindruck, dab die Fingerbeugung Teilbestandteil des gekreuzten Grundgelenkreflexes ist, was uns auch nicht zu be- fremden braucht, wenn wir uns erinnern, dab M. Goldstein beim nor- malen reizseitigen Grundgelenkreflex in 10% eine Mitbeteiligung des M. flexor dig. sublimis sah.

Durch die kfirzlich in dieser Zeitschrift erschienene Arbeit yon A. Simons fiber ,,Kopfhaltung und Muskcltonus" angeregt, vcrsuchten v. Kurz und ich Mitbewegungen an der paretischen Seite dadurch auszu- 15sen, dab wir den Kranken veranlaBten, auf der gcsunden Seite kr~ftig zu innervieren, wobei wir nun den EinfluB der Kopfhaltung auf den Ablauf der Mitbewegungen beobachteten; die Versuche sind zum groBen Teil an dem widerstrebenden, verst~ndnislosen Verhalten des Kranken gescheitert. Immerhin konnten wir einige Male feststellen, dab bei aktivem kr~ftigen FaustschluB der gesunden Hand es an der paretischen Seite zu einer Abduction des Oberarmes mit fast spitzwinkeliger Beugung im Ellbogen und starker Hand-Fingerbcugung kommt unter gleich- zeitiger leichter Drehung des Kopfes nach rechts ; wird nun dem Krankcn der Kopf passiv maximal naeh rechts gedreht, so nimmt die Oberarm- abduction und Vorderarmbeugung deutlich zu. Bei huBerst mSglicher passiver Drehung des Kopfes nach links unter sonst gleichcn Versuchs- bedingungen (kr~ftiger aktiver FaustschluB rechts) sahen wir einmal Adduction im Schultergelenk, leichte Streckung im Ellbogen- und tIandgelenk mit Fingerbeugung. Unser besonderes Augenmerk lenkten wir darauf, ob der gekreuzte G.G.R. etwa durch ~uBerste passive Kopf- einstellung nach vorne, seitlich oder hinten beeinfluBt wiirde und konntcn dabei feststellen, dab dies bei passiver maximaler Drehung des Kopfes nach rechts odor links nicht der Fall war; eine entsprechende Priifung bei passiver Beugung des Kopfes nach vorne oder hinten scheiterte an dem Widerstande des Kranken.

C. Mayer nahm zur Erkl~rung des Zustandekommens eines gekreuzten Grundgelenkreflexes eine Impulsfibertragung aus der nicht geschadigten Hemisphere zunachst auf das reizseitige Vorderhorn und yon hier auf dem Wege einer im Riickenmark vor sich gehenden Kreuzung auf das Vorderhorn der anderen Seite an; fiir das Zustandekommen einer solchen intraspinalen Erregungsiibertragung erwies sich als notwendig die An- nahme, dab hemmendc Einflfisse, die normalerweise auf das Riicken- marksvorderhorn im Sinne einer Erschwerung der ReflexauslSsung ein- wirkten, aufgehoben w~ren. Mayer dachte im Sinne Kleist8 an gewisse Bezirke des Stirnhirns bzw. an die frontopontine Bahn und ihre Fort- setzung zum Kleinhirn oder an das Linsenkernsystem als Gebiete, deren Schadigung durch einen Herd fiir den Ausfall solcher physiologischer hemmenden Wirkung verantwortlich gemacht warden kSnntcn. In

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unserem Falle lassen die klinischen Symptome, wie oben erw~hnt, eine Schi~digung des corticospinalen Projektionssystems fiir die Willkfir- innervation annehmen, womit aber natiirlich nicht gesagt ist, dab nicht auch andere Hirngebiete dutch den Herd in Mitleidenschaft gezogen sein k6nnten. I)al~ wir dabei vor allem an die erstcre der beiden yon Mayer in Erw~gung gezogenen M6glichkeiten zu dcnken haben, wird durch die Erfahrungen beim strii~ren Syndrom nach Encephalitis nahe- gelegt, wo trotz Erkrankung der basalen Hirnganglien der Grundgelenk- reflex zwar erhalten bleibt, abcr sich meist nicht ausgcsprochen erh6ht erweist. Kli~rung fiber diesc Fragcn dfirfen wir wohl nur yon patho- logisch-anatomischen Feststellungen erwarten. Sie werden sich gewi~ einstellen, wenn man cs sich zur Regel macht, alle Kranken mit einer aus friiher Kindheit stammenden halbseitigen Bewegungsst6rung auf etwaigen gekreuzten Grundgelenkreflcx zu untersuchen. Oa[t ein ge- kreuzter Reflex in solchcn Fallen sich gar nicht so selten finder, geht daraus hervor, dal~ zu den 3 yon Mayer mitgeteilten racine eigenen 6 FMle kommen und da6 Kollege v. Kurz mir yon 3 analogen Beob- achtungen, die er selbst zu machen Ge.legenheit hatte, mfindlich berich- tete. Es ist bemerkenswert, dal~ bisher noch kein einziger Fall eines gekreuzten Grundgelenkreflexes beim Erwachsenen bekannt wurde; andererseits li~[tt sich das Phi~nomen aber auch keineswegs in allen FMlen infantiler Hemiparese oder Hemiparalyse nachweisen; es mug also wohl eine auf frfiher Altersstufe gesetzte zentrale Herdschi~digung auch noch in bestimmter Weise lokalisiert sein. Was die Technik der Prfifung auf gekreuzten Grundgelenkreflex anlangt, so sei bemerkt, da[t die Mitwirkung eines Gehilfen notwendig ist, dcr, w~hrend der Unter- sucher an der einen Hand die Grundphalange eines der 4 dreigliedrigen Finger niederdrfickt, die Extremiti~t der Gegenseite unter Umfassen derselben am distalen Vorderarm so weit hochh~lt, da[t der Untersucher einen etwaigen gekreuzten Bewegungserfolg an der Hand bequem zu beobachten in der Lage ist; bei der Prfifung auf gekreuztcs Hand- Vorderarmzeichen l~Bt man selbstversti~ndlich den Vorderarm der Gegen- seite einfach passiv hcrunterhii, ngen.

Unsere Beobachtung ]iefert einen neuen untrfiglichen Beweis ffir die Richtigkeit der Auffassung C. Mayers yon der Reflexnatur des yon ihm beschriebenen Grundgelenkphi~nomens. Sie bringt aber auch einen neuen Beweis ffir die reflcktorische Natur des Handvorderarmzeichens und widerlegt die gegenteilige Auffassung A. Mayers (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. und Psychol. 74, 218, 1922) und R. Flicks (Journ. f. Psychol. u. Neurol. 291, 93. 1922), die das Phii, nomen als Schmerzabwehrbewegung erkli~ren wollen, wobei Flick deren Zustandekommen in der Weise, wie sie Ldri bcschreibt, als abhii, ngig yon den mcchanischcn Verh~ltnissen des Handgelenkes zu erweisen sucht. Da[3 es sich beim Handvorder-

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armzeichen um keine Schmerzreaktion handelt, hat iibrigens C. Mayer schon in einer Entgegnung auf die Arbcit A. Meyers dargelegt (Ztschr. f. d. gcs. Neurol. u. Psychol. 76, 590. 1922).

Nachtrag zur Korrelctur: Inzwischen ist die Kasuistik der gekreuz- ten Gelenkreflexe um eine weitere Beobachtung vermehrt worden; E. C. Ho//mann (Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 68, 41. 1923) konnte in einem Falle yon Imbezilliti~t mit infantiler ttemiparese Grund- gelenkreflex und Vorderarmzeichen an der paretischcn GliedmaI]c von der gesunden Seite her ausl5sen.