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Page 1: 86Sprengen+des+Gartens_1... · -ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey («Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John Miller

/8686 Samstag/Sonntag, IS./I6. Oktober 1988 Nr. 241 WOCHENENDE Jllcitc 3ihrt|cr

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Plaudereien

Die Insel der Unseligen

30 Grad hatte das Thermometer im Juni angezeigt. Und dieErde war zu Staub geworden, flog leicht und grau wie Asche,

wenn der warme Wind wehte. Nun klatschte der Regen an dieFenster, drei, vier, fünf Tage lang. Nichts als Regen. Auf 35

Grad war das Quecksilber im Juli geklettert. Und keine Wolkeam Himmel, die ein paar Tropfen versprochen hätte. Jetzt wurdedie Erde zu Schlamm, und den Weg zur Stadt teilte ein See inzwei Stücke. Kapuzenmännern standen am Ufer, aber nur einpaar mutige zogen Sandalen oder Espadrillos aus und watetendurch das braune Wasser, in dem sich Olivenbäume und spitzeAgaven spiegelten. 40 Grad zeigte das Thermometer im August,

blieb Tag für Tag gleich und vergass selbst in den Nächten abzu-sinken auf ein erträgliches Mass. Die Steinböden der Terrassenund die bemalten Platten aus Casamicciola blieben heiss; manhätte fast «Mozzarella in Carozza» daraufbacken können. Jetztverdeckten Regenschwaden den Pharo, und selbst das Licht von«Buon Soccorso» drang kaum d u r ch die Sintflut, sechs, sieben,

acht Tage lang. Und die Zeit, sonst schlank und flüchtig, dieStunden nicht zu halten, wenn man lachend auf den Zeiger sah:einen Augenblick nur, schon sprang er weiter und die kostbareZeit mit ihm. Jetzt war sie träge geworden, quoll auf, wollte nichtweichen. Sie legte sich in Schränke und Kommoden, blieb lie-gen, nahm den Geruch an von Fäulnis und Moder, gab ihn wei-ter an bunte Kleider und Schals, die für fröhliche Stunden einge-packt worden waren. Röcke, die rascheln sollten beim Tanzen,bei einem Glas Wein unter dem Sternenhimmel einer Septem-

bernacht. 192 Stunden noch bis zur Abreise. Sie dehnten undstreckten sich, blieben hängen an den immer wieder gelesenenZeitungen, den fleckigen Seiten der wenigen Bücher, den feuch-ten Leintüchern der Betten. 168 Stunden noch. Ein Kalendertag

endlich vorbei, kaum unterschieden von den vorhergehenden,

144 Stunden noch. Grau in Grau und missmutig die Gesichterder Gäste, die verbannt waren auf diese Insel, denn die Charterhielten fest an ihren Zeiten. Die Namen kontrolliert auf derListe. «Nein, keine Ausnahme. Tut mir leid. Vielleicht wird essogar später. Sie wissen, der Streik.» Noch 120 träge Stundenmit schmutzigen Tropfen auf dem Pflaster, mit Regen auf vio-lette Bougainvilleas, alte Terrassenstühle, Scherben von Fla-schen, magere Hunde und bettelnde Katzen. An der Strasse lie-gengeblieben ein alter Eisschrank, auf dem holprigen Waldweg

eine verrostete Betonmischmaschine. Palmen daneben, Opuntien

und Eukalyptus. Es nützt nichts, wenn man in der Kathedraleopfert, eine der elektrifizierten Kerzen mit einer kleinen Münzezum Leuchten bringt. Ein Knopfdruck nur - welch ein Komfortfür die Opfernden, während der Wind heult und die Plasticfet-zen auf der Strasse hochwirbelt.

An alles hatte man gedacht: an Sonnenbrille und Sonnen-creme, an schattenspendende breitrandige Hüte, an Mittel gegenMoskitos, an Chinin und Kohletabletten, nur nicht an die Sint-flut, denn der September ist der schönste Monat des Jahres, sag-

ten sie. 48 Stunden noch, die anderen totgeschlagen, zusammenmit den kleinen Insekten, die sich vertausendfacht haben in derFeuchtigkeit. Die Schwärme umtanzen die schwachen Glühbir-nen in wackligen Fassungen, surren bei Nacht um die Betten dervon Angstträumen gequälten Schläfer. Noch 24 ganze Stunden-schläge, ein wenig blechern tönend vom Campanile von SanFrancesco. Dann wird - wenn es gut geht - ein Traghetto dieAbreisenden aufnehmen und zum Festland bringen. - Plötzlich,gegen Abend, der erste Sonnenstrahl über der zornigen Gischt,die am Ufer hochschlägt. Gleich darauf ein feuerroter Tramonto.Morgen - vielleicht - wird es schön auf der Insel, und die Lucer-tole werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorhuschen und sichauf den trockenen Steinen sonnen. Jona Bach

Skurrile Gedichte

BrauseEin Sittenstrolch aus gutem HauseTrank mit den Opfern vorher BrauseDanach, drei Sterne müssen seinLud stilvoll er zum Essen einUnd rief schon mal die PolizeiAuf Wunsch b e im letzten Gang herbeiVerhör, Prozess, Verhandlungspause

Die Richterin trinkt gerne BrauseDas Urteil: Freispruch, lupenrein

Aus gutem Hause muss man sein Peh,r Fre

Katalog einiger Freunde als Gespenster

Mad rites (Madrider Zwischenfall)

Ich machte einst in einer Madrider Bar die Bekanntschafteines Iren, und wir tranken ziemlich viel Whisky. Als die Barzusperrte, kamen wir überein, ins «Rock-Ola» zu fahren, einLokal, das es heute nicht mehr gibt. Nicht lange, und ich kam inFühlung mit einem Mädchen, das da so schön tanzte, und siefragte mich: «Kann ich heute vielleicht bei dir schlafen?» Siewar Französin und sehr betrunken. Der Ire wohnte in einem weitabgelegenen Viertel, vielleicht Ciudad Lineal. Ich anerbot michindessen, ihn nach Hause zu fahren, und er dirigierte mich durchverschiedene, immer weniger plausibel wirkende Strassen, wäh-rend das Mädchen neben mir schon unartig schnarchte; bis wirunversehens in eine Treppe hineinfuhren, d. h. die Stufen frontalrammten. Nun hatte ich zwar den Eindruck gehabt, dass mit derFahrbahn etwas nicht stimmte, aber er vom Rücksitz her, pi-kiert: «Zu Fuss komme ich immer über den Viadukt da oben.»Es war letztlich nichts geschehen, wir fanden zu der Adresse,fuhren im Morgengrauen ins Zentrum zurück, und ich trug diemittlerweile völlig entkräftete Französin auf me inen Armen ins5. Stockwerk hinauf. Faut etre jeune pour faire tout cela! Ichbewohnte nämlich in luftiger Höhe ein Zimmer, von dessen Fen-ster aus ich in die Fluchten dreier grosser Strassen, Fuencarral,

Luchana und Sagasta, blickte, die alle in die Glorieta de Bilbaomünden und die sich zu bestimmten Stunden mit weissen, glit-zernden, hupenden Autos regelrecht anfüllten. In keiner andernStadt sieht man so viele weisse Autos wie gerade in Madrid mitseinen schmutzig porphyrfarbenen Fassaden. Ich lud die Fran-zösin zum Frühstück ins Cafe Comercial ein. Sie trank Schoko-lade, worauf sie wieder ermattete. Sie gehörte zu jener ArtFrauen, die ihre eigene Anwesenheit nicht wahrzunehmen schei-nen. «Hast du nichts zu tun?» fragte ich, nachdem sie einige

Stunden immer nur still in dem Zimmer gesessen hatte, währendich auf meiner Hermes Baby herumhämmerte. «Aber ich tue jain einem fort etwas», entgegnete sie mit unschuldigem Erstau-nen. «Ich habe ausgeschlafen. Wir sind frühstücken gegangen.

Dann habe ich eine Weile Musik gehört und mich zurechtge-

macht. Auch ein wenig geruht und gewartet, bis du ausgeschrie-

ben hast. Bist du endlich fertig?»Waller Sukaj

Zeitzeichen

Vom Sprengen des Gartens«Vergiss das Unkraut nicht . . .» (Brecht)

Wirklich, diese Grünen: jetzt muss ich sogar in meinem eige-

nen Garten ein schlechtes Gewissen haben, nicht erst wenn ichmich aus ihm heraus und in den Kampf der Klassen hinein bege-be, wo ich meine Konkurrentinnen kaltlächelnd aus dem Wegeräume, um kraft positiven Denkens an mein individuelles Ziel zukommen. Jawohl, selbst in der grünen schattigen Ruhe meinesGartens, wo ich mich bis jetzt vom aufreibenden Lebenskampferholen, mir von lauen Zephyren die Wunden fächeln lassenkonnte, wo ich gärtnernd neue Erfolgsstrategien aushecken durf-te, selbst da werde ich nun kulpabilisiert.

Es fing damit an, dass mich ein Besucher ( e b en ein «Grü-ner») scharf korrigierte, als ich von den Unkräutern sprach, dieich ausreissen und verbrennen müsse: «Nebenkräuter» heissendiese lieben Pflänzchen, die schliesslich auch eine Existenzbe-rechtigung hätten. Oder ob ich mich etwa als Herr über dieNatur aufspielen möchte, urteilend über Gut und Böse? Undüberhaupt: «Wieso hast du hier den Haselstrauch gestutzt, nurdass die Weisstanne sich entfalten kann? Hat der Haselstrauchnicht ebensoviel Recht auf Luft und Licht? Wer gibt dir dasRecht zu beurteilen, welches Gewächs lebensunwert ist?»

Und dann kam's, das schreckliche Wort: «Weisst du, was dubist? Ein vegetabiler Rassist!»

Seither gehe ich in meinem Garten wie auf Eiern, aus Angst,

unachtsam ein zartes liebreizendes Nebenkräutchen zu zer-stampfen. Und wenn ich wässere, bekommen die sogar zuerstvom erfrischenden Nass: schliesslich habe ich ihnen so lange

unrecht getan . . . Hans Peler Gansner

Journal der Popkultur

Details über den Bamako-Express

Bis vor kurzem war es wie ein Puzzlespiel, wollte man Ge-naueres über die Entwicklung der modernen Populärmusik inSchwarzafrika erfahren. Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchenmusste erst zusammengetragen werden, bis sich die Kontureneines Künstlers oder eine Stilrichtung abzeichneten. Wohl be-mühten sich Autoren wie Billy Bergman («African Pop: Good-time Kings», Blandford Press, Poole, Dorset 1985) und Wolf-gang Bender («Sweet Mother. Afrikanische Musik», Trickster-Verlag, München 1985), die drei eher musikhistorisch und-ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey(«Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John MillerChernoff («African Rhythm and African Sensibility. Aestheticsand Social Action in African Musical Idioms», The University

of Chicago Press, Chicago und London, 1979) sowie von J. H.Kwabene Nketia («The Music of Africa», Victor Gollancz Ltd.,

London 1979) fortzusetzen und zu ergänzen. Doch Licht in das

Dunkel des schwarzen Musikkontinents brachte erst Anfang

Eine Aufnahme der legendären «Rail Band du Buffet Hotel de la Gare deBamako» aus dem Jahre 1977. (Photo Jean-Jacques Mandel)

Jahr der unlängst auch an dieser Stelle vorgestellte «Da CapoGuide to Contemporary African Music» (Da Capo Press, NewYork 1988) von Ronnie Graham.

Seine akribische lexikalische Arbeit, die Land für Land undHunderte von Interpreten mit ihren wichtigsten Schallplatten-werken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt, führtnun auf beinahe ebenso detaillierte Art die französische Musik-journalistin Helene Lee fort. In ihrem jüngst erschienenen Werk,«Rockers d'Afrique» (Editions Albin Michel, Paris 1988), findetman erstmals Einzelheiten über die «Stars et legendes du rockmandigue», wie das Buch im Untertitel heisst. Die bekanntestenMusiker aus dem Mandingo-Volk im ehemaligen GrossreichMali, Guinea und Senegal sowie von der Elfenbeinküste habenin den letzten Jahren die schwarzafrikanische Populärmusik ent-schieden beeinflusst, modernisiert: Mory Kante aus Guinea, derin diesem Sommer mit «Ye Ke Ye Ke» erstmals die europä-ischen Hitparaden eroberte und in den nächsten Tagen seineerste grössere Tour durch die Schweiz und die Bundesrepublikbeginnt; Salif Keita, die Stimme des Mandingo-Blues; SoniaDiabate, die Sängerin und Gitarristin der «Amazones de Ciu-inee»; Mamdou Aliou Barry, Chef d'orchestre du Kaloum Starde Conakry; Youssou N'Dour, la vedette senegalaise, und diebeiden Reggae-Stars Toure Kunda und Alpha Blondy, die vonder Elfenbeinküste bzw. aus Senegal den Bogen zur karibischenMusik geschlagen haben.

Erstmals im Detail befasst sich das flüssig geschriebene Buchaber auch mit jener Band, die wie kaum eine andere für denKurs der modernen afrikanischen Populärmusik sozusagen dieSpur bestimmt hat. Zwar erfährt man nicht unbedingt die ge-

nauen Ankunfts- und Abfahrtszeiten des berühmten Bamako-Express, welcher der legendären «Rail Band du Buffet Hotel dela Gare de Bamako» den Namen gab. Doch weiss man nun, dassdie Band bereits 1970 und auch noch über das Jahr 1977 hinausbestand, als sie längst von ihren wichtigsten Protagonisten, demGründer Tidiani Kone, Mory Kante und Salif Keita, verlassenworden war. Und nicht zuletzt erfährt man auch, dass es damalsin der Hauptstadt Malis noch viele andere bedeutende Bandsgab, von den beiden nationalen Orchestern (der Formation Aund B) bis hin zur «Star Band» (von Laba Sosseh aus Dakar).

Peter Figlestahler

Surrealitäten

Der PulloverSie stand am offenen Fenster. Der Mond hatte einen Hof, ein

schlechtes Zeichen, dachte sie. Die Luft war feucht und sehrwürzig. Ein nervöser Wind ging durch die Bäume. Der Nach-barshund kläffte. Plötzlich fror sie und trat vom Fenster zurück.In der Dunkelheit suchte sie nach dem Cashmerepullover, densie auf dem Bett bereitgelegt hatte, weil sie leicht fror, seit siea l l e in lebte. Selbst im Hochsommer. Es brauchte ein Nichts, umdas Kältegefühl auszulösen, vielleicht war es das Hundegebellgewesen, genau wusste sie es nicht. Sie griff nach dem Pulloverund fand ihn: er fühlte sich flauschiger an als sonst. Erschmiegte sich an ihre Hand an, als ob er sie erwartet hätte, undliebkoste sie mit einer warmen, glatten Zunge. Wie lange war esher, seit sie jemand so zärtlich angefasst hatte? Jetzt fror sie nichtmehr. Aber sie erschrak: sie zog ihre Hand zurück. Sie erschrakweniger über das Untier als über ihre Wollustgefühle. Sie ranntezum Schalter, machte Licht. Der Pullover lag da, auf dem Bett,

wie man von einem hingeworfenen Pullover erwartet, dass er lie-se- Grazia Meier-Jaeger

Groteske

C'est si nobDie Frau des Feuerwehrkommandanten sagte: Wollen Sie ein

Bonbon? Sie meinte mich mit dieser Frage. Ich sagte: Nein,nein, im Gegenteil, ich will kein Bonbon - was stellen Sie sicheigentlich vor? Stellen Sie sich vor, ich wolle von Ihnen ein Bon-bon? Die Frau des Feuerwehrkommandanten will mir ein Bon-bon geben - das ist ja zum Lachen. Ausgerechnet mir!

Wissen Sie, sagte ich dann, wissen Sie, was mir vorschwebt,

wenn wir schon bei diesem Thema sind? Was ich wil l, ist einNobnob. Ein Nobnob! Genau. Das schreiben Sie sich gefälligst

hinter die Ohren!Die Frau des Feuerwehrkommandanten erbleichte. Sie hätte

beinahe die Fassung verloren, gottseidank nur beinahe, dennman hätte mich zur Rechenschaft gezogen, mich, einen der weni-gen, unschuldigen Menschen.

Ich will ein Nobnob. Das ist die Krone der Schöpfung. DerSinn des Dingsda. In früheren Zeiten war man dem Nobnobgegenüber skeptisch eingestellt, beachtete es mit Absicht nicht,begegnete ihm voller Misstrauen, wehrte sich je nach Landregio-

nen mit Händen und Füssen - nur um sich nicht mit dem Nob-nob auseinandersetzen zu müssen. Ja, früher. Und heute? Heuteanerkenne, man zumindest den Wunsch nach Nobnob, die Sehn-

sucht nach Nobnob, die in jedem suchenden Menschen verbor-gen liegt, wenn er ehrlich ist.

Eine wahre Sucht ist entstanden, wie soll ich es anders aus-

drücken - gut, bleiben wir bei Sucht.

Bitte, wovon reden Sie? Nicht von Nobnob? Das wäre aberlächerlich, grotesk! Nobnob ist die Antwort. Das hätten Sie wohlnicht gedacht. Dachte es mir. Nobnob ist anders. Es schwimmtin den Körper, kriecht in die Knochen, ganz langsam, es kommtund kommt, dann schwimmt es weiter in den Unterleib, in dieFüsse, Beine, später in Arme und Hände, dann ins Herz, in denKopf. Nobnob macht Spass. Es ist ein prickelndes Etwas.

Oder vertreten Sie die Meinung der Frau des Feuerwehrkom-mandanten? In diesem Fall würde ich Sie zumindest anhörer,

obwohl meine Zeit kostbar ist und rar. Sollten Sie aber ein ent-schiedener Anhänger der Bonbon-These der Frau des Feuer-wehrkommandanten sein, so scheren Sie sich zum Teufel! Dilet-tanten! Sollten Sie ebenfalls auf der Suche nach Nobnob sein,

kämen wir der Sache auf den Grund und Sie wären meiner

Neue Zürcher Zeitung vom 15.10.1988

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