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/86 86 Samstag/Sonntag, IS./I6. Oktober 1988 Nr. 241 WOCHENENDE Jllcitc 3ihrt|cr .iriliiitu Plaudereien Die Insel der Unseligen 30 Grad hatte das Thermometer im Juni angezeigt. Und die Erde war zu Staub geworden, flog leicht und grau wie Asche, wenn der warme Wind wehte. Nun klatschte der Regen an die Fenster, drei, vier, fünf Tage lang. Nichts als Regen. Auf 35 Grad war das Quecksilber im Juli geklettert. Und keine Wolke am Himmel, die ein paar Tropfen versprochen hätte. Jetzt wurde die Erde zu Schlamm, und den Weg zur Stadt teilte ein See in zwei Stücke. Kapuzenmännern standen am Ufer, aber nur ein paar mutige zogen Sandalen oder Espadrillos aus und wateten durch das braune Wasser, in dem sich Olivenbäume und spitze Agaven spiegelten. 40 Grad zeigte das Thermometer im August, blieb Tag für Tag gleich und vergass selbst in den Nächten abzu- sinken auf ein erträgliches Mass. Die Steinböden der Terrassen und die bemalten Platten aus Casamicciola blieben heiss; man hätte fast «Mozzarella in Carozza» daraufbacken können. Jetzt verdeckten Regenschwaden den Pharo, und selbst das Licht von «Buon Soccorso» drang kaum durc h die Sintflut, sechs, sieben, acht Tage lang. Und die Zeit, sonst schlank und flüchtig, die Stunden nicht zu halten, wenn man lachend auf den Zeiger sah: einen Augenblick nur, schon sprang er weiter und die kostbare Zeit mit ihm. Jetzt war sie träge geworden, quoll auf, wollte nicht weichen. Sie legte sich in Schränke und Kommoden, blieb lie- gen, nahm den Geruch an von Fäulnis und Moder, gab ihn wei- ter an bunte Kleider und Schals, die für fröhliche Stunden einge- packt worden waren. Röcke, die rascheln sollten beim Tanzen, bei einem Glas Wein unter dem Sternenhimmel einer Septem- bernacht. 192 Stunden noch bis zur Abreise. Sie dehnten und streckten sich, blieben hängen an den immer wieder gelesenen Zeitungen, den fleckigen Seiten der wenigen Bücher, den feuch- ten Leintüchern der Betten. 168 Stunden noch. Ein Kalendertag endlich vorbei, kaum unterschieden von den vorhergehenden, 144 Stunden noch. Grau in Grau und missmutig die Gesichter der Gäste, die verbannt waren auf diese Insel, denn die Charter hielten fest an ihren Zeiten. Die Namen kontrolliert auf der Liste. «Nein, keine Ausnahme. Tut mir leid. Vielleicht wird es sogar später. Sie wissen, der Streik.» Noch 120 träge Stunden mit schmutzigen Tropfen auf dem Pflaster, mit Regen auf vio- lette Bougainvilleas, alte Terrassenstühle, Scherben von Fla- schen, magere Hunde und bettelnde Katzen. An der Strasse lie- gengeblieben ein alter Eisschrank, auf dem holprigen Waldweg eine verrostete Betonmischmaschine. Palmen daneben, Opuntien und Eukalyptus. Es nützt nichts, wenn man in der Kathedrale opfert, eine der elektrifizierten Kerzen mit einer kleinen Münze zum Leuchten bringt. Ein Knopfdruck nur - welch ein Komfort für die Opfernden, während der Wind heult und die Plasticfet- zen auf der Strasse hochwirbelt. An alles hatte man gedacht: an Sonnenbrille und Sonnen- creme, an schattenspendende breitrandige Hüte, an Mittel gegen Moskitos, an Chinin und Kohletabletten, nur nicht an die Sint- flut, denn der September ist der schönste Monat des Jahres, sag- ten sie. 48 Stunden noch, die anderen totgeschlagen, zusammen mit den kleinen Insekten, die sich vertausendfacht haben in der Feuchtigkeit. Die Schwärme umtanzen die schwachen Glühbir- nen in wackligen Fassungen, surren bei Nacht um die Betten der von Angstträumen gequälten Schläfer. Noch 24 ganze Stunden- schläge, ein wenig blechern tönend vom Campanile von San Francesco. Dann wird - wenn es gut geht - ein Traghetto die Abreisenden aufnehmen und zum Festland bringen. - Plötzlich, gegen Abend, der erste Sonnenstrahl über der zornigen Gischt, die am Ufer hochschlägt. Gleich darauf ein feuerroter Tramonto. Morgen - vielleicht - wird es schön auf der Insel, und die Lucer- tole werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorhuschen und sich auf den trockenen Steinen sonnen. Jona Bach Skurrile Gedichte Brause Ein Sittenstrolch aus gutem Hause Trank mit den Opfern vorher Brause Danach, drei Sterne müssen sein Lud stilvoll er zum Essen ein Und rief schon mal die Polizei Auf Wunsch bei m letzten Gang herbei Verhör, Prozess, Verhandlungspause Die Richterin trinkt gerne Brause Das Urteil: Freispruch, lupenrein Aus gutem Hause muss man sein Peh,r Fre Katalog einiger Freunde als Gespenster Mad rites (Madrider Zwischenfall) Ich machte einst in einer Madrider Bar die Bekanntschaft eines Iren, und wir tranken ziemlich viel Whisky. Als die Bar zusperrte, kamen wir überein, ins «Rock-Ola» zu fahren, ein Lokal, das es heute nicht mehr gibt. Nicht lange, und ich kam in Fühlung mit einem Mädchen, das da so schön tanzte, und sie fragte mich: «Kann ich heute vielleicht bei dir schlafen?» Sie war Französin und sehr betrunken. Der Ire wohnte in einem weit abgelegenen Viertel, vielleicht Ciudad Lineal. Ich anerbot mich indessen, ihn nach Hause zu fahren, und er dirigierte mich durch verschiedene, immer weniger plausibel wirkende Strassen, wäh- rend das Mädchen neben mir schon unartig schnarchte; bis wir unversehens in eine Treppe hineinfuhren, d. h. die Stufen frontal rammten. Nun hatte ich zwar den Eindruck gehabt, dass mit der Fahrbahn etwas nicht stimmte, aber er vom Rücksitz her, pi- kiert: «Zu Fuss komme ich immer über den Viadukt da oben.» Es war letztlich nichts geschehen, wir fanden zu der Adresse, fuhren im Morgengrauen ins Zentrum zurück, und ich trug die mittlerweile völlig entkräftete Französin auf meine n Armen ins 5. Stockwerk hinauf. Faut etre jeune pour faire tout cela! Ich bewohnte nämlich in luftiger Höhe ein Zimmer, von dessen Fen- ster aus ich in die Fluchten dreier grosser Strassen, Fuencarral, Luchana und Sagasta, blickte, die alle in die Glorieta de Bilbao münden und die sich zu bestimmten Stunden mit weissen, glit- zernden, hupenden Autos regelrecht anfüllten. In keiner andern Stadt sieht man so viele weisse Autos wie gerade in Madrid mit seinen schmutzig porphyrfarbenen Fassaden. Ich lud die Fran- zösin zum Frühstück ins Cafe Comercial ein. Sie trank Schoko- lade, worauf sie wieder ermattete. Sie gehörte zu jener Art Frauen, die ihre eigene Anwesenheit nicht wahrzunehmen schei- nen. «Hast d u nichts zu tun?» fragte ich, nachdem sie einige Stunden immer nur still in dem Zimmer gesessen hatte, während ich auf meiner Hermes Baby herumhämmerte. «Aber ich tue ja in einem fort etwas», entgegnete sie mit unschuldigem Erstau- nen. «Ich habe ausgeschlafen. Wir sind frühstücken gegangen. Dann habe ich eine Weile Musik gehört und mich zurechtge- macht. Auch ein wenig geruht und gewartet, bis d u ausgeschrie- ben hast. Bist du endlich fertig?» Waller Sukaj Zeitzeichen Vom Sprengen des Gartens «Vergiss das Unkraut nicht . . (Brecht) Wirklich, diese Grünen: jetzt muss ich sogar in meinem eige- nen Garten ein schlechtes Gewissen haben, nicht erst wenn ich mich aus ihm heraus und in den Kampf der Klassen hinein bege- be, wo ich meine Konkurrentinnen kaltlächelnd aus dem Wege räume, um kraft positiven Denkens an mein individuelles Ziel zu kommen. Jawohl, selbst in der grünen schattigen Ruhe meines Gartens, wo ich mich bis jetzt vom aufreibenden Lebenskampf erholen, mir von lauen Zephyren die Wunden fächeln lassen konnte, wo ich gärtnernd neue Erfolgsstrategien aushecken durf- te, selbst da werde ich nun kulpabilisiert. Es fing damit an, dass mich ein Besucher (ebe n ein «Grü- ner») scharf korrigierte, als ich von den Unkräutern sprach, die ich ausreissen und verbrennen müsse: «Nebenkräuter» heissen diese lieben Pflänzchen, die schliesslich auch eine Existenzbe- rechtigung hätten. Oder ob ich mich etwa als Herr über die Natur aufspielen möchte, urteilend über Gut und Böse? Und überhaupt: «Wieso hast du hier den Haselstrauch gestutzt, nur dass die Weisstanne sich entfalten kann? Hat der Haselstrauch nicht ebensoviel Recht auf Luft und Licht? Wer gibt dir das Recht zu beurteilen, welches Gewächs lebensunwert ist?» Und dann kam's, das schreckliche Wort: «Weisst du, was du bist? Ein vegetabiler Rassist!» Seither gehe ich in meinem Garten wie auf Eiern, aus Angst, unachtsam ein zartes liebreizendes Nebenkräutchen zu zer- stampfen. Und wenn ich wässere, bekommen die sogar zuerst vom erfrischenden Nass: schliesslich habe ich ihnen so lange unrecht getan . .. Hans Peler Gansner Journal der Popkultur Details über den Bamako-Express Bis vor kurzem war es wie ein Puzzlespiel, wollte man Ge- naueres über die Entwicklung der modernen Populärmusik in Schwarzafrika erfahren. Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen musste erst zusammengetragen werden, bis sich die Konturen eines Künstlers oder eine Stilrichtung abzeichneten. Wohl be- mühten sich Autoren wie Billy Bergman («African Pop: Good- time Kings», Blandford Press, Poole, Dorset 1985) und Wolf- gang Bender («Sweet Mother. Afrikanische Musik», Trickster- Verlag, München 1985), die drei eher musikhistorisch und -ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey («Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John Miller Chernoff («African Rhythm and African Sensibility. Aesthetics and Social Action in African Musical Idioms», The University of Chicago Press, Chicago und London, 1979) sowie von J. H. Kwabene Nketia («The Music of Africa», Victor Gollancz Ltd., London 1979) fortzusetzen und zu ergänzen. Doch Licht in das Dunkel des schwarzen Musikkontinents brachte erst Anfang Eine Aufnahme der legendären «Rail Band du Buffet Hotel de la Gare de Bamako» aus dem Jahre 1977. (Photo Jean-Jacques Mandel) Jahr der unlängst auch an dieser Stelle vorgestellte «Da Capo Guide to Contemporary African Music» (Da Capo Press, New York 1988) von Ronnie Graham. Seine akribische lexikalische Arbeit, die Land für Land und Hunderte von Interpreten mit ihren wichtigsten Schallplatten- werken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt, führt nun auf beinahe ebenso detaillierte Art die französische Musik- journalistin Helene Lee fort. In ihrem jüngst erschienenen Werk, «Rockers d' Afrique» (Editions Albin Michel, Paris 1988), findet man erstmals Einzelheiten über die «Stars et legendes du rock mandigue», wie das Buch im Untertitel heisst. Die bekanntesten Musiker aus dem Mandingo-Volk im ehemaligen Grossreich Mali, Guinea und Senegal sowie von der Elfenbeinküste haben in den letzten Jahren die schwarzafrikanische Populärmusik ent- schieden beeinflusst, modernisiert: Mory Kante aus Guinea, der in diesem Sommer mit «Ye Ke Ye Ke» erstmals die europä- ischen Hitparaden eroberte und in den nächsten Tagen seine erste grössere Tour durch die Schweiz und die Bundesrepublik beginnt; Salif Keita, die Stimme des Mandingo-Blues; Sonia Diabate, die Sängerin und Gitarristin der «Amazones de Ciu- inee»; Mamdou Aliou Barry, Chef d'orchestre du Kaloum Star de Conakry; Youssou N'Dour, la vedette senegalaise, und die beiden Reggae-Stars Toure Kunda und Alpha Blondy, die von der Elfenbeinküste bzw. aus Senegal den Bogen zur karibischen Musik geschlagen haben. Erstmals im Detail befasst sich das flüssig geschriebene Buch aber auch mit jener Band, die wie kaum eine andere für den Kurs der modernen afrikanischen Populärmusik sozusagen die Spur bestimmt hat. Zwar erfährt man nicht unbedingt die ge- nauen Ankunfts- und Abfahrtszeiten des berühmten Bamako- Express, welcher der legendären «Rail Band du Buffet Hotel de la Gare de Bamako» den Namen gab. Doch weiss man nun, dass die Band bereits 1970 und auch noch über das Jahr 1977 hinaus bestand, als sie längst von ihren wichtigsten Protagonisten, dem Gründer Tidiani Kone, Mory Kante und Salif Keita, verlassen worden war. Und nicht zuletzt erfährt man auch, dass es damals in der Hauptstadt Malis noch viele andere bedeutende Bands gab, von den beiden nationalen Orchestern (der Formation A und B) bis hin zur «Star Band» (von Laba Sosseh aus Dakar). Peter Figlestahler Surrealitäten Der Pullover Sie stand am offenen Fenster. Der Mond hatte einen Hof, ein schlechtes Zeichen, dachte sie. Die Luft war feucht und sehr würzig. Ein nervöser Wind ging durch die Bäume. Der Nach- barshund kläffte. Plötzlich fror sie und trat vom Fenster zurück. In der Dunkelheit suchte sie nach dem Cashmerepullover, den sie auf dem Bett bereitgelegt hatte, weil sie leicht fror, seit sie allei n lebte. Selbst im Hochsommer. Es brauchte ein Nichts, um das Kältegefühl auszulösen, vielleicht war es das Hundegebell gewesen, genau wusste sie es nicht. Sie griff nach dem Pullover und fand ihn: er fühlte sich flauschiger an als sonst. Er schmiegte sich an ihre Hand an, als o b er sie erwartet hätte, und liebkoste sie mit einer warmen, glatten Zunge. Wie lange war es her, seit sie jemand so zärtlich angefasst hatte? Jetzt fror sie nicht mehr. Aber sie erschrak: sie zog ihre Hand zurück. Sie erschrak weniger über das Untier als über ihre Wollustgefühle. Sie rannte zum Schalter, machte Licht. Der Pullover lag da, auf dem Bett, wie man von einem hingeworfenen Pullover erwartet, dass er lie- se- Grazia Meier-Jaeger Groteske C'est si nob Die Frau des Feuerwehrkommandanten sagte: Wollen Sie ein Bonbon? Sie meinte mich mit dieser Frage. Ich sagte: Nein, nein, im Gegenteil, ich will kein Bonbon - was stellen Sie sich eigentlich vor? Stellen Sie sich vor, ich wolle von Ihnen ein Bon- bon? Die Frau des Feuerwehrkommandanten will mir ein Bon- bon geben - das ist ja zum Lachen. Ausgerechnet mir! Wissen Sie, sagte ich dann, wissen Sie, was mir vorschwebt, wenn wir schon bei diesem Thema sind? Was ich will , ist ein Nobnob. Ein Nobnob! Genau. Das schreiben Sie sich gefälligst hinter die Ohren! Die Frau des Feuerwehrkommandanten erbleichte. Sie hätte beinahe die Fassung verloren, gottseidank nur beinahe, denn man hätte mich zur Rechenschaft gezogen, mich, einen der weni- gen, unschuldigen Menschen. Ich will ein Nobnob. Das ist die Krone der Schöpfung. Der Sinn des Dingsda . In früheren Zeiten war man dem Nobnob gegenüber skeptisch eingestellt, beachtete es mit Absicht nicht, begegnete ihm voller Misstrauen, wehrte sich je nach Landregio- nen mit Händen und Füssen - nur um sich nicht mit dem Nob- nob auseinandersetzen zu müssen. Ja, früher. Und heute? Heute anerkenne, man zumindest den Wunsch nach Nobnob, die Sehn- sucht nach Nobnob, die in jedem suchenden Menschen verbor- gen liegt, wenn er ehrlich ist. Eine wahre Sucht ist entstanden, wie soll ich es anders aus- drücken - gut, bleiben wir bei Sucht. Bitte, wovon reden Sie? Nicht von Nobnob? Das wäre aber lächerlich, grotesk! Nobnob ist die Antwort. Das hätten Sie wohl nicht gedacht. Dachte es mir. Nobnob ist anders. Es schwimmt in den Körper, kriecht in die Knochen, ganz langsam, es kommt und kommt, dann schwimmt es weiter in den Unterleib, in die Füsse, Beine, später in Arme und Hände, dann ins Herz, in den Kopf. Nobnob macht Spass. Es ist ein prickelndes Etwas. Oder vertreten Sie die Meinung der Frau des Feuerwehrkom- mandanten? In diesem Fall würde ich Sie zumindest anhörer, obwohl meine Zeit kostbar ist und rar. Sollten Sie aber ein ent- schiedener Anhänger der Bonbon-These der Frau des Feuer- wehrkommandanten sein, so scheren Sie sich zum Teufel! Dilet- tanten! Sollten Sie ebenfalls auf der Suche nach Nobnob sein, kämen wir der Sache auf den Grund und Sie wären meiner Neue Zürcher Zeitung vom 15.10.1988

86Sprengen+des+Gartens_1... · -ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey («Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John Miller

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Page 1: 86Sprengen+des+Gartens_1... · -ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey («Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John Miller

/8686 Samstag/Sonntag, IS./I6. Oktober 1988 Nr. 241 WOCHENENDE Jllcitc 3ihrt|cr

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Plaudereien

Die Insel der Unseligen

30 Grad hatte das Thermometer im Juni angezeigt. Und dieErde war zu Staub geworden, flog leicht und grau wie Asche,

wenn der warme Wind wehte. Nun klatschte der Regen an dieFenster, drei, vier, fünf Tage lang. Nichts als Regen. Auf 35

Grad war das Quecksilber im Juli geklettert. Und keine Wolkeam Himmel, die ein paar Tropfen versprochen hätte. Jetzt wurdedie Erde zu Schlamm, und den Weg zur Stadt teilte ein See inzwei Stücke. Kapuzenmännern standen am Ufer, aber nur einpaar mutige zogen Sandalen oder Espadrillos aus und watetendurch das braune Wasser, in dem sich Olivenbäume und spitzeAgaven spiegelten. 40 Grad zeigte das Thermometer im August,

blieb Tag für Tag gleich und vergass selbst in den Nächten abzu-sinken auf ein erträgliches Mass. Die Steinböden der Terrassenund die bemalten Platten aus Casamicciola blieben heiss; manhätte fast «Mozzarella in Carozza» daraufbacken können. Jetztverdeckten Regenschwaden den Pharo, und selbst das Licht von«Buon Soccorso» drang kaum d u r ch die Sintflut, sechs, sieben,

acht Tage lang. Und die Zeit, sonst schlank und flüchtig, dieStunden nicht zu halten, wenn man lachend auf den Zeiger sah:einen Augenblick nur, schon sprang er weiter und die kostbareZeit mit ihm. Jetzt war sie träge geworden, quoll auf, wollte nichtweichen. Sie legte sich in Schränke und Kommoden, blieb lie-gen, nahm den Geruch an von Fäulnis und Moder, gab ihn wei-ter an bunte Kleider und Schals, die für fröhliche Stunden einge-packt worden waren. Röcke, die rascheln sollten beim Tanzen,bei einem Glas Wein unter dem Sternenhimmel einer Septem-

bernacht. 192 Stunden noch bis zur Abreise. Sie dehnten undstreckten sich, blieben hängen an den immer wieder gelesenenZeitungen, den fleckigen Seiten der wenigen Bücher, den feuch-ten Leintüchern der Betten. 168 Stunden noch. Ein Kalendertag

endlich vorbei, kaum unterschieden von den vorhergehenden,

144 Stunden noch. Grau in Grau und missmutig die Gesichterder Gäste, die verbannt waren auf diese Insel, denn die Charterhielten fest an ihren Zeiten. Die Namen kontrolliert auf derListe. «Nein, keine Ausnahme. Tut mir leid. Vielleicht wird essogar später. Sie wissen, der Streik.» Noch 120 träge Stundenmit schmutzigen Tropfen auf dem Pflaster, mit Regen auf vio-lette Bougainvilleas, alte Terrassenstühle, Scherben von Fla-schen, magere Hunde und bettelnde Katzen. An der Strasse lie-gengeblieben ein alter Eisschrank, auf dem holprigen Waldweg

eine verrostete Betonmischmaschine. Palmen daneben, Opuntien

und Eukalyptus. Es nützt nichts, wenn man in der Kathedraleopfert, eine der elektrifizierten Kerzen mit einer kleinen Münzezum Leuchten bringt. Ein Knopfdruck nur - welch ein Komfortfür die Opfernden, während der Wind heult und die Plasticfet-zen auf der Strasse hochwirbelt.

An alles hatte man gedacht: an Sonnenbrille und Sonnen-creme, an schattenspendende breitrandige Hüte, an Mittel gegenMoskitos, an Chinin und Kohletabletten, nur nicht an die Sint-flut, denn der September ist der schönste Monat des Jahres, sag-

ten sie. 48 Stunden noch, die anderen totgeschlagen, zusammenmit den kleinen Insekten, die sich vertausendfacht haben in derFeuchtigkeit. Die Schwärme umtanzen die schwachen Glühbir-nen in wackligen Fassungen, surren bei Nacht um die Betten dervon Angstträumen gequälten Schläfer. Noch 24 ganze Stunden-schläge, ein wenig blechern tönend vom Campanile von SanFrancesco. Dann wird - wenn es gut geht - ein Traghetto dieAbreisenden aufnehmen und zum Festland bringen. - Plötzlich,gegen Abend, der erste Sonnenstrahl über der zornigen Gischt,die am Ufer hochschlägt. Gleich darauf ein feuerroter Tramonto.Morgen - vielleicht - wird es schön auf der Insel, und die Lucer-tole werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorhuschen und sichauf den trockenen Steinen sonnen. Jona Bach

Skurrile Gedichte

BrauseEin Sittenstrolch aus gutem HauseTrank mit den Opfern vorher BrauseDanach, drei Sterne müssen seinLud stilvoll er zum Essen einUnd rief schon mal die PolizeiAuf Wunsch b e im letzten Gang herbeiVerhör, Prozess, Verhandlungspause

Die Richterin trinkt gerne BrauseDas Urteil: Freispruch, lupenrein

Aus gutem Hause muss man sein Peh,r Fre

Katalog einiger Freunde als Gespenster

Mad rites (Madrider Zwischenfall)

Ich machte einst in einer Madrider Bar die Bekanntschafteines Iren, und wir tranken ziemlich viel Whisky. Als die Barzusperrte, kamen wir überein, ins «Rock-Ola» zu fahren, einLokal, das es heute nicht mehr gibt. Nicht lange, und ich kam inFühlung mit einem Mädchen, das da so schön tanzte, und siefragte mich: «Kann ich heute vielleicht bei dir schlafen?» Siewar Französin und sehr betrunken. Der Ire wohnte in einem weitabgelegenen Viertel, vielleicht Ciudad Lineal. Ich anerbot michindessen, ihn nach Hause zu fahren, und er dirigierte mich durchverschiedene, immer weniger plausibel wirkende Strassen, wäh-rend das Mädchen neben mir schon unartig schnarchte; bis wirunversehens in eine Treppe hineinfuhren, d. h. die Stufen frontalrammten. Nun hatte ich zwar den Eindruck gehabt, dass mit derFahrbahn etwas nicht stimmte, aber er vom Rücksitz her, pi-kiert: «Zu Fuss komme ich immer über den Viadukt da oben.»Es war letztlich nichts geschehen, wir fanden zu der Adresse,fuhren im Morgengrauen ins Zentrum zurück, und ich trug diemittlerweile völlig entkräftete Französin auf me inen Armen ins5. Stockwerk hinauf. Faut etre jeune pour faire tout cela! Ichbewohnte nämlich in luftiger Höhe ein Zimmer, von dessen Fen-ster aus ich in die Fluchten dreier grosser Strassen, Fuencarral,

Luchana und Sagasta, blickte, die alle in die Glorieta de Bilbaomünden und die sich zu bestimmten Stunden mit weissen, glit-zernden, hupenden Autos regelrecht anfüllten. In keiner andernStadt sieht man so viele weisse Autos wie gerade in Madrid mitseinen schmutzig porphyrfarbenen Fassaden. Ich lud die Fran-zösin zum Frühstück ins Cafe Comercial ein. Sie trank Schoko-lade, worauf sie wieder ermattete. Sie gehörte zu jener ArtFrauen, die ihre eigene Anwesenheit nicht wahrzunehmen schei-nen. «Hast du nichts zu tun?» fragte ich, nachdem sie einige

Stunden immer nur still in dem Zimmer gesessen hatte, währendich auf meiner Hermes Baby herumhämmerte. «Aber ich tue jain einem fort etwas», entgegnete sie mit unschuldigem Erstau-nen. «Ich habe ausgeschlafen. Wir sind frühstücken gegangen.

Dann habe ich eine Weile Musik gehört und mich zurechtge-

macht. Auch ein wenig geruht und gewartet, bis du ausgeschrie-

ben hast. Bist du endlich fertig?»Waller Sukaj

Zeitzeichen

Vom Sprengen des Gartens«Vergiss das Unkraut nicht . . .» (Brecht)

Wirklich, diese Grünen: jetzt muss ich sogar in meinem eige-

nen Garten ein schlechtes Gewissen haben, nicht erst wenn ichmich aus ihm heraus und in den Kampf der Klassen hinein bege-be, wo ich meine Konkurrentinnen kaltlächelnd aus dem Wegeräume, um kraft positiven Denkens an mein individuelles Ziel zukommen. Jawohl, selbst in der grünen schattigen Ruhe meinesGartens, wo ich mich bis jetzt vom aufreibenden Lebenskampferholen, mir von lauen Zephyren die Wunden fächeln lassenkonnte, wo ich gärtnernd neue Erfolgsstrategien aushecken durf-te, selbst da werde ich nun kulpabilisiert.

Es fing damit an, dass mich ein Besucher ( e b en ein «Grü-ner») scharf korrigierte, als ich von den Unkräutern sprach, dieich ausreissen und verbrennen müsse: «Nebenkräuter» heissendiese lieben Pflänzchen, die schliesslich auch eine Existenzbe-rechtigung hätten. Oder ob ich mich etwa als Herr über dieNatur aufspielen möchte, urteilend über Gut und Böse? Undüberhaupt: «Wieso hast du hier den Haselstrauch gestutzt, nurdass die Weisstanne sich entfalten kann? Hat der Haselstrauchnicht ebensoviel Recht auf Luft und Licht? Wer gibt dir dasRecht zu beurteilen, welches Gewächs lebensunwert ist?»

Und dann kam's, das schreckliche Wort: «Weisst du, was dubist? Ein vegetabiler Rassist!»

Seither gehe ich in meinem Garten wie auf Eiern, aus Angst,

unachtsam ein zartes liebreizendes Nebenkräutchen zu zer-stampfen. Und wenn ich wässere, bekommen die sogar zuerstvom erfrischenden Nass: schliesslich habe ich ihnen so lange

unrecht getan . . . Hans Peler Gansner

Journal der Popkultur

Details über den Bamako-Express

Bis vor kurzem war es wie ein Puzzlespiel, wollte man Ge-naueres über die Entwicklung der modernen Populärmusik inSchwarzafrika erfahren. Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchenmusste erst zusammengetragen werden, bis sich die Kontureneines Künstlers oder eine Stilrichtung abzeichneten. Wohl be-mühten sich Autoren wie Billy Bergman («African Pop: Good-time Kings», Blandford Press, Poole, Dorset 1985) und Wolf-gang Bender («Sweet Mother. Afrikanische Musik», Trickster-Verlag, München 1985), die drei eher musikhistorisch und-ethnologisch ausgerichteten Standardwerke von Francis Bebey(«Musique de l'Afrique», Horizons de France 1969), John MillerChernoff («African Rhythm and African Sensibility. Aestheticsand Social Action in African Musical Idioms», The University

of Chicago Press, Chicago und London, 1979) sowie von J. H.Kwabene Nketia («The Music of Africa», Victor Gollancz Ltd.,

London 1979) fortzusetzen und zu ergänzen. Doch Licht in das

Dunkel des schwarzen Musikkontinents brachte erst Anfang

Eine Aufnahme der legendären «Rail Band du Buffet Hotel de la Gare deBamako» aus dem Jahre 1977. (Photo Jean-Jacques Mandel)

Jahr der unlängst auch an dieser Stelle vorgestellte «Da CapoGuide to Contemporary African Music» (Da Capo Press, NewYork 1988) von Ronnie Graham.

Seine akribische lexikalische Arbeit, die Land für Land undHunderte von Interpreten mit ihren wichtigsten Schallplatten-werken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt, führtnun auf beinahe ebenso detaillierte Art die französische Musik-journalistin Helene Lee fort. In ihrem jüngst erschienenen Werk,«Rockers d'Afrique» (Editions Albin Michel, Paris 1988), findetman erstmals Einzelheiten über die «Stars et legendes du rockmandigue», wie das Buch im Untertitel heisst. Die bekanntestenMusiker aus dem Mandingo-Volk im ehemaligen GrossreichMali, Guinea und Senegal sowie von der Elfenbeinküste habenin den letzten Jahren die schwarzafrikanische Populärmusik ent-schieden beeinflusst, modernisiert: Mory Kante aus Guinea, derin diesem Sommer mit «Ye Ke Ye Ke» erstmals die europä-ischen Hitparaden eroberte und in den nächsten Tagen seineerste grössere Tour durch die Schweiz und die Bundesrepublikbeginnt; Salif Keita, die Stimme des Mandingo-Blues; SoniaDiabate, die Sängerin und Gitarristin der «Amazones de Ciu-inee»; Mamdou Aliou Barry, Chef d'orchestre du Kaloum Starde Conakry; Youssou N'Dour, la vedette senegalaise, und diebeiden Reggae-Stars Toure Kunda und Alpha Blondy, die vonder Elfenbeinküste bzw. aus Senegal den Bogen zur karibischenMusik geschlagen haben.

Erstmals im Detail befasst sich das flüssig geschriebene Buchaber auch mit jener Band, die wie kaum eine andere für denKurs der modernen afrikanischen Populärmusik sozusagen dieSpur bestimmt hat. Zwar erfährt man nicht unbedingt die ge-

nauen Ankunfts- und Abfahrtszeiten des berühmten Bamako-Express, welcher der legendären «Rail Band du Buffet Hotel dela Gare de Bamako» den Namen gab. Doch weiss man nun, dassdie Band bereits 1970 und auch noch über das Jahr 1977 hinausbestand, als sie längst von ihren wichtigsten Protagonisten, demGründer Tidiani Kone, Mory Kante und Salif Keita, verlassenworden war. Und nicht zuletzt erfährt man auch, dass es damalsin der Hauptstadt Malis noch viele andere bedeutende Bandsgab, von den beiden nationalen Orchestern (der Formation Aund B) bis hin zur «Star Band» (von Laba Sosseh aus Dakar).

Peter Figlestahler

Surrealitäten

Der PulloverSie stand am offenen Fenster. Der Mond hatte einen Hof, ein

schlechtes Zeichen, dachte sie. Die Luft war feucht und sehrwürzig. Ein nervöser Wind ging durch die Bäume. Der Nach-barshund kläffte. Plötzlich fror sie und trat vom Fenster zurück.In der Dunkelheit suchte sie nach dem Cashmerepullover, densie auf dem Bett bereitgelegt hatte, weil sie leicht fror, seit siea l l e in lebte. Selbst im Hochsommer. Es brauchte ein Nichts, umdas Kältegefühl auszulösen, vielleicht war es das Hundegebellgewesen, genau wusste sie es nicht. Sie griff nach dem Pulloverund fand ihn: er fühlte sich flauschiger an als sonst. Erschmiegte sich an ihre Hand an, als ob er sie erwartet hätte, undliebkoste sie mit einer warmen, glatten Zunge. Wie lange war esher, seit sie jemand so zärtlich angefasst hatte? Jetzt fror sie nichtmehr. Aber sie erschrak: sie zog ihre Hand zurück. Sie erschrakweniger über das Untier als über ihre Wollustgefühle. Sie ranntezum Schalter, machte Licht. Der Pullover lag da, auf dem Bett,

wie man von einem hingeworfenen Pullover erwartet, dass er lie-se- Grazia Meier-Jaeger

Groteske

C'est si nobDie Frau des Feuerwehrkommandanten sagte: Wollen Sie ein

Bonbon? Sie meinte mich mit dieser Frage. Ich sagte: Nein,nein, im Gegenteil, ich will kein Bonbon - was stellen Sie sicheigentlich vor? Stellen Sie sich vor, ich wolle von Ihnen ein Bon-bon? Die Frau des Feuerwehrkommandanten will mir ein Bon-bon geben - das ist ja zum Lachen. Ausgerechnet mir!

Wissen Sie, sagte ich dann, wissen Sie, was mir vorschwebt,

wenn wir schon bei diesem Thema sind? Was ich wil l, ist einNobnob. Ein Nobnob! Genau. Das schreiben Sie sich gefälligst

hinter die Ohren!Die Frau des Feuerwehrkommandanten erbleichte. Sie hätte

beinahe die Fassung verloren, gottseidank nur beinahe, dennman hätte mich zur Rechenschaft gezogen, mich, einen der weni-gen, unschuldigen Menschen.

Ich will ein Nobnob. Das ist die Krone der Schöpfung. DerSinn des Dingsda. In früheren Zeiten war man dem Nobnobgegenüber skeptisch eingestellt, beachtete es mit Absicht nicht,begegnete ihm voller Misstrauen, wehrte sich je nach Landregio-

nen mit Händen und Füssen - nur um sich nicht mit dem Nob-nob auseinandersetzen zu müssen. Ja, früher. Und heute? Heuteanerkenne, man zumindest den Wunsch nach Nobnob, die Sehn-

sucht nach Nobnob, die in jedem suchenden Menschen verbor-gen liegt, wenn er ehrlich ist.

Eine wahre Sucht ist entstanden, wie soll ich es anders aus-

drücken - gut, bleiben wir bei Sucht.

Bitte, wovon reden Sie? Nicht von Nobnob? Das wäre aberlächerlich, grotesk! Nobnob ist die Antwort. Das hätten Sie wohlnicht gedacht. Dachte es mir. Nobnob ist anders. Es schwimmtin den Körper, kriecht in die Knochen, ganz langsam, es kommtund kommt, dann schwimmt es weiter in den Unterleib, in dieFüsse, Beine, später in Arme und Hände, dann ins Herz, in denKopf. Nobnob macht Spass. Es ist ein prickelndes Etwas.

Oder vertreten Sie die Meinung der Frau des Feuerwehrkom-mandanten? In diesem Fall würde ich Sie zumindest anhörer,

obwohl meine Zeit kostbar ist und rar. Sollten Sie aber ein ent-schiedener Anhänger der Bonbon-These der Frau des Feuer-wehrkommandanten sein, so scheren Sie sich zum Teufel! Dilet-tanten! Sollten Sie ebenfalls auf der Suche nach Nobnob sein,

kämen wir der Sache auf den Grund und Sie wären meiner

Neue Zürcher Zeitung vom 15.10.1988