Transcript
Page 1: 67,/ .XQVWPHVVHQ (QWGHFNXQJLQ0DDVWULFKW … · * 57(1. 11(1 0$&+7)$17$6,(1 81'32/,7,6&+(,'((19 (5. 53(51 $ 1'5($:8/) ghxwvfkh% hvwhoohudxwrulql q/rqg rq ' jf&ohmÊoefslÚoofotjditfju+bi

GÄRTEN KÖNNEN

MACHTFANTASIEN

UND POLITISCHE

IDEEN VERKÖRPERN

ANDREA WULF,deutsche Bestellerautorin in London

,,D

ie Engländer können sich seit Jah-ren auf wenig einigen. Aber ihreLeidenschaft für Knollen, Un-krautbeseitigung, gewagte Farb-spiele und Pflanzenkompositio-

nen hat unter der Brexit-Debatte nicht gelitten.Gut möglich, dass zerstrittene Familien sich amehesten auf hortikultureller Ebene verständigenkönnen. Gardening ist in England das, was fürFranzosen das Kochen ist: eine Kulturtechnikund Frage der nationalen Identität. Neuigkeitenaus den mehr als 60 botanischen Gärten des Kö-nigreichs oder aus Hunderten von Schlossgärtensind News von nationalem Interesse, das „Gar-deners’ World Magazine“ der BBC ist seit über50 Jahren so populär ist wie hier der „Tatort“.

VON HUBERTA VON VOSS

Woher kommt diese Leidenschaft? Eine, die eswissen muss, ist die Wahl-Britin Andrea Wulf. ZumGespräch erscheint sie – eher hamburgisch – in en-ger schwarzer Hose, schwarzem Pulli und schwar-zen Converse-Sneakers im Schriftstellerklub „TheAcademy“, der wie eine kleine, schöngeistige Inselmitten im Londoner Stadtteil Soho liegt. Umgebenvon holzvertäfelten Wänden und Stichen aus dem18. Jahrhundert lässt sich hier gut über die tiefereBedeutung angestammter Kulturtechniken räso-nieren. Denn lange bevor die Humboldt-Expertinin Deutschland auf die Bestsellerlisten kam,schrieb sie erfolgreich über Britanniens Gärten.

WELT: Frau Wulf, Sie haben für Ihre Recher-chen die halbe Welt bereist, leben aber seitdem Studium in London. Warum reden dieMenschen hier sogar im Pub über Gärten?

ANDREA WULF: Als ich Mitte der 90er-Jahrenach London zog, traf ich auf eine Nation, dienahezu besessen vom Gärtnern ist. Meine neuenFreunde schienen ganz wild darauf zu sein, amWochenende herrschaftliche Anwesen zu besu-chen. Noch populärer ist es, im eigenen Gartenzu buddeln und Unkraut zu zupfen. Selbst aufPartys musste ich stundenlangen Schwärmerei-en über Pflanzen oder Bekenntnissen von gärt-nerischen Desastern lauschen. Von Leuten, diedamals Mitte 20 waren! In Hamburg, wo ich auf-gewachsen bin, wäre das undenkbar gewesen.Die nationale Leidenschaft geht so tief, dass dieRoyal Horticultural Society (RHS) einen neuenBegriff einführte: plant bereavement, also Trauerum Pflanzen. Es scheint, dass Gärtner beim Ver-lust einer Pflanze durch dieselben Phasen desTrauerns gehen wie diejenigen, die einen Ver-wandten oder Freund verlieren: Schock, Leug-nung, Wut, Depression, Akzeptanz. Deswegenkann man unter der Notruflinie der RHS nichtnur praktische Gartentipps bekommen, sondernsich auch ausheulen, wenn ein Lieblingsbaumvon Schädlingen zu Fall gebracht wurde.

Seit dem 18. Jahrhundert gehört es zum gutenTon, die schönsten Gärten auf der Grand Gar-den Tour zu bereisen. Welche Gärten darfman dabei nicht verpassen?Es gibt so viele fantastische Gärten in diesemLand. Ganz oben steht bei mir Studley Royal inNorth Yorkshire, weil hier ein formeller Wasser-garten aus dem frühen 18. Jahrhundert mit einermalerischen, natürlich wirkenden Landschafts-gestaltung kombiniert wurde, wie es Ende des 18.Jahrhunderts die Mode war. Das Ganze wirddann noch gekrönt von einer echten Ruine, einer

Zisterzienserabtei aus dem 12. Jahrhundert. Ichliebe auch Rousham in Oxfordshire, eine wun-derschöne, etwas kleinere Anlage, sowie den glo-riosen Chelsea Physic Garden in London. Erstammt aus dem 17. Jahrhundert und zeugt vonder englischen Pflanzensammelleidenschaft. Esist eine Oase mitten im Zentrum der Stadt. DieVielfalt der Gärten in England ist immens – vonformellen Gärten aus dem elisabethanischenZeitalter wie Kenilworth Castle über weitläufigeLandschaftsgärten wie Stowe hin zu den Garten-räumen in Sissinghurst. Ach, und dann wären danoch der königliche Garten von Hampton Courtoder der Zauber von Ian Finlay Hamiltons LittleSparta in Schottland. Sie sehen, ich gerate insSchwärmen und bin noch lange nicht fertig.

In Ihrem Buch „The Brother Gardeners: Bota-ny, Empire and the Birth of an Obsession“ er-zählen Sie die Geschichte einer HandvollMänner, die England in einen Garten verwan-delt haben. Wie kam es dazu?Wer an die Gärten in England denkt, hat oft ro-mantische Landhäuschen mit Kletterranken vorAugen oder farbenprächtige Parkanlagen, aberdahinter steckt so viel mehr. Ich selbst habemich damit auseinandergesetzt, weil die leiden-schaftliche Landschaftsgestaltung ein Prismaist, durch das man den Wandel von Gesellschaft,Wissenschaft und Kultur verstehen kann. DieseGärten sind wie Fenster in die Gesellschaft. Siekönnen Machtfantasien und politische Ideenverkörpern. Sie sind ein Zeugnis für das Verhält-nis von Mensch und Natur, zeichnen künstleri-sche Strömungen oder wissenschaftliche Entde-ckungen nach. In meinem Buch wollte ich demauf den Grund gehen. Heraus kam eine Ge-schichte über das Empire, Obsessionen undAbenteuerlust. Tausende Pflanzen wurden ausden Kolonien nach England geschickt. EnglandsLieblichkeit und Vielfalt – was die Engländer thegreen and pleasant land nennen – wären ohne die-se Importe undenkbar.

Sie haben eine Schwäche für Männer, dieAbenteuer mit Wissenschaft verbinden. Nachdem Erfolg Ihrer Biografie „Alexander vonHumboldt und die Erfindung der Natur“ er-scheint in Kürze ein opulent illustriertes Buchüber die berühmte Südamerikareise des Na-turforschers. Was hat Sie an der Visualisie-rung gereizt?Humboldt war ja auch ein begnadeter Künstler.Er zeichnete Hunderte von Skizzen von botani-

schen Entdeckungen und kartografierte zahlrei-che Landschaften, die er auf seinen Weltreisenpassierte. Es hat riesigen Spaß gemacht, sein vi-suelles Erbe in den Blick zu nehmen. Das war ei-ne komplett neue Entdeckungsreise in seine See-le und seinen Verstand. Das Ergebnis ist ein lie-bevoll gestaltetes Buch, das viele seiner Zeich-nungen und Handschriften zum ersten Mal zeigt.

Vor 200 Jahren lösten die Landschaftsgärteneine wahre Anglomanie aus. Was haben wirEngland zu verdanken?Ab Ende des 18. Jahrhunderts waren englischeGärten so beliebt, dass sie bis nach Russland ko-piert wurden. Amüsant ist die Geschichte desewig verschuldeten Fürsten Pückler-Muskau,der sich einvernehmlich von seiner geliebtenFrau trennte, um in England eine reiche Erbin zufinden, mit deren Geld er seine englischen Gar-tenträume umsetzen wollte. Der Plan sprachsich allerdings schnell herum und scheiterte. Erstarb hoch verschuldet, hat uns aber großartigeGärten und unsere Begeisterung für den engli-schen Stil hinterlassen.

UIG

VIA

GE

TT

Y IM

AG

ES

/GE

OG

RA

PH

Y P

HO

TO

S

Noch mehr Britishnessfinden Sie in der März-Ausgabe von ICON,die morgen der WELT AM SONNTAG beiliegt

33 23.03.19 Samstag, 23. März 2019 DWBE-VP1Belichterfreigabe: --Zeit:::Belichter: Farbe:

DW_Dir/DW/DWBE-VP123.03.19/1/Stil1 PPLATE 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT SAMSTAG, 23. MÄRZ 2019 SEITE 33

STIL Entdeckung in Maastricht,Enttäuschung in Dubai Seite 35

Kunstmessen

„Die Gärten sind wie ein FENSTERin die britische Gesellschaft“

Ob auf dem Landsitz oder auf dem Balkon – das Gärtnern ist eine Leidenschaft, auf die sich ganz Großbritannien einigen kann. Wie es dazu kam, hat die KulturhistorikerinAndrea Wulf herausgefunden

In voller Blüte: Der weiße Garten des Sissinghurst Palace in Kent

Recommended