6
Deutsches Volksliedarchiv Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre by Martin Pfleiderer Review by: Stephan Richter Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture, 45. Jahrg. (2000), pp. 289-293 Published by: Deutsches Volksliedarchiv Stable URL: http://www.jstor.org/stable/849633 . Accessed: 12/06/2014 19:01 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Deutsches Volksliedarchiv is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahreby Martin Pfleiderer

Embed Size (px)

Citation preview

Deutsches Volksliedarchiv

Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik imJazz der 60er und 70er Jahre by Martin PfleidererReview by: Stephan RichterLied und populäre Kultur / Song and Popular Culture, 45. Jahrg. (2000), pp. 289-293Published by: Deutsches VolksliedarchivStable URL: http://www.jstor.org/stable/849633 .

Accessed: 12/06/2014 19:01

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at .http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp

.JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

.

Deutsches Volksliedarchiv is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Lied undpopuläre Kultur / Song and Popular Culture.

http://www.jstor.org

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Rezensionen Rezensionen

Erlauterungen, und verstandnisvoll wird hinzugefiigt, dass sich das Lied >bemerkens- wert von den schmetternd-patriotischen Kriegsgesangen eines Arndt und K6rner<< abhebt. Dariiber hinaus werden Deutungen verschiedener Wissenschaftler rekapitu- liert, darunter Hermann August Korff, Hellmut Thomke, Hannjost Lixfeld. Jedoch fehlen einige nicht unwichtige Rezipienten wie Walter Jens, Gerd Ueding, Horst Neumann und von volkskundlicher Seite Silke Gottsch. Am Ende steht ein durch- dachter Kommentar: Die Autoren verschweigen nicht und beklagen zu Recht, dass Der gute Kamerad v.a. von der politischen Reaktion instrumentalisiert worden ist, und zwar zur Beschonigung und Verklarung des Kriegsopfers und Heldentodes. Aus die- sem Grund beurteilen sie die Gesamtwirkung des Liedes als >)zwiespaltig<< - ein Urteil, das ausgewogen erscheint, wenngleich die Intention Uhlands selbst etwas tiefgriindiger hatte recherchiert werden konnen.

Im Detail sind also hier und da kleine Schwachen zu konstatieren. Sie fallen indes in Anbetracht der Vielzahl der Liedbeispiele und des Buchumfangs nicht ins Gewicht, zumal es den Autoren gar nicht auf eine luckenlose Dokumentation der Sekundarlite- ratur ankam, sondern zu Recht in erster Linie auf die Dokumentation der Lieder selbst, und dieser Dokumentationsteil wurde in allen Punkten korrekt und solide

durchgefuhrt. Aber auch die Erlauterungen sind durchweg sorgfaltig und von hohem

Informationsgehalt. AbschlieBende Kommentare und Bewertungen sind stets einfuhl- sam, differenziert und nachvollziehbar begrundet.

Uli Otto und Eginhard Konig haben gleichsam eine kleine dicke Militargeschichte >)von unten< geschrieben; sie haben gezeigt, dass Soldaten durchaus ein Gesicht haben und eine Stimme, mit der sie ihrem Unmut und ihrem Ubermut, ihren Gefiihlen und Gedanken, ihrer Not und Knechtschaft Ausdruck verschafft haben, und sei es nur (was heiBt hier >nur<?) in einem Soldatenlied. Und wer Lust hat, die Stimme der Auto- ren selbst zu horen, der kann die beiden Musik-CDs aus dem Umschlag nehmen und sie Soldatenlieder singen horen.

Harm-Peer Zimmermann, Marburg

Pfleiderer, Martin: Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Reception asiatischer und afri- kanischer Musik im JaZZ der 60er und 70er Jahre. Karben: Coda, 1998 (Schriften zur Popularmusikforschung 4). 302 S., mus. Not., Abb. ISBN 3-00-003273-8.

>>Ein Esperanto der Musik [...], eine furchterliche Vorstellung<< Es gibt eine beruhmte Anekdote des Saxofonisten Ornette Coleman.2 Coleman eigne- te sich das Saxofonspiel autodidaktisch an - eine gangige Methode im Jazz. Durch ein Missverstandnis nahm er an, die gangige Tonleiter folge den ersten Buchstaben des Alphabets:

1 Berger, Karl Hans: Bemerkungen Rum Thema Ja!Z und Weltmusik. In: Jazz Podium 42/7-8, S. 3. Zit. n. Pfleiderer: Zwischen Exotismus und Weltmusik, S. 250.

2 Erzahlt etwa in Litweiler, John: The Freedom Priniple: Ja! after 1958. New York 1984, S. 31f; siehe auch Wilson, Peter Niklas: Omette Coleman. Sein Leben - seine Mu- sik - seine Schallplatten. Schaftlach 1989, S. 15f.

Erlauterungen, und verstandnisvoll wird hinzugefiigt, dass sich das Lied >bemerkens- wert von den schmetternd-patriotischen Kriegsgesangen eines Arndt und K6rner<< abhebt. Dariiber hinaus werden Deutungen verschiedener Wissenschaftler rekapitu- liert, darunter Hermann August Korff, Hellmut Thomke, Hannjost Lixfeld. Jedoch fehlen einige nicht unwichtige Rezipienten wie Walter Jens, Gerd Ueding, Horst Neumann und von volkskundlicher Seite Silke Gottsch. Am Ende steht ein durch- dachter Kommentar: Die Autoren verschweigen nicht und beklagen zu Recht, dass Der gute Kamerad v.a. von der politischen Reaktion instrumentalisiert worden ist, und zwar zur Beschonigung und Verklarung des Kriegsopfers und Heldentodes. Aus die- sem Grund beurteilen sie die Gesamtwirkung des Liedes als >)zwiespaltig<< - ein Urteil, das ausgewogen erscheint, wenngleich die Intention Uhlands selbst etwas tiefgriindiger hatte recherchiert werden konnen.

Im Detail sind also hier und da kleine Schwachen zu konstatieren. Sie fallen indes in Anbetracht der Vielzahl der Liedbeispiele und des Buchumfangs nicht ins Gewicht, zumal es den Autoren gar nicht auf eine luckenlose Dokumentation der Sekundarlite- ratur ankam, sondern zu Recht in erster Linie auf die Dokumentation der Lieder selbst, und dieser Dokumentationsteil wurde in allen Punkten korrekt und solide

durchgefuhrt. Aber auch die Erlauterungen sind durchweg sorgfaltig und von hohem

Informationsgehalt. AbschlieBende Kommentare und Bewertungen sind stets einfuhl- sam, differenziert und nachvollziehbar begrundet.

Uli Otto und Eginhard Konig haben gleichsam eine kleine dicke Militargeschichte >)von unten< geschrieben; sie haben gezeigt, dass Soldaten durchaus ein Gesicht haben und eine Stimme, mit der sie ihrem Unmut und ihrem Ubermut, ihren Gefiihlen und Gedanken, ihrer Not und Knechtschaft Ausdruck verschafft haben, und sei es nur (was heiBt hier >nur<?) in einem Soldatenlied. Und wer Lust hat, die Stimme der Auto- ren selbst zu horen, der kann die beiden Musik-CDs aus dem Umschlag nehmen und sie Soldatenlieder singen horen.

Harm-Peer Zimmermann, Marburg

Pfleiderer, Martin: Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Reception asiatischer und afri- kanischer Musik im JaZZ der 60er und 70er Jahre. Karben: Coda, 1998 (Schriften zur Popularmusikforschung 4). 302 S., mus. Not., Abb. ISBN 3-00-003273-8.

>>Ein Esperanto der Musik [...], eine furchterliche Vorstellung<< Es gibt eine beruhmte Anekdote des Saxofonisten Ornette Coleman.2 Coleman eigne- te sich das Saxofonspiel autodidaktisch an - eine gangige Methode im Jazz. Durch ein Missverstandnis nahm er an, die gangige Tonleiter folge den ersten Buchstaben des Alphabets:

1 Berger, Karl Hans: Bemerkungen Rum Thema Ja!Z und Weltmusik. In: Jazz Podium 42/7-8, S. 3. Zit. n. Pfleiderer: Zwischen Exotismus und Weltmusik, S. 250.

2 Erzahlt etwa in Litweiler, John: The Freedom Priniple: Ja! after 1958. New York 1984, S. 31f; siehe auch Wilson, Peter Niklas: Omette Coleman. Sein Leben - seine Mu- sik - seine Schallplatten. Schaftlach 1989, S. 15f.

289 289

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Rezensionen

So I thought my C that I was playing on the saxophone was A, like that, right? Later on I found out that it did exist thataway only because the E-flat alto, when you play C natural, it is [the standard] A [transposed]. So I was right in one way and wrong in another - I mean, sound, I was right. T h e n I started

analyzing why it exists thataway, and to this very day I realize more and more that all things that are designed with a strict logic only apply against some-

thing; it is not the only way it's done. In other words, if you take an instrument and you happen to feel it a way you can express yourself, it becomes its own law.3

Ein Missverstandnis4, ein Fehler, wird also der Beginn einer neuen Art zu Denken, wird zu einem neuen asthetischen Impuls.

Jazz ist per definitionem - und auf die Definition werden wir noch zurickkom- men - eine Musik des Kulturkontakts. Er entstand in der >>Gumbokultur<<s von New Orleans aus der Begegnung afroamerikanischer und verschiedener euroamerikanischer Kulturen, und die Gewichtung seiner Einflusse lag jeweils in den Personen, die zu sei- nen ersten Helden wurden. Sie lag im Verstandnis und Missverstandnis anderer Kultu- ren innerhalb einer gewaltgeladenen Gesamtatmosphare, die einem vorstellbaren ?>wirklichen(< Kontakt eher im Weg stand. Doch ein Kontakt mit anderen asthetischen

Vorstellungen blieb ebenso ein belebendes Element des Jazz wie die Akzeptanz des Missverstandnisses. Jazz hatte immer die Fahigkeit, aus Fehlern neue Ideale zu ma- chen.

Martin Pfleiderers Buch Zwischen Exotismus und Weltmusik: Zur Reception asiatischer und afrikanischer Musik im Jazg der 60er und 70erJahre, das aus einer musikwissenschaftli- chen Doktorarbeit der GieBener Justus-Liebig-Universitat hervorgegangen ist, unter- sucht die Entwicklungen dieses Kulturkontakts in jenen zwei Jahrzehnten, die den Jazz zu einem bis dahin ungeahnten Stilpluralismus aufbrachen und so bestimmend fur seine Vorstellungen in der Gegenwart wurden. Pfleiderer gliedert seine Arbeit in drei Teile: Nach einigen einleitenden Definitionen und Definitionsversuchen be- schreibt er die Hintergriinde der Offnung einiger Jazzmusiker zur Musik der Welt. AnschlieBend gibt er konkrete Beispiele musikalischer Annaherungen von Jazz und afrikanischer bzw. asiatischer Musik, die er mit erheblichem musiktheoretischem Hin-

tergrundwissen anreichert. Aufgrund weiterer Analysen sieht er schlieBlich in dem

Trompeter und Multiinstrumentalisten Don Cherry eine paradigmatische Personlich- keit, die den Kontakt zwischen Jazz und verschiedenen Formen der Folklore der Welt zu neuen asthetischen Werten ausgeformt hat.

Pfleiderer versteht seine Untersuchung ausdriicklich als ?>Beitrag zur Jazzge- schichtsschreibung? (S. 22). Er auBert sehr viele und ausdruckliche Gedanken iiber Definitionen von Begriffen wie >>Weltmusik<< oder )Folklore<, auch uber deren politi-

3 Litweiler: The Freedom Princple, S. 31 f. 4 Meine Verwendung des Wortes >)Missverstandnis( geht zurick auf Hodeir, Andre:

Monk or the Misunderstanding (1959), in englischer Ubersetzung veroffentlicht in To- wardJaz. New York 1986 [1962], S. 156-177.

5 Vgl. Reed, Ishmael: The Neo-HooDoo Aesthetic. In: New and Collected Poems. New York 1988, S. 26: )The proportions of ingredients used depend upon the cook!<

290

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Rezensionen

sche Korrektheit. Den Begriff )>Jazz<< aber hinterfragt oder diskutiert er nicht. Jazz ist offensichtlich eine unumstritten abgeschlossene Musikform mit eindeutiger >Idioma- tik<, deren Geschichte geschrieben werden kann und die von einer >Jazzforschung<<6 erkundet wird. Dies ist nicht der Ort, um uber die SchlieBung des Kanons der Jazztra- dition zu lamentieren, aber ein Buch uber Kontakte zwischen Jazz und anderen Mu- sikformen konnte es sein. Die >>Frage nach der Essenz der jazzmusikalischen Praxis< taucht schlieBlich in einem kleinen Absatz auf, der das Bestehen des Jazz in weltmusi- kalischem Kontext hinterfragt (S. 167). Das Buch verankert sich auf bewundernswerte Weise in den Begrifflichkeiten der rezipierten Musikformen; die Erklarung des Unter- schiedes zwischen indischen Musikformen und dem Jazz der sechziger Jahre hinsicht- lich des Modalitatsbegriffs etwa (S. 110f.) wird schwer zu ubertreffen sein. Aber es wird unklar und ungenau, wenn es darum geht, die >eigeneo Musikkultur zu hinterfra-

gen. Hier versteckt sich der Autor stellenweise hinter Floskeln und feuilletonistischen Klischees. Warum sollte man etwa im Zeitalter der Globalisierung >>kommerziell aus-

gerichtete Unterhaltungsmusik< einer >>kulturubergreifenden Musik< als Antithese ge- genuberstellen, wie er es in seiner Zusammenfassung tut (S. 248)? Warum sollte das vom Produzenten Joachim Ernst Berendt geschaffene Motto ?Jazz Meets the World< die Erwartung wecken, mit >>traditionellen Musikern einer fremden Kultur zusammen- zutreffen< (S. 76), wo doch einige der unter diesem Motto produzierten Platten aus- drucklich J a z z -Musiker aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenfuhren? Wa- rum bemangelt Pfleiderer, wenn bei einigen Treffen von Jazz und Weltmusik >>statt musikalischen Fusionen und Synthesen [...] collageartige Nebeneinandert< (S. 70) ent- stehen, ohne uns mitzuteilen, wie eine gelungene musikalische Fusion aussieht? Selbst dort, wo er das Gelingen einer Verschmelzung von Einflussen des Jazz und der inter- nationalen Folklore impliziert, wie im Fall >Don Cherry<, spricht er nicht konkret dar- uber. All das mag pedantisch wirken, und vielleicht sind die Fuhler der Kritik zu sehr gespitzt durch einige bedauernswerte faktische Fehler im Text. So wird Paul Des- monds beruhmte Komposition Take Five wieder einmal zu einem >>Brubeck- Evergreen( (S. 125). Die LP Jagz Meets India, die Pfleiderer auf knapp zwei Seiten ana- lysiert, erhalt mit Peter Kowald statt des tatsachlich spielenden Uli Trepte kurzerhand einen neuen Bassisten (S. 76). Und der bedeutende Jazztrompeter Buck Clayton, aus dessen Autobiografie Pfleiderer sogar zitiert, wird zu einem Bassisten (S. 56)! Es spricht nicht fur den Zustand unserer Hochschulen, wenn solche Fehler den langen Korrekturprozess einer Promotion uberstehen.

Gut und wichtig wird Pfleiderers Buch, wo es den Informationswust verlasst, den das Thema aufdrangt, wo es theoretische Uberlegungen aufgibt und konkret wird: in den musikalischen Analysen, in einzelnen Darstellungen geschichtlicher Entwicklun-

6 Mir ist nicht ganz klar, wie man von >Jazzforschungo reden kann, wenn man von der Handvoll Leute weiB, die in Deutschland Jazz forschen, fast ohne finanzielle Mittel und mit geringster institutioneller Absicherung. Auch in den USA, wo Jazz immerhin zu den anerkannten nationalen Kulturschatzen gehort, ist die Situation der Jazztheorie nur unwesentlich besser, und viele der interessanteren Beitrage zur Jazzforschung kommen wie in ihrer bisherigen Geschichte von interessierten >>Amateuren<.

291

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Rezensionen

gen (z.B. Kap. >Universalistische Spiritualitat, meditative Musik und New Age Musik<, S. 50-55), v.a. aber in dem langen Teil uber Don Cherry. Hier werden Thesen, die vorher im schwer zu lesenden Stil kaum zu erkennen waren, pl6tzlich luzid. Aus der konkreten Schilderung eines individuellen Musikers erhalten wit klares Verstandnis uber die Art, wie personliche Kontakte mit Musikern aus anderen Teilen der Welt zu einer langsamen Wandlung im eigenen Ausdruck fihren, einer Wandlung, die den per- sonlichen Traditionen eines Jazzmusikers neue asthetische Impulse gibt und so neue Werte in Gang bringt.

Auf zwei Seiten (169/70), in zwei Zitaten Don Cherrys, werden die Dinge, die ich als die Kernprobleme des Themas ansehe, auf den Punkt gebracht; gleichwohl werden hier zugleich die Grenzen des Themas sichtbar. Das eine Zitat beschreibt die Proble- me, die 1961 zur Auflosung des Quartetts von Ornette Coleman fuhrten:

Der Hunger lieB unsere Gruppe auseinander brechen; ein paar von uns schie- nen sogar ganz aufhoren zu wollen, diese Art von Musik zu spielen.7

>Hunger< ist also nicht nur ein Bild fur den Zustand vieler Lander, deren Musik Jazz rezipiert, es ist auch ein Bild fur )Jazz< selbst. ?Jazz< bedeutet im Fall Don Cherrys eine Existenz am Rand der Gesellschaft, rastlos zwischen Landern und Kulturen schwebend. Die Beschreibung eines solchen liminoiden Zustands - um Victor Tur- ners Begriff8 zu verwenden - in eine tiefer gehende Diskussion ideologischer oder

politischer Umstande der Begegnung von Jazz und afrikanischer und asiatischer Folk- lore umzusetzen, ist wohl von einer musikwissenschaftlichen Arbeit nicht zu leisten. Ob aber eine j a zz -wissenschaftliche Arbeit ohne eine ernsthaftere Diskussion der Okonomie dieser Musik auskommen kann, sollte man zumindest problematisieren.

Das andere Cherry-Zitat vertieft den Aspekt der Religiositat und Spiritualitat, der

ja nicht nur wichtiger Inhalt einer Rezeption afrikanischer und asiatischer Musik durch den Jazz, sondern auch des Jazz selbst ist. Cherry spricht uber seine Herkunft aus der

baptistischen Religion: I saw how the spirit would enter the room, and everyone would become very happy. To me that's what music has always been about- stimulating that sense within us which only music can stimulate.9

Pfleiderer tut sein Bestes, um Cherrys Suche nach einer >>universalistischen Spirituali- tato (S. 210) genauer zu beschreiben, muss sich aber oft genug mit nebulosen Be-

schreibungen wie )>eine Neigung zum religiosen Mystizismus< (S. 196) zufrieden ge- ben, die er dann nicht weiter vertieft. Vermutlich scheitert eine tiefgriindigere Analyse, selbst bei bester Auslotung der existierenden Quellen, am Material. Journalisten, die

Jazzmusiker interviewen, werden selten deren religiose Anschauungen hinterfragen. Vielleicht hatte hier eine Erweiterung des konkreten Teils auf einen noch lebenden

7 Zit. auf S. 170 aus Pellicotti, Giacomo: Don Cherry. In: Jazz Magazine, Nr. 247

(1976), S. 29. 8 Etwa in Turner, Victor: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. New

York 1982, passim. 9 Zit. (S. 261) aus Taylor, Art: Notes and Tones. New York 1982, S. 175.

292

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Rezensionen Rezensionen

Musiker10, den man zu spirituellen Anschauungen direkt hatte befragen konnen, oder einen Musiker, der sich uber dieses Thema schriftlich geauBert hat, neue Erkenntnisse

gebracht. Ich vermisse im Buch etwa den Namen Sun Ra, und dieses Fehlen ist sym- ptomatisch. Eine Diskussion der Musik und Philosophie Sun Ras ist problematisch; sie mag ebenso aufs wissenschaftliche Glatteis fuhren wie eine Diskussion der Begriffe >Hunger( und )Spiritualitat(. Sun Ras Philosophie tragt zu viel von den )Con Men( der afroamerikanischen Kultur in sich, von Marcus Garvey bis Elijah Muhammad, Leuten, die sich einer )ernsthaften< Beschaftigung widersetzen und gerade deshalb zu

wichtigen Impulsgebern einer afroamerikanischen Asthetik wurden. Ras Musik ist zu sehr zirzensischer Mischmasch, tragt zu sehr den Stallgeruch des Musikmarktes, um eine unproblematische Analyse nach den Gesetzen europaischer Musiktheorie zu ges- tatten. Seine Religion des Missverstehens, in der die Gesetze europaischer Logik zu neuen, individuellen Werten umverstanden werden, muss sich der musikwissenschaft- lichen Methodik des Buches entziehen. Insofern scheitert Pfleiderer. Er scheitert aber nicht, ohne uns eine Fulle wertvollen Materials prasentiert zu haben, dessen Zusam-

menfuhrung an sich schon eine Pionierleistung ist.

Stephan Richter, Hechendorf

Polites, Alexes - noXiTril, AkErlSq: Claude Fauriel, EXlnvtKucx 5riitoticC Tpayo{)- Sta. A' H K6c5o<(rl o) 1825-25; B' AvcK68oa Kceiteva, avaxiuicKa KpticKa 'rnogviltaTa, 7rapapTrga icat e:ine?rpa [Claude Fauriel, Griechische Volkslieder. I. Die Ausgabe von 1824-25; II. Unverffentlichte Texte, analytischer apparatus criticus, Beilage und Epimetra]. Heraklio: Creta Univ. Press, 1999. 373 S., 2 Abb.; 353 S. ISBN 960- 524-065-3.

Die kritische Ausgabe der Edition griechischer Volkslieder durch Claude Fauriel 1824/25, die mit ihrer umfangreichen und gelehrten Einleitung Epoche machend auf Romantik und Philhellenismus eingewirkt hat, sowie des Archivs von Fauriel, das noch eine ganze Reihe weiterer Liedaufzeichnungen enthalt, durch Alexis Politis, ist ein wichtiger Beitrag nicht nur fur die Geschichte der europaischen Volksliedfor- schung, sondern auch fur die griechische Liedforschung, der die Fauriel-Ausgabe bis- her nur in einer unzureichenden Ubersetzung von 1956 zuganglich war. Mit der Ver- offentlichung der insgesamt 275 unveroffentlichten Liedaufzeichnungen wird die Fau- riel-Sammlung auf eine ganz neue Grundlage gestellt: Neben der Sammlung Werner von Haxthausens (die erst 1935 veroffentlicht worden ist) ist sie immerhin die erste umfangreiche griechische Liedersammlung, die auch sofort (zweimal) ins Deutsche, daruber hinaus ins Englische und ins Russische ubersetzt worden ist. Die Volkspoesie bedeutete ja nach Herder so etwas wie eine rechtliche Legitimation des Anspruchs auf eigenstandige und unabhangige nationale Existenz. Alexis Politis hatte sich bereits in den vergangenen Jahren mit der Sammlung eingehend beschaftigt: in seiner Dissertati- on 1984 (H avacKaXvmjrg Tov e r.qvtiKcv 8r1oucK(bv TpayovSxtv, Athen 1984,

10 Ich denke etwa an Musiker wie Joseph Jarman oder Malachi Favors aus dem >Art Ensemble of Chicago<, uber das Pfleiderer ja schone Texte veroffentlicht hat.

Musiker10, den man zu spirituellen Anschauungen direkt hatte befragen konnen, oder einen Musiker, der sich uber dieses Thema schriftlich geauBert hat, neue Erkenntnisse

gebracht. Ich vermisse im Buch etwa den Namen Sun Ra, und dieses Fehlen ist sym- ptomatisch. Eine Diskussion der Musik und Philosophie Sun Ras ist problematisch; sie mag ebenso aufs wissenschaftliche Glatteis fuhren wie eine Diskussion der Begriffe >Hunger( und )Spiritualitat(. Sun Ras Philosophie tragt zu viel von den )Con Men( der afroamerikanischen Kultur in sich, von Marcus Garvey bis Elijah Muhammad, Leuten, die sich einer )ernsthaften< Beschaftigung widersetzen und gerade deshalb zu

wichtigen Impulsgebern einer afroamerikanischen Asthetik wurden. Ras Musik ist zu sehr zirzensischer Mischmasch, tragt zu sehr den Stallgeruch des Musikmarktes, um eine unproblematische Analyse nach den Gesetzen europaischer Musiktheorie zu ges- tatten. Seine Religion des Missverstehens, in der die Gesetze europaischer Logik zu neuen, individuellen Werten umverstanden werden, muss sich der musikwissenschaft- lichen Methodik des Buches entziehen. Insofern scheitert Pfleiderer. Er scheitert aber nicht, ohne uns eine Fulle wertvollen Materials prasentiert zu haben, dessen Zusam-

menfuhrung an sich schon eine Pionierleistung ist.

Stephan Richter, Hechendorf

Polites, Alexes - noXiTril, AkErlSq: Claude Fauriel, EXlnvtKucx 5riitoticC Tpayo{)- Sta. A' H K6c5o<(rl o) 1825-25; B' AvcK68oa Kceiteva, avaxiuicKa KpticKa 'rnogviltaTa, 7rapapTrga icat e:ine?rpa [Claude Fauriel, Griechische Volkslieder. I. Die Ausgabe von 1824-25; II. Unverffentlichte Texte, analytischer apparatus criticus, Beilage und Epimetra]. Heraklio: Creta Univ. Press, 1999. 373 S., 2 Abb.; 353 S. ISBN 960- 524-065-3.

Die kritische Ausgabe der Edition griechischer Volkslieder durch Claude Fauriel 1824/25, die mit ihrer umfangreichen und gelehrten Einleitung Epoche machend auf Romantik und Philhellenismus eingewirkt hat, sowie des Archivs von Fauriel, das noch eine ganze Reihe weiterer Liedaufzeichnungen enthalt, durch Alexis Politis, ist ein wichtiger Beitrag nicht nur fur die Geschichte der europaischen Volksliedfor- schung, sondern auch fur die griechische Liedforschung, der die Fauriel-Ausgabe bis- her nur in einer unzureichenden Ubersetzung von 1956 zuganglich war. Mit der Ver- offentlichung der insgesamt 275 unveroffentlichten Liedaufzeichnungen wird die Fau- riel-Sammlung auf eine ganz neue Grundlage gestellt: Neben der Sammlung Werner von Haxthausens (die erst 1935 veroffentlicht worden ist) ist sie immerhin die erste umfangreiche griechische Liedersammlung, die auch sofort (zweimal) ins Deutsche, daruber hinaus ins Englische und ins Russische ubersetzt worden ist. Die Volkspoesie bedeutete ja nach Herder so etwas wie eine rechtliche Legitimation des Anspruchs auf eigenstandige und unabhangige nationale Existenz. Alexis Politis hatte sich bereits in den vergangenen Jahren mit der Sammlung eingehend beschaftigt: in seiner Dissertati- on 1984 (H avacKaXvmjrg Tov e r.qvtiKcv 8r1oucK(bv TpayovSxtv, Athen 1984,

10 Ich denke etwa an Musiker wie Joseph Jarman oder Malachi Favors aus dem >Art Ensemble of Chicago<, uber das Pfleiderer ja schone Texte veroffentlicht hat.

293 293

This content downloaded from 195.34.79.49 on Thu, 12 Jun 2014 19:01:28 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions