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123 Zur Theorie des Bleikammerprocesses ; von F. Raschig. (Eingelaufen den 11. August 1888.) - Im Anschlufs an eine Arbeit uber das Verhalten der salpetrigen zur schwefligen Saure ") habe ich vor einiger Zeit die bis dahin fast allgernein anerkannte B e r z eli u s'sche Theorie des Bleikammerprocesses , wonach die Schwefelsaurebildung im Wesentlichen auf einer Reduction von salpetriger Saure zu Stickoxyd vermittelst schwefliger Saure und auf einer Oxy- dation dieses Stickoxyds zu salpetriger Saure durch den Sauer- stoff der Luft beruhen SOH, derart rnodificirt, dafs an Stelle dieser Ozydation eine unter Mithulfe des Wassers erfolgende Condensation angenommen wird , die niit dem Verhalten, welches die schweflige S h e zur salpetrigen Saure sowohl in alkalischer, als auch in saurer Losung nachgewiesenermafsen zeigt, irn Einklang steht. L u n g e hat diese -4rbeit zurn Ge- genstand einer Kritik *+) gemacht , in welcher nicht blos meine Modification der B e r z e 1 i u s 'schen Theorie , sondern auch letztere selbst verurtheilt wird. Im Folgenden beab- sichtige ich nachzuweisen, dafs die Einwendungen L u n g e 's gegen beide ohne Belang sind. Neue Griinde fur die Richtig- keit meiner Auffassurig bringe ich nicht und mufs es dem, welchem die von mir bereits dafiir angefiihrten nicht genugen, anbeimstellen, bei der alten, eine abwechselnde Reduction der salpetrigen Saure und Oxydation des dabei entstandenen Stick- oxyds annehmenden Theorie zu bleiben; dagegen hoffe ich allerdings zeigen zu konnen, dafs die jetzt yon L u n g e ver- theidigte Anschauung, welche in der Annahme einer fortwah- ") Diem Aunalen 241, 161. **) Ber. d. deutsch. chem. Ges. 81, 67.

Zur Theorie des Bleikammerprocesses

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Zur Theorie des Bleikammerprocesses ;

von F. Raschig. (Eingelaufen den 11. August 1888.)

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Im Anschlufs an eine Arbeit uber das Verhalten der salpetrigen zur schwefligen Saure ") habe ich vor einiger Zeit die bis dahin fast allgernein anerkannte B e r z eli u s'sche Theorie des Bleikammerprocesses , wonach die Schwefelsaurebildung im Wesentlichen auf einer Reduction von salpetriger Saure zu Stickoxyd vermittelst schwefliger Saure und auf einer Oxy- dation dieses Stickoxyds zu salpetriger Saure durch den Sauer- stoff der Luft beruhen SOH, derart rnodificirt, dafs an Stelle dieser Ozydation eine unter Mithulfe des Wassers erfolgende Condensation angenommen wird , die niit dem Verhalten, welches die schweflige S h e zur salpetrigen Saure sowohl in alkalischer, als auch in saurer Losung nachgewiesenermafsen zeigt, irn Einklang steht. L u n g e hat diese -4rbeit zurn Ge- genstand einer Kritik *+) gemacht , in welcher nicht blos meine Modification der B e r z e 1 i u s 'schen Theorie , sondern auch letztere selbst verurtheilt wird. Im Folgenden beab- sichtige ich nachzuweisen, dafs die Einwendungen L u n g e 's gegen beide ohne Belang sind. Neue Griinde fur die Richtig- keit meiner Auffassurig bringe ich nicht und mufs es dem, welchem die von mir bereits dafiir angefiihrten nicht genugen, anbeimstellen, bei der alten, eine abwechselnde Reduction der salpetrigen Saure und Oxydation des dabei entstandenen Stick- oxyds annehmenden Theorie zu bleiben; dagegen hoffe ich allerdings zeigen zu konnen, dafs die jetzt yon L u n g e ver- theidigte Anschauung, welche in der Annahme einer fortwah-

") Diem Aunalen 241, 161.

**) Ber. d. deutsch. chem. Ges. 81, 67.

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124 R a s c h i g , xur Theorie

renden Bildung und Zersetzung der ,,Bleikammerkrystalle" oder, wie L u n g e lieber sagt, der ,,Nitrosyls~hwefelsaure~ gipfelt, zum mindesten selir nnwahrscheinlich und unnothig complicirt ist. Um dem Unbetlieiligten die Uebersicht uber die beider- seitigen Auffassungen nach Moglichkeit zu erleichtern, habe ich vor, die einzelnen strittigen Punkte genau in der Reihen- folge durchzunehmen, in welcher sie in L u n g e's Abhandlung aufgefuhrt sind. Zuvor jedoch mufs ich eine Behauptung +*) L u n g e 's widerlegen, welche sich wie ein rother Faden durch seine ganze Arbeit zieht und immer und imrner wieder in's Feld gefuhrt wird, wenn es sich darum handelt, die Richtigkeit seiner Theorie zu beweisen und die Nichtigkeit der meinigen darzuthun, die Behauptung namlich, seine Theorie stutze sich .auf lauter Beobachtungen, theils am Betriebsapparate selbst, theils im Laboratorium, ohne Annahme eines einzigen, nicht massenhaft in der Kammer nachgewiesenen Korpers oder einer einzigen nicht fur diese Verhaltnisse vollig sichergestellten Reaction." L u n g e macht es mir gerade znm Vorwurf, dafs ich mit einem Korper operire, dessen Vorkommen in der Blei- kamnier nicht nachgewiesen ist, namlich der Dihydroxylarnin- sulfonsaure, und ich kann auf diesen Vorwurf, dessen Gewicht ich wold anerkenne, nur entgegnen, dafs ich selbst schon vor L u n g e diesen Punkt als meiner Theorie nachtheilig hingestellt habe. Aber wahrend man doch erwarten sollte, dafs der Kritiker sich hiiten wiirde, in den gleichen Fehler zu verfallen, den e r an einem Andern rugt, finden wir gerade das Gegen- theil ; auch der Korper, mit dem L u n g e fortwahrend operirt, auf dessen Bildung und Zersetzung seine ganze Theorie ruht, die Nitrosulfonsaure, ist in einer normal arbeitenden Kammer niernals auch nur in den geringsten Spuren, geschweige denn ,,massenhaft' nachgewiesen worden ; j a man kann hinzufugen, __-

*) Ber. d. deutsch. chem. Ges. Bl, 71.

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des Bleilcammerprocesses. 125

dafs, selbst die Richtigkeit von L u n g e ’s Theorie vorausgesetzt, keine Hoffnung besteht, diesen Nachweis j e zu fuhren, aus dem einfachen Grunde, weil die Bleikammerkrystalle in einer normal arbeitenden Kammer auf die Dauer gar nicht existenz- fahig sind. Ich mache ausdrucklich darauf aufmerksam, dafs es keineswegs das Fehlen dieses Nachweises ist, was rnich veranlafst, die Auffassung meines Gegners zu verwerfen, son- dern dafs ich dafur andere, noch spater zu erorternde Grunde habe; aber ich darf wohl erwarten, dafs man die gleiche Rucksicht auch mir gegeniiber walten lafst und nicht fortwah- rend mit der Ausstellung komnit , ich hatte die Dihydroxyl- aminsulfonsaure in der Kammer nicht nachgewiesen. Jeder Versuch, das Dunkel, welches auf manchen chemischen Vor- gangen ruht, durch Annahme labiler Zwischenproducte aufzu- heilen, d ’ s an dern gleichen Fehler kranken; denn die Zer- setzlichkeit der Zwischenformen , welche auf der einen Seite den Procefs erklart, erschwert oder verhindert auf der anderen Seite ihren Nachweis. Hatte man aber dieses Mangels wegen irnmer auf derartige Versuche vcrzichten wollen , so waren viele der schonsten Erfolge, welche die Chemie in neuester Zeit zu verzeichnen hat, ausgeblieben.

Im Hinblick auf vorstehende Auseinandersetzung kann ich uber den Einwurf, welchen L u n g e der ersten der von mir fur den Bleikammerprocefs aufgestellten Gleichungen rnacht, schnell hinweggehen.

sei unrichtig, da der Beweis ausstehe, dafs unter Bedingungen, wie sie in der Bleikammer existiren, auch nur eine Spur Di- hydroxylaniinsulfonsiiure entstehen konne ; ich erwiedere, dafs eine Gleichung, fur deren Berechtigung der Beweis aussteht, darum noch nicht uiirichtig ist, und zweitens, dafs ich gar keine Versuche gemacht habe noch machen werde, in einer Blei-

L u n g e sagt ++), die Gleichung : 1) N(OH)3 + HSOzOH = (HOI2NSOZOH + H,O

”) Ber. d. deutsch. chem. Ges. 21, 69.

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i 26 R a s c Ib ig , zur Theorie

karnrner Dihydroxylarninsulfonsaure nachzuweisen , weil ich solche Versuche fur ebenso aussichtslos halte, wie die, in einern normalen Iiarnnierbetrieb Nitrosulfonsiiure zu finden.

Die zweite der von niir aufgestellten Gleichungen :

welche angiebt; dafs die Dihydroxylaminsulfonsiiure sich rnit salpetriger SHure in Stickoxyd und Schwefelsaure urnsetzt, und deren Bestehen fur wasserige Liisungen nachgewiesen ist, soll, \vie L u n g e meint, fur den Bleikarnrncrprocefs nicht anwendbar sein. Der Grund ist der, dafs zum Bestehen dieser Gleichung die Anwesenheit von salpetriger Siiure durchaus notliwendig ist ; fehlt die salpetrige Siiure, so zersetzt sicli die Dihydroxylarniiisulfoolisiure trotzdeni, und zwar in Schwefel- siiure und das fur die Fortfulirung des Kanirnerbetriebes werth- lose Stickoxydul. N u n soil aher nach L u n g e " ) i n den Bit+ kamnrerri ,,unbedingt die salpetrige Siiure niclit ulwrall und in jedern Zeit moment in genugender Jlenge gegenwiirtig sein', und es miifsten also ganz erhebliclie Mengen von Stickoxydul irn Procefs entstehen.

Ich rnufs gestehen, dafs ich i n diesern I'unkt, den L u n g e als rneiner Auffassung zuwiderlaufend hinstellt , gerade eine Stiitze der letzteren finde und irnrner gefunderi habe. Eben der Urnstand, dafs, wie L u n g e vollkornnien riclitig sagt **), ,,Nichts in der Praxis der Schwefelsiiurefabrication bestinirnter erwiesen ist, als dafs der l'rocefs nur bei grofsem Uebersclzufs von SauerstoF urid von salpetriger Sli'ure regelrecht von Statten gelit', stelit init nieinen Anschauungen, und nur mit diesen, vollkomrnen im Einklang. Ich behaupte, dafs dieser Ueberschufs an salpetriger Saure gerade den Zweck hat, da- fur zu sorgen, dafs die Xitrose ,uberall' und ,,in jedern Zeit-

2) (HO)PNSO,jH + X(OIJ)3 = 2 NO + HsSOb + 2 1120,

*) a. a. 0. 69. **) a. a. 0. 85.

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des 2) Zeikammerprocemes. 127

moment" in genugender Menge gegenwartig sei, daniit den Moleculen der Dihydroxylaminsulfonsaure ini Moment ihres Zerfalles das zur Bildung von Stickoxyd nothwendige zweite IMolecul von salpctriger Siure geboten werde. Dagegen hat die alte B e r z e 1 i u s 'sche Theorie eirie Erklarung fur die Not.liwendigkeit des Salpeteruberschusses nicht, und auch L u n g e kann von seinem Standpunkte aus den Schaden, der aus einer Verkleinerung dieses Ueberscliusses dem ganzenl Kanimergange erwachst, nur fur den Fall erklaren, wo in de r Kainmeratmosphare aufserdem nocli abnorm grofse Wasser-. mengen vorhanden sind. Wie cs aber kommt, dafs auch beii normaler Dampfzufuhr ein Sparen an Salpetersaure die Schwe-. felsaureproduction sofort ganz unverhaltnifsmiikig herabdruckt., daruber sagt L u n g (2 nichts.

Ich komme n u n zu den Ausstellungen, die L u n g e der dritten der von mir angezogenen Gleiclrungen macht. Diese Gleichung :

welclie e l m s o gut auch :

oder :

gesclirieben werden kiinnte, besagt weiter nichts, als dafs aus dem irri Iiammerprocefs gebildeten Stickoxyd mit Hulfe des Sauerstoffs der Luft wieder salpetrigc Saure entsteht; sie ist auch nicht neu, soridern besteht fast, seit man uberhaupt angefmgen hat den Iiammerprocefs zu erliliiren ; sclron B e r- z e l i u s hat sie aufgestellt und Liin g e selbst, der j a fruher ein Antiiingcr der B e r z e 1 i u s 'schen Lelire war, hat sie ver- tlieidigt. Trotzdem behauptet IA u n g e jetzt , diese Gleichung treffe riicht zu; wie er in 1Jebereir1sti11111iung rnit fruheren Forschern nacligewiesen habe, entstehe aus Stickoxyd, uber- schiissigem Sauerstoff und Wasser nur Salpetersiure, in Ab-

3) 2 NO + 0 -t 3 H*O = 2 N(OH)S,

2 N O + 0 + HZO = 2 H R O z

2 N 0 + 0 = XeOs

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128 R a s c h i g , zur Theorie

wesenheit von Wasser aber Untersalpetersaure. Es ist klar, dafs, wenn L u n g e hier Recht hatte, sowohl die B e r z e l i u s - sche Theorie, als auch meine Erweiterung derselben, fallen miifste ; denn wenn durch Oxydation von Stickoxyd unter den in der Bleikammer gegebenen Bedingungen nur Salpetersiiure oder Untersalpetersaure entstehen kann, so mufs die salpetrige Saure, welche nachgewiesenermafsen in der Kammer vorkommt, auf andere Weise entstanden sein. In der That ist dies die Ueberlegung, mit der L u n g e jetzt seinen Abfall von der B e r z e 1 i u s 'schen Lehre motivirt.

Wie kommt es aber , dafs B e r z e l i u s , der auch schon ganz genau wufste, dafs Stickoxyd bei Gegenwart von Wasser und uberschussigeni Sauerstoff in Salpetersaure ubergeht, nicht auf die gleiche Schlufsfolgerung, wie L u n g e, verfiel, sondern bis an sein Ende behauptete, die salpetrige Saure der Blei- kammern entstehe durch Oxydation des Stickoxyds ? Wie ist es zu erklaren, dafs L u n g e selbst, dem, wit: aus zahlreichen Bemerkungen in seinem Handbucli der Soda-Indusrie ") her - vorpaht, diese Thatsache ebenfalls wohl bekannt war, doch in diesem selben Buch noch als Verfechter der B e r z e l i u s'schen Lehre auftritt ? Die Losung liegt nahe; Jedermann kennt den Vorlesungsversuch, bei dem man zu uber Wasser abgesperrten Stickoxyd allmahlich Sauerstoff treten lafst ; Jederrnann weirs, dafs dabei das Stickoxyd schliefslich vollstindig verschwindet und dafs das Wasser nachher Salpetersaure gelost enthalt; aber es ist auch ebenso allgeniein bekannt, dafs dieser Ueber- gang nicht momentan, sondern allmahlich erfolgt und dafs wahrend der Reactionsdauer die Atmosphare des Glases, trotz- dern sie rnit Wasserdampf gesattigt ist, eine intensiv rotlibraune Farbe annimmt. Das Stickoxyd geht also nicht direct, wie L u n g e iinrner stillschweigend annimrnt , sondern durch die

*) Band I? Braunschweig 1879.

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gefiirbten Zwischenstufen, salpetrige Saure und Untersalpeter- saure hindurch in die farblose Salpetersaure iiber, und ebenso eritsteht salpe,trige Saure , wenn Stickoxyd bei Abwesenlieit von Wasser durch Sauerstoffzufuhr zu Untersalpetersaure wird, als interniediares Product.

Diese Thatsachen reichen vollkornmen hin, urn Lunge’ s Schliisse zu entkraften. Mogen immer die Verhaltnisse in den Bleikammern derartige sein, d a b aus Stickoxyd als Endproduct Untersalpetersaure oder gar Salpetersaure entstehen wiirde (was aber, wie nachher noch ausgefiihrt werden soll, gar nicht einmal der Fall ist), so bleibt es doch sicher, dafs bei der Oxydation salpetrige Saure als Zwischenproduct auftreten rnufs. Noch ehe diese Zwischenstufe weiter oxydirt wird , tritt sie mit der schwefligen Saure, welche, wie ebenfalls noch gezeigt werden SOU, niit salpetriger Saure auch bei Abwesenheit von Sauerstoff lebhaft reagirt, nach Gleichung 1 zusammen und der Kreislauf beginnt von Neuem.

Die Einwande, welche L u n g e gegen die von niir zur Erklarung des Iiammerprocesses angezogenen Gleichungen gemacht hat, sind also hinfallig. Ich schliefse aus dieser Thatsache nicht, dafs die genannten Gleichungen richtig sein rniissen, wohl aber, dafs ihre Widerlegung nicht so leicht, dafs ihre Unrichtigkeit nicht so selbstverstandlich ist, wie man sich vorgestellt hat.

Wie sich L u n g e doch etwas zn wenig Miihe gegeben hat, auf die von rnir angefiihrten Thatsachen und Ansicliterr griiridlich einzugehen, das zeigt sich an1 besten an den Aus- stellungen ”), die er an den Nachweis der Ammoniakbildung ini Bleikammerprocesse kniipft. Ich babe auf diesen Nachweis besonderen Werth gelegt, weil ich allerdings der Ansicht bin, dafs diese Ammoniakbildung nur im Anschlufs an meine An-

*) a. a. 0. 70.

Anoalen der Chemie 248. Bd. 9

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schauungen zu erklaren ist, und es ist schliefslich gegliickt, durch Destillation relativ grofser Mengen einer von Nitrose freien Kammersaure mit Natronlauge und Eindampfen des Destillats mit Salzsaure und Platinchlorid eine recht erhebliche Menge von Ammoniumplatinchlorid zu erhalten. L u n g e jedoch meint, es sei nicht einmal ganz sicher, ,,ob die von mir auf- gefundenen Spuren von Ammoniak (0,0028 bis 0,0138 pC.) nicht ganz oder theilweise aus der grofsen Menge der ver- wendeten Natronlauge stammten , welche bekanntlich haufig ein wenig Ammoniak beirn Kochen abgiebt ; jedenfalls hatte dieser Einwand durch einen Controlversuch mit der Natron- lauge fur sich abgeschnitten werden sollen." Darauf ist zu erwidern, dafs es selbstverstandlich ist, dafs man bei Nachweis so kleiner Amnioniakmengen darauf sieht, dafs die Reagentien ammoniakfrei sind, ferner aber, dafs L u n g e ganz iibersehen hat, dafs erstens der verlangte Controlversuch in meiner Ab- handlung aufgefuhrt wird, indem verschiedene Schwefelsauren mit der gleichen Menge derselben Natronlauge ebenso be- handelt leein Ammoniak liefertea , wahrend die Griesheimer nitrosefreie Saure eine recht betrachtliche Menge von Ammo- niumplatinchlorid ergab, und dafs zweitens der Ammoniakge- halt der fraglichen Saure auch durch N el's 1 e r 's Reagens nachgewiesen wurde.

Ich bin so glucklich hinzufugen zu konnen, dafs inzwischen auch von anderer Seite das Vorkommen von Ammoniak in der Kamrnersaure sichergestellt ist. Herr H a s e n c 1 e v e r, dem ich fur sein freundliches Entgegenkornrnen sehr dankbar bin, theilt mir mit, dafs in Folge meiner Publication auf der Schwefelsaurefabrik der Rhenania zu Stolberg bei Aachen ,,Herr C 1 a r Saure aus verschiedenen Theilen der Kammer untersucht und in einer Vorkammer, die frei von nitroser Saure ist, Ammoniak deutlich nachgewiesen hat. Es entstand ein starker gelber Niederschlag mit N e P s 1 e r 'schem Reagens

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des Bleikammerprocesses. 131

nach vorheriger Neutralisation mit chemisch reiner Natron- losung.'

L u n g e hat allcrdings auch fur den Fall, dafs die Bildung von Ammoniak in den Kammern sich bewahrheiten sollte, seine Erklarung zur Hand; er meint, dafs dieser Vorgang hochstens dafur spreche, dafs ,,in den Bleikammern Nebenreactionen in ganz geringem Betrage stattfinden , durch die das Ammoniak entsteht, moglicherweise nach dem R a s c hig'schen Reactions- schema", Wenn L u n g e aber weiter angiebt, ich selbst gabe dies unmittelbar vorher zu, indem ich sagte*), es ,,konne vorkommen, dafs dieser Reactionsverlauf in den Bleikammern, wenn auch nur von einem sehr kleinen Theile der Molecule, durchgemacht werde" , so mufs ich diese Unterstellung, nach der ich selbst in einem schwachen Augenblicke die sonst zur Erklarung der Schwefelsaurebildung herangezogene Reaction als ,,moglicherweise eintretende Nebenreaction" bezeichnet haben soll, entschieden zuruckweisen. Dem aufnierksamen Leser der betreffenden Stelle kann es nicht entgehen, dafs unter dem Reactionsverlauf, von dem ich sagte, er konne von einem sehr kleinen Theil der Molecule durchgemacht werden, das vollstandige Durchlaufen der aus drei Gliedern bestehenden Reactionskette von der salpetrigen Saure bis zum Ammoniak gemeint ist, wahrend beim normalen Verlauf, den meiner Auffassung nach alle Molecule durchmachen, die Re- action beim ersten Gliede dieser Kette, bei der Dihydroxyl- aminsulfosaure stehen bleibt.

Ich komme nunmehr zur Charakterisirung der neuen von L u n g e aufgestellten Theorie. L u n g e vermag die B e r z e- l i u s 'schen Anschauungen nicht mehr zu theilen und zwar

") Diese Annalen 241, 247.

9*

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132

aus zweierlei Griinden. ,Erstens 35) sollten dann iiberall, w o Schwefelsaure gebildet wird, also aucli im hinteren Theile des Kainmersystenis neben den Moleculen von NzOB eine grofse Anzahl von Stickoxydmoleculen gefunden werden, wahrend die Analyse der Gase im grofseren Theile des Systems nur Nz03 zeigte.a Dieser Einwand ist nicht stichhaltig ; denn Stickoxyd wird bekanntlich durch Sauerstoff sehr schnell oxy- dirt, und da auch im hinteren Theile eines Kammersystems immer noch Sanerstoff vorhanden ist, ferner aber in diesen Regionen der Kammer die Schwefelsaurebildung , mit der ja die Neubildung des Stickoxyds verknupft ist, relativ langsam verlauft, so kann es nicht Wunder nehmen, dafs man hier kein Stickoxyd nachweisen kann ; es wird eben in dem M a t e , wie es entsteht, sofort wieder oxydirt. In dern vorderen Theil der Kammer aber , wo die Reaction eine lebhafte ist, wo die Hauptmenge der Schwefelsaure gebildet wird, t r im nicht jedes Stickoxydmolecul im Moment, w o es entsteht, rnit dem zur Oxydation nothwendigen Sauerstoffmolecul zusammen, und hier zeigt in der That schon die helle Farbe der Kammer- gase einen hohen Stickoxydgehalt an, den L u n g e und N a e f auch analytisch bestatigt fanden.

Der zweite Einwand, welchen L u n g e gegen die B e r - z e 1 i u s 'sche Theorie richtet, ist bereits oben gewurdigt worden. L u n g e hat, wie er sagt, nachgewiesen, dafs Stickoxyd und uberschussiger Sauerstoff nicht zu salpetriger Saure zusam- mentreten, sondern bei Abwesenheit von Wasser zu Unter- salpetersaure, bei Anwesenheit desselben zu Salpetersaure ; da nun aber doc11 die salpetrige Saure in den Kammern eine Hauptrolle spielt , so , sagt er , kann dieselbe nicht durch Oxydation von Stickoxyd entstanden sein, sondern mu& ihre Bildung einer anderen Reaction, wie er annimmt, der Ein-

R u s c h i g , zur Theorie

") a . a. 0. 76.

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wirkung von Wasser auf Nitrosulfonsaure verdanken. Ich habe aber bereits darauf hingewiesen, dafs L u n g e ’s Ver- suche uber die Oxydation von Stickoxyd durch Sauerstoff, selbst wenn sie auf die Verhaltnisse in den Bleikammern iibertragen werden diirften, doch nicht beweisend sein konnen, da als intermediares Product immer salpetrige Saure entstehen mufs; es ist hier aber ferner hervorzuheben, dafs eine der- artige Uebertragung durchaus unzuliissig ist. Vor allen Dingen ist es ein Irrthum, wenn L u n g e meint, das in den Kammern in Nebelform vertheilte Wasser musse im Verein mit Sauerstoff sofort etwa entstehendes Stickoxyd zu Salpetersaure oxydiren, welche als relativ bestandig fur den Bleikarnmerprocefs ver- loren sei. Dafs eine Bildung von Salpetersaure im Procefs demselben schadet, . ist allerdings richtig ; aber es ist nicht wahr, dafs die Bedingungen dazu in den1 Mafse vorhanden sind, dafs ein etwaiges Auftreten von Stickoxyd sofort diese schadliche Reaction einleiten wiirde. Es ist eben ein Irrthum, anzunehmen, dafs die Atmosphare der Kammern eine rnit Wassernebel erfullte oder, wie L u n g e gar meint, ,mit Danipf ubersattigt” ++) sei; schon der Umstand, dafs sich in ihr be- standig ein so stark Wasser anziehendes Agens, wie es die Kammerschwefelsaure immer noch ist, niederschlagt, spriclit dafur, dafs die Atmosphare in ihr relativ trocken sein mufs, und ein leicht an jeder Kammer anzustellender Versuch be- weist dasselbe. Man fange nur einige Liter der rothen Kam- mergase in einer trockenen Glasflasche auf, und man wird sehen, dafs dieses Gas auch nach tagelangem Stehen seine rothe Farbe nicht verliert, nach ganz kurzer Zeit aber farblos wird, sowie man einige Tropfen Wasser hinzufugt. Der Wassermangel ist es also, der verhindert, dafs die rothen Kammergase, obwohl sie den nothigen Sauerstoff euthalten,

*) a a. 0. 79.

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134 R a s c h i g , XUT Theorie

in die farblose Salpetersaure ubergehen ; ware die Karnrner- atmosphire rnit Wasser, sei es in Dampf- oder Nebelform erfullt, so mufste sich eine herausgenommene Probe in kurzer Zeit entfarben.

Damit ware also die Frage, ob Stickoxyd, im Fall es einen regelrnafsigen Bestandtheil der Karnmergase bildete, rnit Beihiilfe des Wassers und Sauerstoffs in Salpetersaure uber- gehen mufste oder nicht, zu Ungunsten L u n ge ’s entschieden, und es fragt sich nunrnehr, ob L u n g e im Recht ist, wenn e r behauptet, bei Abwesenheit von Wasser gehe Stickoxyd nicht in salpetrige Saure, sondern in Stickstoffdioxyd, Unter- salpetersaure uber. Auch hier konnen die drei Laboratoriums- versuche, welche L u n g e angestellt *) hat, nicht als beweisend fur die Vorgange in den Bleikarnmern aufgefafst werden. L u n g e hat in einem eigens dazu construirten Apparat ge- rnessene Volume von Stickoxyd und Sauerstoff, welche beide durch concentrirte Schwefelsaure getrocknet waren, zusammen- gebracht, hat das entstandene rothe Gas dann in concentrirter Schwefelsaure absorbirt und in dieser Losung einmal den Stickstoff vermittelst des Nitrometers , die Menge Sauerstoff aber, welche der gelosten Stickstoffverbindung fehlt, um in Salpetersaure uberzugehen, durch Titration verrnittelst Charna- leon bestirnrnt. Nach dieser fiir den vorliegenden Fall durch- aus einwandfreien Metliode fand L u n g e in drei Versuchen, dafs trockenes Stickoxyd, mit etwa dem doppelten der be- rechneten Menge reinen Sauerstoffs gemischt, fast nur Unter- salpetersaure liefert j salpetrige Saure war nur in Spurea entstanden. Bis hierher mag L u n g e vollstandig recht haben; wenn e r aber aus diesem Versuch schliefst, dafs dernnach, ,da in den Bleikarnrnern ein enorrner Ueberschufs von Sauer- stoff vorhanden ist, das nach friiherer allgemeiner Annahrne

”) Ber. d. deutsch. chem. Ges. 18, 1388.

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des Bleikammerprocesses. 135

dort freiwerdende NO hauptsachlich in NzOd ubergehen miifste", so ist dieser Schlufs durchaus verfehlt. Erstens einnial ist das in den Kammern vorhandene Gasgemisch nicht durch concentrirte Schwefelsaure getrocknet , sondern enthalt soviel Feuchtigkeit, als der Darnpfspannung der sich niederschlagen- den Karnmersaure entspricht, zweitens aber herrscht in den Kammern nicht ein Ueberschufs von reinem, sondern von sehr stark durch den chernisch indifferenten Stickstoff verdunnten Sauerstoff. Besonders das letztere Moment ist es, dessen Nichtachtung fur L u n g e verhangnifsvoll geworden ist ; denn hatte er den Versuch mit Anwendung von Luft statt von Sauerstoff wiederholt, so wiirde er gefunden haben, dafs unter diesen Umstanden, auch bei Anwendung eines grofsen Luft- uherschusses, Stickoxyd nicht in Untersalpetersaure, sondern ganz vorwiegend in salpetrige Xaure ubergeht.

Ich habe diese Versuche folgendermafsen angestellt :

Stickoxyd, aus Kupfer und Salpetersaure dargestellt , durch Wasser gewaschen und in einern mit Wasser gefullten Gaso- meter aufgefangen , wurde in langsamem Strome durch eine mit Kammerschwefelsaure gefiillte Waschflasche geleitet, ferner durch die gleiche Flasche vermittelst eines gleich weiten und ebenso tief in die Saure eintauchenden Glasrohres atmospha- rische Luft. Der Gasstrom wurde so regulirt, dafs auf je eine Blase Stickoxydgas funf Luftblasen durch die Saure traten - das ist etwa das Doppelte der zur Bildung von Untersal- petersaure nothigen DiIenge - und sodann durch eine dritte Rohre in eine mit concentrirter Schwefelsaure gefullte Flasche geleitet, in der das nitrose Gas aufgefangen wurde. Diese Saure wurde sodann nach den eben geschilderten, von L u n g e angegebenen Methoden auf ihren Gehalt an Stickstoff und ihre reducirende Kraft gegenuber Permanganat untersucht. Das Resultat von drei an verschiedenen Tagen angestellten Versuchen war :

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136 R a s c h ig , zur Theorie

1. I0 cbcm nitroser SBure lieferten im Nitrometor bei 25O und 756 mm Druck 20,s cbcm NO.

losuug, von der 100 cbcm entsprechen 0,5344 g NaNO,.

22,s cbcm NO.

18,5 cbcm der Saure reducirteu 20 cbcm einer Permanganat-

2. 5 cbcm nitroser Saure gaben bei 2 l 0 und 750 mm Druck

25 cbcm der SLiure entsprechen 50 cbcm Permanganat. 1 cbcm nitroser Saure gab bei 27O und 760 mm Druck 7,4cbcm NO. 14,2 cbcm der Siiure entsprechen 50 cbcm Permanganat.

3.

Aus diesen Daten ergiebt sich, dafs das Atomverhaltnifs des in der nitrosen Saure vorhandenen Stickstoffs zu dem Sauerstoff, welcher die vorhandene Stickstoffverbindung in Salpetersaure iiberfuhrt, ist :

N 0 1) -- = 0,996,

N 0 2) - = 1,208,

N 0 3) = 1,104.

Es berechnet sich nach der Gleichung : 2 NO f 3 0 -+ HzO = 2 HNOB N 2 0 3 fur Stickoxyd - = - = 0,666 . . . ,

nach der Gleichung : HNOz + 0 = HN03 N 0 fur salpetrige Saure- = 1,

nach der Gleichung : 2NOz f 0 + HBO = 2HNO3

N 0 fur Uritersalpetersaure - = 2.

Die in den drei Versuchen gefundenen Werthe bewegen sich nahe um 1 herum; es ist also, trotzdem doppelt soviel Sauerstoff vorhanden war als zur Bildung von Untersalpeter- saure nothig, viernial soviel als salpetrige Siiure brauchte, ganz vorwiegend die letztere Stickstoffverbindung entstanden.

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des Bleikammerprocesses. 137

Drei fernere unabhangig von einander aufgefuhrte Ver- suche, bei denen auf j e ein Volunien Stickoxyd zehn Volume Luft zur Anwendung kamen, gaben folgende Resultate :

4. 1 cbcm nitroser SLure gab bei 27" und 760 mm Druck 4 cbcm NO. 22,6 cbcm der SBure entsprechen 50 cbcm Chamaleon.

I cbcm nitroser Saure gab bei 26" und 754 mm Druck 4,5cbcm NO. 22,l cbcm entsprecheu 50 cbcm Permanganat.

5 cbcm nitroser Saure gaben bei 21O und 750 mm Druck 2 1 cbcm

26,5 cbcm der Saure reducirten 50 cbcm Permanganat.

5.

6. NO.

Das Atoinverhlltnifs ergiebt sich daher zu : N

4) 0 = 0,951,

N 0 5 ) -- = 1,041,

N 6) -a- also trotz nochmaliger Verdoppelung der Luftmenge wieder ganz uberwiegende Bildung von salpetriger Saure.

Diese Versuche beweisen also, dafs der Einwurf, den L u n g e der B e r z e l i u s 'schen Theorie macht, in ihr fungire eine Gleichung :

welche gar nicht bestehe , unberechtigt ist ; die Gultigkeit dieser Gleichung gerade fur die in den Bleikammern herr- schenden Verhaltnisse ist jetzt in erhohtem Grade sicher ge- stellt. Damit sind aber auch sammtliche Argumente, welche L u n g e in's Feld fuhrt, urn seinen Abfall yon der B e r z e 1 iu s- schen Theorie zu motiviren, hinfallig geworden, und es handelt sich jetzt nur noch urn die Frage, ob man ein Recht hat, eine alt bewahrte, durchaus einfache Theorie, wie es die von B e r z e 1 i u s ist, resp. die von mir vorgeschlagene Modification derselben, welche sich auf bewiesene Reactionen sttitzt und uber inariche bis dahin dunkle Verhaltnisse Licht verbreitet hat, zu verlassen zu Gunsten einer Anschauungsweise, welche

2 N 0 + 0 = N,O,,

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138 R a s c h ig , zur Theorie

vor allen Dingen durch eine geradezu verwirrende Compli- cirtheit charakterisirt ist.

Denn complicirt ist L u n g e ' s neue Theorie in der That. Einfach war sie in der Form, wie sie D a v y aufstellte , wie sie spater von G m e 1 i n und C 1. W i n k 1 e r vertheidigt wurde ; einfach war sie noch vor drei Jahren, als L u n g e sie wieder an das Licht zog "), denn damals lautete sie : ,,Die schweflige Saure tritt unmittelbar mit Stickstofftrioxyd, Sauerstoff und wenig Wasser zu Nitrosylschwefelsaure zusammen , welche nebelformig in der Kammer schwebt ; beim Zusammentreffen niit mehr Wasser, welches ebenfalls als Nebel in der Kammer vertheilt ist, zerlegt sich die Nitrosylschwefelsaure in Schwe- felsaure, die zu Boden sinkt, und in salpetrige Saure, welche von Neuem wirken kann.' Allein L u n g e hat ganz richtig eingesehen, dafs diese Theorie dem heutigen Stande unserer Kenntnisse nicht mehr entspricht , dafs sie vor allen Dingen in dieser Form gar keine Rucksicht auf das Stickoxyd nimmt, dessen Vorkorrinien in der Kammer doch zu fest steht; e r sieht sich daher in die Zwangslage versetzt, diese Theorie zu erweitern. Allerdings sol1 die Schwefelsaurebildung auch jetzt noch der Hauptsache nach auf intermediarer Entstehung von Nitrosylschwefelsaure beruhen, allein gerade fur den vorderen Theil des Systems, in dem die Hauptreaction verlauft, in welchem die Schwefelsaurebildung weitaus am starksten ist, werden Modificationen angenommen. Da heifst es, ein Theil der Nitrosylschwefelsaure wird durch Schwefligsaure denitrirt :

und das dabei auftretende Stickoxyd tritt mit Sauerstoff, schwefliger Saure und Wasser direct wieder zu Nitrosyl- schwefelsaure zusammen ; ferner aber kann letztere auch noch durch Einwirkung vori (ursprunglich eingefuhrter oder frisch gebildeter) Salpetersaure auf Schwefeldioxyd entstehen , und

2 SOg(0H)ONO + SO2 + 2 HZO = 3 HzS04 + 2 NO

*) Ber. d. deutsch. chem. Ges. l t 3 , 1390.

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des Bleikammerprocesses. i 39

in unbedeutendem Grade geht auch die directe Bildung von Schwefelsaure aus schwefliger Saure durch Reduction von Untersalpetersaure und salpetriger Saure vor sich. Ich will rnir eine Kritik dieser vielen Vorschlage ersparen; ich will sogar zugeben, dafs zwei der angegebenen Reactionen that- sachlich bestehen, narnlich die Bildung von Nitrosylschwefel- saure aus salpetriger Saure, Sauerstoff, schwefliger Saure und wenig Wasser urtd die Bildung von Stickoxyd aus Nitro- sylschwefelsaure durch schweflige Saure ; denn jene Reaction tritt ein, sobald zu wenig Wasser in die Kammern eingefuhrt wird, und diese findet zweifellos in1 Gloverthurm statt; aber dafs sie unter norrnalen Unistanden in den Bleikarnrnern auf- treten, das hat L u n g e nicht bewiesen, und so lange dieser Beweis aussteht, liegt kein Grund vor, seine Theorie anzu- nehmen. Freilich ist es auch ebenso wenig rnoglich, festzu- stellen, dafs keine intermediare Bildung von Nitrosylschwefel- saure in den Kammern stattfindet ; aber es gelingt wenigstens umgekehrt nachzuweisen, dafs Schwefelsaure auch dann ge- bildet wird, wenn eine Entstehung von Nitrosylschwefelsaure ganzlich ausgeschlossen ist. Wenn man reines nach L un g e ’s Vorschrift aus arseniger Saure und Salpetersaure dargestelltes salpetrigsaures Gas zusarnrnen mit luftfreier schwefliger Saure und rnit Wasserdarnpf in eine Glasrohre leitet, so tritt reich- liche und regelrnafsige Schwefelsaurebildung ein, trotzdem das fur L u n g e’s Gleichung :

nothwendige Sauerstoffrnolecul gar nicht vorhanden ist ; und aus dern Ende der Rohre entweicht farbloses Stickoxyd. IR diesern Falle bleibt also L u n g e ’s Anschauungsweise eine Erklarung fur die Schwefelsaurebildung schuldig, denn 3k) ,,die directe Bildung von Schwefelsaure aus Schwefligsaure durch Reduction von NOz und N20B geht gewifs nur in sehr unbe-

2S02 + N2Os + 02 + H e 0 = 2 SO,(OH)(ONO)

”) a. a. 0. 81.

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i 40 B a u er , uber die aus F'lohsamenschleim

deutendem Grade vor sich", wahreiid die Theorie von B er- z e l i u s auf diese Reaction gerade den Hauptwerth legt und meine Vorschlage dafur eine mit den sonstigen Eigenschaften der schwefligen und salpetrigen Saure ubereinstimmende Er- klarung gegeben haben.

Ich hoffe, dafs es mir gelungen ist, im Vorstehenden die Schwachen der L u n g e 'schen Ansichten und die Vortheile der alten B e r z e 1 i u s 'schen Theorie genugend hervorzuheben. Freilich krankt jede Discussion uber diesen Gegenstand daran, dafs es nicht gelingt, unwiderlegliche Beweise fur die Rich- tigkeit der einen oder anderen Ansicht beizubringen, sondern dafs man immer mit Wahrscheinlichkeitsgrunden kampfen mufs. Aus diesem Grunde wage ich auch kaum anzunehmen, da€s L u n g e seinen Standpunkt verlassen wird, und bin auf eine Replik von seiner Seite gefafst. Ich glaube aber, dafs es mir in einer nochrnaligen Antwort kaum moglich sein wurde, wesentlicli Neues vorzubringen, und erklare daher schon jetzt, um nicht in eine endlose Polemib verwickelt zu werden, dafs ich nicht in der Lage bin, auf fernere Entgegnungen einzu- gehen.

Badische Anilin- und Sodafabrik. Ludwigshafen a./Rh.

Ueber die aus Flolisamenschleim entstehende Zuckerart ;

von R. W . Bauer. (Eingelaufen den 10. Jun i 1888.)

Der Schleim der Flohsamen wurde zuerst von C. S c h m i d t untersucht. In seiner Abhandlung uber Pflanzenschleim und Bassorin +*) giebt dieser an, dafs der durch Weingeist gefallte

*) Diem Annalen 51, 49.