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Seewlfe 150 Davis J.Harbord 1 Zwischenfall in Tanger 1. Der Wind war etwas launisch, aber noch keineswegs ruppig. Er wehte hei vom afrikanischen Festland herüber und pendelte zwischen Ost und Südost. Nein, der Wind war durchaus nicht besorgniserregend. Da hatten sich die Seewlfe schon ganz andere Dinger um die Ohren pfeifen lassen Stürme, Orkane, in denen, wie der eiserne Edwin Carberry, Profos auf der Isabella VIII., behauptete, sogar die Mwen ein paar Reffs in die Flügel gedreht htten. Also, dieser müde afrikanische Wind regte sie schon gar nicht auf, kein Stück, Sir! Dennoch gingen sie wie auf Eiern, die Mnner der Dreimast-Galeone Isabella wenn sie überhaupt gingen! Eigentlich standen sie mehr und wagten kaum. sich zu bewegen. Wie Marionetten wirkten sie, steif, etwas hlzern. Und sie schwitzten. Am Schanzkleid der Backbord- oder Steuerbordseite befand sich keiner. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der Isabella, hatte gesagt, es sei besser, wenn sie sich mittschiffs aufhielten. Wegen der Stabilitt! Die sei nmlich so ziemlich im Eimer, hatte Ferris Tucker erklrt und auf Carberrys brummige Frage, was denn, zum Teufel, diese verdammte Stabilitt bedeute, erwidert, Stabilitt sei das Vermgen eines Schiffes, sich aus einer Krngungslage wieder aufzurichten. Und restlos gestrt sei die Stabilitt der Isabella, weil sie am Rumpf unter Wasser einen ganzen Panzer an Muscheln, Seepocken, Algen und Tang mit sich herumschleppe. Aber er knne sich ja das Maul fusselig reden, niemand halte es f ür ntig, ihm zuzuhren. Das hatte er mit einem schrgen Blick zum Achterdeck hin gesagt. Aber Philip Hasard Killigrew hatte ihm doch zugehrt. Und auerdem wute er auch selbst, da die Isabella in ihrem jetzigen Zustand nicht sonderlich manvrierfhig war. Na, das war noch geschmeichelt. Die sonst so ranke Isabella walzte wie eine kranke, alte Kuh nordostwrts, und genau wie seine Mnner hielt Hasard den Atem an, wenn ein strkeres Windchen diese kranke, alte Kuh zwang, sich nach Lee zu verbeugen. Dann standen sie alle auf Stützen, bis die Kuh nach dieser endlos erscheinenden Verbeugung geruhte, wieder ihre Normalschwimmlage einzunehmen. Und Hasard hatte Ferris Tucker zugerufen, da er bereits Kurs auf Tanger abgesetzt habe, um dort ins Dock zu gehen. Denn sie mute aufgedockt werden, die Isabella, da bi keine Maus den Faden ab. Mit Bordmitteln, wie der Schiffszimmermann zu sagen pflegte, war der Panzer rund um den Rumpf der Isabella nicht mehr zu knacken. Natürlich, sie htten die Galeone auf einem 'einsamen, sandigen Strand aufsetzen knnen, sie gekrngt und erst die eine Unterwasserseite und dann die andere abgekratzt. Aber das htte Wochen gedauert! Und dann die Schinderei! Denn das htte bedeutet, da sie die Galeone htten leichtern müssen, um sie auf den Strand zu ziehen. Und ihr Bauch war bis unter die Luken voll. Er barg die Beute, die sie im Laufe von über einem halben Jahrzehnt auf ihrer Fahrt rund um die Welt in unzhligen Kmpfen und Gefechten als Seewlfe gerissen hatten. Aber auch Schenkungen waren dabei, Dankes gaben, denn sie hatten sich Freunde erworben mehr Freunde als Feinde. Nein, sie gehrten nicht zu der Kategorie mordl üsterner Piraten. Aber wenn sie auf Dons stieen, wichen sie keinem Kampf aus, erst recht nicht, wenn sie dabei Menschen helfen konnten, die unter der spanischen Knute zu leiden hatten. Hasard hatte geschwankt, ob es nicht besser wre, sofort die Isabella landwrts zu segeln und an einer günstigen Stelle aufzusetzen. Ein Blick auf die Seekarte hatte ihn umgestimmt. Sie waren noch etwa eine knappe Tagesreise von Tanger entfernt, wenn der Wind so blieb. Tanger bedeutete: mehr Arbeitskrfte zur berholung, der muschelumpanzerten Isabella und damit eine gewaltige Zeitersparnis. Und das hatte den Ausschlag

Zwischenfall in Tanger

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Seewölfe 150 Davis J.Harbord 1 Zwischenfall in Tanger

1. Der Wind war etwas launisch, aber noch keineswegs ruppig. Er wehte heiß vom afrikanischen Festland herüber und pendelte zwischen Ost und Südost. Nein, der Wind war durchaus nicht besorgniserregend. Da hatten sich die Seewölfe schon ganz andere Dinger um die Ohren pfeifen lassen �Stürme, Orkane, in denen, wie der eiserne Edwin Carberry, Profos auf der �Isabella VIII.�, behauptete, �sogar die Möwen ein paar Reffs in die Flügel gedreht hätten.� Also, dieser müde afrikanische Wind regte sie schon gar nicht auf, kein Stück, Sir! Dennoch gingen sie wie auf Eiern, die Männer der Dreimast-Galeone �Isabella� � wenn sie überhaupt gingen! Eigentlich standen sie mehr und wagten kaum. sich zu bewegen. Wie Marionetten wirkten sie, steif, etwas hölzern. Und sie schwitzten. Am Schanzkleid der Backbord- oder Steuerbordseite befand sich keiner. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der �Isabella�, hatte gesagt, es sei besser, wenn sie sich mittschiffs aufhielten. Wegen der Stabilität! Die sei nämlich so ziemlich im Eimer, hatte Ferris Tucker erklärt und auf Carberrys brummige Frage, was denn, zum Teufel, diese verdammte Stabilität bedeute, erwidert, Stabilität sei das Vermögen eines Schiffes, sich aus einer Krängungslage wieder aufzurichten. Und restlos gestört sei die Stabilität der �Isabella�, weil sie am Rumpf unter Wasser einen ganzen Panzer an Muscheln, Seepocken, Algen und Tang mit sich herumschleppe. Aber er könne sich ja das Maul fusselig reden, niemand halte es für nötig, ihm zuzuhören. Das hatte er mit einem schrägen Blick zum Achterdeck hin gesagt. Aber Philip Hasard Killigrew hatte ihm doch zugehört. Und außerdem wußte er auch selbst, daß die �Isabella� in ihrem jetzigen Zustand nicht sonderlich manövrierfähig war. Na, das war noch geschmeichelt. Die sonst so ranke �Isabella� walzte wie eine kranke, alte Kuh nordostwärts, und genau wie

seine Männer hielt Hasard den Atem an, wenn ein stärkeres Windchen diese kranke, alte Kuh zwang, sich nach Lee zu verbeugen. Dann standen sie alle auf Stützen, bis die Kuh nach dieser endlos erscheinenden Verbeugung geruhte, wieder ihre Normalschwimmlage einzunehmen. Und Hasard hatte Ferris Tucker zugerufen, daß er bereits Kurs auf Tanger abgesetzt habe, um dort ins Dock zu gehen. Denn sie mußte aufgedockt werden, die �Isabella�, da biß keine Maus den Faden ab. �Mit Bordmitteln�, wie der Schiffszimmermann zu sagen pflegte, war der Panzer rund um den Rumpf der �Isabella� nicht mehr zu knacken. Natürlich, sie hätten die Galeone auf einem 'einsamen, sandigen Strand aufsetzen können, sie gekrängt und erst die eine Unterwasserseite und dann die andere abgekratzt. Aber das hätte Wochen gedauert! Und dann die Schinderei! Denn das hätte bedeutet, daß sie die Galeone hätten leichtern müssen, um sie auf den Strand zu ziehen. Und ihr Bauch war bis unter die Luken voll. Er barg die Beute, die sie im Laufe von über einem halben Jahrzehnt auf ihrer Fahrt rund um die Welt in unzähligen Kämpfen und Gefechten als Seewölfe gerissen hatten. Aber auch Schenkungen waren dabei, Dankes gaben, denn sie hatten sich Freunde erworben � mehr Freunde als Feinde. Nein, sie gehörten nicht zu der Kategorie mordlüsterner Piraten. Aber wenn sie auf Dons stießen, wichen sie keinem Kampf aus, erst recht nicht, wenn sie dabei Menschen helfen konnten, die unter der spanischen Knute zu leiden hatten. Hasard hatte geschwankt, ob es nicht besser wäre, sofort die �Isabella� landwärts zu segeln und an einer günstigen Stelle aufzusetzen. Ein Blick auf die Seekarte hatte ihn umgestimmt. Sie waren noch etwa eine knappe Tagesreise von Tanger entfernt, wenn der Wind so blieb. Tanger bedeutete: mehr Arbeitskräfte zur Überholung, der muschelumpanzerten �Isabella� und damit eine gewaltige Zeitersparnis. Und das hatte den Ausschlag

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gegeben. Denn sie wollten zurück nach England � so schnell wie möglich. Nachrichten, Gerüchte, Berichte deuteten auf eine wachsende Spannung zwischen England und Spanien. Es hieß, das mächtige und gewaltige Spanien rüste zu einem entscheidenden Schlag gegen den Inselzwerg England, der zur See immer lästiger wurde und die Frechheit aufbrachte, immer wieder über die Silberflotten herzufallen, die aus der Neuen Welt herübersegelten. Denn Spanien war verschuldet, schwer verschuldet. Und wenn das, was für die Staatstruhen gedacht war, in die Säckchen der königlichen Lissy floß, dann war das schon ein Aderlaß, der nicht mehr so leicht verkraftet werden konnte. Ja, die Lage war ernst geworden. Und Philip Hasard Killigrew wollte dabei sein, wenn der Große über den Kleinen herfiel. Der Kleine, das war England. Und Hasard hatte sich stets auf die Seite des Schwächeren gestellt. Außerdem galt es, in England einige Dinge zu regeln und klarzustellen - zum Beispiel die Behauptung zu widerlegen, daß er, Philip Hasard Killigrew, die Königin um ihren gerechten Anteil an gewissen Beuteschätzen geprellt habe. Intriganten hatten dieses Gerücht ausgestreut und damit die Seewölfe zur Flucht aus England getrieben. Und jetzt kehrten sie zurück - mit neuen Schätzen beladen. Schätzen auch wiederum für die Königin. Das würde den Schandschnauzen die Mäuler stopfen. Das war das Fernziel. Noch rund zwölf Stunden bis Tanger, zwölf Stunden. die sich endlos dehnten, zwölf Stunden auf einem Schiff, das sich nicht einmal wehren konnte, wenn' es angegriffen wurde. Ferris Tucker sprach es aus: �Mit dieser lahmen Kuh brauchen wir 'ne Stunde, wenn wir auf den anderen Bug gehen wollen.� Das hieß im Klartext, bei Gefahr im Verzug kein schnelles Manöver mehr ausführen zu können. Sie hatten keine Zähne und Krallen mehr, die Seewölfe.

Und darum schwitzten sie. Sie litten mit ihrer �Isabella�, die schwankend durch die Dünung torkelte. �O Gott�. murmelte der alte O'Flynn, �o Gott, wenn das nur gut geht! Damals, auf der ,Empress of Sea' ...� Ein Aufstöhnen Carberrys ließ ihn verstummen. Aber das hing nicht mit dem Aufstöhnen zusammen, sondern in diesem Moment hatte der Wind wieder einmal zugelangt - mit einer Katzenpfote, deren Krallen sogar noch eingezogen waren. Ein liebes, sanftes Katzenpfötchen war das, aber von verheerender Wirkung. Unendlich langsam verneigte sich die �Isabella� nach Backbord. Sie hörte gar nicht auf mit dem Verneigen, immer weiter - und noch weiter. Und den Männern standen die Haare zu Berge. Denn die �Isabella� verharrte in der Schräglage. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich wiederaufzurichten. Wenn jetzt noch eine Katzenpfote folgte, dann war es um die _Isabella� geschehen. Sie hatte jenen Punkt erreicht, der Kenterung bedeutete. Hasards scharfe Stimme durchschnitt die lähmende Stille: �Alle Mann nach Steuerbord!� Alle einundzwanzig Männer der Crew reagierten augenblicklich und sprangen an das Steuerbord-Schanzkleid. Sie brachten einige hundert Kilo Lebendgewicht auf die hohe Kante, im Grunde ein lächerlicher Ausgleich zu dem Muschelballast der �Isabella�. aber sie reagierte dennoch. Nach langen entsetzlichen Sekunden begann sie sieh Wieder aufzurichten. Hasard gab zähneknirschend noch einen Befehl. �Weg mit dem Großsegel!� sagte er. �Dieser verdammte Lappen fängt zuviel Wind auf und drückt die Tante nach Lee!� �Die Tante�, das war die �Isabella�. Sie gaben ihr unzählige liebevolle Namen - je nach Wetter- oder Gefechtslage oder auch einfach nur so. Von der �schmucken Lady� bis hin zum �Mistkahn�. Jetzt prägte der Profos einen neuen Namen: �Muschelsarg!� Der Muschelsarg ächzte und stöhnte beleidigt und segelte nur noch mit halber

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Fahrt unter Besan und den Focksegeln. Die Blinde vorn am Bugspriet war bei halbem Wind wie auch am Wind sowieso witzlos, denn sie zog nicht und ließ die �Isabella� bei Halbwind- und Am-Wind-Kursen nur nach Lee gieren. Dadurch ging Höhe verloren, und der Rudergänger mußte ständig gegensteuern, was sich wieder auf die Geschwindigkeit auswirkte. Aber die war ohnehin beim Teufel. Denn im Kielwasser schleppte die �Isabella� einen langen Schleier von Tang und Algen hinter sich her, der dicht und zäh war und sich ständig erneuerte, wenn er mühselig gekappt worden war. Dieses Zeug verfing sich an dem muschel- und pockennarbigen Unterwasserschiff, hing am Ruderblatt, das immer schwergängiger wurde, und webte einen schweren, glitschigen Teppich um den Rumpf. Nach dem Bergen des Großsegels lief die �Isabella� etwas aufrechter, aber eben leider langsamer. Die Männer blieben jetzt auf der Steuerbordseite, um mit ihrem Eigengewicht zu trimmen. Ferris Tucker kletterte aufs Achterdeck, wo Hasard zusammen mit Ben Brighton an der Steuerbordseite lehnte. Er grinste grimmig und sagte: �Das war buchstäblich in letzter Sekunde. Ich dachte schon, jetzt erholt sie sich nicht mehr, die verdammte Krücke.� �Ferris�, mahnte Ben Brighton. �Ist doch wahr! Das ist doch kein Schiff mehr. Seit Wochen predige ich, daß wir diesen Muschelmist abkratzen müßten. Aber da kann man glattweg 'ne Wand anreden ...� �Ferris, sei friedlich�, sagte der Seewolf sanft. �Morgen sind wir in Tanger und haben's überstanden.� �So? Sind wir das?� Ferris Tucker gab keine Ruhe. �Und was passiert, wenn wir ein paar härtere Drücker erwischen? Wer garantiert, daß das Wetter so bleibt?� �Niemand�, erwiderte Hasard. �Und wenn wir härtere Drücker kriegen, müssen wir eben noch mehr Segel wegnehmen.� �Ha! Dann sind wir erst im nächsten Jahr in Tanger.�

Hasard musterte den rothaarigen Riesen. �Bist du au f Streit aus, Ferris?� fragte er freundlich. �Nein, aber ich lehne jede Verantwortung für den jetzigen Zustand des Schiffes ab.� �In Ordnung�, sagte Hasard lächelnd. �Übrigens ist mir da eben noch was durch den Kopf gegangen. Wir könnten ein bißchen vorbeugen, wenn's happiger wehen sollte. Und weißt du, wie?� �Nein.� �Ich bin zwar nicht der Schiffszimmermann, der über Stabilität eine Menge zu sagen weiß�, erklärte Hasard, und etwas Spott schwang in seiner Stimme mit, �aber ich könnte mir denken, daß es vielleicht gut wäre, einigen Ballast nach Steuerbord zu trimmen, gewissermaßen als Gegengewicht zu der Krängung nach Backbord. Wir können Tanger anliegen, wenn der Wind nicht nördlicher dreht. Das heißt, wir werden die nächsten Stunden auf Backbordbug weitersegeln. Um die kleinen Drücker abzufangen, die jetzt unserer ,Isabella' gefährlich werden könnten, müßte es doch genügen, wenn wir mit Ballast gegentrimmen. Was meinst du, Ferris?� Der Schiffszimmermann hatte rote Ohren und murmelte: �Aye, aye, Sir.� �Weißt du�, sagte Hasard, �mir fiel das ein, als wir uns vorhin so anhaltend nach Lee verneigten und das Gewicht der Männer offensichtlich ausreichte, die �Isabella' wiederaufzurichten. Und mir fiel auch ein, daß man doch dieses Gewicht beliebig vergrößern könnte � was bewirken würde, daß man dann auch das Großsegel wieder setzen kann, zwecks schnellerer Fahrt Richtung Tanger.� Hasard rieb sich die Nase. �Ja, das fiel mir so ein, obwohl ich nicht der Schiffszimmermann bin, sondern nur der lausige Kapitän eines Muschelsargs. Ja, und an der Verantwortung trage ich so schwer, daß sie fast als Trimmballast ausreichen müßte. Oder meinst du, daß ich sie jetzt auch ablehnen darf, Ferris?� Die roten Ohren von Ferris Tucker hatten inzwischen eine knallrote Färbung angenommen.

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�Ich hab's begriffen, Sir�, sagte er, und es klang ziemlich gequetscht. �Bitte um Entschuldigung.� Hasard lächelte fröhlich. �Nichts da! Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Ferris! Außerdem weißt du genau, daß du unersetzbar und der beste Schiffszimmermann Englands bist. Im übrigen hattest du mich. was den Muschelbewuchs betrifft, lange genug gewarnt. Der jetzige Zustand der �Isabella' geht also zu meinen Lasten. Und wenn du sauer bist, dann verstehe ich das. Alles klar, Ferris?� �Aye, Sir, alles klar.� Ferris Tucker starrte auf seine Fußnägel, denn er ging wie alle anderen auch barfuß -nicht um Sohlen zu sparen, sondern weil's bei dem Klima angenehmer war. Die langschäftigen Seestiefel würden sie früh genug wieder anziehen müssen, wenn sie weiter nördlich segelten. �Hm�, brummte er, �ich war nur sauer, weil mir das mit dem Trimmen nicht selbst eingefallen ist. Manchmal hat man ein Stück Kielholz vorm Schädel.� �Hatte ich ja auch�, sagte Hasard, �dabei hätte mir einfallen müssen, daß ich bereits als Junge mein Gewicht einsetzte, wenn ich mit der kleinen Jolle von Sir John in den Buchten von Cornwall segelte. Ich hockte mich bei Am-Wind-Kursen auf die Luvkante, und wenn Böen einfielen, hing ich fast außenbords, um sie abzufangen. Wenn wir jetzt mit festen Gewichten trimmen, wird das so eine Art Balanceakt. Ein Zuviel an Trimmgewicht nach Steuerbord könnte schon wieder gefährlich sein.� �Ich hab's�, sagte Ferris Tucker, und jetzt hatte er keine roten Ohren mehr. �Na?� �Wir fummeln das mit den acht Culverinen auf der Steuerbordseite hin�, erklärte Ferris Tucker. �Ganz einfach. Wir fahren sie aus wie bei Klarschiff zum Gefecht. Das bringt insgesamt eine Menge Gewichts trimm nach Luv - vor allem mit den überlangen Rohren - und gibt uns außerdem die Möglichkeit, mittels der Brooktaue die Culverinen je nach Bedarf zu verschieben. Ich meine, mit den Kanönchen können wir

auf diese Weise exakt und ohne viel Mühe oder Zeitaufwand trimmen.� �Genial�, sagte Hasard. Der rothaarige Riese strahlte und wandte sich um, um zur Kuhl hinunterzusteigen. Er prallte mit Carberry zusammen, der den Niedergang hochwalzte, als habe er die Absicht, eine Mauer einzurennen. �Ich hab 'ne Idee!� verkündete er mit seiner Donnerstimme und warf Ferris Tucker einen verächtlichen Blick zu. Dann blickte er Hasard an. �Ah�, sagte Hasard, �und welche?� �Wir trimmen Eisen nach Steuerbord, Kugeln, Ketten und so. Auch Fässer, die Anker, alles Schwere!� Carberry verschluckte sich fast vor Eifer. �Und Schatztruhen aus den Laderäumen, wie?� fragte Hasard mit harmloser Miene. Ben Brighton und Ferris Tucker begannen zu grinsen. �Ja, genau, die auch�, sagte Carberry begeistert und ignorierte die beiden grinsenden Männer neben Hasard. �Das wird 'n Alle-Mann-Manöver, Sir. Soll ich die Sache in die Hand nehmen? Ich mein, die Kerls müssen mal wieder auf Trab gebracht werden. Die lümmeln am Steuerbord-Schanzkleid 'rum, pulen in den Nasen und klauen dem lieben Gott die Zeit.� �Hm.� Hasard kratzte sich am Kinn. �Eine tolle Idee, Ed ...� �Nicht wahr?� Carberry dehnte den breiten Brustkasten. Ein Lächeln glitt über sein wüstes Narbengesicht mit dem Rammkinn. Wenn Carberry lächelte, konnte es einen grausen. �Ja, eine tolle Idee�, wiederholte Hasard todernst. �Ferris hatte nämlich auch eine Idee, Ed. So ähnlich wie deine. Er meinte, wir könnten mit den Culverinen trimmen.� �Mit den ...� Carberry verstummte, und jetzt sah er aus wie ein Nußknacker, ein Nußknacker, der keine Nuß zerbissen, sondern heruntergeschluckt hat � eine Kokosnuß. �Ja�, sagte Hasard, �und Ferris' Methode hat dazu noch mehrere Vorteile. Wir brauchen nicht stundenlang mühsam Gewichte zu mannen und sie dann ständig

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zu versetzen, sondern erledigen das mit dem Ein- und Ausfahren der Steuerbord-Culverinen. Das geht schnell und reibungslos und garantiert uns sogar einen exakten Trimm je nach Krängungslage der �Isabella'. Gut, wie? Oder meinst du, wir sollten deine Methode vorziehen?� Carberry ging nicht direkt auf diese Frage ein und wußte im übrigen auch genau, daß sich eine Antwort erübrigte. Aber er fuhr Ferris Tucker an. �Hätte dir das nicht gleich einfallen können, du Schnarchsack, was, wie?� fragte er grollend. �Der Teufel ist dein Schnarchsack�, erwiderte Ferris Tucker grinsend. �Und die Idee mit den Culverinen hättest du doch auch haben können, oder?� �Scheiße�, murmelte der Profos. �Eine Ausdrucksweise hat der Kerl�, sagte Ferris Tucker und schüttelte tadelnd den Kopf. Von der Großrah segelte Sir John, der Aracanga-Papagei, im Gleitflug heran, landete auf der Schulter Carberrys, ruckte hin und her und stieß Laute aus, die klangen, als kichere er. �Verschwinde, du Geier!� knurrte Carberry. �Stör mich nicht, ich hab' jetzt zu tun.� Sir John schwang sich aufs Ruderhaus, plusterte sich auf und begann sich zu putzen: Still blieb er dabei nicht. Es klang, als spucke er eine Reihe von Flüchen aus, die Ähnlichkeit mit Carberrys Kraftausdrücken hatten. �Carberrys Schule�, sagte Ferris Tucker. �Ich hab seinem Geier jedenfalls nicht beigebracht, wie man flucht. Ein Benehmen ist das!� Er schüttelte wieder den Kopf. �Wie in der übelsten Hafenspelunke.� �Ha!� sagte der Profos. �Was meinst du, wie deine verdammten Bohrwürmer fluchen? Und weißt du, warum, Mister Tucker? Weil sie sich schon um das bißchen Holz balgen müssen, das nur noch von den Muscheln zusammengehalten wird. Und von wem haben sie das Fluchen gelernt? Von dir!� �Wieso von mir?�

�Wer kriecht denn dreimal am Tag in der Bilge 'rum, he? Ich vielleicht? Klopf ich die Planken ab, was, wie?� �Gentlemen�, sagte Hasard freundlich, �ich schätze, wir haben noch einiges zu tun. Vielleicht könntet ihr über das Thema der fluchenden Bohrwürmer weiter diskutieren, wenn wir Tanger erreicht haben. Das ist natürlich kein Befehl, sondern nur ein Vorschlag.� �Aye, aye, Sir�, sagte Ferris Tucker. �Aye, aye, Sir�, sagte Ed Carberry. Und damit zogen sie zur Kuhl ab. Unmittelbar darauf dröhnte Carberrys Stimme über die Decks: �Hoch mit den Steuerbordgeschützpforten, ihr Affenärsche! Hopphopp! Löst die Brocktaue, sinnig-sinnig! Bewegt euch, ihr verlausten Beachcomber, hurtig-hurtig! Grins nicht so dämlich. Matt Davies! Was ist mit deinem Haken los? Hat der schon Rost angesetzt wie dieser Sarg hier die Miesmuscheln, was, wie?� Matt Davies hob den spitzgeschliffenen Haken, der ihm die fehlende rechte Hand ersetzte. �Rost angesetzt?� fragte er empört. �Du spinnst wohl? Der Haken wird zweimal am Tag poliert. Das weißt du ganz genau.� �Halt keine Volksreden, Mister!� fuhr ihn Carberry an. �Sonst dreh ich dir 'n Achtknoten in deinen Haken! Munter-munter, Leute! Ja, hol durch, die Part, Batuti! Wenigstens einer von euch Rübenschweinen, der mal zupackt!� Er wandte sich zu Ferris Tucker um. �He, Klamphauer, wie weit sollen wir die Dingerchen ausfahren? Bis ans Schanzkleid in Feuerstellung?� Die �Dingerchen� hatten das Gewicht von einigen Zentnern. Aber mittels der Brooktaue, die über Taljen liefen, konnten die Lafetten, auf denen die schweren, überlangen Rohre eingebettet waren, mit Muskelkraft ein- und ausgefahren werden. Zwei Männer je Culverine genügten dafür. Ferris Tucker peilte zum Großtopp hoch. Er stand hinter der letzten, achteren Culverine. �Fahrt erst die vier mittleren Culverinen bis ans Schanzkleid aus, Ed!� rief er. �Aber langsam, bitte sehr!�

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�Habt ihr's gehört, ihr Hüpfer? Aber langsam, hat der Schiffszimmermann gesagt!� donnerte Carberry. �Langsam heißt sinnig, mit Gefühl, wenn ich bitten darf. Culverine drei, vier, fünf, sechs, holt durch die Lose!� Langsam ruckten die vier Culverinen auf ihren Holzrädern über das nach Lee geneigte Deck auf das Schanzkleid zu. Carberry blickte zu Ferris Tucker, der wieder zum Großtopp hochpeilte und mit der erhobenen linken Hand winkte, weiter durchzuholen. Dann ballte er die Hand plötzlich zur Faust. �Belege!� brüllte Carberry. Die Männer setzten die Brooktaue über Klampen fest und verkeilten die Lafettenräder. Alle hatten sie jetzt das Gefühl, auf einem weniger schräggeneigten Deck zu stehen. Dabei waren die vier Culverinen noch nicht voll ausgefahren. Hasard stand an der Schmuckbalustrade, die das Achterdeck zur Kuhl hin abgrenzte, und nickte zufrieden. �Fein, Ferris�, sagte er, �jetzt haben wir sogar noch Trimmgewichte in Reserve. Wollen wir das Großsegel wieder setzen?� �Klar! Das ist kein Risiko mehr.� Das Manöver war schnell durchgeführt, nachdem die �Isabella� in den Wind gegangen war. Als sie dann auf ihren alten Kurs abfiel, hatte sich ihre Schräglage nach Lee wieder vergrößert. Ferris Tucker trimmte die beiden mittleren Culverinen bis ans Schanzkleid und behob die Krängung. Es war das Ei des Columbus. Noch mehrere Male huschten die Katzenpfoten heran und versuchten, die �Isabella� umzulegen. Sie schafften es nicht. Wenn die Lage bedrohlich wurde, trimmten sie auch mit der ersten und zweiten sowie der siebten und achten Steuerbord-Culverine. Das klappte von Mal zu Mal besser. Dan O'Flynn, der Mann mit den besten Augen an Bord der �Isabella�, beobachtete die Luvseite. Dort -kündeten sich die Katzenpfoten an. Der Wind ist unsichtbar, aber er verrät sich doch. Denn die

Katzenpfoten, die lautlos und in der Luft unsichtbar von Osten bis Südosten heranhuschten, streiften über das. Wasser. Und dort verrieten sie sich. Es waren große Fächer, die sich plötzlich auf der Oberfläche ausbreiteten und ein Muster aus Kringeln und Kreisen bildeten. Auch die Farbe des Wassers veränderte sich. Sie wurde dunkler. Wer einen geübten Blick hat, sieht diese leichten Böen. Dan O'Flynn hatte diesen Blick. Und er sang die Bö aus, wenn sie noch zwei-, dreihundert Yards im Luvsektor entfernt war. Er konnte sogar ihre Stärke bestimmen, denn auch das verraten die Muster. So wurden Ferris Tucker und die Männer an den Culverinen vorgewarnt und konnten sich bereits auf den richtigen Trimm einstellen. Es war die seltsamste Fahrt der �Isabella�. Fast schien es, als spüre sie, daß ihr die Männer helfen wollten. Sie war eben nicht irgendein Schiff, nein, sie war wohl sogar das beste Schiff, das in diesen Jahrzehnten je auf Englands Werften gebaut worden war. Ihr eisenhartes Holz hatte den Bohrwürmern getrotzt, auch wenn Carberry unkte, sie �balgten� sich bereits um die letzten Holzreste. Carberry hatte das auch nicht so gemeint, schon deswegen nicht, weil er selbst derjenige war, der ständig durch alle Räume der �Isabella� geisterte - bis hinunter in die Bilge -, um alles zu kontrollieren. Die �Isabella� war ein Teil von ihm, genauso wie sie ein Teil aller Männer war, die auf ihr fuhren. So war das eben. Sie war das beste Schiff Englands, und sie hatte die Mannschaft, die ihrer würdig war. von ihrem Kapitän Philip Hasard Killigrew 'bis hinunter zu dem Schiffsjungen Bill, vom Kutscher, dessen Namen niemand kannte und der als Feldscher und Koch an Bord fuhr, bis zu Smoky, dem rauhbeinigen Decksältesten, von Batuti, dem Herkules aus Gambia, bis zu dem großen, blonden Schweden Stenmark, von Big Old Shane, dem früheren Waffenmeister und Schmied der Killigrew-Feste Arwenack. bis zu Gary Andrews, dem Fockmastgasten. Da waren

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Matt Davies und Jeff Bowie, beide mit Hakenprothesen ausgerüstet. Matt ersetzte diese Prothese die rechte Hand, Jeff die linke. Furchtbare Kämpfer waren sie mit diesen Haken. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte sie ihnen konstruiert. Da waren die beiden O'Flynns, Vater und Sohn, der Alte mit einem Holzbein ausgestattet. Da waren Luke Morgan und Sam Roskill, zwei ehemalige verwegene Karibik-Piraten. Da waren der Messerwerfer Bob Grey und Will Thorne, der grauhaarige Segelmacher. Da waren der schwarzhaarige Blacky, Al Conroy, der Stückmeister, und Pete Ballie, der Rudergänger, nicht zu vergessen natürlich der eisenharte Edwin Carberry, der für Zucht und Ordnung an Bord sorgte, und Ben Brighton, der besonnene Bootsmann und Stellvertreter Hasards. Ja, das war sie, die Crew - Männer, die ihre Narben aus unzähligen Gefechten mit Stolz trugen, faire Kämpfer, die besten Seeleute für das beste Schiff. Und da waren schließlich noch die Maskottchen der �Isabella�: der Schimpanse Arwenack und der Aracanga-Papagei Sir John. Und sie hatten mit ihren Instinkten, mit denen sie die Natur ausgestattet hatte. oft genug die Männer der �Isabella� vor Gefahren warnen können. Ja, Arwenack pflegte sogar in Enterkämpfe einzugreifen und mit Belegnägeln zu werfen. Er hatte sich mit besonderer Zuneigung Dan O'Flynn, dem Jüngeren, zugewandt, während Sir John an dem ruppigen Edwin Carberry hing - warum ausgerechnet Carberry, das war allen ein Rätsel, wobei allerdings Smoky meinte, das hinge damit zusammen, daß der Profos am lautesten von allen brülle und am besten fluchen könne. Dafür seien Papageien besonders empfänglich. Das war natürlich ein starkes Argument, aber ein Rätsel blieb es doch. So segelten denn diese Männer ihre muschelbepanzerte und algenumwobene �Isabella�, behutsam. trimmend. Richtung Tanger. Dieses Mal segelten sie dem Teufel kein Ohr ab, aber es fragte sich wirklich, was gefährlicher war: Stürme

abzureiten oder einen wankenden �Muschelsarg� nicht umkippen zu lassen.

2. Am Vormittag des 30. März 1587 liefen sie Tanger an. Ben Brighton kannte den Hafen von früher her, von seinen Mittelmeerfahrten, als er - noch einfacher Decksmann - auf Schiffen verschiedener Nationalität angeheuert hatte, bevor er unter Francis Drake und dann unter Hasard fuhr. Tanger, das war so eine Art Drehscheibe im Ost-West- und Nord-Süd-Handel. Eine wechselvolle Geschichte hatte dieser Hafen hinter sich. Vandalen hatten es beherrscht, dann Byzantiner, Araber, Mauren. Seit 1471 hatten es die Portugiesen im Griff - über hundert Jahre - denn 1580, seit der Vereinigung Portugals und Spaniens, wurde auch Spanien Nutznießer dieser alten Hafenstadt. Ben Brighton warnte Hasard. �Wir müssen vorsichtig sein�, sagte er, als sie Kurs auf Tanger nahmen. �Wenn die Dons eine Beschreibung unserer �Isabella' an alle Häfen gegeben haben, die unter ihrer Fuchtel sind, dann müssen wir damit rechnen, daß wir Zunder kriegen.� �Mir klar�, erwiderte Hasard, �fragt sich nur, wer in Tanger den Ton angibt - Portugiesen oder Spanier. Das. ist eben nicht Jacke wie Hose. Ganz glücklich sind die Portugiesen nämlich keineswegs, von den Spaniern einverleibt worden zu sein.� �Schon richtig�, gab Ben Brighton zu, �aber ich habe bei dir gelernt, auch auf das Schlimmste gefaßt zu sein.� Er lächelte schief. �Unser Auftauchen an den afrikanischen Küsten dürfte sich bei den Dons herumgesprochen haben, und wir haben ja auch da und dort kräftig hingelangt und uns somit vorgestellt.� �Angst?� �Angst nicht gerade, aber ich bin nervös.� �Wir haben in den letzten Tagen keinen Segler gesichtet. Ben, schon gar keinen, der uns überholt hätte, und wir waren ja langsam genug. Daß wir also im Anmarsch sind. dürfte niemand in Tanger wissen.

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Wenn sie unsere Beschreibung haben, versuchen wir es eben mit Bluff und dem bewährten Mittel der Bestechung. Wir haben genug an Schätzen an Bord. um ganz Tanger kaufen zu können. Der Spanier oder Portugiese muß erst noch geboren werden, der darauf verzichtet, sich die Taschen füllen zu lassen, und Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.� �Und mit was willst du bluffen?� fragte Ben Brighton. �Wir geben uns als irischer Handelsfahrer aus, Heimathafen Cork in Munster.� Hasard grinste. �Als Iren können wir tüchtig auf die verdammten Engländer schimpfen und ihnen die Pest an den Hals wünschen. Richtig?� �Richtig�, erwiderte der breitschultrige Bootsmann mit den ruhigen grauen Augen. �Unseren Schiffsnamen behalten wir bei?� �Warum nicht? Wir sind eben Bewunderer der königlichen Isabella von Kastilien, auch wenn sie das Zeitliche gesegnet hat.� Ben Brighton nickte. �So müßte es gehen.� Hasard alle Männer in der Kuhl zusammen. Sie schauten gespannt zu dem schwarzhaarigen Riesen mit dem verwegenen Gesicht und den eisblauen Augen hoch, die so scharf aus dem tiefbraungebrannten .Gesicht herausstachen. �Hört zu, Männer!� sagte Hasard. �Ihr wißt, daß wir jetzt Tanger an. laufen. Dazu müssen wir wieder einmal unser Hemd wechseln, das heißt: bluffen. Ab sofort sind wir keine Engländer mehr, sondern Iren, irische Handelsfahrer, Heimathafen Cork in Munster. Stellt euch darauf ein. Mein Name ist Patrick O'Neill, verstanden?� �Aye, aye, Sir!� brüllten die Männer und grinsten. �Falsch�, sagte Hasard, �spart euch den ,Sir`. Kein Ire spricht seinen Kapitän mit ,Sir` an, das ist englischer Brauch, aber nicht irischer. Verdammt, paßt auf, daß ihr da keinen Bock schießt ...� �Batuti sein kein Ire�, erklärte der riesige Gambia-Neger, �geht nicht wegen Hautfarbe.�

�Mann!� brummte Carberry. �Dich haben wir doch aus dem Urwald gelockt, um dich in Cork auf dem Marktplatz ausstellen zu können!� �Aye.� Batuti nickte und war keineswegs beleidigt. �Batuti einverstanden, stellt sich aber auf Marktplatz zusammen mit Profos aus. Profos als Kinderschreck, savvy?� Gelächter brandete auf. �Oder als Rübenschwein�, fuhr der Gambia-Neger fort und zeigte sein schneeweißes Gebiß. Das Gelächter wurde noch lauter. Hasard hob die Hand, und das Gelächter verstummte. �Ja, Ed�, sagte Hasard lächelnd, �du hast es gehört, so ohne weiteres läßt sich Batuti auf irischen Marktplätzen nicht ausstellen.� �Dieser Höllensohn�, murmelte Ed Carberry, �den wickle ich freihändig als Kabelgarn ums Spill! Mich einen Kinderschreck zu nennen!� �Du. hast es herausgefordert, Ed�, sagte Hasard. �Aber Spaß beiseite. In Tanger darf euch kein Fehler mehr unterlaufen. Reißt euch zusammen! Denkt daran, daß wir alle nach England zurückwollen. Wir haben Nordafrika erreicht. Gemessen an den Meilen, die wir in über fünf Jahren zurückgelegt haben, ist die Strecke Tanger - Plymouth geradezu lächerlich. Gerade deshalb wäre es grotesk, so kurz vor dem Ziel noch durch eine Lappalie abgefangen zu werden. Benehmt euch als waschechte Iren, flucht auf die Engländer, zeigt, daß ihr Freunde und Bundesgenossen der Spanier und Portugiesen seid. Hämmert euch das ein. Natürlich sind wir glühende Verehrer jener Isabella von Kastilien, deren Vornamen unser Schiff führt. Wenn ihr das alles bedenkt, sollten wir eigentlich klarkommen. Noch Fragen?� Luke Morgan reckte sich grinsend auf : �Gibt's Landgang, o Patrick?� �Hm, Landgang.� Hasard schaute zu Ferris Tucker hinüber. �Wie ist das. Ferris'? Brauchst du alle Mann, um dem Muschelpanzer zu Leibe zu rücken? Schließlich wollen wir ja nicht Wochen in Tanger verplempern. Andererseits bin ich überzeugt, daß wir Arbeitskräfte finden,

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wenn wir mit dem Geldbeutel ein bißchen klingeln.� �Vier Mann könnte ich für jeweils sechs Stunden entbehren�, erklärte Ferris Tucker und fügte grimmig hinzu: �Aber wer dann mir noch in der Hosen hängt oder so betrunken ist, daß er vom Gerüst fällt, mit dem wir den Rumpf umgeben werden, den überstelle ich zur Weiterbehandlung dem Profos, damit das klar ist!� Hasard nickte. �Gut, einverstanden! Ihr habt's gehört, Männer. Zwar seid ihr jetzt Iren, aber das heißt nicht, daß ihr unbedingt jede Rauferei annehmen müßt. Und was die Ladys betrifft, worauf Ferris anspielte, solltet ihr nicht zu wild herumtoben. Aber wem sag ich das! So, das wär's wohl.� Eine halbe Stunde später liefen sie in den Hafen ein.

* Es ging fast zu glatt, aber es zeigte, daß entweder keine Beschreibungen der �Isabella� im Umlauf waren, oder aber der Hafenkommandant pflegte solcherlei Schriftstücke als Belästigungen seiner Tätigkeit aufzufassen und demzufolge zu zerreißen. Er war ein dicklicher, ständig schwitzender Mann, was er mit Mengen von Puder und wohlduftenden Riechwassern zu bekämpfen trachtete. Und Hasard merkte sehr schnell, daß er einem gutmütigen Schlitzohr gegenübersaß. Leben und leben lassen, das schien die Devise von Don Pedro Estrade zu sein, wobei das �Leben lassen� natürlich damit zusammenhing, ein bißchen hier und ein bißchen dort die Patschhändchen offenzuhalten, weil eine andere Devise lautete, daß eine Hand die andere wasche. Don Pedro Estrade war Portugiese und seit acht Jahren Hafenkommandant von Tanger. Die �Isabella� war an einer freien Pier im Hafen längsseits gegangen, empfangen von einem Stellvertreter des Hafenkornmandanten, der sie eingewinkt und dann Hasard zu Don Pedro geleitet hatte.

Die Hafenkommandantur befand sich im unteren Stadtteil, etwa fünf Gehminuten vom Hafen entfernt. Sie war ein weißer doppelstöckiger Bau mit paradiesischem Innenhof und kühlen Arkadengängen. Unten waren die Amtsräume, oben hatte Don Pedro seine Privatgemächer, die er zwar nicht mit einem Eheweib und lieben Kinderchen, wohl aber zeitweisen Gespielinnen bewohnte. Dort pflegte er allerlei Kurzweil zu treiben, denn er war auch ein Genußmensch, der dicke Don Pedro, dem Essen und der Liebe gleichermaßen zugetan. Als Hasard den mit afrikanischen Hölzern getäfelten Raum betrat, speiste Don Pedro gerade kandierte Früchte und lauschte der Vorstellung seines Stellvertreters, den er dann hinauswinkte, während er Hasard leutselig lächelnd bat, auf einem geschnitzten Stuhl Platz zu nehmen. �Soso�, sagte der Dicke und wedelte sich mit einem weißen Spitzentuch etwas Luft zu, �nein, wie mich das freut, Sie kennenzulernen, Senor O'Neill.� Er kicherte. �Wie ein Ire sehen Sie eigentlich nicht aus.� �Oh!� Hasard lächelte. �Wie sollte denn ein Ire aussehen, Senor Estrade?� �Rothaarig.� �Ah, von der Sorte habe ich ein paar an Bord. Nun, was mich betrifft, bin ich auch nur ein halber Ire. Ich bewundere Ihren scharfen Blick. Senor Estrade. Ja. vom Vater her bin ich Ire. Meine Mutter war Spanierin.� In diesem Fall brauchte Hasard nicht einmal zu lügen. �War?� fragte Don Pedro. �Sie lebt nicht mehr. und ich habe auch keine Erinnerung an sie.� �Sie muß eine schöne Frau gewesen sein, Senor O'Neill, denn Sie haben sehr edle Züge.� �Danke, Senor Estrade.� Hasard verbeugte sich leicht im Sitzen und dachte: Vorsicht, hier beginnt jetzt Glatteis. Als er sich wieder aufrichtete, lächelte ihn der Dicke milde an. �Wissen Sie, Senor O'Neill, unsereiner ist viel herumgekommen - Spanien, Italien, Türkei, Nordafrika. Ich bin ganz froh, hier

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gelandet zu sein. Ja, ich habe viele Gesichter gesehen, sehr viele.� Er verspeiste wieder eine kandierte Frucht. �Möchten Sie auch eine? Köstlich, einfach köstlich.� �Danke, nein.� Der Dicke seufzte. �Ich wollte, ich wäre auch ein genügsamer Mensch. Ach ja, was ich sagen wollte -Ihr Gesicht erinnert mich an eine entzückende spanische Edeldame. Aber das ist lange, lange her. Eine tragische Geschichte, wie sie leider immer wieder passiert. Sie liebte einen Deutschen, der später Malteser-Ritter wurde. Ihre Brüder hintertrieben diese Liebe, ja, sie starb an gebrochenem Herzen, furchtbar ...� Hasard bewahrte eiserne Selbstbeherrschung. Denn der dicke, schwitzende Don Pedro Estrade erzählte nichts anderes als die Geschichte Godefroy von Manteuffels und Graciela de Corias - seiner Eltern. Die schwarzen Augen des Dicken musterten ihn aufmerksam. �Ein furchtbares Schicksal, nicht wahr, Senor O'Neill?� �Allerdings.� Hasard nickte und fragte höflich: �Was wurde denn aus dem Malteser-Ritter, Senor Estrade?� �Auch tot. Er fiel in die Hände algerischer Piraten. Sein Sohn soll ihn befreit haben - hörte ich. Kurz darauf muß er an irgendwelchen Verletzungen gestorben sein.� �Eine traurige Geschichte�, sagte Hasard. �Und dieser Sohn, lebt er noch?� �Darüber habe ich nichts gehört. Senor O'Neill.� Die dritte kandierte Frucht trat über den Mund des Dicken den Weg in die Vergänglichkeit an. �Ja, so ist das. Man sieht ein Gesicht. und unwillkürlich erinnert einen dieses Gesicht an jemanden. Geht Ihnen das auch so?� �Manchmal schon.� �Entschuldigen Sie, Senor O'Neill. da rede ich und rede ich und langweile Sie sicherlich mit Dingen, zu denen Sie keinerlei Beziehungen haben. Ich bin wirklich unhöflich. Sie verzeihen mir?� �Natürlich.�

�Nun, was führt Sie zu mir, mein lieber Freund'? Haben Sie etwas auf dem Herzen? Kann ich etwas für Sie tun?� Hasard nickte. �Zu gütig, daß Sie mich das fragen. Ja, ich habe etwas auf dem Herzen. Der Zustand meines Schiffes bereitet mir Sorgen, deshalb auch liefen wir Tanger an - gewissermaßen als Nothafen. Ich wage nicht die Weiterfahrt nach Irland. auch und gerade wegen der Frühjahrsstürme im Atlantik. Mein Schiff ist von einem dicken Muschelpanzer umgeben. Meine Männer nennen es bereits den ,Muschelsarg'.� �Ah! Sie müssen lange unterwegs gewesen sein, Senor O'Neill.� �Das stimmt.� �Unten von Afrika hoch'?� �Noch weiter, Senor Estrade. Ich will ganz ehrlich sein. Wir haben den Stillen Ozean durchquert.� Der Dicke vergaß seine kandierten Früchte und riß die Augen auf. �Sie haben die Welt umsegelt?� �Richtig. Irland, Südamerika - die Neue Welt, Kap Horn, Stiller Ozean, Kap der Guten Hoffnung, Tanger.� Die Augen des Dicken leuchteten. �Wie lange waren Sie unterwegs?� �Über fünf Jahre.� �Jesus, über fünf Jahre! Unfaßbar!� Er zwinkerte mit dem linken Auge. �Da sind Sie wohl Kapitän Drakes Spuren gefolgt, Senor O'Neill?� �Ich folgte meiner eigenen Nase�, erwiderte Hasard ruhig. �Stur wie ein Ire, wie?� �Stur Wie ein Ire�, sagte Hasard und fand allmählich Spaß an seiner Rolle, aber auch daran, daß dieser gemütliche Dicke offensichtlich Zusammenhänge witterte - oder wußte ? �, denen es zu begegnen galt. Don Pedro hatte gelogen, als er gesagt hatte, er wisse nichts weiter über den Sohn Godefroy von Manteuffels. Er wußte doch etwas, und vermutlich war ihm auch klar, daß ihm dieser Sohn höchstpersönlich gegenübersaß. Das war irgendwie reizvoll, dieses Spiel mit verdeckten Karten.. Keineswegs war es bösartig. Dieser Dicke, der so gern. kandierte Früchte in sich hineinstopfte, War alles andere als ein

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durchtriebener Intrigant, durchtrieben vielleicht schon, aber kein Intrigant, darin lag der Unterschied. Leben und leben lassen, das war es. Mit Würde erklärte Don Pedro: �Es wird mir eine Ehre sein, einem tapferen Mann, der das Wagnis unternahm, diese geheimnisvolle Welt zu umsegeln; meine bescheidene Hilfe zur Verfügung zu stellen. Da hätten wir also das Problem des hässlichen Muschelbewuchses an der �Isabella'. Ein hübscher Name. Er zergeht auf der Zunge - wie Graciela!� Ein scharfer Blick traf Hasard. �Wie Graciela�. sagte Hasard, ohne eine Miene zu verziehen. �Schiffe sollten überhaupt die Namen von Frauen tragen.� �Warum, bitte?� �Nun�, Hasard lächelte voller Charme, �sie führen und leiten uns, und wir Männer wiederum führen und leiten und beschützen sie. Wir bringen ihnen Ehrerbietung entgegen. Das Schiff ist weiblich. Ich muß mich vor ihm verneigen und mich ihm anvertrauen.� �Anvertrauen? Einem weiblichen Wesen?� �Vertrauten Sie sich als Kind nicht Ihrer Mutter an, Senor Estrade?� fragte Hasard lächelnd. �Sie Schelm!� Don Pedro lachte und drohte mit dem Finger. �Da ist noch etwas�, sagte Hasard versonnen. �Der Mann, der Wochen, Monate, vielleicht Jahre auf einem Schiff verbringt - natürlich nicht ununterbrochen -, dieser Mann hat Sehnsucht nach einer Frau. Hat er dann nicht recht, wenn er seinem Schiff einen weiblichen Namen gibt? Nur als Vereinbarung zu dem, was er an Land wieder zu finden hofft - das Mädchen, die Frau, die Schwester, die Mutter, die Geliebte?� �Ein irischer Philosoph�, sagte Don Pedro. Hasard schüttelte den Kopf. �Nicht unbedingt. Wer lange Zeit auf der See verbringt, beginnt nachzudenken - so er bereit ist, einen Sinn in seiner Existenz zu finden. Er muß kein Grübler sein. Aber die Unendlichkeit um ihn herum zwingt ihn, sich zu besinnen. Und es bleibt nicht aus, daß er als Mann über sein Verhältnis zur

Frau nachdenkt.� Hasard lächelte. �Als wir Tanger ansteuerten, fragte einer meiner Männer, wie es mit dem Landgang bestellt sei.� �Und?� �Die Schiffsführung genehmigte ihn.� �Die Schiffsführung?� fragte Don Pedro verwundert. �Ich bin nicht unbedingt der Kapitän�, erwiderte Hasard. �Ich verlasse mich auch auf die Urteilskraft meines Schiffszimmermanns, meines Bootsmanns, meines Decksältesten. Warum auch nicht?� �Ist das irisch'?� �Irisch? Das weiß ich nicht. Was soll irisch sein? Ich meine, daß es menschlich ist. Bin ich frei von Fehlern? Weiß ich besser als der Schiffszimmermann, mit welchen exakten Handgriffen und Maßnahmen sofort ein Leck zu dichten ist? Nein, da muß ich mich auf ihn verlassen, auf sein Können, auf seine Urteilskraft, auf seine Erfahrung. Meinen Sie, Senor Estrade, sonst hätten wir bisher unbeschadet Tanger erreichen .können?`. �Ich gestehe�, murmelte Don Pedro, �daß ich fassungslos bin. Noch kein Kapitän hat mir etwas Ähnliches gesagt, und ich darf behaupten, unzählige Kapitäne verschiedener Länder zu kennen - selbstherrliche, autoritäre, harte, brutale, sadistische, menschenverachtende Kapitäne. oder so oder so. Auch tapfere Kapitäne - sie waren meist dumm. Nein, ein Mann wie Sie ist mir noch nicht begegnet.� Wieder lächelte Hasard und sagte: �Es gibt für alles einen Anfang, Senor Estrade. Allerdings bin ich der Meinung -und sie hat sich als richtig erwiesen -, daß eine Mannschaft nur dann gut ist, wenn sie begreift, daß sie genauso wie der Kapitän Verantwortung zu tragen hat. Dazu gehört, daß nicht auf ihr herumgeprügelt wird. Ich begegne dem Segelmacher oder dem Schiffsjungen mit der gleichen Achtung und dem gleichen Respekt wie dem Bootsmann oder dem Koch. Da gibt es keine Unterschiede. Ich erhalte die gleichen Rationen an Trinkwasser oder vorn Essen wie jeder andere an Bord. Ich

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bin nichts anderes als ein Mitglied der Crew. Es gibt bei mir keine Meuterei - und wir haben Situationen _erlebt. da hätten andere Mannschaften ihren Kapitän längst außenbords befördert. Natürlich sind mir Fehler unterlaufen, sogar Fehler, die uns das Schiff gekostet hätten. In solchen Situationen waren eben meine Männer besser als ich. Sehen Sie, ich habe auch zu lange gezögert. etwas gegen den Muschelbewuchs zu unternehmen, obwohl mich der Schiffszimmermann schon seit Wochen damit drangsalierte. Letztlich ist es meine Schuld, daß die �Isabella' nunmehr einen Zustand erreicht hat, in dem sie nahezu manövrierunfähig ist.� Hasard grinste. _Damit wären wir wieder beim Thema. Wäre es möglich, Senor hier aufzuslippen, um ihr den Bauch abkratzen zu können?� �Selbstverständlich. Sie haben Tanger als Nothafen angelaufen. Ein Hundsfott, wer Ihnen die Hilfe verweigern würde - noch dazu einem Freund und Bundesgenossen der vereinigten Spanien-Portugal. Sicherlich brauchen Sie auch Arbeitskräfte. Senor O'Neill, denn schließlich müssen Ihre Männer auch einmal an Land, wie?� �Richtig.� Hasard verbeugte sich dankend. �Bitte fassen Sie es nicht als Bestechung auf, wenn ich meinen bescheidenen Dank damit ausdrücke, Ihnen ein Geschenk zu überreichen.� Hasard holte aus seinem Wams ein Lederbeutelchen, öffnete die Verschnürung und schüttete mit einer leichten Bewegung etwas, auf den Schreibtisch des Hafenkommandanten - Perlen! Sie rollten über die Platte auf Don Pedro zu, der nach ihnen haschte, ihren Lauf stoppte, zwei, drei aufnahm und glücklich lächelnd betrachtete. Eine hatte die Größe einer Erbse -von ihrem Wert ganz zu schweigen. �Mein Gott�, murmelte er, �diese Reinheit, diese Makellosigkeit, dieser Schimmer!� Er hielt die erbsengroße Perle: zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und starrte sie verzückt an. �Sie stammt aus dem Land des Großen Chan - China�, sagte Hasard, �wie die

anderen auch. Gefallen Sie Ihnen, Senor Estrade?� �Sie - Sie sehen mich glücklich, Senor O'Neill, unendlich glücklich. Aber nein, das darf ich nicht annehmen.� �Wollen Sie mich beleidigen, mein Freund?� Der Dicke zuckte zurück. �Aber nein, Senor O'Neill. Das wollte ich nicht, entschuldigen Sie bitte. Nur steht der Wert dieser Perlen in keinem Verhältnis zu den Diensten, die ich Ihnen zur Verfügung stellen kann. Ich bitte Sie! Aufslippen, Arbeitskräfte - was für Lappalien! Für solche Dinge haben wir Negersklaven! Nein wirklich, ich scheue mich, so etwas anzunehmen.� Dabei stierte er auf die Perlen; als seien sie kandierte Früchte der allerbesten Herstellung. Gewissermaßen verzehrte er sich nach ihnen. Hasard hatte Mühe, ernst zu bleiben. �Senor Estrade�, sagte er, �ich bat Sie, diese Perlen als Geschenk aufzufassen. Und ich würde es tatsächlich als Beleidigung betrachten, wenn Sie dieses Geschenk zurückweisen. Das wäre die eine Seite. Aber wir können noch eine andere Seite betrachten. Es ist die menschliche Seite. Durch Ihre Hilfe wird die �Isabella' wieder zu einem Schiff, das allen Gewalten der Natur trotzen kann, zu einem Schiff, das damit die Männer, die es segeln, heil und sicher zurück zu ihrem Heimathafen bringt, den sie seit über fünf 'Jahren nicht mehr gesehen haben. 56 betrachtet, retten Sie das Leben der Mannschaft und ihres Kapitäns. Ist deren Leben nicht viel mehr wert als dieses Beutelchen Perlen?� Der Dicke begann zu strahlen. �Ja�, sagte er, �ja, da ist wirklich etwas Wahres dran. Es erleichtert mich geradezu. Ein Stein fällt mir vorn Herzen. Sie haben recht. Senor O'Neill, wenn Sie von der menschlichen Seite sprechen. Ich verneige mich vor Ihrer Klugheit und bin Ihr demütiger Diener.� Die zwei, drei Perlen fielen klickend zurück in den Beutel, der Beutel verschwand im Wams des Dicken, der Dicke sah aus, als sei an diesem Tag Weihnachten und Geburtstag zugleich - es war rundherum für ihn der Tag des Herrn.

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Viel fehlte nicht, und er hätte �Halleluja� gesungen. Zwei Stunden später wurde die �Isabella� vor eine der Werften verholt und auf einer schiefen Ebene mittels Rundbalken unter dem Kiel mit schweren Taljen an Land gezogen. Eine sinnreiche Verspannung von den beiden Bordseiten zum Land, die gefiert und dichtgeholt werden konnte, sorgte dafür, daß die �Isabella� weder nach Backbord noch nach Steuerbord umkippen konnte, solange sie noch nicht aufgepallt, das heißt, mit Keilen und schweren Hölzern seitlich abgestützt war. Unter der Leitung von Ferris Tucker und einem portugiesischen Werftmeister arbeiteten dreißig Schwarze und die Männer der �Isabella�. Nach dem Aufpallen lag die �Isabella� in Nord-Süd-Richtung, um ihr Holz gleichmäßig der Sonne auszusetzen. Erst jetzt, auf dem Trockenen, wurde in vollem Ausmaß sichtbar. was sich auf den Unterwasserplanken der Galeone alles angesiedelt hatte. Sie war in eine rissige, schrundige Kalklandschaft eingebettet, die teilweise bis über die Wasserlinie geklettert war. Es sah ungeheuerlich aus. Da war wirklich die äußerste Grenze erreicht, die einem Schiff als Belastung noch zugemutet werden konnte. Hasard, Ben Brighton. Ferris Tucker: Big Old Shane und Dan O'Flynn umschritten die Galeone. Ferris Tuckers Miene war mehr als grimmig, als sie achtern am Ruderblatt standen. �Mann�, murmelte er, �Mann, wie das aussieht! Schaut euch das an! Die ganze Ruderanlage hätte längst im Eimer sein müssen. So was hab ich noch nicht erlebt. Das gibt's doch gar nicht. Schön hätten wir ausgesehen, wenn das Ruderblatt weggebrochen wäre.� Er wurde wütend. �Kann mir mal jemand sagen, wie ich auf diesen Scheißmuscheln ein Notruder hätte montieren können?� �Es ist ja nicht weggebrochen�, sagte Dan O'Flynn. �Reg dich nicht auf, Ferris.� �Du hast gut reden, verdammt, solche Sprüche lieb ich gerade. Ich soll mich nicht

aufregen! Ha! Ich reg mich aber auf. Und wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, was dann, du Hüpfer? Dann schreit alles wieder nach Ferris Tucker! Ferris Tucker hier! Ferris Tucker da! Ferris Tucker oben! Ferris Tucker unten! Der alte Tucker regelt das schon, nicht wahr?� �Richtig.� Dan O'Flynn grinste. �Der alte Tucker baut eine Talje mit Haken und hievt das Kindchen wieder aus dem Brunnen. So einfach ist das.� �So einfach ist das!� äffte ihn Ferris Tucker nach. �Mann, du nervst mich. Ihr nervt mich alle. Und ich weiß wirklich nicht, was es da zu grinsen gibt.� Carberry stiefelte heran, ebenfalls grinsend. �O Gott�, stöhnte Ferris Tucker, �jetzt kommt der auch noch, dieser grinsende Affenarsch.� �Ferris�, sagte Carberry sanft, �ich hab was für dich.� Ferris Tucker schob den rothaarigen Kopf mißtrauisch vor. �Du was für mich? Das kann doch nur Scheiße sein!� Carberry runzelte die Stirn. �Eine Ausdrucksweise hat dieser Mensch ...� �Was willst du?� fuhr ihn Ferris Tucker an.. �Hier auch noch herumpredigen, oder was?� �Also�, sagte der Profos, �der Kutscher hat mir was gegeben - für dich, zur Beruhigung, hat er gemeint.� �Ich brauch nichts zur Beruhigung!� brüllte Ferris Tucker. �Nein? Bist du sicher? Na, ist gut, dann eben nicht, dann nehm ich das zur Beruhigung.� Und der Profos holte aus der ausgebeulten Hosentasche eine Flasche, beäugte sie liebevoll, schüttelte sie, lauschte dem Gluckern, entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. �Brandy�, sagte er, bevor er trank, ,.Labsal für Herz und -Magen, was, wie?� �Her damit!� knurrte Ferris Tucker. Carberry setzte die Flasche ab. �Was denn? Du wolltest doch nicht!� �Jetzt will ich aber.� �Das verstehe, wer mag�, murmelte der Profos kopfschüttelnd, �da will man diesem Menschen was Gutes tun und wird

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auch noch beschimpft. Aber so sind diese Holzwürmer �Gib schon her�, sagte Ferris Tucker besänftigt, �und einen herzlichen Dank an den Kutscher.� �Na bitte.� Carberry überreichte die Flasche. Der Friede war wiederhergestellt, wie es so schön heißt. Tatsächlich war er gar nicht gefährdet gewesen. Jeder an Bord mußte sich einmal Luft verschaffen, auch und gerade der Schiffszimmermann, der ständig in Trab war und mehr als seine Pflicht tat. Niemand verübelte es ihm, wenn er einmal aus der Haut fuhr, denn es war immer die Sorge um ihr Schiff, die -ihn um trieb. Da war er ähnlich wie Will Thorne, der grauhaarige, bescheidene Segelmacher, der sieh ständig um das gesamte Rigg der �Isabella� sorgte. Und da gab es immer etwas zu flicken. Da riß ein Segel oder ging aus den Lieken, dort war ein Fall oder ein Tau zu spleißen. Außerdem war Will Thorne der Schneider an Bord � sogar für Arwenack, den Schimpansen, hatte er Jacke und Hose angefertigt. Jetzt sorgte sich Ferris Tucker �nach der Stärkung aus der Brandyflasche � zusammen mit dem Werftmeister um das Leitergerüst, mit dem sie die Galeone umstellten. Es wurde verbolzt und verkeilt, zwischen die einzelnen Sprossen wurden Bretter geschoben, so daß verschiedene Arbeitsetagen entstanden, die je nach Bedarf nach oben oder unten verändert werden konnten. Noch am selben Nachmittag rückten die Männer der �Isabella� und schwarze Arbeiter der Werft, die Batuti anleitete, mit Äxten, Beiteln und Hämmern dem Muschelpanzer zu Leibe. Philip Hasard befand sich mitten unter ihnen, mit Beitel und Hammer bewaffnet. Nur einer war von der schweren Knochenarbeit befreit: der Kutscher. Er sorgte für das Wohl der Männer, die an diesem Nachmittag literweise den durstlöschenden Tee, den sie aus dem Land des Großen Chan mitgebracht hatten, tranken.

Stück um Stück brachen sie in schweißtreibender, harter Arbeit. den Muschelpanzer auf, und mehr als einer verletzte sich an den scharfen Muschelkanten, wenn der Beitel wegrutschte und die Hand, die ihn hielt, über die Muscheln schrammte. Dabei atmeten sie den Dunst der Algen und des Tangs ein, die jetzt in der glühenden Sonne zu trocknen begannen und dadurch bestialisch stanken. Später, wenn sie die Planken freigelegt hatten, würden sie mit Schrappeisen zu Werke gehen, um die Außenhaut völlig glatt zu kriegen, bevor sie wieder geteert wurde. Und den Kiel und die Kielplanken würde Ferris Tucker mit Kupferplatten versehen, wie es zu dieser Zeit üblich war, um den Bohrwurm abzuhalten. Ja, sie hatten Tage schwerster Arbeit vor sich und ahnten nicht, welche Würfel das launische Schicksal bereits im Becher hatte, um sie auszuspielen.

3. Vier Männer der �Isabella�-Crew hatten an diesem ersten Abend die Schnauze noch nicht so weit voll, um auf den Landgang zu verzichten. Merkwürdigerweise gehörte nicht Luke Morgan zu ihnen, der nach der Möglichkeit des Landgangs gefragt und noch draußen auf See am lautesten getönt hatte, was er an Land alles anfangen würde. Nein, Luke Morgan hatte wohl zuviel mit dem Hammer draufgehauen und seine Kraft damit vertan, so daß ihm für alles andere die Puste ausgegangen war. Nicht so dem eisernen Carberry, der es nicht lassen konnte, dem abgeschlafften Luke Morgan seine Verachtung kundzutun, als dieser bereits in die Koje im Vorschiff gekrochen war. �Reißt die Schnauze auf, dieses Rübenschwein�, verkündete Carberry im Vordeck, �und jetzt, was, wie? Liegt in der Schnarchmulde und bringt den Hintern nicht mehr hoch. Und so was will 'n Kerl sein! Seht euch das an, Männer! Das ist Luke Morgan, der Mann, der Tanger auseinandernehmen will. Mit dem Maul

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natürlich. Und wenn's wirklich losgehen soll, verholt er sich in die Koje, dieser triefäugige Walfisch.� �Sie stören meine Ruhe. Mister Carberry�, sagte Luke Morgan, und er brachte es fertig, ganz infam zu grinsen. �Ah. der Kleine ist müde, braucht er noch ein Schnullerchen, der Kleine?� höhnte Carberry. �Mann, dich laß ich morgen Muscheln kratzen, daß dir die Fingerchen rauchen, verlaß dich drauf!� Und damit marschierte er aus dem Vordeck. Und mit ihm gingen Dan O'Flynn, Al Conroy und der Schwede Stenmark, ein paar Goldmünzen in den Taschen, die ausreichten, die Puppen tanzen zu lassen - nach bewährter Tradition, versteht sich. So wie sie es in Plymouth in der �Bloody Mary� des Nathaniel Plymson unten am Hafen zu tun pflegten. Dort auch hatte ja die Geschichte des Philip Hasard Killigrew begonnen. Aber hier war nicht Plymouth, hier war Tanger. Ein Schmelztiegel der verschiedensten Völker: von Europäern, Mauren, Arabern, Negern, ein buntes Gemisch; das sich bereits in den verschiedenen Schiffstypen im Hafen zeigte, ob sie nun spanischer, italienischer. osmanischer oder nordafrikanischer Herkunft waren. Die Stadt breitete sich am Abhang eines Kalkgebirges wie ein Amphitheater aus. Eine alte Ringmauer umgab die Hafenstadt. Steile, unregelmäßige Straßen und Gassen durchkreuzten die Stadt und führten zum Teil über Treppen zum oberen Bezirk. Die vier Seewölfe streunten durch ein paar Spelunken und befeuchteten ihre durstigen Kehlen. Das war so Brauch bei ihnen, bevor sie zur Tat schritten. Nur begegneten sie verschleierten �Ladys�, von denen man knapp die Augen und sonst nichts sah, und von Verständigung konnte auch keine Rede sein. Und als Carberry eine der �Ladys' ansprach. weil er meinte, sie habe ihn unter dem Schleier angekichert, da waren doch prompt und von allen Seiten

burnusgewandete Gestalten mit braunen, scharfen Gesichtern aufgetaucht, die Hände an den gekrümmten Dolchen. �Die sind hier aufs Pieksen scharf�. verkündete Carberry und trat mit seinen Mannen den Rückzug zum oberen Stadtteil an. �Warum nach oben?� fragte Al Conroy. �Was wir suchen, ist immer unten am Hafen.� �Haben wir's gefunden, du Stint?� grollte Edwin Carberry. �Bisher noch nicht.� �Na also.� �Auch noch Treppen steigen�, maulte jetzt Stenmark. �das schmeckt mir vielleicht. Ich schätze, Al hat recht, Ed. Wir hätten uns unten noch weiter umsehen müssen.� �Oben ist es vornehmer�, erklärte der Profos. �Und wo es vornehm ist, sind wir genau richtig am Platz.� �Mann. ist das eine Logik�, sagte Al Conroy. �Und woher willst du wissen. daß es oben vornehmer ist, he'?� �Das ist auch in England so.� �Aber hier ist nicht England�, erklärte Dan O'Flynn. �Außerdem stammen wir aus Irland.� �Ihr macht mich schwach, ihr Affenärsche�, brummte der Profos, stieg aber unverdrossen Stufe um .Stufe weiter hoch. Die drei folgten Carberry. Die bevorstehenden Abenteuer beflügelten sie, obwohl sich keiner so recht vorstellen konnte, oberhalb der Stadt das erhoffte Paradies zu finden. Aber Carberry hatte schon oft bewiesen, daß er für derlei Dinge einen besonderen Kompaß hatte. Es wurde alles ganz anders. Die Gasse, die sie hochgestiegen waren, mündete auf einem großen Marktplatz, in dessen Mitte ein riesiges Zelt aufgebaut war. Aus anderen Gassen tauchten Männer und Frauen auf, gingen auf das Zelt zu und verschwanden in dem baldachinartigen Eingang. Die vier waren stehengeblieben und beäugten das riesige Zelt, dessen Spitze eine buntgestickte Fahne zierte. Aus dem Zelt drang Stimmengewirr.

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�Hm�, sagte Carberry und strich sich über das Rammkinn, �was wir suchen, ist das nicht, so wahr ich Edwin Carberry heiße. Aber was ist es dann?� �Nachsehen kostet nichts�, erwiderte Dan O'Flynn. �Auf jeden Fall scheint das hier so eine Art Marktplatz zu sein. Marktplatz ist auf jeden Fall schon mal nicht schlecht. In deren Nähe dürften wir ...� Er verstummte, weil Carberry plötzlich den massigen Schädel vorschob und Glotzaugen kriegte. Er folgte Carberrys Blick wie auch Stenmark und Al Conroy. Und darum fielen ihm eben auch die Augen aus dem Kopf. Und er hörte die Trommel. Vor dem baldachinartigen Zelteingang war eine verschleierte Frau erschienen. Na, verschleiert war stark übertrieben, denn diese Schleier ließen keine Zweifel darüber offen, daß die .Frau überall dort Rundungen hatte, wo sie von der Schöpfung vorgesehen waren. Sehr schöne Rundungen! Außerdem war die Frau um die Bauchmitte herum nicht verschleiert, und im Bauchnabel trug sie einen Stein, der im Licht der Fackeln und Öllampen seltsam glitzerte und gleißte, als lebe er. Er bewegte sich sogar - nein, er bewegte sich nicht, Dan O'Flynn hatte Stielaugen. Die Hüften der Schleierlady bewegten sich, der Bauch kreiste, die Lady führte die Hände am Körper hoch, als streichele sie ihn, die Trommel wummerte, im Takt dazu beschrieben die Hüften ihre Kreise. und der gleißende Stein im Bauchnabel bewegte sich mit. Ed Carberry ließ ein Ächzen vernehmen. �'ne Bauchtänzerin�, sagte Al Conroy verzückt und stieß Stenmark an. �Schau mal, sogar die Hügel wackeln mit. Mann, mir wird ganz anders.� �Mir auch�, sagte Stenmark und schluckte. �Richtig schwül, nicht?� �Mächtig schwül, Sten.� Al Conroy nickte und schielte zu Carberry hinüber. �Packen wir's an, Ed?� �Was?�

Al Conroy räusperte sich die Kehle frei. �Ich mein, du könntest sie doch einladen, Ed.� �Wieso ich?� �Weil du der Profos bist.� Das war natürlich ein äußerst schwachsinniges Argument, aber Al Conroy wußte genau, warum er es brauchte. Er packte nämlich Carberry bei seiner Profos-Ehre, die in etwa bedeutete. daß ein Profos stets der erste Mann an der Spritze war, das Mädchen für alles, nach ihm kamen nur noch der Kapitän und der liebe Herrgott. �Hm.� Carberry dehnte den mächtigen Brustkorb. �Du meinst. ich soll sie einladen?� �Klar.� �Und zu was?� �Na. erst mal zu einem Glas Wein oder so.� �Und dann?� �Müssen wir sehen, Ed. Wenn sie ein Glas trinkt, trinkt sie auch zwei, oder? Und wir müssen ordentlich Süßholz raspeln. Bestimmt hat sie noch 'ne Schwester.� �Vielleicht trinkt sie gar keinen Wein�, meinte Ed Carberry skeptisch. �Das mußt du sie eben fragen, Mann. Kann ja auch sein, daß sie gerne ißt. oder du klimperst ein bißchen mit den Goldmünzen.� Die ganze Zeit stierten sie zu der bauchtanzenden Schleierlady � und plötzlich huschte sie zurück ins Zelt. Al Conroy stöhnte. �Jetzt ist sie weg!� �Hinterher!� erklärte Carberry, schob sein Rammkinn vor und marschierte los. Dan O'Flynn, Al Conroy und Stenmark folgten in Kiellinie �insgesamt alle Mann ein beeindruckendes Quartett mit dem mächtigen Carberry als Flaggschiff. Hinten unter dem Baldachineingang stand ein ziegenbärtiger Mann mit einem Habichtgesicht, neben ihm ein Muskelgebirge von Kerl mit nacktem Oberkörper und über der Brust verschränkten, gewaltigen Armen, einem kahlgeschorenen Schädel, aus dem allerdings in der Mitte ein schwarzer, kunstvoll geflochtener Zopf herauswuchs

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und über die rechte Schulter baumelte, und dem Gesicht eines Gorillas. Dieser Kerl steckte in grünen Pluderhosen. Der Ziegenbärtige trug ein Gewand, auf das goldene Sterne genäht waren. Seinen Kopf zierte ein spitzer hoher Hut, um den herum Metallplättchen klimperten. Vor den beiden hatten sich Leute aufgereiht. die der Ziegenbärtige einzeln in das Zelt eintreten ließ, nachdem er von ihnen eine Münze in Empfang genommen hatte. Jedes Mal legte er dabei die rechte Hand aufs Herz und verneigte sich leicht. Die vier Seewölfe stellten sich an das Ende der Schlange und rückten langsam vor. �Das sind Gaukler�, raunte Dan O'Flynn dem Profos ins Ohr, �die Bauchwacklerin gehört dazu. Die eisen wir bestimmt nicht los, wenn die jetzt 'ne Vorstellung geben.� �Aber hinterher�, knurrte der Profos. �Hat doch keinen Zweck. Ed. Sieh dir mal den Kerl mit dem Zopf an, das scheint der Wachhund zu sein, der aufpaßt, daß nichts geklaut wird.� �Den verspeise ich ungekocht im Vorbeigehn�, brummte Ed Carberry verächtlich. �Wetten?� �Hör auf! Du kannst doch jetzt keine Keilerei anfangen.� �Jetzt nicht, später vielleicht. Erst müssen wir mal 'rein in den Bums�, erklärte Carberry. �Vielleicht führt sie 'n Schleiertanz auf. Das will ich sehen.� Er grinste. �Hast du noch nichts davon gehört? Die tanzen, daß du steife Ohren kriegst, wie vorhin, verstehst du? Und dann lassen sie dabei einen Schleier nach dem anderen fallen, bis sie nackicht sind!� �Was sagt Ed?� fragte Al Conroy begierig hinter Dan O'Flynn. �Daß die Wackeltante 'n Schleiertanz aufführe�, erwiderte Dan O'Flynn über die Schulter, �bis sie nackicht sei.� �Wirklich?� �Sagt er jedenfalls. Oder wollen wir abhauen?� �Bist du verrückt?� fragte Al Conroy empört. �Verdammt, ich will das sehen.� �Schon gut, schon gut, fang bloß nicht an zu drängeln.�

�Mann, ich kann's kaum erwarten.� Al Conroy zappelte vor Ungeduld. �Die haben hier die Ruhe weg, wie?� �Wir sind gleich dran, Al�, sagte Dan O'Flynn und Warf dem Muskelmann einen mißtrauischen Blick zu. Der Kerl irritierte ihn. Dan konnte sich nicht erinnern, einen solchen Koloß schon einmal gesehen zu haben � und dann noch mit der Visage! Carberry rückte vor und stand vor dem Ziegenbärtigen. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ihm eine Goldmünze vor die Hakennase. Mit seinem holperigen Spanisch sagte er: �Die gilt für uns vier, klar?� Er deutete auf sich und die drei Männer. �Ah! Nicht Spanier?� Der Ziegenbärtige starrte auf die Goldmünze. �Nein, Iren.� �Ah! Iren!� Der Ziegenbart sprach ebenso schlecht spanisch wie Carberry. �Gut, Iren, sehr gut, sehr gut. Gold?� �Gold�, bestätigte Carberry, �das walte der heilige Patrick!� �Ah! Geben!� Carberry gab dem Ziegenbärtigen die Goldmünze. Der nahm sie zwischen die Zähne und biß drauf. �Gut.� Er nickte zufrieden. �Sehr gut.� Und schon war die Goldmünze spurlos verschwunden. Der Ziegenbärtige kicherte. �Ich großer Zauberer. Ich Kaliban, verstehst? Name Kaliban. Das dort Baobab!� Er deutete auf den Zopfmann. �Großes Muskeln, Kraft wie zehn Ochsen, verstehst?� �Verstehe.� Carberry nickte. �Ich Kraft von zwanzig Ochsen.� Der Mann namens Kaliban kicherte. �Sehr gut. Du vielleicht nachher zeigen. Irisch Mann gegen türkisch Mann Baobab. Wird Spaß. Du Gold zurück, wenn stärker als Baobab, verstehst? Ich der Bei von Baobab und anderes Gauklervolk. Mir Zelt und alles gehören, verstehst?� �Aha. Auch Bei von Tanzfrau mit Schleier?� Wieder dieses Kichern. �Du vorhin gesehen Fatima? Hat dich gelockt, eh?� �Na ja�, sagte Carberry, �feiner Tanz mit Bauch, sehr gut.�

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�Noch besser, nachher.� Kaliban legte die Rechte aufs Herz und verbeugte sich. �Ihr eintreten in Kalibans Zelt, bitte sehr.�

* Das Zelt war bereits gerammelt voll, aber sie fanden noch auf einer kleinen Bank ganz hinten Platz. Die Bänke vor ihnen waren im Halbrund um eine verhangene Bühne aufgebaut. Die Bühne, etwa sechs Fuß hoch, war mit farbigen Tüchern drapiert. Ein unbeschreiblicher Mief herrschte in dem Zeltinneren. Hinter der Bühne ertönten mehrere Gongschläge. Der Zelteingang wurde verhängt. Ringsum an den Zeltstangen flackerten Öllampen, deren Blenden das Licht auf die Bühne warfen. Wieder ertönten Gongschläge. Das Murmeln der Zuschauer verstummte, als der Vorhang aufrauschte und die Bühne freigab. In ihrer Mitte stand Kaliban und verneigte sich tief nach allen Seiten. Dann richtete er sich auf, breitete die Arme aus und begrüßte die Zuschauer in einer den Seewölfen unverständlichen Sprache. Offensichtlich verkündete er die Reihenfolge der Darbietungen, denn er nannte unter anderem die Namen Fatima und Baobab und ganz zum Schluß seinen eigenen. Als er endete, nahm er den hohen spitzen Hut vom Kopf und verdrehte die Augen nach oben. Über seinen Schädel trippelte eine gurrende, grauweiße Taube und ruckte mit dem Köpfchen. �Oh, oh, oh!� sagte Kaliban, als sei er verwundert. �Ksch-ksch!� Die Taube flog auf und flog seitlich hinter den Vorhang. Kaliban schaute in seinen hohen spitzen Hut, und sein Hals wurde ganz lang. Offensichtlich hatte er etwas in dem Hut entdeckt. Er bedeutete den Zuschauern, ganz still zu sein, wobei er den linken Zeigefinger auf den Mund legte, langte blitzschnell in den Hut und holte eine weiße Taube heraus.

Die Zuschauer trampelten Beifall. Kaliban verbeugte sich und verschwand hinter der Bühne. Wiederum ertönten Gongschläge, die wohl jeweils einen neuen Auftritt verkündeten. Ein Liliputaner mit einem Kretingesicht erschien. Offenbar hatte er keine Sorge mit seinem eigenen Gewicht und noch weniger mit seinen Gliedmaßen, die er so verbiegen und verdrehen konnte, daß Carberry meinte, dieser Zwerg könne sicherlich auch einen Kreuzknoten in. seine Beine schlingen. Er lief auf den Händen, überschlug sich in der Luft vorwärts und rückwärts und schlug Rad wie ein Pfau. Dann folgten ein Feuerschlucker und ein Messerwerfer, und erst dann zeigte sich zu rasselnder Musik Fatima, die Schleiertänzerin. Es war, wie Carberry gesagt hatte. Ein Schleier nach dem anderen schwebte davon, und dann war die Lady völlig �nackicht�, aber leider zeigte sie sich da nur von ihrer Rückansicht, wobei sie mit dem runden Popo wackelte und seitwärts von der Bühne hüpfte. Al Conroy fluchte und war drauf und dran, einen Aufstand zu veranstalten. Carberry und Dan O'Flynn zogen ihn mit Gewalt zurück auf die Bank, und Carberry drohte, den aufgebrachten Stück meister auf der �Isabella� in eine der Culverinen zu stopfen und nach Irland zu schießen, wenn er keine Ruhe gäbe. �Betrug!� schnaubte Al Conroy. �Dieser Zickenbart muß uns das Geld zurückgeben, sonst schlag ich Krach, verdammt ...� �Halt's Maul, du Hering!� grollte Carberry. �Und das Geld krieg ich noch zurück, verlaß dich drauf. Bist du jetzt still, oder soll ich dir die Luke dichtrammen, he?� Der Gong schepperte, und Baobab, der Gorilla, walzte auf die Bühne, über der Schulter eine eiserne Stange. Mit der jonglierte er eine Weile herum, dann sagte er: �Uhh-hu-hu!� Und schon war die Eisenstange krummgebogen. Kaliban schritt gemessen auf die Bühne, sagte etwas in der unverständlichen Sprache zu den Zuschauern und rief dann:

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�Wo guter Ire, Ire stark Wie zwanzig Ochsen?� Carberry war nicht zu halten. Dan O'Flynn. Stenmark und Al Conroy wurden bleich. Jetzt war ihr Profos verrückt geworden, total verrückt. �Ed, bleib hier!� rief Dan O'Flynn, aber Carberry schob sich bereits durch die Bankreihen zur Bühne und enterte sie. �Ah!� rief Kaliban. �Jetzt du zeigen, ob stärker als Baobab! Wenn stärker, du Gold zurück, verstehst?� Carberry zeigte sein höllisches Grinsen und fletschte die Zähne. Er spuckte in die Hände, entriß dem Gorilla die krummgebogene Stange, umklammerte sie' mit beiden Pranken, stemmte die Ellenbogen vor den Leib, ging leicht in die Knie und drückte die Unterarme auseinander � ganz langsam und mit Genuß. Die Zuschauer ächzten. Ja, der bullige Profos der �Isabella� bog die Stange wieder gerade. Baobab rollte wild mit den Augen. Carberry nahm die Stange quer hinter den Rücken, packte wieder fest mit den Pranken zu, bog die Stange bis vor seinen Bauch zusammen und verdrehte die beiden Enden miteinander. Die Zuschauer brüllten, tobten und trampelten. Carberry stieg aus der Eisenschlinge, die er auf diese Weise geformt hatte, verbeugte sich grinsend vor den Zuschauern und warf das Gebilde dem Gorilla lässig zu. Und zu Kaliban sagte er: �Jetzt soll er das wieder aufdrehen und geradebiegen, klar?� Kaliban nickte und redete auf Baobab ein. Carberry peilte inzwischen zum seitlichen Vorhang, wohin Fatima verschwunden war, aber die Schöne zeigte sich nicht. Baobab schwitzte und keuchte und zerrte an den verdrehten Eisenenden, aber auseinander bekam er sie nicht. Dafür wurden seine Augen tückisch. Er warf das Eisen hin und fauchte Kaliban an. Die Zuschauer pfiffen und grölten. Carberry wurde es etwas schwummerig, bis er merkte, daß dies nicht ihm galt, sondern dem Muskelmann mit dem Zopf.

Denn der hob die rechte Faust und drohte dem Publikum. Als der Lärm abebbte, sagte Kaliban zu Carberry: �Er dir zeigen, wer stärker, du ringen mit ihm. Wer zuerst auf Rücken, der verliert.� Carberry grinste milde. �Du kannst mir gleich das Gold zurückgeben. Baobab verliert. Ich warne ihn. Er soll's lieber lassen und sich zufrieden geben.� Kaliban redete auf Baobab ein. Der schüttelte wild den Kopf. Kaliban zuckte mit den Schultern und trat zur Seite. Nun hatten alle Seewölfe eine kurze, aber auch sehr instruktive Schule der Selbstverteidigung auf einer der Inseln im Chinesischen Meer durchlaufen. Mönche waren ihre Lehrmeister gewesen. Mönche, die auf Waffen verzichteten, verzichten konnten, weil sie ein erprobtes System von Griffen und Schlägen entwickelt und zu höchster Blüte gebracht hatten. Einiges hatte Carberry behalten, wenn auch nicht alles. Er kämpfte. lieber mit den Fäusten, ein Ringkampf war nicht seine Sache. Dennoch traute er sich zu, den Gorilla auf die Bretter zu legen � mit einem blitzschnellen Griff, einem Griff, mit dem sogar ein Zwerg den Riesen fällen konnte, ohne viel Kraft aufwenden zu müssen. Denn da wurde nur geschickt gehebelt, das war die ganze Kunst. �Uh!� röhrte der Gorilla und rückte auf Carberry zu. Der knurrte: �Komm her, du Affenarsch, komm schön nahe zum alten Carberry. noch dichter, ja, sehr gut!� Und schon passierte es. Der Zopfmann krachte auf die Bretter, daß das ganze Zelt wackelte. Er krachte sogar auf den Rücken und schnappte röchelnd nach Luft. �Uh!� sagte Carberry und setzte dem Gorilla den Stiefel auf die Brust. Die Zuschauer rasten vor Begeisterung. �Ire, Sieger!� verkündete Kaliban und warf seinem Zopfmann einen giftigen Blick zu. Und Carberry erhielt die Goldmünze. Aber der gab sie Kaliban wieder zurück. �Schenk sie Fatima, der Schönen�, sagte er grinsend.

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Kaliban erbleichte und wehrte ab. �Fatima Frau von Baobab�, flüsterte er. �Geht nicht, bitte nicht.� �Hol's der Teufel�, knurrte Carberry erbittert, �und sie liebt dieses Rübenschwein?� �Was Rübenschwein, bitte?� �Ach, nichts, verdammt!� Carberry sprang von der Bühne, umjubelt von den Zuschauern. Der Vorhang fiel, um Baobab Zeit zu geben, von der Bühne zu verschwinden, ohne von den Zuschauern angepöbelt zu werden.

4. Minuten später dröhnte anhaltend der Gong, und der Vorhang zerteilte sich wieder. Kaliban, der große Zauberer, verbeugte sich liebenswürdig. An seiner Seite stand ein schlanker, schwarzhaariger Junge - etwa siebenjährig -mit einem scharfgeschnittenen, ernsten Gesicht. Auch er verbeugte sich. Es geschah mit einer seltsamen Eleganz und Geschmeidigkeit. Dan O'Flynn starrte irritiert auf den Jungen. Was irritierte ihn? Er wußte es nicht. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, beobachtete den Jungen. Dieses Gesicht war fein gezeichnet, ja, es war ernst. Oder gar traurig? Nein, auch etwas Verwegenes drückte sich darin aus. Jung war es - und doch auch alt. Vielleicht war der Junge schon zehn oder zwölf? Nein, jetzt lächelte er plötzlich, als Kaliban auf ihn zeigte. Er lächelte, wie nur ein Kind lächeln konnte. Ein Kind? Wie lächelte denn ein Kind? Was wußte er, Donegal Daniel O'Flynn von Kindern? Gar nichts wußte er. War er nicht selbst noch ein Kind gewesen, als er damals vor der �Bloody Mary� in Plymouth zusammen mit Philip Hasard Killigrew gegen die Preßgang gekämpft hatte? Dan O'Flynn schüttelte die Gedanken ab und beobachtete das Geschehen auf der Bühne. Gestenreich erklärte Kaliban seinen letzten Auf - tritt. Soweit Dan verstand, sollte der Junge in der Erde verschwinden

und sofort oben aus dem. Himmel wieder erscheinen. Ein Unding! Oder ein übler Trick? Kaliban zauberte ein riesiges Tuch aus der Luft, aber Dan meinte gesehen zu haben, daß er es aus seinem Gewand gezogen hatte. Kaliban murmelte unverständliche Beschwörungsformeln, während er das Tuch über den Jungen warf. Es bedeckte ihn völlig. Kaliban trat zur Seite und griff in die Luft. Jetzt hielt er plötzlich einen Stab in der Hand, einen Zauberstab, schwarzweiß und mit eigenartigen Zeichen und Symbolen versehen. Langsam umschritt er das Tuch, unter dem sich der Kopf und die Schultern des Jungen abzeichneten. Ununterbrochen murmelte er eintönige Worte und beschrieb mit dem Stab wirre Kreise. Hinter der Bühne ertönte eine Flöte. Plötzlich dröhnte ein Paukenschlag. Das Tuch fiel in sich zusammen, nichts schien mehr darunter zu sein, schon gar nicht die Figur eines Jungen. Kaliban schrie gellend und stieß den Zauberstab in die Luft. Sein Gesicht war nach oben gereckt, seine Augen schienen zu glühen. Dort oben, über der Bühne, hingen wolkenartige Vorhänge und verdeckten die trichterförmige Zeltspitze. Alles starrte gebannt zu den Vorhängen hoch. Es waren nur Sekunden vergangen. Und da sauste derselbe Junge, der unter dem Tuch verschwunden war, aus der Luft auf die Bühne, landete geschmeidig wie eine Katze, richtete sich auf und verbeugte sich lächelnd. �Ich werd verrückt�, flüsterte Al Conroy. Die Zuschauer waren für Sekunden starr vor Staunen. Dann brach brüllender Beifall los. Die Seewölfe tobten mit, nur Carberry verlor sehr schnell seine Begeisterung und starrte mit grimmiger Miene auf die Bühne. Dort fiel der Vorhang. Die Zuschauer drängten nach draußen, erregt, aufgewühlt. Dieses letzte Zauberkunststück überschritt ihr

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Fassungsvermögen. Da verschwindet ein Junge vom Boden und taucht Sekunden später aus der Luft wieder auf! Unvorstellbar! Nein, nicht unvorstellbar. Kaliban hatte gezaubert. Ein Zauberer mußte so etwas können, sonst war er eben kein Zauberer. Ein Zauberer konnte etwas weg- und wieder herbeizaubern, jawohl. Und Kaliban war der Größte unter den Zauberern. Er stammte ja auch aus der Türkei, aus dem Land der großen Zauberer. So einfach war das. So einfach erklärten sich das die Leute aus der Hafenstadt Tanger. Sie glaubten sogar daran. Und sie erzählten es weiter - ihren Freunden, ihren Nachbarn, ihren Verwandten. Und morgen würde es wieder am Abend Münzen regnen � in die geöffnete Hand des Zauberers Kaliban. Aber warum zauberte er nicht Münzen? Ob er das auch konnte? �Beschiß�, erklärte Edwin Carberry kategorisch, als sie draußen vor dem Zelt standen. �Der Bengel ist in ein Falloch der Bühne gesprungen, seitlich hinter den Vorhängen wieder hochgeentert und über der Bühne nach unten gejumpt. Klarer Fall von Beschiß, jawohl. Und dem Rübenschwein Baobab dreh ich das Genick um, damit ihr klarseht. Dieser Affenarsch ist der Mann von Fatima. Kann sich das einer vorstellen? Ich nicht. Und ich verkünde hiermit feierlich, daß ich Fatima von diesem Urwaldaffen befreien werde - ich, der Profos Edwin Carberry von der ,Isabella`.� Carberry blickte sich wild um, als gelte es, sofort zur Tat zu schreiten und ein Genick umzudrehen. Aber der Marktplatz um das Zelt herum hatte sich schnell geleert. Dan O'Flynn zog den nach allen Seiten stierenden Carberry zu sich heran. �Ed�, sagte er, �du spinnst. In den paar Sekunden kann der Junge unmöglich in einem Falloch verschwinden, aufentern und wieder auf die Bühne springen. Das ist ausgeschlossen. Das schafft nicht mal Arwenack, und der ist verdammt fix. Nein, das ist keine Erklärung.�

�Mir scheißegal.� Carberry grunzte wie ein Wildschwein in der Suhle. �Ich dreh jetzt dem Baobab das Genick um. Der versündigt sich an Fatima, dieser Molch. Kann ich das zulassen? Hab ich diesen Schwachmann auf die Bretter gelegt?� Er zerrte eine Goldmünze aus der Hosentasche. �Hier! Darum ging's! Ich war Sieger und wollte sie großzügig Fatima schenken - diese Münze! Und Kaliban, dieser Sack, lehnte sie ab, um nicht Ärger mit dem Rübenschwein zu kriegen. Ist das gerecht? Männer, ist das gerecht, frag ich, euer Profos? Da geh ich auf die Bühne, um euch den Weg zu Fatima zu öffnen, und jetzt? Jetzt steten wir da und träumen von Schleiern, die dieser Baobab wegreißt. Ihr Mann! Daß ich nicht lache! Fatima braucht Kerle wie mich und euch - Kerle, versteht ihr?� Er war so richtig in Fahrt, der Profos. �Ich hab Durst�, erklärte Stenmark und holte tief Luft. �Bei dem Mief in dem Zelt trocknet einem die Spucke ein.� �Durst? Den hab ich auch�, sagte Al Conroy. �Und wie! Da könnte ich glatt die Hügel von der Fatima vergessen.� �Geht mir genauso�, sagte Dan O'Flynn. �Erst den Durst löschen, dann die Hügel.� �So was Versoffenes�, sagte der Profos kopfschüttelnd und blickte sich um. Dann kratzte er sich am Kinn und fügte hinzu : �Meine Kehle ist auch trocken, verdammt. Und wo kriegen wir was für unseren Durst?� Stenmark deutete rechts von ihnen auf eine Rundbogentür, an der links eine Ölfunzel brannte und von der anscheinend Stufen hinunter in eine Schenke führten. �Da sind nach der Vorstellung Männer eingekehrt, ich hab's beobachtet.� �Vorwärts!� befahl der Profos und marschierte los. Es war eine Schenke - offenbar der Treffpunkt der Leute, die im oberen Stadtteil wohnten. Man mußte ein paar Treppenstufen nach unten steigen, dann öffnete sich ein Kellergewölbe mit mehreren Nebenräumen. In Nischen flackerten Talglichter. Die Mauern waren weiß gekalkt. Duft von Hammelfett hing in

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der Luft, vermischt mit dem Geruch von Wein und anderen Gerüchen, die den Seewölfen unbekannt waren. Aber alles in allem witterten sie den unverkennbaren Dunst einer Schenke. Im vorderen Gewölbe fanden sie einen freien Tisch mit vier Hockern. Die Schenke war nach der Vorstellung der Gaukler ziemlich besetzt. Ein Raunen lief durch die Gewölbe, als der massige Carberry, Sieger über Baobab, auftauchte. Die Männer in den Burnusgewändern stießen sich an, tuschelten und deuteten verstohlen auf den Profos. Der knallte eine Goldmünze auf den Schanktisch, zeigte auf eine unterarmhohe Kanne und sagte: �Wein - Vino, klar, du Sohn eines verlausten Kameltreibers?� Der �Sohn eines verlausten Kameltreibers� war bestimmt älter als Carberry, allerdings dicker und glatzköpfig. Er zuckte zusammen, als Carberry ihn anredete. �Gluck-gluck!� sagte der Profos und vollführte die Geste des Trinkens. Der Glatzkopf nickte eifrig, nahm die Kanne, auf die Carberry gewiesen hatte, und zapfte von einem Faß am Tresen eine dunkelrote Flüssigkeit ab. Für Carberry schenkte er einen Becher voll, und der probierte. �Hm�, sagte er, �genehmigt! Noch drei Becher für die drei Rübenschweine dort.� Er erhielt die drei Becher, klemmte sie unter den Arm, nahm Kanne und seinen Becher und steuerte den Tisch an. Der Glatzkopf hinter ihm betrachtete die Goldmünze und hatte ein verzücktes Gesicht. Wahrscheinlich hätte Carberry für die Münze das ganze Faß kaufen können. Aber das war unerheblich. Es war jene Münze, die Carberry von Kaliban zurückerhalten hatte. Schließlich hatten sie umsonst die Vorstellung der Gaukler besucht. Sie löschten ihren Durst, und es erwies sich, daß der Wein leicht und bekömmlich war. Der Pegel in der Kanne nahm beachtlich schnell ab, und Carberry holte Nachschub. Er erhielt ihn prompt, ohne noch einmal bezahlen zu müssen.

Soweit war alles zur Zufriedenheit der vier Seewölfe geregelt � bis auf jene Tatsache, daß die Schenke nur von Männern besucht war. Carberry beschloß, später den Glatzkopf zu fragen, wo man in Tanger ein bißchen von der Liebe kosten könne. Jetzt hatte erst einmal der Durst Vorrang. Dan O'Flynn verbiß sich in das Thema, wie Kaliban seinen letzten Zaubertrick ausgeführt hatte. Warum, das wußte er selbst nicht. Der Junge ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. �Ist euch an dem Jungen nichts aufgefallen?� fragte er. �Fängt der schon wieder an�, brummte Carberry. �Was soll denn an dem Bürschchen sein, he?� Er grinste. �Denkst du vielleicht, das sei 'n verkapptes Mädchen?� Er drohte mit dem gewaltigen Zeigefinger. �Daß mir keine Klagen kommen, Mister O'Flynn!� �So was Blödes�, erwiderte Dan O'Flynn. �Verkapptes Mädchen! Wenn ich so einen Quatsch schon höre. Fällt dir nichts Besseres ein, Ed?� �Doch, vielleicht ist das Bürschchen die Tochter von Fatima.� Carberry lachte dröhnend und fand seine Vermutung furchtbar komisch. �Dan O'Flynn ist kein Mädchen�, sagte Al Conroy tiefsinnig. �Nein, ist er nicht�, bestätigte auch Stenmark. �Diesen Zofpmann hast du zwar sauber aufs Kreuz gelegt, Ed, obwohl ich dachte, der vernascht dich. Aber sonst könntest du höchstens noch einen Lorbeerkranz für üppige Phantasien kriegen.� Er peilte in die Kanne. �Schon wieder leer, und ich 'hab immer noch Durst.� �Saufköpfe�, erklärte der Profos, erhob sich und ließ sich von dem Glatzkopf die Kanne zum dritten Male füllen. Als er zurückkehrte, sagte Dan O'Flynn gerade: �Der Junge erinnert mich an irgend jemanden, den ich kenne.� Carberry stellte fluchend die Kanne auf den Tisch. �Palavert ihr schon wieder über den verdammten Bengel, was, wie?� �Er erinnert mich auch an jemanden�, sagte Al Conroy, �schon von Anfang an,

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als er auftrat. Die Bewegung, als er sich verbeugte, die kenne ich, da war irgendwas Typisches.� �Schnickschnack�, sagte der Profos. �Kein Schnickschnack�, erklärte Stenmark. �Dan und Sten haben recht, mir geht's genau wie ihnen. Ich meine auch, daß mir etwas an dem Jungen bekannt erscheint. Wenn du das nicht merkst, Ed, dann bist du heute mal so richtig vernagelt.� �Ihr habt ja alle 'n Hai verschluckt�, sagte Ed Carberry wütend. �Drei Spinner! Und mit so was schieß ich an Land! Also: der Bengel ist 'n Türke. Und jetzt erklär mir mal einer, woher er 'n Türken kennen will, was, wie? Habt ihr Risse im Gehirn?� �Ed�, erwiderte Dan O'Flynn, �Sten, Al und ich stellen unabhängig voneinander etwas fest - daß uns nämlich der Junge an jemanden erinnert. Wenn ich das nur allein täte, könntest du mit Recht sagen, daß ich spinne. Aber Sten und Al sind meiner Meinung. Also muß etwas dran sein. Du kennst mich lange genug. Jetzt behaupte bloß. ich gehörte zu den Typen, die sich in etwas verrennen. Dann müßtest du das gleiche auch von Sten und Al sagen.� Ed Carberry seufzte. �Also gut, ihr habt recht, und ich hin der Spinner. Und wie weiter? Wollt ihr noch nächstes Jahr über den Jungen quatschen? Dann geht doch gleich zu dem Ziegenbart und erkundigt euch. Sagt ihm, ihr kennt den Jungen. Na und? Was dann? Ich begreife nicht, wozu das gut sein soll.� �Da steckt irgendwas dahinter�. sagte Dan O'Flynn, �ich spüre das.� �Ach du Scheiße�, murmelte Carberry, �er spürt was ...� Genau in diesem Moment sprang der Junge, von dem sie sprachen, leichtfüßig die Treppenstufen hinunter und ging zum Tresen. Er hatte einen Korb mit einigen Krügen bei sich. Offenbar sollte er Wein holen. Ein Raunen durchrief das Gewölbe. Die Schankgäste drehten sich um und blickten zu dem Jungen, der den Korb auf den Tresen gestellt hatte und etwas zu dem Glatzkopf sagte. Die meisten der Schankgäste waren hei der Vorstellung

gewesen. Und jetzt bestaunten sie den Jungen, den Kaliban. der große Zauberer, auf so unerklärliche und geheimnisvolle Weise hatte verschwinden und wieder auftauchen lassen. Der Junge benahm sich völlig zwanglos. Er war weder schüchtern noch rüpelig. Seine Haltung war straff und doch gleichzeitig lässig. Sie verriet Stolz, aber keine Überheblichkeit. Einmal drehte er sich um. während der Glatzkopf die Krüge füllte, und musterte gelassen die Schankgäste. Als sein Blick über die vier Seewölfe glitt, huschte ein flüchtiges Verwundern über sein Gesicht. Natürlich wirkten die vier Männer der �Isabella� etwas fremdartig in dieser Schenke von Tanger, darum betrachtete sie der Junge etwas länger, vor allem Stenmark, der mit seinen blonden Haaren, die von der Tropensonne fast weißblond gebleicht waren, besonders auffiel. Dan O'Flynn zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen, als der Junge seine Augen auf ihn richtete. Es waren eisblaue Augen! Der Junge drehte sich wieder zu dem Glatzkopf um. Eisblaue Augen! Dan O'Flynn fuhr von seinem Hocker hoch und starrte auf den Rücken des Jungen. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Nur einer hatte diese eisblauen Augen: Philip Hasard Killigrew! �Jetzt ist er übergeschnappt�, sagte Edwin Carberry. Dan O'Flynn hörte nicht hin. Wie Blitze waren seine Gedanken. Der Junge hatte nicht nur Hasards Augen, sondern auch dessen scharfgeschnittenes Gesicht, dessen Haltung, dessen Bewegungen. Dan glaubte zu träumen. Das gab es doch gar nicht. Und plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge ein anderes Gesicht auf -das Gesicht seiner Schwester Gwendolyn Bernice O'Flynn, der ums Leben gekommenen Frau Hasards, die zwei Söhnen - Zwillingen - das. Leben geschenkt hatte. Gwen! Auch von ihr war etwas in dem Gesicht des Jungen. Zwillinge!

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Plötzlich wußte Dan O'Flynn, wie Kalibans Zaubertrick geklappt hatte, ja, so mußte es sein, es war die Lösung! Wie in Trance ging Dan O'Flynn zu dem Jungen am Tresen, berührte ihn an der Schulter und fragte auf spanisch: �Wie heißt du, Junge?� Die eisblauen Augen blickten zu Dan hoch. Der Junge zuckte mit den Schultern, wandte sich von Dan ab und verstaute die Krüge in dem Korb. Er sagte etwas zu dem Glatzkopf, der gab eine Antwort darauf, und der Junge schob ein paar kleine Münzen über den Tresen. Dan O'Flynn stand wie betäubt da. �Deinen Namen�, sagte er, �ich will deinen Namen wissen. Verstehst du mich nicht? Ist denn hier keiner, der dolmetschen kann?� Der Junge lächelte ihn amüsiert an, zuckte wieder mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Dan O'Flynn redete ununterbrochen weiter - und dann hielt er den Jungen fest. Sekunden später krümmte er sich zusammen. Der Bengel hatte ihm einen knallharten Tritt vors Schienbein verpaßt - wie aus heiterem Himmel. Dan hörte die Englein jubilieren. Er fluchte. Der Junge hatte mit einer Schnelligkeit reagiert, wie sie auch Hasard eigen war. Und dann flitzte er auch schon zu den Treppenstufen. Dan O'Flynn humpelte verbissen hinterher. Die drei Gefährten saßen wie vom Donner gerührt noch am Tisch. �Was ist denn in den gefahren?� sagte Carberry grollend. �Ist der vom wilden Affen gebissen, wie, was?� Einer Antwort wurden Al Conroy und Stenmark enthoben. Drei Araber waren an einem Tisch seitlich der Treppenstufen aufgesprungen und hatten sich auf Dan O'Flynn gestürzt, um ihn festzuhalten und an der Verfolgung des Jungen zu hindern. Dan O'Flynn vergaß seinen Schmerz im Schienbein und geriet in Fahrt. Ein Araber empfing Dans rechten Haken am Kinn, verdrehte die Augen und wankte mit weichen Knien im Kreis.

Der zweite Araber sprang hüpfend herum, weil ihm Dan auf die Zehen getreten hatte. Dem dritten Araber hatte Dan die Kapuze nach vorn übers Gesicht gezogen, den Mann an der Kapuze nach unten gerissen und ihm gleichzeitig das Knie unters Kinn gedonnert. Das alles geschah innerhalb von ein paar Sekunden. Zunächst herrschte geradezu peinliche Stille - die Stille vor dem Sturm. Die Schankgäste saßen geduckt auf ihren Stühlen und Hockern, etwas sprachlos. aber bereits Wut in den Augen. Carberry erhob seine massige Gestalt, spuckte in die Pranken und sagte: �Männer, es geht los! Hier wackelt gleich die Bude!� Er setzte den Krug an, trank ihn mit tiefen Zügen leer; peilte die Lage, und schon flog der Krug einem Burnusmann ins Kreuz, als der mit einem Messer nach Dan werfen wollte., Es regnete Tonscherben. Der Glatzkopf quiekte wie ein Ferkel. Der Tanz begann. Los ging's nach alter Freibeuterart oder wie weiland in Nathaniel Plymsons �Bloody Mary� - vier Seewölfe gegen eine entfesselte Horde von Burnusträgern, die offensichtlich scharf darauf waren, ihre Messer zum Einsatz zu bringen. Sie richteten sich auf die Rundumverteidigung ein, die vier Seewölfe. Rücken an Rücken, in den Fäusten die Hocker. Das war immer gut, wenn die Messer flogen. �Ho-ho!� röhrte der grimmige Carberry. �Nur nicht drängeln, ihr schielenden Hurensöhne verlauster Kameltreiber! Euch juckt das Flohfell, was, wie? Aber hier wird jeder bedient. Und laßt ja eure Messerchen stecken, ihr Bastarde. sonst wird der alte Carberry erst richtig wild!� Aber er war schon wild genug, �der alte Carberry�. In seinem Hocker - in der Sitzfläche - steckten bereits vier Messer, die er aus ihrem Flug abgefangen hatte. Bei Dan O'Flynn waren es drei, bei Al Conroy ebenfalls drei und bei Stenmark gar fünf.

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Und noch mehr Messer flogen und wurden abgefangen. Wie Schilde handhabten sie die Hocker, die mit Messern gespickt wurden. Das war eine Kampfweise, die den Burnusträgern gar nicht gefiel - und sie waren sehr schnell messerlos. Und das reizte ihre Wut. Auf was sie sich indessen einließen, das begriffen sie viel zu spät. Dieses hockerbewehrte Quartett, das nicht auseinanderzubrechen war und sich Rücken an Rücken selbst deckte, rückte vor und zurück, nach links und nach rechts. Und jedes Mal krachten die Hockerkanten auf Schädel, Schultern oder Arme. Sie fielen und taumelten und purzelten übereinander, die Burnusträger. Ein Krach herrschte, als ginge die Welt unter. Krüge zerplatzten an den Hockern. Becher, ja sogar dickwandige Gläser. Und der Glatzkopf quiekte. Tische gingen zu Bruch, Kerzen verlöschten. �Ho-ho!� brüllte Carberry. ,,Ho-ho! Es lebe der alte Freibeutergeist! Drauf, Männer der ,Isabella`! Gebt's den Kerlen!� Und dann erschauerten die Burnusträger, denn ein Ruf dröhnte durch die Gewölbe, ein Kampfruf, den sie zwar nicht verstanden, aus dem aber entfesselte Wildheit klang. �Ar-we-nack! Ar-we-nack! A rwe-nack!� Die Betonung lag auf der ersten Silbe, die beiden letzten wurden abgehackt. Das dröhnte wie der Rhythmus eines unaufhaltsam heranmarschierenden Ritterheeres. panzerumhüllt, eisenklirrend, Takt um Takt, Schritt um Schritt. Ja, es war der Kampfruf jener von der Feste Arwenack, hoch oben über Falmouth an der Küste von Cornwall, die mit in den Heiligen Krieg gegen die Heiden gezogen waren. Wo die Ritter der Kreuzzüge ihre Banner aufgepflanzt hatten, da waren auch Arwenacks mit dabei gewesen, Männer aus der Sippe der Killigrews - lange vor Sir John und dessen drei verkommenen Söhnen, bis auf den vierten, den �Bastard�, der gar kein Killigrew war. Aber er hatte den alten Schlachtruf übernommen und über die sieben Meere getragen. Und wo die Männer des Seewolfs ihr ,.Ar-we-nack�

dem Gegner entgegengeschleudert hatten, da waren die Fetzen geflogen. Die Phalanx der Burnusträger zerbröckelte. Diese vier Kerle waren mit dem Scheitan im Bunde, dem Teufel. Gegen die war kein Kraut gewachsen. Die waren wie die Nordmänner, von denen die Sage ging, die vor vielen Jahrhunderten über die nordafrikanische Küste wie der Sturm gekommen waren � ein Naturereignis, dem man ohnmächtig ausgeliefert war. Wie der Riese mit den gelben Haaren hatten sie ausgesehen. Und sie waren so wild gewesen wie dieser Koloß mit dem zernarbten Gesicht und den grauen Augen, der wie ein Stier brüllte und Baobab, den Muskelmann, in Sekunden auf den Rücken geschmettert hatte. Nein, das waren keine Menschen mehr, das waren Enkel des Teufels. �Rückzug!� befahl Carberry, �langsam zur Treppe. Männer. Die Kerle scheinen schwach zu werden.� Schritt um Schritt rückten sie zur Treppe vor. Um sie herum lagen gefällte Burnusträger - nicht tot, aber zum Teil im Tiefschlaf, zum Teil ächzend und stöhnend. �Sehr gut�, grunzte Carberry befriedigt. Und dann huschten sie die Treppenstufen hoch. Stenmark ließ noch eine unbeschädigte und fast volle Weinkruke mitgehen. Carberry, erfahrener Kämpfer in Hafenkneipen und Spelunken, stoppte ihren Rückzug. �Halt!� befahl er. �Wir müssen es ihnen noch vermiesen, uns zu verfolgen.� Er hatte recht. Die Burnusmänner hatten den �Rückzug� der Teufel verfolgt. Waren es doch nicht Teufel? Unverständlich. Warum hatten sie nicht geplündert und gemordet? Also doch keine Teufel. Und darum faßten sie wieder Mut. Und beschämt waren sie auch. Gegen vier �Ungläubige� nicht bestanden zu haben, das war mehr als schlapp. Und sie waren doch in der Überzahl! Rache! Und so stürmten sie die Kellerstufen hoch.

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Sie prallten gegen heranfliegende, harte Fäuste. Wie eine Mauer standen die vier Kerle da oben und droschen mit ihren Fäusten zu. Und wie sie droschen. Und dabei lachten sie noch. Also doch Teufel! Wie katapultiert flogen die ersten Burnusträger wieder zurück und rissen die Nachfolgenden mit. Im Nu war der Eingang zu der Kellerschenke verstopft. Das war ein zappelnder, um sich schlagender, durcheinanderwirbelnder Haufen von Gliedmaßen und Körpern. Und sie brüllten, als stehe der Weltuntergang bevor. Zwei noch krochen die Kellerstufen hoch � und schossen wieder zurück. Den einen hatte Al Conroys Faust. den anderen Carberrys Faust erwischt. Sie grinsten sich beide an und pusteten über ihre Knöchel. �Das war gut�, sagte Carberry. �Besser als Weiber�, sagte Al Conroy. �Du sagst es.� Carberry nickte und spähte hinunter in den Eingang zur Schenke, in dem ein wildes Gewühl herrschte. �Wir sollten jetzt abhauen�, sagte Dan O'Flynn und blickte sich um. �Bei dem Krach müßte ganz Tanger rebellisch werden. Wir können nicht gegen eine ganze Stadt kämpfen, Ed.� �Da hast du auch wieder recht�, sagte Carberry und stieg die letzten zwei Stufen nach oben. Sie tranken Stenmarks Weinkruke leer, stellten sie auf die Stufen und liefen in die Gasse, über die sie zum Marktplatz gelangt waren. Niemand verfolgte sie.

5. �Kapitän schläft�, erklärte Batuti, der die Mitternachtswache ging. �Ihr ganz schön besoffen. Stinken zehn Meilen gegen Wind. Schande! Aber nicht Kapitän wecken, nur über Batutis Leiche, savvy?� �Hör zu, du schwarzer Affenfurz�, erklärte Carberry und hob drohend die Faust. �Wir wecken jetzt Hasard, oder du fliegst mit einem Schlag zurück in den Urwald. Wir

haben was zu melden. Geht das in dein dunkles Gehirn?� Batuti verbaute breit und drohend den Niedergang zu den Kammern im Achterkastell. Er zeigte seine weißen Zähne und rollte die Augen. �Kapitän gesagt�, erklärte er, �nur wecken bei Feuer im Schiff oder Überfall. Wort von Kapitän gilt. Wort von Profos ist nix, savvy? Profos besser in Koje gehen. Morgen Arbeit, savvy?� Carberry war drauf und dran, wie ein Pulverfaß zu explodieren. Dan O'Flynn schob ihn kurzerhand zur Seite. �Laß uns zu Hasard, Batuti�, sagte er ruhig, �es ist wirklich wichtig, nämlich für Hasard selbst. Wir vermuten, daß wir einen seiner beiden Söhne entdeckt haben, einen der Zwillinge. Du erinnerst dich?� Batuti schob den Kopf vor, Mund und Augen auf. Er schluckte. Dann sagte er: �Söhne von Hasard? Du verrückt? Söhne doch tot, verdammich - damals im Mittelmeer.� Er hatte viel Takt und Gespür für die menschlichen Gefühle, dieser schwarze Mann aus Gambia. Er sagte: �Kapitän damals verwundet im Herzen, tief verwundet. Ich mich genau erinnern. Wir alle traurig mit ihm. Und jetzt? Wunden neu aufreißen? Und wo Beweise für lebenden Sohn?� Und fast hilflos sagte der schwarze Riese: �Was soll Batuti tun? Kapitän darf nicht verletzt und enttäuscht werden. Hat Frau Gwen verloren, hat Zwillinge verloren.� �Ich weiß, Batuti�, sagte Dan sanft. �Ich hab mir das auch alles überlegt. Aber wir sind alle sicher, daß wir den einen Sohn Hasards gesehen haben, vielleicht sogar auch den anderen. Ich kann dir das jetzt nicht alles erklären. Aber wir müssen Hasard informieren. Er soll entscheiden, was wir dann tun. Und wir müssen etwas tun. Vielleicht ist es morgen schon zu spät dazu.� Batuti trat zur Seite. �Euer Gott helfe euch�, sagte er leise. �Ich nur noch beten, zu Batutis Göttern.� Dan O'Flynn weckte auch Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane und den eigenen Vater, obwohl Carberry meinte,

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daß es einen Heidenstunk gäbe, zumal alle von der Plackerei mit den Scheißmuscheln total geschafft seien. Dan O'Flynn wischte Carberrys Argumente .weg. Er war sich seiner Sache völlig sicher. Als sie zum Hafen hinunterliefen, hatten sie über alles gesprochen. Al Conroy und Stenmark war es wie Schuppen von den Augen gefallen. Carberry war skeptisch geblieben. Nur als Dan ihm den Trick Kalibans erklärt hatte, war er zugänglicher geworden. Dans Erklärung schien ihn zu überzeugen. So brachen sie buchstäblich in die Kammer ihres Kapitäns ein. Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane und der alte O'Flynn verschlafen, wütend und ziemlich gereizt. Da hatte Dan O'Flynn bereits auch Hasard aus dem Schlaf gepurrt, und der war verwundert in Hose und Stiefel gestiegen - verwundert darüber, daß Dan O'Flynn, der zwar in die Schiffsführung hineinwuchs. jetzt aber eine Besprechung in der Kapitänskammer anberaumte, doch eigentlich ein bißchen zu weit ging. Aber sicherlich hatte Dan gute Gründe, jetzt, nach Mitternacht, die Männer des Achterschiffs aus dem Schlaf zu scheuchen, aus einem Schlaf. den sie alle verdammt brauchten. Gefahr schien nicht im Verzug zu sein, sonst wäre längst die gesamte Mannschaft gefechtsbereit, oder Carberrys brüllendes Organ hätte die Männer auf Trab gebracht. Was also war es? Hasard lehnte am Schott, das auf die Heckgalerie hinausführte, und musterte Dan O'Flynn. �Na?� fragte er. �Die Schiffsführung ist versammelt, Dan. Dir muß etwas verdammt Gutes eingefallen sein, uns zu dieser Stunde zu wecken. Und wenn das Ganze ein Witz sein soll, dann hast du den Bogen überspannt, mein Junge. Ihr wart an Land, wie ich weiß.� Ein scharfer Blick flog zu Carberry hinüber, dann zu Al Conroy und zu Stenmark. �Ihr habt euch gebolzt, wie ich sehe. Zerschrammte Handknöchel, und Sten hat einen Messerschnitt über der Stirn. Jetzt laß euch

mal was einfallen, wenn ihr meint, uns wecken zu müssen.� �Ich hab's ja gleich gesagt�, murmelte Carberry unbehaglich: �Jetzt geht der. Stunk los.� Er starrte Dan O'Flynn wütend an. �Und? Bist du taubstumm? Pack aus, was gewesen ist.� Hasard verschränkte die Arme über der Brust. Sein Gesicht war unbewegt. Der alte O'Flynn blickte seinen Sohn drohend an. �Donegal Daniel O'Flynn�, sagte er, �wenn du mal wieder was ausgeheckt hast, dann ist der Ofen endgültig aus. Ich laß dich glatt vor ein Bordgericht stellen!� Plötzlich lag Spannung in der Luft. Es war anders als sonst. Denn gewöhnlich drohte Old O'Flynn, seinen Sohn mit dem Holzbein zu verprügeln -wie früher, als das Bürschchen sich hartnäckig geweigert hatte, Sargtischler zu werden. Stattdessen war er von Zuhause ausgerissen und in Plymouth auf Philip Hasard Killigrew gestoßen. Und beide waren von der Preßgang Kapitän Drakes geschnappt, zusammengeschlagen und an Bord der damaligen. �Marygold� geschleppt worden. Damals auch war die Legende vom Seewolf entstanden - eines jungen wilden Mannes, eines Riesen, der wie ein Berserker unter der Preßgang gewütet hatte, unterstützt von Dan O'Flynn, dem Bürschchen, das jetzt zum Mann geworden war. Kerzengerade stand Dan O'Flynn vor den Männern. Seine Stimme war ruhig und gelassen. �Vielleicht läßt du mich endlich sprechen; Dad�, sagte er. �Und dann entscheidet - und ich bin bereit, mich vor ein Bordgericht stellen zu lassen, wenn ihr meint, ich hätte euch wegen einer Lappalie aus den Kojen geholt.� Dan blickte Hasard fest an und atmete tief durch, bevor er fortfuhr. Er sagte: �Ich will der Reihe nach berichten. Oben in der Stadt stießen wir auf ein riesiges Zelt, das auf einem Marktplatz errichtet war.� Er lächelte etwas. �Zu diesem Zeitpunkt fesselte uns

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eine Bauchtänzerin, die vor dem Zelteingang mit den Hüften wackelte und dann im Zelt verschwand - Grund für uns, der Lady zu folgen.� �Ein Prachtweib�, murmelte Ed Carberry und erhielt von Stenmark einen Rippenstoß. �Nun�, sagte Dan O'Flynn, �es entwickelte sich alles anders. In dem Zelt gab eine türkische Gauklertruppe eine Vorstellung. Die Bauchtänzerin, sie heißt Fatima, trat natürlich auch auf. Sie legte einen Schleiertanz hin. Dann waren da noch ein Feuerschlucker, ein Messerwerfer, ein Liliputaner, na, und ein Kraftmensch, der eine Eisenstange verbog, was nun wiederum Ed Carberry reizte, es ihm gleichzutun. Er ging auf die Bühne, bog das Eisen wieder gerade und wickelte es sich dann wie einen Tampen um den Bauch. Den kriegte der Kraftmensch nicht wieder auseinander. Er forderte Carberry zum Ringkampf auf und wurde von Ed auf die Bretter gelegt. Ed erhielt das Eintrittsgeld zurück. Das ist die Vorgeschichte.� �Ich bin ganz hingerissen�, sagte Old O'Flynn bissig. �Schätze, du mußt dir noch eine Menge einfallen lassen, mein Junge.� �Ich sagte, das ist die Vorgeschichte�, erwiderte Dan ruhig. Und etwas schärfer: �Ich nahm an, man würde im Alter gelassener, Dad. Bei dir scheint's umgekehrt zu sein.� Er hob die Hand, als der Alte losbrausen wollte. �Bitte, laß mich zu Ende erzählen, bevor du zu toben anfängst. Also, ein Mann namens Kaliban, der ein Zauberer und zugleich auch so etwas wie der Leiter dieser Gauklertruppe ist, trat als letzter auf. Bei ihm auf der Bühne war ein etwa siebenjähriger Junge. Kaliban warf ein riesiges Tuch über den Jungen und erklärte, soweit wir das aus seinen Gesten erkennen konnten, er werde den Jungen im Boden verschwinden und sofort wieder von oben aus der Luft auftauchen lassen. Das geschah dann auch. Plötzlich fiel das Tuch in sich zusammen, und Sekunden später sauste der Junge von oben wieder auf die Bühne.

Der lächelte sanft und sagte: �Feiner Trick, Dan. Sicher weißt du auch, wie er funktioniert. Denn es muß ein Trick sein, oder?� Dan nickte. �Ja, es ist einer, natürlich. Aber es ist völlig ausgeschlossen. darauf zu kommen, wenn man nicht einen bestimmten Zusammenhang weiß. Wir alle vier redeten uns die Köpfe heiß. Die Lösung fiel mir ein, als derselbe Junge später in einer Schenke am Marktplatz erschien, wo wir auch saßen und einen guten Wein tranken. Der Junge ging zum Tresen und kaufte dort ebenfalls Wein, anscheinend für seine Leute aus der Truppe. Jetzt konnte ich den Jungen aus der Nähe sehen.� Dan biß sich auf die Lippen und blickte Hasard an. �Na?� fragte Hasard. �Der Junge muß einer deiner beiden Söhne sein�. sagte Dan O'Flynn leise. Hasards braungebranntes Gesicht wurde fahl. Aber in seine eisblauen Augen trat ein wildes Funkeln. Dan O'Flynn wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er kannte diesen Ausdruck in Hasards Augen. Die Mienen von Ferris Tucker, Ben Brighton, Big Old Shane und dem alten O'Flynn waren ebenfalls unheilverkündend. �Ich glaube, jetzt bist du einen Schritt zu weit gegangen, Dan O'Flynn�, sagte Hasard leise, aber in seiner Stimme klirrte verhaltene Wut. �Da hört der Spaß auf.� Und dann wurde seine Stimme schneidend. �Bist du wahnsinnig geworden? Hasard und Philip sind tot!� Dan O'Flynn hatte seinen Schrecken überwunden. Jetzt wich er um keinen Zoll mehr zurück. Fast hart sagte er: �Hast du dafür Beweise? Nein, die hast du nicht. Keiner von uns hat dafür einen Beweis. Meinst du vielleicht, ich will mir einen Scherz erlauben? Meinst du vielleicht, die beiden einzigen Kinder meiner Schwester Gwen wären mir gleichgültig? Denn sie gehören auch zur Sippe der O'Flynns - so wie sie Fleisch und Blut von dir sind. Nein, ich scherze wahrhaftig nicht, ich weiß, von was ich spreche. Los, Al, sag's ihm - mir scheint er nicht zu glauben!�

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Al Conroy nickte. �Sir, es muß dein Junge sein - Hasard oder Philip. Das ist ja auch der Trick. Einer von beiden verschwand tatsächlich unter der Bühne. Aber die ganze Zeit hockte der andere oben im Schnürboden und brauchte nur auf ein verabredetes Zeichen nach unten zu springen. Das ist das ganze Zauberkunststück, ausgeführt von Zwillingen, die sich wie ein Ei dem anderen ähneln. Die Leute haben vor Begeisterung getobt, weil das wirklich wie Zauberei erscheint. Aber noch etwas: Sten, Dan und mir fiel von Anfang an etwas an dem Jungen auf. Wir wußten nicht, was es war. Seine Bewegungen, seine Haltung, sein Gesicht erschienen uns irgendwie bekannt. Dann tauchte der. Junge in der Schenke auf. Und da erkannte ihn Dan an den eisblauen Augen -deinen Augen, Sir. Es ist dein Sohn - es sind deine Söhne. Sie sind dein und Gwens Ebenbild.� Der alte O'Flynn ächzte. Er brachte kein Wort heraus. Hasard stand wie versteinert. In den Mienen Big Old Shanes, Ferris Tuckers und Ben Brightons zeichnete sich Erschütterung ab. Sie blickten zu dem schwarzhaarigen Riesen, dessen Gesicht wie aus Stein gehauen wirkte - und dennoch mußte ein Vulkan in ihm toben. Hasards Augen durchbohrten den Profos. �Und deine Meinung, Ed? Ich hörte bisher nur, daß O'Flynn, Stenmark und Conroy die Ansicht vertreten, die beiden Jungen erkannt zu haben.� Der eiserne Carberry starrte unglücklich auf seine Stiefel und zuckte unbehaglich mit den Schultern. �Na�, brummte er, �anfänglich dachte ich, die drei spinnen, als sie ständig darüber palaverten, der Junge sei ihnen irgendwie bekannt. Später, nach der Keilerei, erklärte uns Dan den Trick mit den Zwillingen...� �Welcher Keilerei, Ed?� fragte Hasard scharf. �Dan wollte den Jungen festhalten, als der die Schenke wieder verließ. Da wurden diese verdammten Kameltreiber rebellisch.� �Und?�

�Nichts und.� Der Profos zuckte wieder mit den Schultern, dieses Mal fast gleichgültig. �Wir haben sie ein bißchen gezähmt.� Der Profos betrachtete tiefsinnig seine zerschundenen Handknöchel. �Dann sind wir getürmt, um nicht ganz Tanger in Aufruhr zu versetzen. So war das, hm, ich hätte dir ja auch gern den Jungen mitgebracht, Sir, damit du ihn dir ansehen kannst.� Plötzlich wurde der Profos lebhaft. �Mann, ist das eine Krabbe. Als Dan ihn festhielt, knallte er ihm � zack ! � einen Tritt vors Schienbein und flitzte aus der Schenke. An dieser Reaktion war etwas, das mich an dich erinnerte, Sir. Wir können zwar auch schnell reagieren, aber wir alle wissen, daß du uns da über bist. Und der Junge reagierte wie du. Dan hatte nicht mal mehr Zeit nachzugreifen. Der Junge war unheimlich schnell, ein schlankes, geschmeidiges Bürschchen.� Der Profos grunzte. �Bei mir ging das Licht erst später auf. Ich war ziemlich vernagelt. Dan, Sten und Al haben das schneller erkannt als ich, ich geb's ja zu. Aber wer kommt schon auf so 'ne Idee, die kleinen Kerle könnten deine Söhne sein. Dabei sind sie dir und Gwen wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Teufel mag wissen, wie sie überlebt haben und zu diesen Gauklern gelangt sind.� Langsam, fast tonlos, sagte Hasard: �Da war damals der sterbende Isaac Henry Burton, degradierter Hauptmann der Elisabethanischen Armee. Im Angesicht des Todes schleuderte er mir Worte entgegen, die unauslöschlich in meiner Erinnerung blieben. Er schrie: ,Du braucht die Bälger nicht mehr zu suchen, Killigrew! Sie sind tot, alle beide tot, verstehst du? Verreckt sind sie. Samuel Stark hat die beiden Bälger umgebracht und ihre Kadaver in die See geworfen...` Das waren seine letzten Worte. Und ihr sprecht davon, die Jungen leben. Es ist ungeheuerlich ...� Hasard brach ab und senkte den Kopf. �Haben wir uns je überzeugt, haben wir überprüft, ob es stimmt?� fragte Dan O'Flynn hart. �Burton war ein

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verkommenes Subjekt, ein Schwein, ein Dreckskerl ...� Hasard hob den Kopf und blickte Dan O'Flynn wild an. Aber unbeirrt fuhr der fort: �Sterbend hatte dieses Schwein sogar noch einen Triumph: dir einen tödlichen Hieb zu versetzen. Er wußte genau, daß du Jahre brauchen würdest, um über den Tod der beiden Jungen hinwegzukommen. Typen wie Burton verspritzen ihr Gift auch noch in den letzten Minuten vor ihrem Tod. Solche Kerle kennen keine Gewissenserleichterung, bevor sie über die letzte Schwelle gehen. Er haßte dich. Darum sagte er es. Und du glaubst es sogar heute noch.� Und Dan O'Flynn ging fast selbstmörderisch aufs Ganze. Seine Stimme war von einer Schärfe, wie sie noch keiner von ihnen je bei ihm erlebt hatte. �Fast hat es den Anschein, du willst es glauben. Vielleicht kümmert dich das Schicksal der beiden Jungen nicht. Dann, Sir, sollten wir uns besser trennen!� Stille. Es war eine ungeheuerliche Anklage, die Dan O'Flynn erhoben hatte. Nein, keine Meuterei, aber ein nahezu wahnwitziger Vorwurf. Hasards Hand war zum Degen gezuckt. Er stand wie ein sprungbereites Raubtier. Seine Augen glühten. �Sag das noch einmal, Dan O'Flynn!� stieß er hervor. Und klirrend zischte der Degen aus der Scheide. Dan O'Flynn verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick wanderte zu der Degenklinge in Hasards Faust und wieder zurück zu den eisblauen, funkelnden Augen. �Sir�, erklärte er ruhig, �ich wiederhole mich nicht. Sie haben gehört, was ich sagte. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.� Plötzlich stand Ben Brighton zwischen den beiden und drückte den Degen Hasards nach unten. Der stämmige Mann musterte Hasard und dann den jungen O'Flynn. Gelassen sagte er: �Ihr scheint beide einen Schiedsrichter zu brauchen. Vielleicht würdet ihr die Güte haben, mich als solchen zu akzeptieren.�

Hasards Haltung entspannte sich. �Was willst du. Ben?� Ben Brighton lächelte. �Man könnte Dans Behauptungen überprüfen.� �Und wie, bitte?� �Ähnlichkeiten zwischen Menschen müssen nicht unbedingt beweisen, daß diese Menschen miteinander verwandt sind�, erwiderte Ben Brighton bedächtig, wie es seine Art war. �Aber für deine beiden Jungen gibt es einen untrüglichen Beweis, um sie zu erkennen:' Hasard blickte seinen Bootsmann verwundert an. �Welchen Beweis, Ben?� Wieder lächelte Ben Brighton. �Ein gutes Gedächtnis ist � eine Menge wert, scheint mir. Ich verstehe nicht, daß euch das nicht bereits selbst eingefallen ist. Also: Doc Freemont war als Gefangener von Burton, Samuel Stark und dem ehemaligen Friedensrichter von Falmouth, Baldwin Keymis, fast bis zum Schluß bei den beiden geraubten Jungen. Diese drei Kerle hatten den Doc gewissermaßen als Kindermädchen entführt, aber auch in seiner Eigenschaft als Arzt, weil die Jungen krank waren. Doc Freemont berichtete nach seiner Befreiung, der verdammte Keymis habe nach einem vergeblichen Fluchtversuch des Docs mit den Jungen den teuflischen Plan gefaßt und auch ausgeführt, die Jungen zwecks genauer Identifizierung zu tätowieren.� Hasard zuckte zusammen. �Ja�, sagte Ben Brighton und nickte. �Ihr wißt alle, daß Keymis damals auf der Rückreise nach England versucht hatte, Gwen zu vergewaltigen. Ein Bordgericht verurteilte ihn zum Kielholen. Er überstand die Prozedur, hatte aber seitdem einen Komplex vor Haien, weil ein Hai ihn unter Wasser fast erwischt hätte. Wir konnten den verdammten Kerl noch rasch genug aus dem Wasser hieven. Haie! Wahrscheinlich verfolgten sie Keymis auch noch im Traum. Er haßte Haie. Darum übertrug er diesen Haß symbolisch auf die Schulterblätter der beiden kleinen Jungen, die er als Söhne Gwens und Hasards ebenfalls haßte.� Ben Brighton lächelte breit. �Und jetzt wirkt sich das

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alles als Segen aus - was Keymis bestimmt nicht beabsichtigt hatte. Ich erinnere mich. daß Doc Freemont berichtete. Keymis habe dem kleinen Hasard das Haifischsymbol auf die rechte und dem kleinen Philip auf die linke Schulter tätowiert - eine satanische Tortur für die beiden Kleinen und typisch Keymis. Aber jetzt sind diese beiden Symbole für uns der Schlüssel zur Identifizierung der Jungen.� Ben Brighton sah den Seewolf und Dan an. �Wollt ihr euch immer noch duellieren, ihr Streithähne?� Hasard streckte Dan O'Flynn die Rechte hin. �Vergessen wir's, Dan?� Dan O'Flynn nahm die Rechte und drückte sie. �Aye, aye. Sir�, sagte er lächelnd. Die Männer atmeten auf. Der erwartete Sturm war ausgeblieben. Big Old Shane sagte grimmig: �Meint ihr beiden vielleicht, wir alle hier hätten zugelassen, daß ihr euch prügelt oder gegenseitig die Klingen um die Ohren schlagt?� Er schüttelte den mächtigen Schädel. �Da muß man noch auf seinen Kapitän aufpassen, hol's der Teufel!� �Was ist mit dem Bordgericht, Dad?� fragte Dan grinsend. �Bordgericht? Ich hör immer Bordgericht�, erwiderte Old O'Flynn. Und dann strahlte er. �Mann, Junge, du kriegst zwei Neffen und ich zwei Enkel. Los, erzähl, wie sehen sie aus? Haben sie auch mit mir Ähnlichkeit?� �Na, das nicht gerade, vielleicht ein bißchen, Dad.� �Also�, Old O'Flynn plusterte sich auf, �wenn sie mit Gwen Ähnlichkeit haben, dann auch mit mir, verdammt.� �Gwen war hübscher als du�, sagte Dan O'Flynn. �Ha!� Old O'Flynn war ganz aus dem Häuschen. �Als wenn's darauf ankäme! Hauptsache, es sind fixe Kerlchen. Na, ich werde ihre Erziehung übernehmen und ihnen beibringen, welcher Kurs gesteuert wird und woher der Wind weht. Ja, das werde ich!� �Erst müssen wir sie mal haben, Dad�, sagte Dan O'Flynn. �Und dann vergiß

nicht, daß sie nicht unsere Sprache sprechen.� �Wieso nicht?� fragte der Alte empört. Dan seufzte und blickte seinen Vater mit mildem Tadel an. �Weil sie nicht in England, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in der Türkei aufgewachsen sind. Und in der Türkei spricht man türkisch, oder?� �Mist!� Old O'Flynns Miene verdüsterte sich. Ja, das war wirklich ein Problem. Aber daraus ergaben sich noch weitere Probleme. Hasard sprach sie aus. �Wir sind Fremde für sie�, sagte er nachdenklich. �Und wenn wir sie uns holen, müssen sie annehmen, daß wir ihre Feinde sind. Eine verdammte Sache. Wie sollen wir ihnen erklären, wer wir sind? Wie soll ich ihnen verständlich machen, daß ich ihr Vater bin, daß Dan ihr Onkel und Old Donegal ihr Großvater ist? Sie werden es nicht glauben. Vielleicht denken sie, daß dieser Kaliban ihr Vater sei. Was ist das für ein Kerl, Dan?� �Na, von der Ähnlichkeit mit den Jungen her ist das keine Konkurrenz für dich�, erwiderte Dan. �Der Kerl hat einen Ziegenbart und ein Habichtgesicht. Aber eins ist mir klar: Die beiden Jungen sind als Zwillinge die Attraktion dieser Gauklertruppe. Ohne sie könnte Kaliban seinen Trick mit dem Weg- und wieder Herbeizaubern nicht ausführen. Das geht eben nur mit zwei Personen, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen, also Zwillingen. Für die Zuschauer erscheint das wirklich wie Hexerei, zumal Kaliban natürlich dabei allerlei Hokuspokus aufführt, um die Leute zu beeindrucken. Und das schafft er auch. Gewiß, das Ganze ist ein billiger Trick � wenn man es weiß. Aber für die Leute ist es unfaßbar, geheimnisvoll, übernatürlich � eben Zauberei, verstehst du?� Hasard nickte nachdenklich. �Du glaubst nicht, dieser Kaliban würde die Jungen freiwillig herausgeben, wenn ich sage, ich sei ihr Vater �vorausgesetzt natürlich, sie

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tragen das Haifischsymbol auf den Schultern?� Dan O'Flynn beantwortete Hasards Frage mit einer Gegenfrage. �Würdest du als Zauberer auf deinen besten Trick verzichten?� �Ich bin kein Zauberer.� �Natürlich nicht. Aber du bist der Kapitän der �Isabella'. Würdest du auf die �Isabella' verzichten, wenn jemand erklärt, sie gehöre ihm?� �Nein�, erwiderte Hasard. �Na also. Und vergiß nicht: Die beiden Jungen sind für Kaliban eine hervorragende Einnahmequelle. Für seine anderen Gaukler würde er immer Ersatz finden. Aber jetzt suche. mal Zwillinge vom Format der beiden Jungen.� �Was meinst du damit, Dan?� fragte Hasard. �Die beiden haben ganz einfach Format�, erwiderte Dan. �also etwas, das sie auszeichnet oder einfach anders ist als gewöhnlich. Mir ist Verschiedenes aufgefallen. Sie bewegen sich lässig Und doch geschmeidig. Sie haben Stolz. Irgendwie passen sie nicht zu diesen Gauklern, von denen sie so verschieden sind wie Tag und Nacht. Wie soll ich das erklären? Es ist so, als wenn sich zwei junge Edelfalken zwischen Hühner oder Gänse verirrt hätten, wenn du verstehst, was ich damit ausdrücken will. Natürlich ist das ein blöder Vergleich. Wie reaktionsschnell zumindest der eine ist, das hat vorhin Ed schon erklärt. Das ist einfach ungewöhnlich. Die Kerlchen sind nicht dumm, keineswegs. Sie wirken hellwach, aufmerksam, irgendwie sprungbereit.� �Hast du den Eindruck, daß sie gewaltsam bei den Gauklern festgehalten werden?� fragte Hasard. �Das glaube ich nicht.� Dan schüttelte den Kopf. �Sonst wäre der eine nicht allein in der Schenke aufgekreuzt, um Wein zu holen. Wenn sie auskneifen wollten, hätten sie's längst getan. Wie ich die beiden einschätze, schlagen sie sich überall durch.�

Hasard blickte die anderen Männer an. �Was meint ihr? Holen wir sie uns mit Gewalt?� Ben Brighton war skeptisch. �Warum gleich holen? Erst müssen wir feststellen, ob es wirklich Hasard und Philip sind. Vielleicht sollten wir sie dann diesem Kaliban abkaufen. Die Mittel dazu haben wir ja.� �So geht das nicht�, erklärte Dan O'Flynn. �Mir ist das allerdings auch schon durch den Kopf gegangen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Zauberer vom Schlage dieses Kaliban so mir nichts dir nichts auf seinen besten Trick verzichtet. Gewiß, er ist auf Geld scharf. Aber andererseits betreibt er seine Zauberkunststücke doch sicherlich auch, weil es ihn befriedigt. Er ist der große Zauberer! Ein Wesen, das die Menschen zu beeindrucken versteht. Und plötzlich nimmst du ihm die Möglichkeit weg, seinen Hokuspokus weiter auszuführen. Nein, ich glaube nicht, daß er auf Geld anbeißt, der nicht!� �Ich verstehe, was Dan meint�, sagte Hasard. �Gut, angenommen, es sind Hasard und Philip, und wir holen sie uns an Bord. Was geschieht dann? Die Gaukler vermissen die beiden Jungen. Also werden sie Tanger nach ihnen durchstreifen. Und jetzt kommt ein Gedanke, der mir gar nicht gefällt. Dan hat einen der beiden in der Schenke angesprochen und versucht, ihn festzuhalten. Und dann habt ihr vier euch mit den Leuten in der Schenke herumgeprügelt. Wer nicht blind ist, weiß, daß ihr keine Nordafrikaner seid. Man braucht nur ein bißchen nachzuforschen �und schon stößt man auf die �Iren' der �Isabella'. Sten mit seinen hellen Haaren ist viel zu auffällig. Das bedeutet also, daß wir ab dem Zeitpunkt, da die Jungen bei uns an Bord sind, auf dem Pulverfaß sitzen. Und die �Isabella' liegt hoch und trocken, ganz abgesehen davon, daß sie noch lange nicht segelklar ist.� �O verdammt�, murmelte Ferris Tucker. Auch die anderen hatten betroffene Gesichter.

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�Weiterhin�, fuhr Hasard fort, �stehen wir unter Zugzwang. Die Gaukler könnten schon morgen ihr Zelt abbrechen und weiterwandern. Was meinst du, Ferris, wann sind wir wieder seeklar?� �Wenn wir wie die Irren arbeiten �in drei, vier Tagen�, erwiderte der Schiffszimmermann. �Oder wir müßten noch mehr Hilfskräfte heranziehen.� Hasard nickte. Er blickte die Männer der Reihe nach an. �Das ist die Lage. Darf ich unsere �Isabella' aufs Spiel setzen? Darf ich das Leben der Männer, die auf ihr fahren, gefährden? Denn das tue ich, wenn ich die Jungen an Bord hole:' Big Old Shane reckte die mächtigen Schultern und sprach für alle. Er sagte: �Wenn es deine Jungen sind, wirst du sie an Bord holen, Hasard. Es ist deine Pflicht als Vater. Und wir alle werden dir dabei helfen.� �Danke, Old Shane�, sagte Hasard leise.

6. Am frühen Morgen des nächsten Tages informierte Hasard seine Männer über das, was in der Nacht geschehen war. Es geschah vorn im Vordeck, um nichts nach draußen dringen zu lassen, denn auch in der Werft regte sich bereits der Betrieb. Auch seinen Männern stellte Hasard die Frage, ob er berechtigt sei, sie und ihre �Isabella� zu gefährden. Smoky, der Decksälteste, antwortete. �Wenn es meine Söhne wären, Sir�, - sagte er, �würde ich genauso handeln wie du. Deine Söhne sind auch unsere Söhne, verdammt! Wer anderer Ansicht ist, soll vortreten!� Und er blickte sich wild um, dieser Smoky, ein Mann, der nicht wußte, von wem er abstammte, weil ihn seine Mutter auf einer Londoner Kirchenschwelle deponiert und seinem Schicksal überlassen hatte. Und von Jugend an hatte er sich sein Recht zu leben mit den Fäusten erkämpfen müssen. Ein Rauhbein war er, bullig, zäh, unverwüstlich. Ein Seemann durch und durch, salzwassergetränkt, verwegen,

furchtlos. Und mit einem Herzen aus feinstem Gold. �Wer hier vortritt�, erklärte Blacky - wie Smoky Vollwaise -, �dem schlag ich die Klüsen dicht!� Das waren starke Worte - und gar nicht nötig. Denn sie waren symbolisch für die Crew der �Isabella�. Sie alle standen hinter Philip Hasard Killigrew - und wenn es sein mußte, würden sie sich für ihn in Stücke schlagen lassen. Hasard wurde die Kehle heiß. Deine Söhne sind auch unsere Söhne! Konnte ein Mann etwas Besseres sagen? Stumm sah er sie an, diese Männer, deren Gesichter Wind und Wetter und Sonne gezeichnet hatten - und die Kämpfe. lind keiner wich seinem Blick aus. Er wollte sich bedanken, aber er konnte es nicht. �Welche Befehle hast du, Sir?� fragte Smoky sachlich. Hasard räusperte sich die Kehle frei. �Einer müßte den Tag über das Zelt der Gaukler im Auge behalten. Es könnte sein, daß sie abziehen. Wir wissen es nicht. Am Abend wollen dann Old Shane, Dan O'Flynn und ich die Vorstellung besuchen. Alles weitere wird sich ergeben.� �In Ordnung, Sir�, sagte Smoky. �Wer soll den Posten übernehmen?� Hasards Blick glitt über die Männer. Jeder war bereit. Sie schauten ihn erwartungsvoll an. Jetzt. mußte Hasard doch lächeln. Die Lähmung, die ihn eben befallen hatte, verschwand. Er sagte: �Es müßte einer von euch sein, der nicht unbedingt blauäugig und blond ist. Er darf nicht auffallen.� �Ich, Sir.� Sam Roskill trat vor, noch ehe einer der anderen reagieren konnte. Sam Roskill - schlank, frech, dunkelhaarig und dunkeläugig. �Du kannst dich auf mich verlassen.� �Gut, Sam.� Hasard nickte. �Einverstanden. Laß dir von Dan den Weg beschreiben. Dieser Marktplatz liegt im oberen Teil der Stadt. Vielleicht sollten wir dir einen Burnus besorgen. Ja, das wäre gut. Diese -Gaukler sollen im hinteren Teil des Zeltes wohnen, sagte Dan. Dort stehen

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auch Wagen, wo sie ihre Sachen unterbringen. Behalte das alles im Auge. Wenn du merkst, daß sie abbauen sollten, benachrichtige uns sofort. Sonst bleibe dort, bis wir kommen. Verhalte dich völlig unauffällig. Alles klar, Sam?� �Alles klar, Sir.� Eine halbe Stunde später zog Sam Roskill ab. Einen Burnus hatte ihm Batuti besorgt. Carberry starrte hinter ihm her, als sich Sam auf den Weg machte. �Der sieht doch tatsächlich wie ein verdammter Kameltreiber aus�, murmelte er verblüfft. �Hm, hoffentlich kreuzt Fatima, die Schöne, nicht seinen Kurs.� �Fatima?� Luke Morgan spitzte die Ohren und leckte sich über die Lippen. �'ne Bauchtänzerin�, erwiderte Ed Carberry, �mit 'n paar Schleiern dort, wo man nicht hinsehen soll.� Er sagte das so hin, der Profos. Und dann zuckte er zusammen und funkelte Luke Morgan an. �He, du Schnarchsack, hast du ausgeschlafen, du müde Tasse, was, wie? Was hab ich dir gestern abend versprochen? Daß dir vom. Muschelkratzen die Fingerchen rauchen würden, jawohl, Mister Großmaul! Aber jetzt geht's rund! Fragt dieser Kerl nach Fatima! Bist du noch nicht da oben auf dem Brett. du Kakerlake?� Und damit rückte Carberry auf Luke Morgan los. Der ergriff die Flucht und enterte schleunigst an einer Leiter hoch. Kurz darauf hämmerte er mit Hammer und Beitel auf die Muscheln los, daß die Brocken nur so flogen. Carberry, die Fäuste in die Hüften gestemmt, starrte grinsend zu ihm hoch. Dann schnappte er sich selbst eine Axt. kletterte Luke Morgan nach und hieb neben ihm auf die Muscheln ein. Eine Etage schräg über ihnen arbeiteten Al Conroy und Stenmark. Und Al Conroy sagte kopfschüttelnd: �Verstehst du das, Sten? Mir tun alle Knochen weh, und ich hab 'n Brummschädel vor Müdigkeit, und dieser .verdammte Profos turnt herum, als hätte er zwei Wochen auf dem Kreuz gelegen und

diese zwei Wochen in einem Stück durchgepennt.� �Den mußt du dreimal totschlagen�, brummte Stenmark. �Und beim vierten Mal rennst du weg, weil der dir noch erklärt, er würde deinen Affenarsch in Streifen schneiden und die Stücke ans Kombüsenschott nageln. So einer ist das.� �Du sagst es.� Und erbittert hieb Al Conroy auf die Muscheln ein. Unter ihnen rief Carberry: �Flott-flott, Männer! Hurtig-hurtig! Gebt's diesen verdammten Muscheln! Hier wird nicht gefeiert! Und wer eine Pause einlegen will, mit dem poliere ich den Bauch unserer alten Tante, daß er denkt, in einen Schleiertanz verwickelt zu sein. Wißt ihr, was 'n Schleiertanz ist'?� Und dann folgte eine Erklärung, die nicht zu beschreiben -war. Smoky, rechts unter Carberry, wäre vor Lachen beinahe vom Gerüst gefallen. Al Conroy und Stenmark blickten sich nur stumm an. Und nach einer Weile sagte Al Conroy: �Den schaffst du auch nicht, wenn du ihn zehnmal totschlägst. Der ist unsterblich, Sten.� �Das befürchte ich auch�, sagte Stenmark grinsend.

* Die Sonne versank als glühender Ball an der westlichen Kimm. Ihre letzten Strahlen flimmerten über das Wasser und tauchten die Stadt in ein seltsames Rot, das allmählich verlosch. Es wurde dunkel in den Straßen und Gassen, zuerst im unteren Stadtteil, dann oben. Da und dort flammten die ersten Öllichter auf. Um diese Zeit erreichten Hasard, Big Old Shane und Dan O'Flynn den Marktplatz und blieben im Schatten einer Tornische stehen. Eine Gestalt in einem weißen Burnus schlenderte heran und gesellte sich zu ihnen. Sam Roskill. Leise erstattete er Bericht. �Heute wird wieder eine Vorstellung gegeben, Sir. Sie ziehen also noch nicht ab. Einen der beiden Jungen habe ich gesehen.

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Er holte heute mittag Wein aus der Schenke dort drüben.� Er wies mit dem Arm auf die schräg gegenüberliegende Seite des Marktplatzes. Dan O'Flynn nickte. �Ja, das ist die Schenke, in der wir waren.� �Weiter�, drängte Hasard. �Der Junge, Sam, wie sah er aus?� Sam Roskill blickte Hasard lächelnd an. �Wie Philip Hasard Killigrew als etwa siebenjähriger Junge, Sir�, erwiderte er. Hasard atmete erleichtert auf, dann lächelte er auch. �Aus der Zeit kennst du mich doch gar nicht, Sam.� �Ich kann mir's aber vorstellen.� �Danke, Sam. War sonst irgendetwas?� �Nein. Ich bin herumgeschlendert. Die Gaukler wohnen tatsächlich in dem Teil des Zeltes, der wohl hinter der Bühne liegt. Einer, ein Liliputaner mit dem Gesicht eines Blöden, wohnt in einem der Wagen. Dann habe ich noch einen Monstermann gesehen, einen Kerl wie ein Muskelgebirge, mit einem Zopf auf dem sonst kahlen Schädel � fürchterlich.� �Baobab�, sagte Dan O'Flynn, �der Kraftmensch, der Eisen verbiegt und den Ed flachgelegt hat. Und Fatima, die Schleiertänzerin, hat die sich auch gezeigt, Sam?� Sam Roskill grinste. �Leider nicht.� Sie spähten hinüber zu dem Zelteingang. Die ersten Schaulustigen stellten sich ein. �Es geht los.� In Hasard kribbelte die Ungeduld. �Wir müssen auch hin, sonst kriegen wir keinen Platz mehr.� �Wir haben noch Zeit�, sagte Dan O'Flynn gelassen. �Erst tritt Fatima vor dem Zelteingang auf und wackelt mit dem Bauch. Und dann ist immer noch Zeit.� Sie warteten und beobachteten das Zelt. Plötzlich blickte Dan O'Flynn zu Hasard hoch. �Mir ist eben etwas eingefallen�, sagte er unruhig. �Was?� �Als wir gestern das Zelt betraten, Ed voran, um zu bezahlen, wurde er von Kaliban, der das Eintrittsgeld kassiert, angesprochen. Der Kerl spricht etwas spanisch, ich konnte mithören. Ed gab sich

auf eine Frage Kalibans, ob er Spanier sei, als Ire aus � wie du es angeordnet hattest. Konnten wir wissen, was dann folgen würde? Aber weiter, Kaliban hat uns alle vier gemustert. Ich stand direkt hinter Ed. Und später war ich derjenige, der versuchte, einen der Jungen in der Schenke festzuhalten. Kaliban hat das bestimmt von dem Jungen oder von einem der Schankgäste, die wir verprügelt haben, erfahren. Das bedeutet, daß ich mich nicht mehr zeigen darf. Wenn ich wieder auftauche, könnte Kaliban mißtrauisch werden - und dann ist alles gefährdet. Verstehst du, Hasard?� �Verdammt, da hast du allerdings recht.� Hasard biß die Zähne zusammen. Er faßte einen kurzen Entschluß. �Gut, daß du daran gedacht hast, Dan. Sam und ich werden allein ins Zelt gehen. Uns kennt er nicht. Und wir werden uns nicht als Iren ausgeben, sondern als Spanier.� �Und ich?� fragte Big Old. Shane. Hasard schaute den Riesen an. Er schüttelte den Kopf. �Du bist zu auffällig, Old Shane�, sagte er. �Einen Spanier oder Portugiesen nimmt dir keiner ab. Und wir dürfen jetzt nicht mehr das geringste Risiko eingehen. Es ist schon schlimm genug, daß die Kerle nur nach Iren zu forschen brauchen, und zwar natürlich im Hafen. Sie können sich an den fünf Fingern abzählen, daß Ed, Dan, Al und Sten zu einem Schiff gehören müssen, das unten im Hafen von Tanger liegt. Daß sie wie Seeleute aussehen, läßt sich nicht verleugnen. Und daß sie zuschlagen können, haben sie in der Schenke gezeigt.� �Das walte der heilige Patrick�, murmelte Dan O'Flynn, �du hättest Ed mal sehen sollen, der war wieder schwer in Form.� Hasard seufzte. �Leider - und auf der Bühne der Gaukler hat er sich ebenfalls vorgestellt. Also, aus allen diesen Gründen halte ich es für besser, wenn du, Old Shane, bei Dan bleibst. Du bist doch nicht böse?� �Aber nein. Du hast völlig recht. Es geht um die Jungen. nur das zählt. Sam und du, ihr beide fallt weniger auf.� Er spähte hinüber zu der Schenke. �Dort rechts von

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dem Ein- gang zur Schenke ist ebenfalls eine dunkle Tornische, soweit ich erkennen kann. Dan und ich werden dort auf euch warten. Wenn sich das Spiel von gestern wiederholt, wird einer der beiden Jungen nach der Vorstellung auftauchen, um Wein zu kaufen. Da könnten wir ihn uns schnappen, wenn er die Schenke wieder verläßt, in die Nische zerren und seine Schulter untersuchen. Was hältst du von diesem Plan?� �Großartig.� In Hasards Augen trat jenes Funkeln, das eine weitere Idee verriet. �Hat er das Zeichen nicht, lassen wir ihn laufen und verschwinden. Hat er es, werden Dan und Sam ihn schnell und unauffällig hinunter zur �Isabella' bringen. Wenn sich alles so abwickelt, wie ich es mir vorstelle, müßte dann Folgendes passieren: der eine Junge kehrt nicht zu den Gauklern zurück - also wird der andere geschickt, um ihn zu suchen. Das wäre die Chance für Old Shane und mich, ihn ebenfalls zu packen und zum Hafen hinunterzubringen.� Big Old Shane nickte. �Das könnte klappen, mit dem einen Haken, daß nicht der Bruder geschickt wird. um den Vermißten zu holen, sondern einer der Gaukler. Was dann?� �Das darf eben nicht sein�, sagte Hasard verbissen. Big Old Shane grinste. �Das war die mieseste Antwort, die ich je von dir gehört habe, Sir. Du hast doch sonst für jeden Topf einen Deckel und baust auch für den Eventualfall vor.� �Ja�, knurrte Hasard, �aber mir fällt nichts ein, verdammt und zugenäht, ich bin auch kein Übermensch. Ich will meine Jungens haben, und wenn ich dieses Zelt in die Luft sprengen müßte.� �Wir haben vergessen, ein Pulverfaß mitzunehmen�, sagte Big Old Shane trocken. Hasard fluchte verhalten. �Dann laßt ihr euch doch mal was einfallen.� Aber ihnen fiel nichts ein - es sei denn Dan O'Flynns verrückte Idee, Hasard und Big Old Shane müßten dann eben zu den

Gauklern vordringen und den anderen Jungen gewaltsam holen. Das war wirklich Wahnwitz, zumal Hasard stets betont hatte, sie dürften nicht das geringste Risiko eingehen, aber jetzt war er sogar selbst bereit, dann alles auf eine Karte zu setzen. Wenn er die Jungen einmal an Bord hatte, würde er sie nie wieder hergeben - oder nur über seine Leiche. Zuviel war in ihm aufgebrochen, seit Dan in der Nacht Bericht erstattet hatte. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt - wenn es wirklich seine Söhne waren. Zuerst hatte er wirklich an einen üblen Scherz Dan O'Flynns gedacht und sich dazu hinreißen lassen, gegen ihn den Degen zu ziehen. Dans Vorwürfe hatten ihn zutiefst verletzt. Aber er hatte auch gespürt, wie tiefernst es Dan meinte. So waren allmählich seine Zweifel geschwunden. Noch hatte er keinen der Jungen gesehen, aber er glaubte fest daran, daß es Hasard und Philip waren. Sie mußten es sein. Dan O'Flynns Stimme unterbrach seine Gedanken. �Jetzt könntet ihr gehen, Hasard!�

* Kaliban kassierte wieder das Eintrittsgeld und verbeugte sich vor jedem, den er einließ. Und neben ihm stand der fürchterliche, halbnackte Muskelkoloß mit dem Zopf auf dem kahlen Schädel. Hasard musterte ihn verstohlen. Dieser Kerl war tückisch und gefährlich - ein nicht zu unterschätzender Gegner, wenn es um die rohe Kraft ging. Der konnte einem glatt mit ein paar Griffen sämtliche Knochen brechen - oder mit einem Griff das Genick umdrehen, wenn man ihn zu nahe an sich heranließ. Und Kaliban, der große Zauberer? Auch ihn musterte Hasard. Er hätte nicht behaupten können, daß ihm dessen Habichtgesicht mit dem Ziegenbart besonders gefiel. Dieser Mann war verschlagen, und er war intelligent. Er schien die Gabe zu haben, Menschen durch Gesichtsmimik und ständiges Reden zu

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fesseln, während seine Hände wie züngelnde Schlangen hierhin und dorthin fuhren. Es waren schmale Hände mit langen Fingern, geschickte Hände, wie Hasard feststellte. Denn dieser Kaliban klaute einem dicklichen Turbanmann, der gerade eine Münze zahlte, aus dem Kaftan zwei weitere Münzen, ohne daß der Dicke es merkte - niemand bemerkte es, außer Hasard, und er bemerkte es auch nur, weil er in diesem Moment. auf Kalibans Hände geachtet. hatte. Soso, dachte Hasard, er scheint den Hals nicht voll genug kriegen zu können. Und als Leibwächter - falls jemand bemerkte, daß er beklaut wurde - stand dieser fürchterliche Kraftmensch neben ihm. Da würde kaum einer mucken, wenn er Kalibans Finger in seinen Taschen spürte. Kaliban verbeugte sich vor dem Dicken und ließ ihn in das Zelt. Noch vier Leute waren vor Hasard und Sam Roskill. Sie hatten beschlossen, so zu tun, als gehörten sie nicht zusammen. Und dann stand Hasard vor dem ziegenbärtigen Mann, der verblüfft zu ihm hoch starrte und etwas in einer Hasard unverständlichen Sprache herunterhaspelte. Hasard zuckte mit den Schultern und sagte: �Ich bin Spanier, Senor, und verstehe Sie nicht.� �Ah, Spanier? Gut, gut. Und so groß! Sie Kapitän?� �Nein, Kaufmann.� Die schwarzen Augen Kalibans drückten Verwunderung aus. Dieses Mal hielt er die Hände still. �Ah, Kaufmann�, sagte Kaliban, �spanisch. Gesicht von Senor bekannt von irgendwo. Von Türkei vielleicht? Ich Türke.� Nein, er kannte Hasard nicht. keinesfalls. Aber dieses ziegenbärtige Schlitzohr hatte etwas anderes erkannt., wußte aber nicht, es einzuordnen - seine, Hasards, Ähnlichkeit mit den beiden Jungen! Das war es, darum stierte ihn der Kerl so an. Kühl sagte Hasard: �Sie irren wohl, Senor, ich jedenfalls habe Sie noch nie gesehen:�

Offenbar verwirrte diese Antwort den großen Zauberer. �Sie Spanien, woher?� �Barcelona. Fragen Sie jeden, wo er herkommt, Senor?� Nicht jeden, nur interessante Mensch wie Sie, große Mensch, schöne Mensch, sehr gut. Mensch für Kaliban interessant, ich Zauberer.� Zum ersten Male kicherte er - das hatte Dan auch berichtet. �Das dort Baobab!� Er zeigte auf den Muskelkoloß. �Hat Kraft von zehn Ochsen. Stärkste Mensch der Welt. Gut?� �Sehr gut.� Hasard nickte. �Sie auch stark.� �Es geht.� �Sie mit Baobab Kraft, messen. Viel Spaß für Leute. Sie gewinnen, Kaliban Ihnen Geld zurückgeben für Eintritt. Gut?� ' Hasard schüttelte den Kopf. �Nicht gut. Baobab ist stärker als ich.� �Kein Geschäft mit Kaliban?� �Nein.� �Schade.� Der große Zauberer seufzte. �Jetzt zahlen, du Gold für Kaliban und armes, fahrendes Gauklervolk?� Hasard gab ihm eine Goldmünze. Kaliban kicherte, biß auf die Münze und ließ sie in seinem Umhang verschwinden - mit der Linken. Die rechte Hand war in Hasards Tasche gehuscht, dorthin, von wo er die Münze herausgeholt hatte. Hasards Rechte zuckte nach unten und umklammerte mit stahlhartem Griff Kalibans Handknöchel. Kaliban wurde bleich. �Das lassen wir besser bleiben, großer Zauberer�, sagte Hasard leise, aber scharf. Er warf einen schnellen. Blick zu Baobab, aber der glotzte zur Zeit stur zum Zelteingang. Hasard gab den Handknöchel wieder frei. �Entschuldigung�, murmelte der große Zauberer verwirrt und massierte sich das Handgelenk. Hasard ging an ihm vorbei in das Zelt, Sam Roskill rückte auf, bezahlte mit zwei Silbermünzen und durfte passieren. Er hatte alles beobachtet. Kaliban war so aus dem Konzept, daß er vergaß, Sam anzusprechen. Vielleicht hielt er ihn aber auch für einen Einheimischen.

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Hasard fand einen Platz in den vorderen Bänken. Sam Roskill setzte sich genau hinter ihn. Eine halbe Stunde später begann die Vorstellung und lief so ab, wie Dan O'Flynn es geschildert hatte. Hasard schaute zu, aber seine Gedanken waren bei den Jungen. Jede Minute, die verging, brachte ihn näher an das Wiedersehen. Er hatte verdammte Mühe, seine Ungeduld zu beherrschen. Und überrascht stellte er fest, daß sein Herz klopfte. Wie mochten sie jetzt wirklich aussehen, diese beiden? Damals, vor sieben Jahren, waren sie winzige Bündel mit Babygesichtern gewesen, Gesichtern. an die er sich nicht mehr erinnern konnte, so sehr er sich auch bemühte. Ja. jetzt waren sie sieben Jahre alt. Sieben lange Jahre waren sie unter Verhältnissen aufgewachsen. die er nicht kannte, von denen er nichts wußte. Wie waren sie behandelt worden? Was hatten sie erlebt? Hatte sie jemand lieb gewonnen und ihnen den Vater oder die Mutter ersetzt? Was war ihnen gesagt worden, woher sie stammten? Eines Tages, bald, würden sie sich unterhalten können, Vater und Söhne. Dann würden sie ihm berichten, was in ihrer Erinnerung geblieben war. Er würde etwas über die zurückliegenden Jahre erfahren � Jahre, die ein böses Schicksal dem Vater und den beiden Jungen geraubt hatte. Es wird alles gut werden, dachte Hasard. Das Schicksal war nicht nur böse, es war auch gut. Da war er um die ganze Welt gesegelt, weit, weit entfernt von den Jungen, die er tot geglaubt hatte, und hier, am 31. März 1587. in der Hafenstadt Tanger, im Zelt von Gauklern, sollte er sie wiedersehen. Zufall? Fügung? Schicksal?

* Hasard glaubte, ersticken zu müssen. Er wollte aufstehen und schreien. Er wollte

auf die Bühne stürmen und den Jungen an sich reißen. Eine nervige Hand auf seiner rechten Schulter drückte ihn nach unten. Verdammt, was sollte das? Wer hielt ihn da fest? Ah. Sam, danke, Sam! Du hast recht, ich muß mich zusammennehmen. Dieser Kaliban schaut schon zu mir herunter. Nein, er kann mich ja gar nicht sehen, der Mann vor mir mit dem riesigen Turban verdeckt mich. Der Junge! Der Junge lächelte über die Menge hinweg, ein amüsiertes, wissendes Lächeln. Sicher, diese Menschen, die zu ihm und dem Zauberer mit dem spitzen Hut hoch starrten, wollten betrogen werden. Sie wollten glauben, daß dieser Kaliban übernatürliche Kräfte hatte, ein Magier, ein Hexenmeister. Aber der Junge kannte den billigen Trick. Warum gab er sich dafür her? Nicht nur er, auch sein Bruder, sein Zwillingsbruder. Angst stieg in Hasard auf. Waren die Jungen verdorben worden? Sie arbeiteten für einen Betrüger, für einen Mann, der sogar anderen Leuten in die Taschen griff. Hatte dieser Lumpenhund ihnen das auch beigebracht? Mußten sie für ihn stehlen? Grimm erfüllte Hasard. Und Kaliban redete und redete. Gestenreich deutete er auf sich, dann auf den Jungen, nach links und nach rechts. Und der Junge lächelte. Schlank war er, schlank und straff und drahtig. Hasards Augen verschlangen den Jungen. Hasard oder Philip? Einer von beiden mußte es sein. Hasard wußte es. Woher? Er wußte es einfach. Aber dann fiel es ihm ein, und ein heißer Blutstoß pulste durch seine Adern. Dort oben war das Gesicht von Gwen, von Gwendolyn Bernice Killigrew, seiner Frau, die in einer Sturmnacht vor Plymouth ertrunken war, als sie versucht hatte, den Häschern zu entkommen. Aber sie lebte � sie lebte in ihren beiden Jungen. Niemand starb endgültig. Er gab sich nur weiter an seine Kinder.

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Hasard und Philip � Gwens Vermächtnis. Was wollte Kaliban? Brachte er heute abend einen anderen Trick? Ja, so mußte es sein. Dieses Mal griff Kaliban kein großes Tuch aus der Luft, nein, er hantierte mit dem Zauberstab, beschrieb mit ihm Kreise und magische Zeichen. murmelte unverständliches Zeug, hüpfte plötzlich weg wie ein Geißbock, wieder zurück, näherte sich dem Jungen, umschlich ihn wie eine Katze, stellte sich hinter ihn, hob mit großer Geste den Zauberstab und berührte mit ihm die rechte Schulter des Jungen. Aus dem Stand schnellte der Junge zu einem Salto hoch, setzte wieder auf und federte mit einem riesigen Hechtsprung zur linken Bühnenseite. Weg war er! Nur der seitliche Vorhang bewegte sich noch etwas. Knapp eine Sekunde später tauchte er von der rechten Bühnenseite im langgestreckten Hechtsprung wieder auf, landete, vollführte einen wirbelnden Salto � und stand genau an der Stelle, von wo er gestartet war. Lächelnd verbeugte er sich. Ein orkanartiger Beifall brach los. Die Leute waren aufgesprungen und brüllten. lind Hasard brüllte mit. Langsam glitt der Vorhang zu und verbarg den Jungen und den grinsenden Kaliban. Warte, du. krummer Hund, dachte Hasard, das Grinsen wird dir schon bald vergehen!

7. �Na?� fragte Dan O'Flynn gespannt. �Sie sind es�, sagte Hasard. �Sie müssen es sein.� Die vier Männer standen im Schatten der Tornische, die sie völlig verbarg. Knapp zwei Schritte entfernt führten die Kellerstufen in die Schenke. Der Platz war ideal für einen Überfall auf jemanden, der die Schenke verließ und dessen Augen sich erst auf die Dunkelheit draußen einstellen mußten. �Hat Kaliban den Jungen wieder unter dem Tuch verschwinden lassen?� fragte Dan

O'Flynn. �Bei dem Beifall zuletzt hat das Zelt gewackelt.� �Nein, der Junge flog regelrecht mit einem Salto und Hechtsprung nach links weg und tauchte im selben Moment von rechts wieder auf, ebenfalls wie ein schnellender Fisch und einem abschließenden Salto.� Hasard lächelte. �Sie sind gelenkig, die beiden, Ich konnte das nicht in dem Alter - heute schon gar nicht. Sicher wurden sie darauf gedrillt.� Er wurde wieder ernst. �Etwas anderes bereitet mir Sorgen. Sie wissen, daß sie diesem Kaliban helfen, die Leute zu betrügen. Außerdem betätigt sich der große Zauberer als mieser Taschendieb. Der wollte mir doch glatt Geld aus der Tasche klauen, als ich vor ihm stand.� �Ich hab's gesehen�, sagte Sam Roskill. �Hasard erwischte ihn und hielt sein Handgelenk fest. Dieser Ziegenbart stand ganz schön dumm da - Glück für mich, weil er vergaß, mich anzusprechen.� �Hat der Kraftmensch nichts gemerkt?� fragte Dan. �Der schaute zum Zelteingang�, sagte Hasard. �Mit dem hätte ich mich nicht gern angelegt. Übrigens meinte Kaliban, er kenne mich. Wahrscheinlich entdeckte er in meinem Gesicht Ähnlichkeiten mit den Jungen.� �Hm.� Dan O'Flynn blickte Hasard an. �Du sagtest, du bereitest dir wegen der Jungen Sorgen. Meinst du, der Kerl hat sie zu Taschendieben erzogen?� �Möglich ist alles. Sie sind fix. Warum soll er ihre Fixigkeit nicht für solche Zwecke ausnutzen?� Dan schüttelte den Kopf. �Ich kann das nicht so recht glauben. Gut, an dem Hokuspokus nehmen sie teil; weil sie Spaß daran haben. Deswegen brauchen sie nicht schlecht zu sein. Du sagst, Kaliban betrüge die Leute. So kann man es natürlich sehen. Andererseits sehen die Leute Zauberkunststücke gern. Sie erleben ihrer Meinung nach ein Wunder, auch wenn es eine Täuschung ist. Ich finde das alles nicht so schlimm. Auf mich wirkten die Jungen nicht so, als seien sie irgendwie

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krumm oder verdorben oder so was. Im Gegenteil.� Sie unterhielten sich flüsternd und beobachteten unausgesetzt den rechten Teil des Zeltes, von wo der Junge auftauchen mußte, wenn er zur Schenke ging. Eine Stunde mochte vergangen sein. Hasard wurde immer ungeduldiger. Dann wollte er von Sam Roskill wissen, ob der Junge am Vormittag viel Wein geholt habe, weil die Gaukler dann vielleicht am Abend keinen mehr brauchten. �Nur zwei Krüge�, sagte Sam Roskill, �und die trinkt dieser Urwaldaffe mit dem Zopf auf dem Schädel bestimmt auf einen Zug aus.� �Hoffen wir's�, murmelte Hasard. �Ob ich mal zum Zelt gehe und peile?� �Sir, wo bleibt deine Geduld?� fragte Big Old Shane ruhig. �Ich hab keine mehr.� �Ruhe�, mahnte Big Old Shane. �Was sollen Dan und ich sagen? Wir haben die ganze Zeit hier gewartet und Löcher in die Nacht gestiert, während ihr im Zelt den Gauklern zusehen konntet. He, wie war denn Fatima, die Schleiertänzerin?� �Phantastisch�, sagte Sam Roskill grinsend, �nur daß sie sich zum Schluß von hinten zeigte, aber ihr Popo war auch' sehenswert.� �War er das?� fragte Hasard. �Ich glaube, ich hab gar nicht hingesehen. Soll ich nicht doch mal beim Zelt sondieren?� Big Old Shane legte Hasard die mächtige Hand auf die Schulter. �Hiergeblieben. Hör auf herumzuzappeln. Da muß man seinen Kapitän noch am Kragen festhalten, damit er keine Dummheiten anstellt. Wo gibt's denn so was!� �Still!� zischte Dan O'Flynn und deutete zur rechten Zeltseite. Eine kleine, schmale Gestalt war dort aufgetaucht und lief im Wolfstrab auf die Schenke zu. Sie hörten das Klirren von Tonkrügen. �Einer der beiden Jungen�, wisperte Dan O'Flynn. Sie preßten sich tiefer in die Tornische. Der Junge pfiff leise vor sich hin, erreichte die Schenke und sprang leichtfüßig die

Stufen hinunter. Für einen Augenblick war sein feines, scharfgeschnittenes Gesicht im Schein einer Öllampe zu sehen, dann war es wieder umschattet. Big Old Shane hielt Hasard mit Gewalt zurück. �Wenn du jetzt alles verpatzt, sind wir geschiedene Leute!� zischte er ihm ins Ohr. �Mein Sohn ...� zischte Hasard zurück. Der Junge verschwand unten in der Schenke. Hasard stöhnte. �Mann, ich hüte lieber einen Sack voller Flöhe, als auf dich jetzt auch noch aufzupassen�, flüsterte Big Old Shane grimmig. �Soll ich dich außer Gefecht setzen?� �Schon gut�, wisperte Hasard, �laß mich los, du Idiot!� Big Old Shane schüttelte nur den Kopf. Dann schob er sich an Hasard vorbei an die Ecke der Tornische. Seine breite Gestalt verbaute die Sicht zu den Treppenstufen. Und hinter Big Old Shane glitt Dan O'Flynn. �Sir�, sagte Sam Roskill leise und sehr ruhig, �gleich haben wir es geschafft, nur noch ein paar Minuten.� Hasard preßte die Lippen zusammen. Einige Minuten vergingen. Big Old Shanes breiter Rücken spannte sich. Gleichzeitig tappten leichte Schritte die Stufen hoch. Big Old Shane schnellte vor und wieder zurück. Sein riesiger rechter Arm schwenkte eine zappelnde Gestalt in die Tornische, seine linke Hand legte sich über den Mund des Jungen. Dan O'Flynn packte zu und schnappte sich den Korb mit den Krügen, bevor der zu Boden krachte. Der Junge keuchte unter der Hand und stieß mit den Füßen zu. Dan O'Flynn setzte den Korb ab, hob blitzschnell die Faust und hieb sie dem Jungen an die Schläfe. Der Junge sackte zusammen. Old Shane hielt ihn liebevoll fest. �Hast du ihn verletzt?� fauchte Hasard. �Nur betäubt�, sagte Dan O'Flynn grinsend. �Wenn er deinen Schädel hat,

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hätte ich auch mit 'nem Hammer zuschlagen können.� Hasard knurrte etwas Unverständliches und riß dem Jungen den Burnus von den Schultern. Seine Hand tastete zitternd über den Rücken. Rechts nichts! Hasard keuchte. Links? Was ist links? Und da fand er es, das Zeichen, ganz deutlich spürte er die vernarbten Ränder. �Mein Gott!� Ein Seufzer der Erlösung kam von seinen Lippen. �Es ist Philip, Männer, es ist Philip, mein Sohn Philip, hier ist das Zeichen. hier auf der linken Schulter!� Hasards Finger streichelten das vernarbte Symbol des Haifischs. Ein Schluchzen schüttelte den riesigen Mann. ,.Bringt das Söhnchen zur .Isabella sagte Big Old Shane. und auch in seiner Kehle schien ein Kloß zu stecken, denn er räusperte sich. �Und wenn ihr euch schnappen laßt, dann lernt ihr Old Shane kennen, richtig kennen, und werdet den Tag verfluchen, an dem ihr Kurs auf diese Erde nahmt. Ist das klar?� �Völlig klar�, sagte Dan O'Flynn und warf sich den Jungen über die Schulter. �Seht ihr nur zu, daß ihr auch Hasard erwischt. Könnte sonst sein, daß ihr auch einen neuen Donegal Daniel O'Flynn kennenlernt!� �Verschwinde, du Hüpfer�, sagte Big Old Shane. Dan O'Flynn lachte unbekümmert und huschte, den Jungen über der Schulter, zusammen mit Sam Roskill aus der Tornische. Sekunden später hatte sie die Dunkelheit verschluckt. Big Old Shane beugte sich zu dem Korb, nahm einen Krug heraus, gab ihn Hasard, holte noch einen herauf, grinste Hasard an und sagte: �Prost, Vater Hasard!� Hasard grinste zurück, sein Gesicht wirkte entspannt. �Guter, alter Shane�, sagte er nur. Und dann tranken sie den Wein der Gaukler, und Hasard fand, noch nie einen besseren Wein getrunken zu haben. Etwas von der unerschütterlichen Ruhe Big Old Shanes ging auf Hasard über. Wie

selbstlos war dieser graubärtige, grauhaarige Riese. Damals auf Arwenack hatte er ihm, dem jungen Killigrew, den Vater ersetzt, denn Sir John, der Stiefvater, war kein Vater gewesen. Aber würde er selbst, Hasard, ein guter Vater sein? Plötzlich war ihm eine Rolle übertragen worden, an die er nicht mehr gedacht hatte. Für das Wohl seiner Männer hatte er gesorgt. Das war seine bisherige Verantwortung gewesen. Jetzt war ihm eine neue Verantwortung erwachsen -für die eigenen Söhne. In seine Gedanken hinein sagte Big Old Shane: �Wie lautete die erste Weisheit, die du von mir lerntest, als du noch eine Rotznase warst und der Wind von Cornwall dir um die Ohren pfiff?� Lächelnd erwiderte Hasard: �Wer gegen den Wind pißt, kriegt nasse Hosen!� �Richtig, und das war auch symbolisch gemeint.� �Ich weiß, Shane�, sagte Hasard leise. �Habe ich dir schon einmal gedankt - für damals?� �Du bist einer der besten Kapitäne geworden�, sagte Big Old Shane ruhig, �das ist Dank genug.�

* Eine knappe halbe Stunde war verstrichen, da tauchte Hasard auf, die Nummer eins der Zwillinge, der Erstgeborene. Sichernd und mißtrauisch wie ein junger Wolf schlich er über den Marktplatz, als ahne er, daß mit seinem Bruder etwas passiert sein mußte. In den Schatten verhielt er. Wo helle Lichtbahnen aus den Häusern auf den Platz fielen, huschte er hindurch, als sei er ein Geist. �Mein lieber Mann�, wisperte Big Old Shane an Hasards Ohr, �der paßt aber auf.� Und dann war der Junge heran, völlig lautlos. Auf den obersten Treppenstufen blieb er lauschend stehen und starrte hinunter zum Eingang der Schenke. Er drehte den Kopf nach links und nach rechts. Auch zu der Tornische sah er hin.

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Er schien zu zögern, aber dann huschte er die Stufen hinunter. Nur ganz kurz verschwand er in der Schenke, etwa fünf, sechs Atemzüge lang, und schon tauchte er genauso lautlos, wie er gekommen war, oben wieder auf. Da schnellte Hasard aus der Tornische. Der Junge reagierte wie ein Blitz. Seine Rechte zuckte hoch und knallte punktgenau auf Hasards Kinn. Ein schöner Hieb! Um Hasard explodierten ein paar Sternchen. Und schon folgte ein Tritt gegen das Schienbein. Hasard stand da wie gelähmt. Das fing ja gut an. Viel zu spät griff er nach dem Jungen. Der huschte geduckt unter seiner zupackenden Hand durch und wetzte los wie ein Wiesel. Big Old Shane startete und raste hinter ihm her. Hasard folgte ihnen fluchend und humpelnd. Der Junge hetzte im Zickzack über den Marktplatz. Unwillkürlich mußte Hasard an einen hakenschlagenden Hasen denken. Den kriegte Big Old Shane nie im Leben ein! Hasard hätte heulen können. Aber dumm war Old Shane auch nicht. Vielleicht ahnte er auch einen Haken des Jungen voraus, denn er behielt die Richtung bei, kürzte damit den eigenen Weg ab. und schon hatte er den Jungen am Kragen. Der tobte wie eine Wildkatze in. Old Shanes Armen, aber er schrie nicht, nein, er kämpfte schweigend, verbissen, und Big Old Shane wurde um einige Bartbüschel erleichtert. Fast liebevoll versetzte ihm Old Shane den Jagdhieb. Hasard humpelte heran. �Gib ihn mir, Shane�, sagte er. Shane nickte und überreichte Hasard Sohn Nummer eins. Hasard legte ihn sich über die Schulter. �Uh!� sagte eine dumpfe Stimme hinter Big Old Shane. Baobab, der Zopfmann, war auf dem Plan erschienen. Big Old Shane wirbelte herum, nahm Maß und feuerte von rechts unten einen

krachenden Haken an das Kinn des Muskelmannes. Der mußte dort eine weiche Stelle haben � oder nicht hart im Nehmen sein. Er fiel in sich zusammen wie ein entleerter Rübensack. �Weg!� zischte Old Shane. Hasard vergaß die Schmerzen im Schienbein und lief los. Sekunden später erreichten sie die Gasse, die hinunter zum Hafen führte. Jetzt waren sie außer Sicht des Marktplatzes. Hinter ihnen blieb alles still. Es war geschafft. Ein paar Burnusträger begegneten ihnen, aber niemand schien sich um den großen Mann zu kümmern, der eine Art Bündel über der Schulter trug. Hasard mied die Lichtbahnen. So gelangten sie zum Hafen, ohne da ß ein Zwischenfall passierte. Sie erreichten die �Isabella�- � und da empfing sie der grinsende Carberry, der unten am Schiff auf sie gewartet hatte. �Alles klar, Sir?� fragte er. �Alles klar, Ed. Sind Dan und Sam mit dem Söhnchen heil gelandet?� �Natürlich. Wir haben Philip in die Leerkammer im Achterkastell gebracht. Richtig?� �Richtig, Ed.� Sie enterten auf. Die ganze Mannschaft war auf der Kuhl versammelt. Die Männer grinsten, als sei Weihnachten und Rumausgabe. Und Rum gab's auch, das hatte Ben Brighton bereits angeordnet. Und Will Thorne saß schon an der Arbeit, um für die Jungen Segeltuchhosen und feste Hemden zu nähen. �Die können doch nicht mehr wie die Kameltreiber herumlaufen�, erklärte Carberry. Hasard lächelte und brachte seinen Sohn Nummer eins nach achtern in die Kammer, in der Sohn Nummer zwei in der einen Koje lag, bewacht von Dan O'Flynn, der ziemlich besorgt aussah. �He, was ist los, Dan?� fragte Hasard. �Ich hab ihm noch ein Ding verpassen müssen�, sagte Dan. �Er wollte auskneifen.� Hasard seufzte. Ihm schwante einiges.

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Er bettete Sohn Nummer eins in der anderen Koje, zog ihm die Schuhe aus � Sandalen � und deckte ihn zu. Zum ersten Male deckte er einen seiner beiden Söhne zu. Old O'Flynn erschien im Schott der Kammer und linste neugierig herein. �Ganz meine Gwen�, sagte er stolz und begutachtete zuerst Philip, dann Hasard. Der Vater war Luft für ihn. Dan O'Flynn und Hasard zwinkerten sich zu. �Wer ist denn nun Hasard und wer Philip?� fragte Old O'Flynn. �Hier in dieser Koje liegt Hasard und dort bei Dan liegt Philip�, erwiderte der Seewolf. �Aha.� Old O'Flynn humpelte in die Kammer und beugte sich über Philip. �Kille-kille!� sagte er und krabbelte Sohn Nummer zwei unter dem Kinn. Sohn Nummer zwei öffnete blitzschnell die Augen und biß zu. �Autsch!� brüllte Old O'Flynn, fuhr zurück und schlenkerte den Finger. Blut tropfte auf die Kammerplanken. �Was ist denn das für ein Satansbraten?� �Ganz deine Gwen, nicht wahr, Dad?� sagte Dan und grinste. �Gwen hat mich nie gebissen�, sagte der Alte entrüstet. �Ich sollte diesem verdammten Bengel den Hintern versohlen. Fast wäre mein Finger hin gewesen.� �Hör zu, Donegal�, sagte Hasard, �deine beiden Enkel sind keine Babies mehr, die man mit ,Kille-kille' am Hals kitzelt. Ich an Philips Stelle hätte auch zugebissen, damit das klar ist. Und wenn du meinst, ihn deswegen vermöbeln zu müssen, kriegst du es mit mir zu tun, damit das auch klar ist, verstanden?� �Eine Erziehung ist das�, murmelte der Alte, lutschte auf seinem Finger, schüttelte den Kopf und humpelte aus der Kammer. �Dan�, sagte Hasard, �Philip hat den Bewußtlosen nur markiert.� �Das ist mir eben auch klar geworden.� �Wir müssen sie bewachen.� �Genau.� Hasard seufzte. �Ob wir sie fesseln müssen?�

Dan wiegte den Kopf. �Ich weiß nicht so recht, dann werden sie vielleicht noch rebellischer.� ..Meinst du?� �Bestimmt.� Dan nickte. �Würdest du dir das gefallen lassen?� �Nein ...� �Paß auf!� schrie Dan O'Flynn. Sohn Nummer eins, Hasard, war aber schon hoch wie ein Kastenteufelchen. Sein Kopf rammte Hasard, der an seiner Koje saß, gegen die Brust. und der Seewolf rutschte von der Kojenkante. Und schon hatte es Dan O'Flynn auch mit Philip zu tun. Der war Sekunden nach seinem Bruder ebenfalls hoch, verpaßte Dan eine Ohrfeige und fegte von der Koje. Und beide, Sohn Nummer eins und Sohn Nummer zwei, wischten durchs Schott, als hätten sie eine solche Flucht jahrelang trainiert. Im Gang draußen prallten sie allerdings auf den eisernen Carberry. Der griff einmal nach links und einmal nach rechts, erwischte sie an den Kapuzen, schlenkerte sie ordentlich und brachte sie wie zwei abgeschossene Hasen zurück in die Kammer. Hasard saß auf der einen Koje und rieb sich die Brust. und Dan saß auf der anderen und betastete seine Wange. �Ist was?� fragte der Profos grinsend. �Nein�. sagte Hasard gequält, �meine Söhne wollten nur mal 'raus.� �Doch nicht aufs Töpfchen?� sagte Carberry. Er schaute nach links, er schaute nach rechts. Die beiden zappelten in seinem Griff. �Oder doch, ihr kleinen Rübenschweinchen, was, wie?� Und er beutelte sie ein bißchen. Sohn Nummer eins sagte etwas, und es klang wie ein Fluch. Und Sohn Nummer zwei sagte etwas, das klang genauso. �Wenn ich das richtig deute�, meinte Ed Carberry, �dann sagten die Söhnchen soeben, sie müßten nicht aufs Töpfchen und ich könnte sie mal.� �Ed�, sagte Hasard, �was soll ich tun? Ich kann sie doch nicht in die Vorpiek einsperren, verdammt.�

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�Ja, Sir, das ist ein Problem.� Der Profos legte die Stirn in Falten. �Wir könnten sie ja hier in dieser Kammer einsperren. Die eine Luke dort wird verschalkt. Das besorgt Ferris. Und vor dem Schott hier lassen wir einen von unseren Affenärschen als Posten aufziehen, zusätzlich.� �Scheiße�, sagte Hasard, und diesen Ausdruck benutzte er selten. �Da hast du genau recht�, sagte Ed Carberry, drehte den Kopf etwas und brüllte über die Schulter: �Smoky!� Smoky erschien. Carberry sagte: ,.Stell einen Wachplan auf, du Salzhering. Heute nacht wird vor diesem Schott Wache gegangen, je Posten drei Stunden, klar'?� �Klar�, sagte Smoky. Carberry setzte die beiden Jungen ab, funkelte sie an und sagte grollend: �Marsch in die Heia. ihr kleinen Hüpfer. Und wer nicht pariert, wird kielgeholt. verstanden, was, wie?� Sohn Nummer eins und Sohn Nummer zwei verständigten sich mit einem stummen Blick und stiegen zurück in ihre Kojen. �Das ist nur ein Burgfrieden�, sagte Hasard mißtrauisch. �Glaube ich auch�, meinte Dan O'Flynn. Ed Carberry zog eine Flasche aus seiner Tasche, reichte sie seinem Kapitän und sagte: �Auf die beiden Söhnchen, Sir.�

Hasard dankte und trank. Dann trank Ed Carberry, dann Dan O'Flynn. Carberry nahm die Flasche wieder entgegen und reichte sie Sohn Nummer eins. Der roch daran � und trank. Und Sohn Nummer zwei trank auch. Hasard und Dan O'Flynn waren starr vor Staunen. �Ja�, sagte Ed Carberry grinsend, �daran merkt man, daß sie kleine Seewölfchen sind, was, wie?� �Seewölfchen?� fragte Dan O'Flynn erbittert. �Das sind Wildkatzen.� �Das ist ungefähr das gleiche�, erklärte Ed Carberry. �Für beide ist Rum gut.� �Ed, bring ihnen ja nicht das Saufen bei�, sagte Hasard. �Brauch ich nicht�, sagte Ed Carberry ungerührt, � das können sie schon.� �O heiliger Patrick�, murmelte Dan O'Flynn, �wie soll das nur weitergehen?� Sie verließen die Kammer, nachdem sie das Talglicht gelöscht hatten. Hasard schaute noch einmal zu seinen beiden Söhnen, das Licht vom Gang her reichte aus. Es schien, als grinsten ihn die beiden an. Na, Angst hatten sie nicht...

E N D E