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1 Dieser Text stammt von Rivka Kahana, geborene Grünwald (1926-2013). Sie hat zusammen mit ihren Schwestern Leah und Esther das KZ Auschwitz-Birkenau überlebt. Ihre Tochter Vardi hat uns die Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt. 1944 bin ich nach zwei Jahren von Ungvàr nach Bergsas heimgekehrt, nachdem ich in dieser Zeit bei Onkeln als Leiterin eines Textilladens arbeitete. Mein Onkel Leopold war zur Zwangsarbeit rekrutiert. Meine Mutter hatte in Ungvàr drei Schwestern. Zwei von ihnen hatten einen Konfektionskleiderladen und die dritte einen Textilladen. Eine der Schwestern hatte drei Kinder, die andere zwei und eine war unverheiratet. Alle wurden von den Deutschen in Auschwitz-Birkenau ermordet. Niemand kehrte nach Hause zurück. Im Februar wurde mein Bruder Zeevi 13. Wir haben seine Bar-Mitzwa im engen Fa- milienkreis und mit wenigen Freunden gefeiert. In seiner Ansprache erwähnte der Junge, wie traurig unsere Situation wäre und warnte vor der großen Gefahr, die uns Juden erwartet. Alle hatten Tränen in den Augen. Nur drei Monate später wurde der Junge in Auschwitz-Birkenau ermordet. Am 19. März marschierten die Deutschen ein. Alle Juden gerieten in Panik. Wir wussten von den Juden, die zu uns aus Polen geflüchtet sind, dass die Deutschen alle Juden brutal umbringen. Als erstes haben sie dafür gesorgt, dass Terror in der Stadt entsteht. Sie haben die Gemeinderäte verhaftet, als Geiseln gehalten und verlangten eine unvorstellbare Geldsumme für ihre Befreiung. Menschen sind in den Straßen herumgelaufen und haben unter den Juden versucht Geldspenden zu sammeln, um die Hauptfunktionäre der Gemeinde zu befreien. Die Deutschen kassierten den Geldbetrag ein, hatten die Geiseln jedoch zuvor noch getötet. Die Verfolgungen häuften sich: gelber Stern, Ausgangssperren, die Pflicht, nichtjüdische Angestellte in jüdischen Geschäften anzustellen und so weiter. Zum Pessahfest schlossen wir alle Fenster und Jalousien und haben die Haggadah flüsternd gelesen. Die Angst war berechtigt, denn der ganze Hof war voll mit deutschen Soldaten auf Lastwagen. In der Frühe, als ich die Fenster aufmachte, um die Wohnung zu lüften, guckte ein Soldat hinein und fragte: „Schlafen die Juden noch in Betten?!Im April hat uns die ungari-

zusammen mit ihren Schwestern Leah und Esther das KZ … · 2015. 1. 24. · Meine Schwester Lea sagte zu einem der Polizisten: „Ja, ... dann nehmen Sie Ihre Tochter.“ Und so

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    Dieser Text stammt von Rivka Kahana, geborene Grünwald (1926-2013). Sie hat zusammen mit ihren Schwestern Leah und Esther das KZ Auschwitz-Birkenau überlebt. Ihre Tochter Vardi hat uns die Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt.

    1944 bin ich nach zwei Jahren von Ungvàr nach Bergsas heimgekehrt, nachdem ich

    in dieser Zeit bei Onkeln als Leiterin eines Textilladens arbeitete. Mein Onkel Leopold

    war zur Zwangsarbeit rekrutiert. Meine Mutter hatte in Ungvàr drei Schwestern. Zwei

    von ihnen hatten einen Konfektionskleiderladen und die dritte einen Textilladen. Eine

    der Schwestern hatte drei Kinder, die andere zwei und eine war unverheiratet. Alle

    wurden von den Deutschen in Auschwitz-Birkenau ermordet. Niemand kehrte nach

    Hause zurück.

    Im Februar wurde mein Bruder Zeevi 13. Wir haben seine Bar-Mitzwa im engen Fa-

    milienkreis und mit wenigen Freunden gefeiert. In seiner Ansprache erwähnte der

    Junge, wie traurig unsere Situation wäre und warnte vor der großen Gefahr, die uns

    Juden erwartet. Alle hatten Tränen in den Augen. Nur drei Monate später wurde der

    Junge in Auschwitz-Birkenau ermordet.

    Am 19. März marschierten die Deutschen ein. Alle Juden gerieten in Panik. Wir

    wussten von den Juden, die zu uns aus Polen geflüchtet sind, dass die Deutschen alle

    Juden brutal umbringen. Als erstes haben sie dafür gesorgt, dass Terror in der Stadt

    entsteht. Sie haben die Gemeinderäte verhaftet, als Geiseln gehalten und verlangten

    eine unvorstellbare Geldsumme für ihre Befreiung. Menschen sind in den Straßen

    herumgelaufen und haben unter den Juden versucht Geldspenden zu sammeln, um

    die Hauptfunktionäre der Gemeinde zu befreien. Die Deutschen kassierten den

    Geldbetrag ein, hatten die Geiseln jedoch zuvor noch getötet. Die Verfolgungen

    häuften sich: gelber Stern, Ausgangssperren, die Pflicht, nichtjüdische Angestellte in

    jüdischen Geschäften anzustellen und so weiter. Zum Pessahfest schlossen wir alle

    Fenster und Jalousien und haben die Haggadah flüsternd gelesen. Die Angst war

    berechtigt, denn der ganze Hof war voll mit deutschen Soldaten auf Lastwagen. In der

    Frühe, als ich die Fenster aufmachte, um die Wohnung zu lüften, guckte ein Soldat

    hinein und fragte: „Schlafen die Juden noch in Betten?!“ Im April hat uns die ungari-

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    sche Polizei befohlen, nur die unbedingt notwendigen Sachen einzupacken, die aber

    ein bestimmtes Gewicht nicht übersteigen sollten, während alles andere zu Hause

    gelassen werden sollte.

    Zwei ungarische Polizisten traten bewaffnet in die Wohnung ein und einer von ihnen

    führte meinen Vater in das Schlafzimmer. Ich hatte Angst, Vati alleine zu lassen und

    ging ihm nach. Der Polizist sagte: „Ihr dürft nicht mehr als dreihundert Pengo behal-

    ten. Gib mir den Rest.“ “Ich habe kein Geld,“ antwortete mein Vater. „Juden haben immer auch ein Vermögen,“ sagte der Polizist. “Mein Vermögen sind meine Kinder,“ erwiderte mein Vater. „Dann hole sie heraus, ich muss eure Wohnung sperren,“ be-

    endete der Polizist das Gespräch. Wir gingen zum Ausgang hinaus auf die offene

    Veranda.

    Vati nahm eine Postkarte aus seiner Tasche heraus und schrieb einige Wörter

    an meinen Bruder Jossi, der in Budapest versteckt lebte. Die Postkarte ist bis heute

    noch als Andenken in unserem Besitz. Etwas später kam ein Karren, auf den wir die

    uns überlassenen Reste unseres Hab und Gut luden und wurden in das Ghetto ver-

    bannt.

    Das Ghetto war ein Riesenterrain einer Ziegelei, die einem Juden namens Vari ge-

    hörte.

    Familien wurden in Baracken zusammengepfercht, die dem Trocknen von Dachzie-

    geln dienten. Jede Familie, und die meisten waren kinderreiche Familien, bekam eine

    Fläche, die der Größe eines Zimmers glich. Ohne sanitäre Einrichtungen und ohne

    Betten. Wir mussten auf dem bloßen Boden Decken ausbreiten. Leintücher oder an-

    dere Stoffstücke dienten als Vorhänge für die Abtrennung zwischen den einzelnen

    Familien.

    Am 12. Mai stellten die Deutschen einen Eimer am Eingang zur Baracke auf und be-

    fahlen uns auf Deutsch und Ungarisch, jedes Schmuckstück in diesen Eimer zu wer-

    fen. Einige Stunden später kamen sie wieder und durchsuchten die Körper eine Fa-

    milie.

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    Die Menschen erschraken, schrien und weinten und man konnte ein Geräusche von

    den Dachziegel hören. Es waren auf Dachziegel geworfene Medaillen und Münzen,

    die die Menschen aus sentimentalen Gründen für sich behalten wollten.

    Meine Mutter bemerkte, dass ich noch Ohrringe in den Ohren hatte und sagte, ich

    müsse sie herausnehmen. Ich zeigte ihr, dass es mir nicht gelang, einen Ohrring zu

    öffnen. Meine Mutter versuchte es selbst, doch es ist auch ihr misslungen. Es fiel mir

    auf, dass ihre Hände zitterten und ich fragte sie: „Wovor hast du Angst? Warum zit-

    terst du?“ „Diese Sadisten werden den Ohrring zusammen mit deinem Ohr ausreißen;

    davor habe ich Angst,“ sagte meine Mutter.

    Am 15. Mai hielten Güterwaggons in der Nähe des Ghettos. Es waren eigentlich

    Viehwaggons. Ungarische Polizisten durchsuchten jeden und jede am ganzen Körper.

    Man sagte uns: „Ihr werdet zur Arbeit gebracht. Die Alten werden auf die Kinder auf-

    passen, um die Familien nicht auseinander zu reißen. Je schneller ihr am Ziel seid,

    desto größer sind eure Chancen, eine Arbeit zu bekommen.“ Bevor wir in die Vieh-

    waggons hineingepresst wurden, hat man uns alle Dokumente weggenommen. Mein

    Vater reagierte darauf laut: „Wenn man einem Menschen seine Dokumente weg-

    nimmt, beraubt man ihm der Existenz!“. Wir verstanden, was er gemeint hat, aber die Waffen waren in ihren Händen und es blieb uns nichts anderes übrig, als uns in den

    Waggons zusammenzudrängen. Die ungarischen Polizisten machten alles, um in den

    Augen der Deutschen Gefallen zu finden. Daher haben sie gebrüllt und uns gehetzt

    und wollten uns Juden so schnell wie möglich loswerden – womöglich, um das nach

    uns verbliebene Vermögen unter sich aufzuteilen. Meine Schwester Lea sagte zu

    einem der Polizisten: „Ja, ihr freut euch über unser Leid, aber ihr werdet die nächsten

    nach uns sein.“ Wir haben uns in eine Ecke im Waggon geduckt. Hoch über uns war

    eine kleine Öffnung, aber dieses Fensterchen war zu hoch, um dadurch hinauszu-

    schauen. Am Anfang versuchten wir uns auf den Boden zu setzen, aber nach und

    nach wurden immer mehr Menschen in den Waggon hinein gejagt, so dass nicht ge-

    nug Platz zum Sitzen für alle vorhanden war. Wir haben uns abwechselnd setzen

    müssen. Wir waren an die hundert Menschen im Waggon, mit einem Eimer Wasser

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    und zwei Kübeln für Ausscheidungen. Wir versuchten das Wasser so weit wie möglich

    zu sparen, damit mehr für Kinder und für Kranke blieb. Am nächsten Tag war dies

    bereits viel schwerer. Die Lippen trockneten aus, und die Füße trugen durch das

    Treten von anderen Menschen unterwegs zu den Eimern immer mehr Verletzungen

    davon. In Slowakien wurden die ungarischen Polizisten durch deutsche ersetzt. Wir

    begannen die Täuschung zu verstehen und waren beängstigt. Man hatte uns belogen,

    also musste sich sicher etwas anderes dahinter verstecken. Die Waggons rollten nach

    Diwon in Polen ein. Durch einen Schlitz zwischen zwei Brettern konnte ich einen pol-

    nischen Jungen sehen, der durch einen am Hals langgeschobenen Finger markierte,

    dass wir in den Tod geführt wurden. Ich habe ihm geglaubt, sagte aber den anderen

    kein Wort. Alle waren so erschrocken und still, dass wir nur das monotone Getöse der

    Eisenbahnräder wahrnahmen.

    Als der Zug anhielt, war es noch dunkel. Eine halbe Stunde passierte nichts, was

    bedeutete, dass wir angekommen waren. Vati setzte mich auf seine Knie und bat

    mich, über ihn zu steigen und durch das kleine Fenster hinauszuschauen, um zu be-

    richten, was ich sehen konnte. Ich hatte Angst ihm weh zu tun, aber tat was er wollte.

    Der Ort sah wie ein großes Militärlager aus. Ich sah eine Menge Baracken, umgeben

    von einem ziemlich dicht angelegten Zaun, Betonpfeiler mit Hochspannungsanlagen

    und starken Scheinwerfern. In der Luft lag ein Geruch von verbrannten Knochen.

    Vater sagte: „Das ist Auschwitz!“ Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich bin

    heruntergeklettert, setzte mich und legte meinen Kopf auf ihn, und seine heißen Trä-

    nen ergossen sich auf mein Gesicht. Ich habe nie zuvor meinen Vater weinen sehen.

    Langsam, sehr langsam, sammelte er seine Kräfte und fing zu sprechen an: „Bislang

    haben wir unsere Kinder zu Gutem erzogen, jetzt aber muss ich sie verlassen, und

    das in welch einem Zustand.“ „Vater, wir sind zusammen. Du verlässt uns nicht!“ „Wir Alten haben keine Chance, am Leben zu bleiben.“ “Alte“ - dachte ich vor mich hin.

    Mutti ist fünfzig, Vati knapp fünfundfünfzig. „Ihr dürft alles essen und müsst die Ko-

    scher-Gesetze nicht beachten. Falls ihr am Leben bleibt und befreit werdet, dann

    könnt ihr wieder koscher werden. Wenn ihr zusammen bleibt, passt jede auf die an-

    dere auf.“

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    Wir nahmen einen Lärm von unten kommend wahr, hörten Wörter auf Deutsch und

    das Bellen von Hunden. Die Waggons wurden aufgesperrt und geöffnet. Die meisten

    Insassen stiegen halb ohnmächtig heraus, und einer versuchte den anderen zu stüt-

    zen. Meine Schwester Surika hielt sich mit allen Kräften an Mutters Rock fest. Die

    Kinder waren in Panik, hungrig, durstig und nicht ahnend, was vor sich ging. Die

    Deutschen schrien: „Schneller! „Schneller! Männer für sich, Frauen für sich“. Zur

    gleichen Zeit kam ein Zug aus Ilosva an. Meine Mutter erkannte ihre Schwester und

    schrie: „Cerna! Cerna! Gsarine“ und lief, um ihr zu helfen. Meine Schwester Surika

    hielt sie immer noch fest. Mir rief meine Mutter laut zu: „Pass auf das Kind auf! Pass

    auf Esther auf!“ Vater, David und Zeevi sind verschwunden, ohne sich verabschieden

    zu können. Deutsche Soldaten hielten Wache, entlang der gesamten Strecke. Junge

    Burschen, gekleidet in ein Gewand, das wie gestreifte grau-blaue Pyjamas aussahen

    schrien: „Zwillinge! Zwillinge! Ikrak! Ikrak!“ Und die Deutschen stießen und schrien:

    „Los! Los! Schneller! Schneller!“ Ich habe einen der Männer im Pyjama gefragt: „Wo sind wir? Was ist das hier?“ Er hat sich aber nicht getraut zu antworten, ein Deutscher

    war zu nah dran. Gleich nachdem der Soldat sich entfernte kam er zurück und murrte:

    „Nimm das Kopftuch runter, du bist jung und gesund.“ Wir gelangten zur Rampe. Vor

    uns stand Frau Naufeld mit ihrer Tochter Katti. Mengele hatte Katti nach rechts und

    die Mutter nach links geschoben. Frau Naufeld bat in schönem Deutsch, ihre Tochter

    nicht von ihr zu trennen, da sie ja noch ein Kind sei. „Bitte, dann nehmen Sie Ihre

    Tochter.“ Und so ging Katti mit ihrer Mutter in den Tod. Nun waren wir an der Reihe.

    Wir zogen, die eine an der anderen, in Richtung der Wohnungen. In die Richtung von

    Esther schrie Mengele: "Du, du, wie alt bist du?“ Ich flüsterte ihr zu, nicht nach hinten zu sehen und rief: „Achtzehn!“ Dann gingen weiter. Ihr war, als ob der Himmel ein-

    stürzen würde. Mit fünfzehn verstand sie nicht, dass dies ihre Lebensrettung bedeu-

    tete. Wir bläuten ihr ein, sie müsse wissen, dass sie ab heute achtzehn sei. Die Se-

    lektion war sehr streng; wer unter achtzehn war, blieb nicht am Leben. Von Esters

    Schulklasse sind nur drei Mädchen am Leben geblieben. Alle 14-, 13- 12- und

    11-Jährigen und jüngere Kinder, einschließlich der Säuglinge, wurden in Birkenau mit

    ihren Müttern ermordet. Wir wurden dann schnell zu einem großen Gelände geführt.

    In einiger Entfernung vor uns standen die Männer aus unserem Transport. Ich habe

    David gesehen. Er sah sehr traurig aus. Vater und Zeevi waren nicht dort. Wir haben

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    nicht geschrien, alle waren zu erschrocken. Ich wollte ihn ermuntern und zeigte ihm

    Leah und Esther, er verstand aber, dass auch wir ohne Mutter und ohne Surika wa-

    ren. Der Geruch in der Luft hatte uns mit Angst erfüllt, und wir haben das Ärgste

    vermutet. Erst später erfuhren wir, was eine „Selektion“ bedeutet und was dieser

    schreckliche Geruch war: Alle, die nach links gingen, wurden direkt den Krematorien

    zugeführt. Der Geruch in der Luft stammte von verbrannten Knochen. Wir haben das

    Gelände betrachtet. In einiger Entfernung sah ich einen viereckigen Schornstein, aus

    dem sich dichter Rauch hob, der noch hohe Flamen enthielt. Wir fingen an zu raten,

    was das sein könnte. Die optimistischen Mädchen beschlossen, dies sei eine Fabrik.

    „Vielleicht werden wir dort arbeiten?,“ sagte eine. Aber wir hatten alle Angst.

    Nach einiger Zeit wurden wir in ein Gebäude geführt, das Waschraum hieß. Man be-

    fahl uns, uns zu entkleiden. Aber alle blieben angezogen. Wir wurden zur Keuschheit

    erzogen und konnten nicht glauben, dass jemand im Ernst gemeint haben könnte, wir

    sollten uns ausziehen, während dort Männer in diesen Pyjamas gearbeitet haben und

    deutsche Soldaten herumstanden. Eine deutsche Soldatin schrie wieder: „Schneller,

    schneller, alles runter! Alles runter!“ Sie fuhr mit einer dünnen Peitsche übers Gesicht

    eines der Mädchen. Wir versuchten die intimen Körperstellen mit den Händen zu ver-

    stecken. Wir fühlten uns so gedemütigt; als ob man uns der ganzen Menschenwürde

    entblößte. Die Deutsche mit der Peitsche befahl uns, die Haare zu schneiden Vier

    Mädchen haben das Haar wie befohlen geschnitten. Es hörte sich so an: „Schneiden,

    nicht schneiden, schneiden...“ Auf meinen Kopf zeigte sie mit der Peitsche: „Nicht

    schneiden.“, auf Esthers: „Schneiden.“ Und auf Leah: „Nicht schneiden.“ Esther wurde

    kahl geschoren. Wir wussten nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es ging uns auch

    nichts an. Wir hatten wahrlich größere Sorgen, die uns voll und ganz beschäftigten.

    Am Schluss wurden wir zum Duschraum geführt. Das war wirklich nötig. Seit einigen

    Tagen mussten wir ohne sanitäre Ausstattung auskommen. Von einem Fenster aus,

    das wie ein Schaufenster aussah, hat man uns Kleider zugeteilt. Dabei wurden die

    Maße nicht beachtet. Das Kleid konnte lang, kurz, breit sein, die Körpergröße wurde

    dabei nicht berücksichtigt. Wir sahen alle wie für es Purimfest verkleidet aus, aber in

    schlechter Verkleidung. Auch das zeigte uns, dass das normale Leben vorbei war. Wir

    wollten nur die Wahrheit wissen. Ich näherte mich einer der Haarschneiderinnen und

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    fragte: „Was geht hier vor? Wo sind wir?“ Sie antwortete nicht.

    Eine junge Mutter fragte: „Wo ist mein Kind?“ Aber auch sie bekam keine Antwort.

    Ich begann auf Jiddisch zu fragen. Vielleicht würden sie diese Sprache verstehen.

    Und so war es auch.

    Ich fragte das Mädchen, das die Kleider austeilte: „Was ist dieser Schornstein?“ Sie antwortete leise: „Dort werden die Transporte verbrannt. Nur die, die du hier gesehen hast, bleiben am Leben.“ Esther fragte mich: „Was hast du mit ihr gesprochen? Kennst du sie?“ „Ja“ antwortete ich. „Auch sie ist Jüdin, es erwartet uns das gleiche Schicksal.“ Leah neigte sich zu mir: „Hast du etwas erfahren?“ „Ja, leider.“ „Was?“

    „Gott gäbe, es wäre nicht wahr.“ Weiter hat sie nicht mehr gefragt. In einem großen

    Raum mussten wir uns in Fünferreihen anordnen. Eine Soldatin teilte jeder Frau ein

    Medikament und ein Glas mit einer bitteren Flüssigkeit aus. Sie wartete und verge-

    wisserte sich, dass wir das Medikament eingenommen hatten. Später erfuhren wir

    den Zweck dieses Medikaments. Es bewirkte, dass wir keine Menstruation mehr be-

    kamen. In der Tat hat das „Medikament“ sehr gut gewirkt. Keine von uns hat mehr ihre

    Regel bekommen. Diese Substanz wurde von ihnen jeder Nahrung und jedem Ge-

    tränk beigemischt. Eine Offizierin gab der Soldatin den Befehl: „FKL“. Das bedeutete

    „Frauenkonzentrationslager Block 13“.

    Die Soldatin marschierte mit uns und versuchte, uns den Militärdrill beizubringen:

    „Reihen gerade halten.“ Das war nicht gerade das, was wir am Herzen hatten.

    Wir erreichten Block 13. Die Aufseherin und die Blockälteste zählten uns und trugen in

    das Journalbuch ein, wie viele Häftlinge angeliefert wurden. Dann verschwand die

    Aufseherin. Daraufhin wandte sich die Blockälteste an uns und sagte: „Ich bin Gizka

    Moskovitschova. Tut mir sehr leid, dass ihr hierhergekommen seid. Versucht diszipli-

    niert zu sein. Nur so können wir versuchen, uns gegenseitig zu helfen.“ Sie hat sofort

    Esther (ich nannte sie Ettuka) bemerkt, ging in den Block hinein und brachte ein paar

    Schuhe mit hohen Absätzen, damit Esther erwachsener aussah. Wir begannen sofort

    zu fragen, ob das, was wir über die Geschehnisse im Lager gehört hatten, wahr sei.

    „Man redet nicht draußen, wir werden drinnen reden und nur flüsternd“, war die Ant-wort. Wir gingen hinein und bekamen Schlafplätze zugewiesen. Es waren Holzprit-

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    schen, die dort „Kojen“ hießen.

    Erst einmal werdet ihr zu zehnt auf einer Koje sein. Es war uns egal, in welchem Ge-

    dränge wir leben würden. Wir hatten wahrlich größere Sorgen. „Am Morgen wird man

    euch sehr früh zum Zählappell wecken. Vor jedem Block wird gerade in Fünferreihen

    zum Appell gestanden. Die Blockälteste, eine Deutsche und ein Deutscher werden die

    Reihen zählen und im Journal eintragen.“ Nach dieser Aufklärung habe ich mich der

    Blockältesten genähert und bat: „Ich will die bittere Wahrheit erfahren. Stimmt es,

    dass hier Menschen verbrannt werden?“ „Ich kann das leider nicht leugnen“, antwor-

    tete sie. „Wie werden die Menschen getötet?“, fragte ich. „Durch Gas und dann wer-den sie verbrannt, ihr wisst aber nichts. Sie glauben, dass niemand hier weiß, was vor

    sich geht. Wenn sie erfahren, dass es jemand weiß, schießen sie ihn nieder“, warnte

    sie. „Klopft die Decken aus und versucht euch zu beruhigen.“ Das war aber nicht möglich. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich sah vor den Augen das Lei-

    den meiner Eltern, wie sie erlebten, wie ihre Kinder Zeevi und Surika erstickten. Oder

    vielleicht war es umgekehrt. Vielleicht sahen die Kinder, wie die Eltern vor ihrem Tod

    litten? Ich versuchte zu erahnen, wie lange sie gelitten haben mochten, bis sie die

    Seele ausgehaucht hatten. Ich habe den Mund mit beiden Händen zugehalten, damit

    niemand mein Schluchzen hörte und ich nicht laut aufschreien musste. Dieses Bild

    begleitet mich bis heute ständig, Tag und Nacht in meinen Träumen. Leah flehte mich

    an: „Versuch doch zu schlafen. Du hast bereits vier Nächte keinen Schlaf gehabt.“

    Draußen herrschte noch Dunkelheit als man schrie: „Aufstehen! Aufstehen!“ Wir

    stiegen von den Pritschen herunter und begannen Wasser zu suchen, um uns etwas

    zu erfrischen. Das blieb aber ein Traum. Nirgends war Wasser zu finden. Am nächs-

    ten Tag liefen wir zu einem anderen Block hinüber, um uns zu waschen. Hähne waren

    zwar vorhanden, aber die Rohre waren an keine Wasserleitung angeschlossen. Die

    Deutschen haben die Hähne nur als eine Tarnung hingebaut. Als Tarnung für den Fall

    einer Visite vom Roten Kreuz. Das Rote Kreuz kümmerte sich aber nicht darum, was

    hier seit vier Jahren mit den Juden geschah. Das hat uns sehr wehgetan. Wir bildeten

    Fünferreihen. Unsere Reihe enthielt uns drei Schwestern sowie zwei Fried-

    mann-Schwestern. Auch sie waren aus Bergsas. Hier begann unsere Freundschaft

    fürs Leben. Nach dem Zählappell bekamen wir etwas zu trinken, das einem Tee äh-

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    nelte, aber wahnsinnig dunkel aussah, obwohl es auch kein Kaffee war. Auch diesem

    Getränk war das Medikament zur Unterbrechung der natürlichen Vorgänge im Körper

    beigemischt.

    Ein neuer Befehl: „Nicht auseinandergehen, in Fünferreihen bleiben“, die Blockälteste würde uns wohin bringen. Wir folgten ihr und kamen zu einem Gebäude. Aber noch

    bevor wir eintraten, baten uns zwei Häftlinge, die Ärmel von der linken Hand aufzu-

    krempeln und erst dann einzutreten. Am linken Unterarm wurde uns eine Nummer mit

    einem Schreiber, ähnlich einem Rapidograf, eintätowiert. Esther bekam die Nummer

    A-7760, Leah A-7761 und ich A-7762. Von diesem Tag an waren wir nicht mehr unter

    den Namen existent, die uns die Eltern gegeben hatten, wir waren nur noch eine

    Nummer. Der Spruch meines Vaters kam mir sofort wieder ins Gedächtnis: „Wenn

    man uns die Identität nimmt, beraubt man uns unserer Existenz.“

    Auf dem Weg zurück bat man uns um Hilfe, die Suppe aus der Küche zu holen. Die

    Suppe wurde in einem sehr schweren Kessel geliefert, der schwerer war als der ge-

    samte Inhalt. Die Frauen haben einander unterwegs abgelöst. Auch die Henkel waren

    unbequem zum Tragen. Im Block wurde die Suppe in Schüsseln verteilt, je eine

    Schüssel für zehn Frauen. Löffel gab es nicht. Meine Schwester Leah wollte nur einen

    Schluck, dafür aber als erste, bevor die anderen mit ihren Lippen die Schüssel be-

    rührten. Wir haben es ihr gestattet.

    Am nächsten Tag kam ein neuer Transport in dem Block an. Er war aus Siget. Jetzt

    waren wir nicht mehr nur zehn Frauen pro Pritsche, sondern dreizehn. Ungefähr tau-

    send Frauen insgesamt waren in der Baracke, die hier Block hieß. Wir haben die

    Neuankommenden betrachtet und trauerten jenen nach, die direkt in die Krematorien

    gingen. Mir fiel ein junges Mädchen auf, das ankam und ungefähr im Alter von Esther

    sein musste. Am nächsten Tag sah ich, dass sie sehr hübsch war. Man hatte ihr das

    blonde Haar nicht abgeschoren. Sie ist die älteste zu Hause gewesen. Ihre Mutter und

    jüngeren Brüder gingen direkt in das Krematorium, so dass sie völlig allein blieb.

    Gegenüber dem Eingang in die Baracke war ein kleines Fenster. Das dadurch ein-

    fallende Licht beleuchtete den Eingangsbereich. Dort stand eine Pritsche, aber nur mit

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    einer Ebene. Sie saß auf der Pritsche. Ich ging auf sie zu und fragte: „Wie heißt du?“ „Edith Klus“, antwortete sie. „Willst du meine Schwester kennenlernen?“, fragte ich weiter. „Sie ist ungefähr in deinem Alter, du wirst eine Freundin haben.“ Sie aber

    antwortete: „Bitte störe mich nicht, ich spiele gerade.“ Sie begann, ihre schönen Fin-

    ger auf dem Fensterrahmen zu bewegen, als ob sie Klavier spielte. Ich stand hinter ihr

    und wartete. Nach ziemlich langer Zeit hörte sie zu spielen auf. Sie legte ihre Hände in

    den Schoß und begann zu sich selbst auf Ungarisch zu reden: „Mami, wo bist du?

    Mami, warum küsst du mich nicht? Warum sagst du mir nicht, Editka hat so schön

    gespielt?!“

    Ich bemerkte, dass das Mädchen „überschnappt“ war, was in dieser Situation völlig

    verständlich war. Sie sprach mit niemandem und spielte nur auf dem Fenster für Mami

    Klavier. Eines Nachts hat die Wächterin bei der Tür nicht aufgepasst und das Mäd-

    chen ging aus dem Block, um nach ihrer Mutter zu suchen. Ein SS-Mann brachte sie

    zurück und warnte die Blockälteste: „Wenn ich sie noch ein Mal finde, werde ich sie an

    Mengele abgeben.“ Die Frauen im Block versuchten, sie zu beschützen. Sie standen

    für sie Appell und versuchten ihr zu sagen, dass der Krieg einmal zu Ende gehen

    würde. Aber niemand wagte es, ihr die Wahrheit zu sagen, dass ihre Mutter nicht

    mehr lebte.

    Eines Tages kam Mengele zum Appell. Wir mussten alle die Hände ausstrecken, und

    er betrachtete die Finger von jeder von uns. Er holte gerade eine rothaarige junge

    Frau heraus, als plötzlich kommt Editka ankam und Mengele fragte: „Wo ist meine

    Mutti?“

    Er antwortete: „Du willst zu deiner Mutti? Komm!“ Weder Editka noch das rothaarige Mädchen lebten danach noch lange.

    Hinter den Baracken befand sich statt Toiletten die Latrine. Ein langes, blockartiges

    Gebäude mit runden Löchern im Zementboden, in Abständen von einem halben Meter

    und je 40 cm Durchmesser. In der Nacht haben wir unsere Bedürfnisse in ein Fass

    erledigt. Das hieß dort „Beczka“ auf Polnisch. Neben der „Beczka“ saß die Nacht-

    wächterin, damit niemand zu flüchten versuchte. Man könnte glauben, man hätte ir-

  • 11

    gendwohin flüchten können, aber wir waren von einem Hochspannungszaun umzin-

    gelt.

    Es war fürchterlich, in der Nacht die Flammen zu sehen. Eigentlich fühlten wir uns, als

    wären wir in der Hölle. Wir fragten immer wieder laut: „Gott, wie kannst du zusehen, was hier den Juden angetan wird? Rechtschaffenen Menschen, Kindern, Säuglingen,

    die zeitlebens nie eine Sünde begangen haben.“ Darauf bekamen wir bis heute keine

    Antwort. Ich frage mich: Wie ist es möglich gewesen, dass all das geschah?

    Es vergingen noch zwei Wochen, die wir in unserem Block verbracht haben. Wir ha-

    ben uns mit der Block-Ältesten und ihren Gehilfinnen angefreundet. Eines Nachmit-

    tags kam ein Befehl, uns alle in den Waschraum zu bringen. Das war gefährlich, denn

    in dem Bad pflegte Mengele seine Selektionen durchzuführen. Die Blockälteste und

    ihre Gehilfinnen hatten die Pflicht, jeder Selektion beizuwohnen, um von ihren Listen

    diejenigen Frauen zu streichen, die die Selektion nicht durchstanden. Unterwegs be-

    kamen wir den Rat, unsere Gesichter abzudecken, um nicht blass auszusehen, ge-

    rade und aufrecht zu stehen und möglichst gesund zu imponieren. Vor lauter Angst

    und Aufregung waren alle blass. Mengele kam mit noch zwei Offizieren. „Ganz aus-

    ziehen!“, lautete der Befehl. Die Angst war stärker als die Scham und die Demütigung.

    Wir standen völlig nackt da und er prüfte mit seinen Augen jede von uns ganz genau.

    Wer ihm nicht gefiel, wurde aus dem Saal entfernt. Als Mengele herausging, um den

    zwei Offizieren seine Befehle zu erteilen, kletterten einige wendige Mädchen auf das

    Fenster und sprangen hinaus. So retteten sie sich vor einem sicheren Tod.

    Nach der Selektion konnten wir duschen und erhielten graue Gewänder aus Baum-

    wolle und weiße Kopftücher.

    „Ab morgen werdet ihr in Brzezinka arbeiten.“ Das weiße Kopftuch aus Baumwolle

    war das Markenzeichen dieser Arbeit. Es waren auch rote Kopftücher, die hießen

    „Kanada“. Eine deutsche Soldatin begleitete uns zur Arbeit, unterwegs gesellten sich

    auch männliche Soldaten dazu. Wir wurden durchweg überwacht. Wir passierten das

    T-Lager, wobei ein doppelter Stacheldrahtzaun unter elektrischer Hochspannung sie

    von uns trennte. Plötzlich hörte ich „Ribetchu! Ribetschu!“ (das war mein Kosename

  • 12

    zu Hause). Ich sah in die Richtung, au der die Stimme kam, und erkannte meine

    Schulfreundin aus der gleichen Klasse, Genvat Evi. Es war ziemlich schwer, sie zu

    erkennen, ohne Haare und mit einem komischen Kleid. Evi erzählte, dass sie mit ihrer

    Mutter da sei. Wir waren froh, dass endlich auch eine Mutter überlebt hatte. Allerdings

    war die Freude äußerst kurz. Unser Arbeitsplatz war in leeren Baracken. Die Vorar-

    beiterin reichte jeder von uns Pakete, und am Boden sitzend sollten wir jedes darin

    befindliche Stück nach seiner Art sortieren; Waschartikel für sich, Kleidungsstücke für

    sich, Augengläser, Schmuck und Medikamente, alles separat. Die Vorarbeiterin hat

    alles in den dafür bestimmten Block hinübergetragen. Und von dort wurden die Sa-

    chen nach Deutschland geschickt. Es waren die Sachen, die vor den Gaskammern

    und den Krematorien den zum Tod Bestimmten genommen wurden.

    Evi wartete jeden Tag auf mich, als wir von der Arbeit zurückgingen. Es ist mir immer

    gelungen, ihr etwas mitzubringen, einen Speiserest, Zahnpasta oder ähnliches.

    Ich war nicht die einzige, die Sachen in das T-Lager hineingeworfen haben. Jede von

    uns hatte dort eine Bekannte. Tausende junge Frauen aus Ungarn waren dort inter-

    niert. Den Arbeitslosen im Block 13 gaben wir unsere Unterwäsche und wir selbst

    besorgten uns andere in Brzezinka. Wir mussten aber äußerst vorsichtig sein, dass

    wir nicht ertappt wurden, denn für den Diebstahl des deutschen Guts (ja, als solches

    wurden die Pakete betrachtet) drohte eine Körperstrafe mit schwerer Prügel. Ein

    buchstäblicher Fall von „ermordet und enterbt.“

    Von unserem Arbeitsplatz aus sahen wir deutlich die Schornsteine der Krematorien

    und auch diejenigen, die in den Tod geführt wurden. Es war ein unbeschreiblich

    schreckliches Gefühl, all das zu sehen. Aber sowohl sie wie auch wir wurden von

    bewaffneten Soldaten bewacht, und sehr viele Drahtzäune trennten uns voneinander.

    Als wir in der Nacht arbeiteten, konnte Esther nicht wach bleiben. In der Toilette war

    eine gutwilliger Capo damit einverstanden, dass Esther in dessen Zimmer auf dem

    Boden schlief. Sie weckte Esther immer auf, bevor wir die Schicht beendet hatten, so

    dass sie in die Baracke zurück und mit uns Appell stehen konnte. Bei dieser Arbeit

    waren viele Kontrollen. Wenn die Frau, die am Eingang Wache stand, „Regen“ rief,

  • 13

    war das für uns das Zeichen, dass ein Soldat sich näherte, um eine Kontrolle durch-

    zuführen.

    In einer Nacht hörten wir Schreie: „Blocksperre! Blocksperre!“ Jemand hat wahr-

    scheinlich versucht, vor dem Krematorium zu flüchten. Ich lief, um Esther aus der

    Toilette zu holen. Wir waren uns im Klaren, welche Gefahr sie auch für den weibli-

    chen Capo gewesen wäre. Die Deutschen schossen, der Himmel war rot von den

    Flammen aus dem Schornstein gefärbt und ich zog Esther, die fast noch schlief, lau-

    fend in den Block.

    Wir kamen nur Sekunden vor dem Appell an. Alle waren froh, da die Deutschen jede

    Ecke durchsucht hatten und prüften, ob sich nicht vielleicht jemand im Block versteckt

    hielt. Wir konnten nicht verstehen, wo das Gesetz über Menschenrechte versteckt

    blieb. Die ganze Welt sah doch zu, wie Juden vernichtet werden. Sie sah zu und kol-

    laborierte oder schwieg, während die Deutschen mit einem sarkastischen Lächeln

    weiterhin unschuldige Menschen in die Krematorien steckten. Woher nahmen sie so

    viele Ideen für ihre Täuschungen und Lügen?

    Im Juni war eine Jüdin namens Mela oder Mali mit einem polnischen, nicht jüdischen

    Jungen geflüchtet. Wir standen stundenlang beim Zählappell. Die Deutschen ließen

    Ballons (Zeppeline) in die Luft steigen, um nach den Flüchtlingen zu suchen. Wir be-

    teten, dass sie sie nicht finden mögen, aber leider wurden unsere Gebete nicht erhört.

    Sie wurden zwei Wochen später gefasst und nach Birkenau zurückgebracht, Mela ins

    Frauenlager und der Junge in das Männerlager. Beide wurden in Einzelhaft gehalten.

    Sie wurden nicht gleich getötet, sondern erst im September hingerichtet. Während der

    ganzen Zeit hat man sie gefoltert und befragt, wer ihnen bei der Flucht geholfen habe.

    Die Torwache bat mich, dass ich sie ablöse möge, weil sie Mela persönlich kannte

    und sie auf ihrem letzten Weg begleiten wollte. Als sie zum Block zurückkehrte, er-

    zählte sie uns, was für eine Heldin Mela gewesen war. Als die Lagerälteste das Urteil

    laut vorgelesen hatte, nahm Mela eine Rasierklinge heraus und schnitt sich die Venen

    durch. Der Henker fasste ihre Hand und drehte sie herum. Mela verpasste ihm eine

    Ohrfeige.

  • 14

    Der deutsche Soldat schrie sie an: „Du willst dich selbst umbringen? Dafür sind wir

    da.“

    „Ich werde wie eine Heldin sterben, ihr aber als schändliche Mörder“, erwiderte ihm

    Mela. Wir waren alle in Trauer. Wir waren tausend Frauen in der Baracke, und es

    wurde kein einziges Wort gesprochen. Alle saßen tief traurig auf den Pritschen. Leah

    Matelmanova hat Psalmen gelesen, eine junge Frau aus Siget sang das traditionelle

    Trauergebet „El male rachamim“ (hebr. Gott voller Erbarmen) und dann, mit einer sehr

    schönen Stimme: „Meine jüdische Mamme.“ Alle weinten furchtbar leise. Unsere ei-

    genen Mütter waren ja auch von diesen niederträchtigen Sadisten ermordet worden.

    So marschierten wir weiter Tag für Tag den langen Weg zur Arbeit. Sie verlangten von

    uns einen militärischen Marsch. Dazu war Leah nicht imstande und wurde wegen

    dieser Lappalie oft mitten in den Fünferreihen geschlagen. Unterwegs zur Arbeit sa-

    hen wir oft Frauen auf dem elektrisierten Drahtzaun liegen. Sie lebten nicht mehr, weil

    sie durch die Hochspannung einen elektrischen Schock erlitten hatten. Die Bewacher

    wollten uns aber einen Schrecken einjagen, damit wir sahen, was geschehen würde,

    wenn man sich dem Zaun nähern würde. Während all dieser Monate hörten die

    Flammen aus dem Schornstein nicht für eine Sekunde auf. Der Rauch und der Ge-

    ruch verbrannter Knochen muss sicher in der ganzen Umgebung wahrzunehmen

    gewesen sein, und doch haben alle geschwiegen.

    Die Juden aus Ungarn kamen täglich mit Zügen an und die Deutschen waren stolz auf

    ihren Erfolg, so viele Menschenleben vernichten zu können, Tag für Tag, Stunde für

    Stunde. Eines Tages kam Mengele mit einer deutschen Frau zum Appell. Ich stand in

    der ersten Reihe. Die Blockälteste Gizka gab das Journal der Soldatin zur Unterschrift

    und Mengele sagte zu ihr: „Wie schön, die Olympiade brennt.“ Er zeigte in die Rich-tung des Schornsteins mit der riesigen Flamme darüber. Ich fühlte meine Beine zit-

    tern, die Kräfte verließen mich und alles rundum verschwammen. Gizka bemerkte,

    dass ich erblasste, sprang auf mich zu, gab mir einige Ohrfeigen und schrie: „Kannst du immer noch nicht aufrecht stehen?!“ Als dieser Mörder, der den Namen Dr. Men-

    gele trug, sich entfernte, führte mich Gizka in den Block und gab mir etwas zu trinken.

    Sie sagte dann: „Hagenka (das ist mein anderer Name), du hörst nichts, siehst nichts

  • 15

    und verstehst nichts, falls du am Leben bleiben willst, und auch das nur für bestimmte

    Zeit.“ Seither kann ich das Wort „Olympiade“ nicht leiden. Verschiedene Länder wol-

    len Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen gewinnen. Ich bekomme dabei immer einen

    Schauder und es bringt mich nach Birkenau zurück.

    Eines Tages rief die Schriftführerin: „Grinwaldova“. Es hat mich überrascht, dass je-mand meinen Namen nannte. Ich näherte mich und sie reichte mir einen kleinen Zet-tel mit schönen bleistiftgeschriebenen Buchstaben, der einen Abschiedsbrief auf Un-

    garisch enthielt:

    „Rivka, danke für alles, wobei du uns bisher geholfen hast. Werft nichts mehr herüber. Meine Mutter ist bei einer Selektion durchgefallen und ich werde zusammen mit ihr gehen. Seid nicht traurig, es wird uns nicht kalt sein, wir werden nicht hungrig sein und nicht mehr krankheitsbedingt leiden. Ihr aber versucht durchzuhalten, wenn möglich. Küsse alle Mädchen aus Bergsas! Evi“

    Ich möchte hier hinzufügen: Sie waren zwei Kinder, Evi und ihr Bruder, der hieß

    Pischo. Als Pischo, nachdem er Fürchterliches erlitten hatte, nach Hause kam und

    sah, dass die gesamte Familie umgekommen war, nahm er sich das Leben.

    Nach einiger Zeit wurden wir von dieser Arbeit befreit. Es tat uns nicht leid. Es war

    schon besser, an Hunger zu sterben und nicht diesen Schornsteinen so nahe zu sein.

    Nach einigen Tagen wurden wir wieder in den Waschraum gerufen. Wir wussten

    schon, dass dort eine Selektion stattfinden würde. Diesmal hatte ich Angst um mich

    selbst. Mein ganzes Gesäß war voll eitriger Wunden. Die Blockälteste und noch je-

    mand von ihren Gehilfinnen mussten mit dem Journal dabei sein, um die Nummern

    aus der Liste zu streichen, die die Selektion nicht bestanden. Ich habe Gizka mit

    Angst erzählt, in welchem Zustand ich war und bat sie, behilflich zu sein, soweit es

    überhaupt möglich wäre. Sie versprach nichts, hat es aber nicht vergessen. Ich bin

    ziemlich hinten geblieben, um zu beobachten, was vor sich geht. Leah und Esther

    hatten die Selektion schon bestanden und waren um mich sehr besorgt. Nun war ich

  • 16

    an der Reihe. Sobald Mengele mich von vorne betrachtet hatte, stellte sich Gizka

    hinter mich und verdeckte mich mit ihrem Körper. Sie schrie: „Geh schon, los geh, los,

    schneller“. So hat sie mein Leben gerettet. Wir haben uns umarmt und waren sehr

    aufgeregt, da wir schon auf das Ärgste vorbereitet gewesen waren. Wir bedauerten

    die anderen, die bei der Selektion durchgefallen waren, da dies einem Todesurteil

    glich.

    Man wies uns eine andere Arbeit zu, in der Weberei, die einige Kilometer weit entfernt

    war. Wir haben keine Stoffe weben müssen, sondern nur 6 cm weite Streifen, die mi-

    litärischen Zwecken dienten. Aus den Kleidern der in Birkenau ermordeten Menschen

    wurden solche ausgespart, die den Ansprüchen des deutschen Volkes nicht genüg-

    ten. Daraus wurden dünne, 1 cm breite Streifen geschnitten, aus denen wir Zöpfe

    flechten mussten.

    Von denen wurde eine große Anzahl benötigt, und wir mussten sehr schnell arbeiten.

    Die Vorarbeiterin war eine junge Frau aus Griechenland namens Flora, eine gute

    Seele mit einem klugen Kopf. Ein hoher Offizier (Oberscharführer) hat die Menge der

    von uns erzeugten Zöpfe überwacht. Eines Tages, anlässlich einer solchen Kontrolle,

    trat er an Esther heran und fragte: „Was macht das Kind denn da?“ Flora erwiderte mit sicherer Stimme: „Keine Erwachsene arbeitet so gut und schnell wie das Mäd-

    chen.“ So hat sie Esther gerettet. Sie gab ihr bei jeder Gelegenheit das beste Roh-material und manchmal schob sie ihr auch ein Stück Brot oder einen anderen Nah-

    rungsrest hin.

    Nach dem Holocaust haben wir Flora in Israel lange gesucht, und am Schluss auch

    gefunden. Ab unserem ersten Treffen entwickelte sich zwischen uns eine starke Ver-

    bindung.

    Unsere physischen Kräfte schwanden. Nach dem langen Marsch kamen wir müde

    und hungrig zur Arbeit. Bei Leah war der körperliche Verfall besonders deutlich. Sie

    konnte keineswegs die verlangte Menge von Zöpfen liefern. Esther und ich sprangen

    abwechselnd ein, um ihr zur Seite zu stehen. Einige Male stürzte Leah auf dem

  • 17

    Rückweg von der Arbeit. Wir versuchten immer, sie so bald wie möglich auf die Beine

    zu stellen, damit ihre Schwäche nicht bemerkt wurde. Denn dies würde einer Le-

    bensgefahr gleichkommen.

    Eines Tages, wir waren unterwegs von der Arbeit zum Block, hat uns ein starker Re-

    gen erwischt, der bald zu einem echten Guss wurde. Wir hatten alle nur dünne

    Baumwollkleider an und man befahl uns, hinzuknien. Wir mussten stundenlang so im

    Regenguss aushalten, und die Deutschen hatten ihre helle Freude daran. Die La-

    geraufseher mit ihren Motorrädern hatten Regenmäntel an und inspizierten uns, um

    sicherzustellen, dass unsere Knie nicht angehoben waren, sondern auf den Kiesel-

    steinen ruhten. Das Regenwasser rann von den Kleidern in die Schuhe. Man kann gar

    nicht beschreiben, wie wir von dem Regen durchnässt waren. Ja, diese Sadisten

    waren in Europa geboren und haben eine Erziehung genossen! Wir kamen am

    Schluss in den Block zurück, haben die Kleider ausgewrungen, aber es gab keinen

    Platz, wo man sie hätte trocknen könnten, und es war kein anderes Kleid als Ersatz

    da. Die Frauen der Blockverwaltung haben uns bemitleidet, aber helfen konnten sie

    nicht. Am nächsten Morgen mussten wir wieder die durchnässten Kleider und Schuhe

    anziehen und wieder zur Arbeit gehen. Leah erkrankte an einer Lungenentzündung.

    Nach einiger Zeit wurden wir zu Block 3 ins B-Lager versetzt. Wir waren vom Be-

    nehmen der Blockältesten schockiert. Sie hieß Etta Laksova, schlug uns, brüllte uns

    dauernd an und hat keine von uns „normal“ angesprochen. Wir waren eine solche

    Behandlung nicht gewohnt und einige von uns schlichen sich in der Nacht in den

    Block von Gizka hinüber, wo wir am Boden schliefen. So sehr hatten wir vor Etta

    Angst. Sie hat ihrerseits gespürt, was vor sich geht und hat uns bei den Deutschen

    denunziert.

    Diese riefen mitten in der Nacht zum Appell in beiden Blöcken, dem von Gizka und

    dem von Etta Laksova. Wir liefen so schnell wir konnten, um am richtigen Appellplatz

    zu stehen. Ettuka und mir gelang es, uns in die Reihen hineinzuschleichen, aber Leah

    ertappte man und sie wurde erbärmlich geschlagen. Leah ist immer das Opfer ge-

    wesen.

  • 18

    Es war ein „normaler“ Herbsttag, wir saßen bei der Arbeit und plötzlich hörten wir eine

    Explosion und danach Schüsse aus verschiedenen Richtungen. Wir hatten keine

    Armbanduhren, weil sie alle beschlagnahmt worden waren und wussten daher nicht,

    wie spät es war. Wir haben gespürt, dass etwas geschehen war und liefen zum

    Fenster. Ein deutscher Offizier mit einem Revolver in der Hand schrie „Blocksperre!

    Blocksperre!“ und verjagte uns von den Fenstern. Die Schüsse dauerten an und noch

    eine weitere Explosion folgte, die noch stärker war als die erste. Wir waren sicher,

    dass man Auschwitz-Birkenau mit uns zusammen, vernichten wollte. Die Explosionen

    hörten aber auf und wir setzten uns nieder und warteten, bis uns jemand erzählte was

    geschah. Bald erfuhren wir es von der Vorarbeiterin. Sie erzählte: „Das Sonderkom-

    mando hat Krematorium 3 in die Luft gesprengt und einige deutsche Soldaten und

    Offiziere erledigt.“ Das gab uns die geringe Hoffnung, dass das vielleicht in den

    Nachrichten erscheinen und die Welt endlich erfahren würde, was hier geschah. Leah

    war immer diejenige, die uns aufzumuntern versuchte. Aber dieses Mal war sie passiv

    und es war deutlich erkennbar, dass sie krank war. „Was soll man da unternehmen?“

    Wir hatten Angst, sie in das Krankenrevier zu schicken, weil dort die Gefahr noch viel

    größer war. Drei Schwestern aus Bergsas arbeiteten in der Küche. Eine von ihnen hat

    sich heimlich und spät in der Nacht zu uns geschlichen. Anci brachte uns einige ge-

    backene Erdäpfel mit. Es ist unfassbar und kaum zu beschreiben, welch unschätz-

    baren Wert das für uns hatte und was das für eine Delikatesse für so hungrige Men-

    schen war. Anci hat sich über uns lustig gemacht: „Ihr könnt nicht einmal betteln!“ Wir

    wollten aber nicht, dass sie wegen uns Schläge bekommt. Die Frauen haben übli-

    cherweise unter den Küchenfenstern nach Kartoffelschalen gesucht. Wenn wir das

    Glück hatten, welche zu finden, aßen wir sie ohne sie zu waschen und ohne sie zu

    kochen. Der Hunger war stärker als jede menschliche Gewohnheit, Würde und Er-

    ziehung.

    Wir hatten Anci erzählt, dass Leah krank sei und wir nicht wüssten, wie wir ihr helfen

    könnten. Sie versprach, sich mit ihren Schwestern zu beraten und zu versuchen, eine

    Lösung zu finden. Leah versuchte eine Beruhigungspille zu finden und wurde an das

    Revier (Krankenstube) verwiesen. Zu dieser Zeit hat das Krematorium schon nicht

    mehr gearbeitet und der Schornstein wurde abgebaut. Aber die Deutschen fanden

  • 19

    immer einen Grund und einen Weg zu töten. Wir hatten Angst davor, dass man fest-

    stellen würde, dass Leah an einer ansteckenden Krankheit leide und sie getötet

    würde.

    Die Grinfeld-Schwestern besuchten Leah im Revier. Durch die Küche hatten sie eine

    Verbindung dorthin und konnten uns erfreulicherweise berichten, dass ihr Zustand

    sich besserte. Sie hatten uns nur nicht erzählt, dass Leah bereits bewusstlos war.

    Inzwischen brach ein schwerer Winter an. Wir hatten keine Winterkleidung. Die Füße

    froren ein und schwollen an. Ich konnte in die holländischen Holzschuhe nicht mehr

    hineinschlüpfen, da das höllisch weh tat. Ich habe einen Teil der Decke abgerissen

    und damit die Füße eingewickelt, obwohl auch das ein Grund gewesen wäre, Prügel

    zu bekommen. So etwas wurde „Sabotage“ genannt. Das natürlich, obwohl alle De-

    cken mit den Transporten der Juden angekommen sind und beschlagnahmt wurden.

    Die Front näherte sich und wir hatten Angst, dass sie uns alle vernichten würden, um

    die Spuren des größten Verbrechens der Menschengeschichte zu vertuschen.

    Am 18. Januar bekamen wir den Befehl, uns auf dem Appellplatz in Fünferreihen

    aufzustellen und zu warten, bis auch andere Blöcke hinzukamen. Das dauerte sehr,

    sehr lange und die Kälte war erbärmlich. Es schneite und wir hatten nur Fetzen am

    Leibe. Wir hatten Angst, was mit Leah geschehen würde und guckten uns um. Es

    fehlen die Worte, diesen Ort zu beschreiben. Es war kein Friedhof, denn es gab kein

    einziges Grab. Nicht einmal die Asche. Die Asche haben sie mit Lastwagen entfernt

    und in den Wisla-Fluss geworfen, der nur einige Kilometer von Auschwitz entfernt ist.

    Trotzdem haben wir uns weinend von der Mutter, vom Vater, meinem Bruder, meiner

    Schwester, von so vielen Mitgliedern unserer weiteren Familie verabschiedet und von

    so vielen anderen Juden, die alle aufrichtige Menschen gewesen oder schuldlose

    Kinder und Säuglinge, die brutal und grausam ermorden worden waren.

    Als wir auf der offenen Straße waren, konnten wir kaum unseren eigenen Augen

    trauen, da bisher noch kein Jude lebend von hier heraus gekommen war. Auf der

    Straße zogen viele Skelette wie ich, in Fetzen und Holzschuhen, ihre Beine schwer

  • 20

    dahin. Die Kolonne der Skelette, die aus dem Konzentrationslager marschierte, war

    einige Kilometer lang. Von beiden Seiten überwachten uns deutsche bewaffnete

    Soldaten. Januar, Schnee, eisige Kälte in Polen. Sehr viele sind in diesem Todes-

    marsch zusammengebrochen und konnten nicht weitergehen. Die Deutschen er-

    schossen sie an Ort und Stelle am Rande der Straße. So lagen an beiden Straßen-

    rändern viele Leichen im getrockneten Blut. Manchmal erschossen sie zwei Schwes-

    tern mit einer einzigen Kugel. Am Vorabend versuchten alle sich vorwärts zu drängen.

    Wer hinterher tappte, musste mit Sicherheit mit dem Tod rechnen. Mengen von

    Menschen haben sich zusammengedrängt und zusammengeballt und so verlor ich

    Esther. Ich stand unter Schock und schrie ihren Kosenamen: „Ettuka! Ettuka! Ettuka!“

    Ich ging nach vorn, ging nach hinten und schrie: „Ettuka! Ettuka!“ Ein Mädel hörte die Schreie und das Heulen und fragte: „Heißt du Ribacso?“ „Ja.“ „Dort hinten weint ein

    Kind und schreit ‚Ribacso’, sie muss deine Schwester sein.“ Ich begann nach hinten

    zu laufen, während man alle paar Minuten Schüsse vernahm. Nach langer Suche in

    der Dunkelheit haben wir uns gefunden. Wir umarmten uns und weinten und künftig

    haben wir uns nicht mehr getrennt.

    Eines Nachts packten sie uns in eine riesige Scheune. Wir wussten nicht, zu welchem

    Zweck diese Lagerhalle diente. Wir versuchten uns niederzulegen, haben die Decke

    auf den Boden gelegt und trotzdem Steine gespürt. Wir waren aber von dem langen

    Marsch so erschöpft, dass wir uns unbedingt ausruhen mussten. Esther fragte mich:

    „Wie kannst du auf Steinen schlafen?“ Ich war aber nicht imstande, länger wach zu

    bleiben. Am Morgen haben wir einander nicht erkannt. Wir waren alle schwarz wie

    Schornsteinfeger, denn es war ein Kohlelager. Wir haben uns im Schnee gewaschen;

    das ganze Gelände herum wurde schwarz. Mit dem Schnee konnten wir zwar den

    Ruß vom Körper entfernen, aber die Kleider blieben schwarz.

    Wir marschierten weiter. Wir passierten die Hauptstraße von Katowitz. Menschen

    schauten aus Fenstern heraus. Aus gut gewärmten Wohnungen sahen sie diesem

    grausamen Todesmarsch zu. Plötzlich rief ein Mädel laut: „To jest nasz dom!“, über-

    setzt „Das ist unser Haus.“ Fremde Menschen, auch Kinder schauten aus einer war-

    men Wohnung durchs Fenster, und sie, hungrig und erfroren, zog sich mit letzten

  • 21

    Kräften durch den Schnee und konnte sich nicht beruhigen. Es verging noch ein

    schwerer Tag. Unsere Kräfte verließen uns zunehmend. Mit letzter Kraft näherten wir

    uns dem Abend. Bei Dunkelheit hat man uns in einen weiten Hof geführt so etwas wie

    ein Bauernhof, mit einem Pferdestall, Scheunen, Strohdächern und Hütten, Heu usw.

    Die Mädel haben die Wärme, die die Pferde ausstrahlten, gespürt und gingen in den

    Stall. Es war dunkel und sie haben nicht gesehen was geschah. Mehr und mehr

    Frauen drängten sich hinein. Die Pferde erschraken und einige Frauen wurden von

    ihnen zu Tode getrampelt. Wir hörten die Schreie aus dem Stall und beschlossen

    daraufhin, draußen auf dem Schnee zu schlafen. Wir haben die Decke ausgebreitet,

    uns eng zusammen gekuschelt und sagten uns, dass es gar nicht so schlecht wäre,

    zu erfrieren. Dies wäre kein so grausamer Tod. Das Schicksal wollte es allerdings

    anders.

    Wir sind wahrscheinlich tief eingeschlafen, weil wir plötzlich von wilden Schlägen der

    deutschen Soldaten erwachten, die uns befahlen, auf die Dächer zu steigen. Eine

    polnische Frau hörte die Schreie der deutschen Soldaten, kam heraus und war über

    unser Aussehen erstaunt. Sie hatte eine Einzimmerwohnung und lud uns ein. Ich bat

    sie, so viele Frauen wie möglich hinein zu lassen. Auf dem Boden sitzend, haben wir

    die ganze Stube gefüllt. Die Wärme der Stube ließ meinen Körper langsam wieder

    reagieren. Ich hatte schreckliche Schmerzen am ganzen Körper, aber meine erfrore-

    nen Füße taten am meisten weh. Ich weinte und schrie und die alte Polin hatte Er-

    barmen mit mir. Sie fand irgendeine Beruhigungspille, kochte mir einen schwarzen

    Kaffee und ich schlief wahrscheinlich ein. Frühmorgens schrien die Soldaten: „Antre-

    ten! Aufstehen! Alle antreten!“ Ich versuchte aufzustehen, aber merkte, dass ich kei-neswegs weiter konnte. Ich kroch auf allen Vieren hinaus, da ich nicht wollte, dass die

    Alte Opfer ihres guten Willens würde und sagte zu Esther: „Versuch es allein weiter,

    ich bin nicht mehr imstande.“ Ich wusste genau was folgen würde. Wir hörten die

    Schüsse und wussten, dass es noch Frauen gab, denen es so ging wie mir. Esther

    war verzweifelt. „Ich will nicht einmal einen Tag ohne dich leben!“, sagte sie und hatte

    plötzlich eine Idee. Sie ging zurück in das Zimmer der Alten. Unter dem Ofen stand

    eine Kiste mit Holz, das für die Heizung bestimmt war. Sie entleerte das Holz und

    nahm die Kiste mit. Sie hat einen Streifen von ihrem Kleid abgerissen, an die Kiste

  • 22

    gebunden, setzte mich hinein und zog die Kiste wie einen Schlitten durch den Schnee.

    Es war verwunderlich, dass die Deutschen darauf nicht reagierten. Mittags kam eine

    polnische Frau mit einer Milchkanne heraus, steckte sie in Esthers Hände und rannte

    aus Angst vor den Soldaten sofort zurück. Die Frauen haben sich von allen Seiten auf

    meine Schwester gestürzt und ich hatte Angst, dass sie sie tot treten würden. Ich

    hörte Esther die anderen anflehen: „Lasst aber doch einige Schlückchen für meine

    kranke Schwester!“ Diese unmenschlichen Bedingungen und der Hunger hatten zur

    Folge, dass die Menschen ihre gesamten Hemmungen und Selbstkontrolle verloren.

    Jede zog die Milchkanne mit aller Kraft in ihre Richtung.

    Ich will aber die Beschreibung dieses grausamen Marsches abkürzen. Wir sind dann

    endlich nach Gleiwitz gekommen. Viele, wenn nicht die meisten von uns, blieben tot

    auf der Strecke. In Gleiwitz gab es Züge in alle Richtungen. Wir wurden auf offene

    Waggons mit Plattformen geladen, obwohl es ein kalter Januar war und es schneite.

    Ich war sehr krank, meine Zähne klapperten und die Lippen waren voller Fieberbla-

    sen. Die Füße waren bis zu den Knochen durchgefroren. Es wurden so viele Frauen

    auf den Waggon geladen, dass es nicht möglich war zu sitzen. Man konnte nur ste-

    hen. Esther stand neben mir und passte auf, dass mir niemand auf die geschundenen

    Füße trat. Ich habe versucht, etwas Schnee von einer Stange abzuschlecken, aber

    die Zunge blieb an dem Metall haften. Ich weiß nicht, wie lange wir gefahren sind,

    aber am Schluss kamen wir an einen Ort, der mit Betonmauern und elektrischem

    Stacheldrahtzaun umgeben war. Es waren auch einige Schilder zu sehen mit der In-

    schrift „Vorsicht“ und einem Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen darunter. Es

    waren Wachtürme da, Baracken und sogar ein Krematorium wie in Birkenau. Der Ort

    hieß Ravensbrück. Man führte uns in ein riesiges Zelt. Es waren keine Pritschen da,

    nur Stroh auf dem Boden, wie in einem Kuhstall. Aber das war uns egal, Hauptsache

    es wir waren drinnen und nicht draußen im Schnee. Die Probleme begannen, als wir

    uns niedergelegt hatten. Das ganze Stroh war voller Läuse, die in die Kleider ein-

    drangen, stachen und ein Jucken erzeugten. Dies war eine neue Art des Leids. Wir

    waren zutiefst unglücklich.

  • 23

    Am Morgen wurden wir hinaus geführt, um das Lager zu besichtigen. In der Luft stand

    ein schwerer Geruch von verstopfter Kanalisation, die Fensterscheiben waren zer-

    splittert, die Blöcke dreckig und die Bewohner in gleich miserabler Lage wie wir selbst.

    Es waren hier auch viele Nichtjuden. Wir fragten nach dem Krankenrevier, da ich eine

    Schmerztablette benötigte. Die alten Lagerbewohnerinnen zeigten mir den Weg. Eine

    Capo saß an der Eingangstür und erlaubte keinen Eintritt; natürlich haben wir auch

    kein schmerzstillendes Mittel bekommen. Wir versuchten, durch eine gebrochene

    Fensterscheibe hineinzuschauen um zu verstehen, warum die Krankenstation so

    überwacht wurde. Ein erschreckendes Bild zeigte sich uns: Auf den Betten lagen

    Kranke, fast regungslos. Ein stickiger Geruch von Harn und Kot herrschte rund herum,

    und auf dem Boden neben dem Fenster lagen einige Leichen in einer Reihe ange-

    ordnet. Wahrscheinlich wurden sie in der Nacht gesammelt, um sie dann am Tag in

    das Krematorium zu überführen. Die Capo bemerkte, dass wir hineinspähten, erhob

    sich und schlug mich mit einer mehrsträhnigen Peitsche. Ich war nur Haut und Kno-

    chen und es tat schrecklich weh. Wir verstanden, dass man hier weg musste. Wir

    hörten, dass man im Zelt Frauen für ein anderes Lager zur Arbeit auswählte. Wir wa-

    ren schwach, sicher nicht für eine Arbeit geeignet, aber andererseits war uns ganz

    klar, dass wir hier gar keine Chance auf Überleben hatten. Wir bemerkten ein Last-

    auto, auf das Frauen aufstiegen und haben uns in diese Richtung geschleppt. Als wir

    ankamen, stiegen gerade die Grinfeld-Schwestern auf, und nach ihnen hat man dann

    die Planenabdeckung heruntergelassen. Der Lkw fuhr ohne uns ab. Wir haben es

    sehr bedauert, weil wir mit ihnen zusammen sein wollten und beschlossen, nicht in

    das Zelt mit den Läusen zurückzugehen. Die ganze Zeit haben wir Schnee ge-

    schleckt, das ersetzte uns Essen und Trinken. Nach einiger Zeit kam ein anderer

    Lastwagen, der alle anderen Frauen aus dem Gelände abfuhr. Auch wir stiegen da

    ein, sind aber nicht dort gelandet, wo die vorherigen Frauen ankamen. Nach einigen

    Stunden Fahrt in einem mit Plane bedeckten Lastwagen sind wir in ein anderes Lager

    gekommen, das Malchow, wie die benachbarte Stadt, hieß. Neben dem Tor standen

    viele Frauen, die noch vor uns aus Birkenau gekommen waren. Sie waren mit dem

    Zug und nicht wie wir per Todesmarsch hergekommen. Zwei Mädel, die mich kannten,

    waren schockiert und schrien auf Polnisch: „Reginka, jak ty wyglądasz?“ Übersetzt:

    „Reginka, wie siehst du denn aus?“ Es waren Golda und Rosika, die zusammen mit

  • 24

    uns im Block 13 in Birkenau gewesen waren. Sie gingen uns nach, um zu sehen, in

    welchen Block wir geführt wurden. Nach einer Stunde kamen sie zurück mit einem

    Kübel warmen Wassers.

    Das war wie die Erfüllung eines heiß ersehnten Wunsches für uns. Sie arbeiteten in

    der Wäscherei und ihre Aufgabe war es, die Kleider der SS-Leute zu waschen. Um zu

    überleben, war das eine ganz gute Stelle, von dort hatten sie auch das Wasser geholt.

    Esther und ich tranken und wuschen uns. Danach war das Wasser zwar schmutzig,

    aber die anderen ließen es uns nicht ausschütten. Einige Mädchen verwendeten es

    ebenfalls noch zum Waschen. Wir bekamen saubere Kleidung, Bandagen für die

    Füße und schmerzstillende Tabletten. Die beiden haben uns echt gerettet und halfen

    uns zwei Wochen lang so gut sie nur konnten.

    Sie rieten uns, sich zur Arbeit zu melden, da man so mehr Essen bekam. Ich schickte

    Esther, um uns beide zur Arbeit anzumelden, weil ich überzeugt war, dass man mich

    wegen meiner erfrorenen Füße nicht annehmen würde. Wir wurden angenommen und

    man führte uns in den Block der Arbeiterinnen. Dort bekamen jeweils zwei Frauen ein

    enges Bett. Frühmorgens wurden wir geweckt und mussten zum Zählappell draußen

    bei Frost und Schnee. Wir zitterten vor Kälte. Man gab uns zwei Scheiben Brot und

    Tee und wir ordneten uns wieder in Fünferreihen an. Deutsche Soldaten mit Geweh-

    ren führten uns über einen sehr langen Weg zur Arbeit und bewachten uns streng.

    Einer der Soldaten fragte mich: „Warum hast du Lumpen an den Füßen?“ „Ich habe

    keine Schuhe“, antwortete ich, weil ich Angst hatte zuzugeben, dass meine Füße er-

    froren waren. Wir kamen in einem künstlichen Wald an. Grün und gelb gefärbte

    Stoffstücke waren an Pfeilern befestigt, und aus der Entfernung sah das wie ein Wald

    aus. Unter der Erde, auf einer riesigen Fläche, befanden sich moderne Waffenfabri-

    ken. Hier arbeiteten nicht nur Juden, auch Franzosen, Deutsche und andere.

    Wache hielten natürlich deutsche Soldaten und Soldatinnen. Das Arbeitskommando

    hieß „SK“.

  • 25

    Wir arbeiteten abwechselnd zwei Wochen Tagschicht und zwei Wochen Nachtschicht.

    Auch hier mussten wir zur Arbeit durch den Schnee marschieren. Mit der Zeit hat mir

    Golda Männerschuhe besorgt, die groß genug waren, um auch die Bandagen aufzu-

    nehmen. Da die Anlage tief unter der Erde lag, war uns nicht kalt, aber die Arbeit war

    ziemlich gefährlich. Wir haben Revolverkugeln mit Schießpulver befüllt. Geschlafen

    haben wir in zweistöckigen Betten, zwei unten und zwei oben. Esther und ich schlie-

    fen unten und über uns waren zwei Schwestern aus Berlin. Bei einem der Zählappelle

    hielt der deutsche Offizier bei unserer Fünferreihe und fragte erstaunt: „Pummel und Lilli?!“ „Jawohl, das sind wir“, sagten die Frauen. „Früher waren wir Nachbarn.“ Er kam nie mehr, uns zu zählen, sondern schickte andere.

    Bis Mitte April arbeiteten wir so und dann hörte die Arbeit plötzlich und ohne jede

    Vorwarnung auf. Ganz einfach kam niemand mehr, um uns zur Arbeit zu holen. Wir

    begannen uns, im Lager umzusehen. Es herrschte eine große Unordnung und von

    Tag zu Tag war weniger zu essen da. Eines Tages standen wir beim Tor und sahen,

    wie sich ein Auto vom Roten Kreuzes näherte. Wir waren neugierig auf das, was sich

    ereignen würde. Ein deutscher Offizier ging aus dem Büro heraus und reichte der

    Delegation die Hand. Diese aber weigerte sich, ihm die Hand zu reichen und wir sa-

    hen zu und klatschten. Trotzdem dachten wir: Wo ist das Rote Kreuz bis jetzt gewe-

    sen?!

    Etwas später gingen die Rot-Kreuz-Leute in das Lager und nahmen einige kranke

    Mädchen mit. Wir hofften, dass dies auch mit uns passieren könnte, aber es geschah

    leider nicht. Wir fühlten, dass der Krieg dem Ende zuging. Würde es aber möglich

    sein, bis dahin noch durchzuhalten? Viele verloren ihr Leben auch in diesen letzten

    Wochen und sogar Tagen. Nicht alle bekamen ihre kleine Essensration. Wer keine

    Kraft hatte sich vorzudrängen, blieb hungrig. Eines Tages brachen die hungrigen

    Frauen die Fenster der Brotkammer auf und begannen damit, Brot auszuteilen an

    jede, die in der Nähe war. Ich habe Esther mit beiden Händen festgehalten, damit sie

    sich nicht dem Lagerhaus näherte. Als die Deutschen den Einbruch entdeckten, fin-

    gen sie an zu schießen. Einige Mädchen wurden getötet, andere verwundet. Die Front

    näherte sich und die Deutschen beschlossen, das Lager zu liquidieren und zusammen

  • 26

    mit uns nach Westen zu gehen, um nicht in die Hände der russischen Befreier zu fal-

    len. Sie haben uns wieder einmal in Fünferreihen antreten lassen. Und wir begaben

    uns wiederum unter Bewachung auf einen neuen Todesmarsch. Zum Glück war der

    Winter schon vorbei.

    Die Soldaten beeilten sich besonders und waren äußerst gespannt. Die ganze Zeit

    schrien sie: „Schneller! Los!“ Jetzt marschierten wir auf deutschem Boden. Als es dunkel wurde, baten wir uns ausruhen zu dürfen. Es wurde uns erlaubt, am Straßen-

    rand zu sitzen. Das war ziemlich gefährlich, weil Soldaten von der Front flüchteten und

    ihre Fahrzeuge oft Menschen auf der Straße überfuhren. Eine unserer Freundinnen

    kam so ums Leben - ein deutscher Panzerwagen überfuhr sie. Später hat man uns

    erlaubt, in der Nacht in Lagerhäusern und Bauernhöfen zu schlafen. Am Morgen

    durchsuchten die Soldaten die Höfe und sammelten uns ein. Wieder hörten wir die

    Schreie: „Schneller! Schneller!“ Wir waren wahnsinnig müde und hungrig, die deut-schen Bewohner der Städtchen und Dörfer, die wir passierten, halfen uns jedoch nicht

    einmal mit einer Scheibe Brot. Die Wahrheit ist, dass auch sie verwirrt waren und nicht

    wussten, was sie tun sollten. Eines Nachts fanden wir ein großes Heulager und gin-

    gen dort schlafen. Die Schüsse waren sehr nahe, Gewehrkugeln sausten herum und

    leuchteten über der Scheune. Wir hatten Angst, dass eine Kugel uns treffen oder ein

    Funke das Heu anzünden könnte. Am Morgen hörten die Schüsse auf. Wir warteten,

    wie üblich, bis uns die Soldaten weckten. Aber als wir hinausschauten, sahen wir,

    dass alle geflüchtet waren.

    Trotzdem hatten wir Angst auf die Straße zu gehen, da wir nicht wussten, was ge-

    schehen würde. Wir setzten uns an den Rand des Hofs, nicht weit von der Straße.

    Nach einiger Zeit kam ein Militärwagen vorbei und die Soldaten warfen uns einen

    Rucksack voll trockener Nahrung (Biskuits, getrocknete Pflaumen und sogar Scho-

    kolade) zu. An meinem gestreiften Gewand erkannten sie, dass wir Lagerhäftlinge

    waren und riefen: „You‘re free.“ Ihr seid frei. Ich umarmte und küsste Esther:

    „Wir sind frei! Was für eine Freude!“ Und sie antwortete: „Unsere Eltern wurden er-

    mordet und wir sind Waisen und krank.“ Befreit wurden wir in einer Stadt namens

    Parchim. Hier trafen sich amerikanische, englische und russische Streitkräfte. Die

  • 27

    Straßen waren voll befreiter Häftlinge aus verschiedenen Lagern. Die meisten waren

    krank, so wie wir. Die deutschen Bewohner zogen kleine und große Wagen und

    wollten weiter nach Westen, um zu den Amerikanern zu gelangen. Sie hatten Angst,

    in die Hände der russischen Befreier zu kommen. Wir kamen dann nach Pritzwalk. Ich

    war krank, mein Magen war zusammengeschrumpft, ich konnte nicht essen, hatte

    Durchfall und war schwach. Ich wollte nicht in ein Krankenhaus, da ich Angst hatte,

    vergiftet zu werden. Wir hatten den Glauben an das gesamte deutsche Volk verloren.

    Mit verschiedenen Autostopps erreichten wir Lancberg. Hier habe ich eine Gruppe älte-

    rer Männer, nicht Juden, getroffen, die Tschechisch sprachen. Sie waren politische

    Häftlinge. Ich näherte mich ihnen und bat um Hilfe. Ich hatte damals schon sehr hohes

    Fieber. Zuerst rieten sie mir, überhaupt nicht zu essen. Sie haben mir eine Kanne Tee

    besorgt und warnten mich, nur in kleinen Schlucken zu trinken. Sie wandten sich an den

    Bürgermeister und bekamen ein leeres Gebäude zur Verfügung, wo sie mehrere aus

    Konzentrations- und Arbeitslagern befreite Frauen einquartieren konnten. Sie besorgten

    uns Lebensmittel und Betten und behandelten uns sehr liebevoll. Am Eingang zum

    Gebäude standen sie Wache, weil die russischen Soldaten wild herumliefen und warn-

    ten jeden Soldaten, der sich dem Haus näherte, dass es sich um Frauen mit anste-

    ckenden Krankheiten wie Typhus und Dysenterie handle. So gelang es ihnen, uns von

    Belästigungen zu beschützen. Eines Tages „organisierten“ die Tschechen einen Traktor

    mit einem offenen Schlepper und auch eine Fuhre mit Pferden, wo sie uns hineinsetzten.

    Wir kamen aber nicht weit, da uns russische Soldaten anhielten und den Traktor be-

    schlagnahmten. Wir saßen ruhig am Straßenrand und hofften, dass sie den Traktor zu-

    rückgeben würden, aber am Schluss gingen wir in das Haus zurück, um dort auf andere

    Transportmittel zu warten.

    Wir wollten in eine Stadt, wo es eine Eisenbahn gab. Am nächsten Tag gelang es un-

    seren Beschützern, einen Lastwagen zu ergattern, der uns in die gleiche Richtung fuhr.

    Unterwegs sahen wir den Pferdekarren, worin ein Teil der Frauen am vorigen Tag ge-

    fahren war, zerstört und in Stücke gerissen und daneben alle Insassen tot. Das Gefährt

    war von einer Miene in die Luft gesprengt worden. Wir konnten ihnen nur nachtrauern.

    Es war Zufall, dass nicht wir in dieser Fuhre gesessen hatten. Wir verstanden nun, wa-

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    rum uns die Russen den Traktor weggenommen hatten. Alle Wege waren noch voll von

    nicht entschärften Mienen.

    Wir passierten größere Städte voller Ziegelhaufen, die früher Häuser gewesen waren.

    Totale Zerstörung durch Bombardierungen. Über den Brückenpfeilern, die als Über-

    reste einer gesprengten Brücke über die Oder geblieben waren, sahen wir Pferde-

    kadaver hängen. Die Bilder, die wir unterwegs sahen, waren grauenhaft, aber unser

    eigenes Unglück war noch schmerzhafter. Man hatte unsere Eltern ermordet. Unsere

    Brüder und unser kleines Schwesterchen waren grausam umgebracht worden, auch

    alle Onkel und Tanten und Cousins, zusammen mit Millionen anderen Juden.

    Lasst uns die Schoah nicht verleugnen!!

    A-7762

    Rivka Regina Greenvald (Grünwald) Kahana