72
Die langfristige Planung von Bewegungsunterricht
72
Lernziele
Die Lernziele für eine Bewegungsstunde beschreiben das erwartete und beobachtbare Verhalten am Ende einer Übungseinheit. Diese Beschreibungen müssen so konkret sein, dass sie messbar bzw. beobachtbar sind und sie müssen realistisch zu erreichen sein. Bei der Zielformulierung für den Bewegungsunterricht ist es notwendig, den Lernzielbereich (Kapitel 2.3.1) im Auge zu behalten und entsprechend motorische, soziale, affektive und kognitive Ziele zu unterscheiden.
Ziele sollen handlungsbezogen, wirklichkeitsnah und erreichbar sein.
Wie das folgende Beispiel verdeutlicht, werden Ziele oft sehr vage formuliert und sind hierdurch nicht fassbar und kontrollierbar:
Beispiel Die Physiotherapeutin Marlis setzt sich für ihre Gruppenbehandlung unter anderem folgende Ziele: „Die Patienten lernen das funktionelle gerade Hinsetzen und das Aufstehen. Die Übungen sollen schmerzfrei ausgeführt werden und die Teilneh-mer fühlen sich dabei wohl.“
Die Zielformulierungen in diesem Beispiel werfen die in der Tabelle aufgeführten Fragen auf:
aufkommende Frage Problem/Konkretisierung
Was ist funktionell? Es gibt es verschiedene Modelle, die den aufrechten
Sitz beschreiben.
Wie soll das Hinsetzen und Aufstehen
aussehen?
Mangelnde Kontrollierbarkeit: Welche Beobachtungs-
merkmale, z. B. Bewegungsausführung, werden
angesetzt?
Soll die Ausführung bei jedem Teilneh-
mer gleich aussehen?
In Bezug zu individuellen Einschränkungen sollten
differenzierende Ausführungen angeboten werden.
Welche Kriterien sollen die Teilnehmer
erfüllen?
Es gibt zahlreiche Kriterien, wie Beachtung der
Atmung oder selbstständiges Einlegen von Pausen.
Wann ist ein Schmerz ein Schmerz? Schmerz ist sehr individuell und wird unterschiedlich
wahr genommen.
Wie muss der Teilnehmer sich verhalten,
damit er keinen Schmerz spürt?
Hier ist eine Aufklärung der Teilnehmer nötig, sodass
jeder individuell auf sich achtet.
Kann man das Wohlfühlen messen? Wohlfühlen ist subjektiv und wird individuell unter-
schiedlich interpretiert.
[Tab. 1] Fragen zur Zielformulierung
Damit Marlis ihre Ziele erreichen kann, ist eine Zielanalyse nötig. Um diese Ziele eindeutig zu formulieren, sollte sie sich die aufgeführten Fragen stellen und über eine |Analyse der Inhalte zu praxisnahen Antworten gelangen. Anstatt „die Patienten ler-nen das funktionelle gerade Hinsetzen“ könnte sie sagen „die Patienten kennen die Wichtigkeit der physiologischen Haltung des Kopfes zur Vermeidung einer |Hyperex-tension der Halswirbelsäule beim Hinsetzen und Aufstehen“. Dieses Wissen kann abgefragt werden, womit das Ziel kontrollierbar wird.
2.3
Analyse der Inhalte | 85
HyperextensionÜberstreckung
9783064503267 Inhalt_S072 72 25.03.11 14:26
73
2 Lernziele
73
Lernzielbereiche
Bewegungshandlungen sind nicht einseitig auf das senso motorische Geschehen beschränkt zu betrachten. Vielmehr schließt das „SichBewegen“ das Wahrnehmen und Erleben, das Denken und Handeln, das Kommunizieren und Interagieren sowie die Selbsteinschätzung und das eigene Entscheiden mit ein. Diese verschiedenen Ebenen beeinflussen folglich den Lehr und Lernprozess im Bewegungsunterricht und müssen deshalb bei der Zielsetzung berücksichtigt werden. Die Sport und Bewegungswissenschaften unterscheiden folgende Lernzielebereiche [Abb. 1]:
π Motorische Ziele beziehen sich auf die motorischen und koordinativen Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Kraft, Gleichgewicht oder die konkrete Bewegungsausführung.
π Affektiv-motivationale Ziele beschreiben emotionale Aspekte und Motive, die einen Menschen bewegen. Dazu zählen auch das Erleben, Wahrnehmen und Bewerten von Bewegung.
π Soziale Ziele beziehen sich auf das „Miteinander“ in der Gruppe und beschreiben Verhaltens und Kooperationsformen in der Gruppe.
π Kognitive Ziele beziehen sich auf das Vermitteln von K enntnissen und Wissen.
In der Therapie werden oftmals nur Ziele formuliert, die den erstgenannten, funktionellen sensomotorischen Bereich betreffen (z. B. Verbesserung der Beugung im Kniegelenk). Unumstritten bildet der motorischeBereich einen wichtigen Zielbereich, weil Kraft und Koordination Voraussetzungen für jedes Bewegen und Handeln sind. Zusätzlich spielt aber auch das „Erleben“ beim „SichBewegen“ eine große Rolle. So wird das Bewegungshandeln stark vom sozialen Umfeld, emotionalen Empfinden, Erfahren und Verstehen sowie von der |Motivation beeinflusst. Deraffektiv-motivationaleBereich bezieht sich auf die inneren Gefühle und kulturellen Werte des Teilnehmers, die seine Wahrnehmung prägen und immer in direktem Zusammenhang mit der Ausführung der Bewegung stehen. Auch der sozialeBereich ist für das Bewegen wichtig. So wirken die Umgebung und das Gruppenerleben auf die Bewegung und es ist praktisch unmöglich, sich in einer Gruppe „alleine“ zu bewegen. Für den Teilnehmer ist es wichtig, wie und warum er sich in einer Gruppe bewegt und die |Rolle, die man darin einnimmt, übt einen wesentlichen Einfluss auf das individuelle Bewegungsverhalten aus. Der vierte bedeutende Bereich, der das Bewegen beeinflusst, ist schließlich der kognitiveBereich, denn jedem Handeln geht das Wissen um das „Was“, „Wie“ und „Warum“ voraus. Auf der folgenden Seite sind verschiedene Beispiele zu diesen vier Lernzielbereichen aufgeführt [Tab. 1].
Die Einteilung in die vier Lernzielbereiche soll dem Therapeuten helfen, sich mit den Handlungsmöglichkeiten und notwendigkeiten auseinanderzusetzen. Auch das Erleben von Freude an der Bewegung oder das Erspüren und Erleben von Bewegung sollten also zielgerecht geplant und nicht dem Zufall überlassen werden.
2.3.1
[1] Lernzielbereiche für den Bewegungsunterricht
motorische Ziele
soziale Ziele
a¤ektiv-motivationale Ziele
kognitive ZielePatient/Gruppe
[2] Das gegenseitige Abrollen mit einem Igelball dient der Entspannung, Wahrnehmungsverbesserung und fördert das wertschätzende Verhalten in der Gruppe.
Motivation | 41
Rolle | 49
9783064503267 Inhalt_S073 73 25.03.11 14:26
74
Die langfristige Planung von Bewegungsunterricht
74
Die Beispiele [Tab. 1] zeigen, dass die Zielbereiche in der praktischen Umsetzung nicht zu trennen sind. Der Physiotherapeut kann ein Bewegungsangebot geben, durch das er verschiedene Ziele erreichen möchte. Für eine klare inhaltliche und methodische Entscheidung ist die differenzierte Zielsetzung sehr wichtig. Am Beispiel des „Stabhandling“ [Tab. 2] ist zu sehen, dass allein schon das Verändern der |Organisationsform ein völlig anderes soziales und affektives Erleben bewirken würde.
Die Lerninhalte beziehen sich auf das jeweilige Stundenthema und werden auf der Basis der Ziele ausgewählt. Dies bedeutet, dass bei ein und demselben Stundenthema unterschiedliche Inhalte ausgewählt werden können und dass dieselben Inhalte sich zudem je nach Zielsetzung verändern.
Wenn die in Tabelle 2 genannten Lernziele zum Spiel „Stabhandling“ erreicht werden sollen, dann wird der Therapeut nicht willkürlich ein Spiel aussuchen und abwarten, welche Reaktionen dies hervorruft. Er wird auf Grund seiner vorher definierten Ziele und des gewünschten Verhaltens am Ende der Übungseinheit das „Stabhandling“ als geeignetes Spiel auswählen.
Organisationsformen | 123
Selbstwirksamkeit | 42
motorische Lernziele affektiv-motivationale Lernziele soziale Lernziele kognitive Lernziele
π Erweiterung der Bewegungs
vielfaltπ Erhaltung und Verbesserung
der Kraft, Ausdauer, Gelenk
beweglichkeit, Dehnfähigkeit,
Schnelligkeit und/oder Koor
dinationπ Verbesserung der moto
rischen Grundfertigkeiten,
z. B. Gehen, Stehen, Werfen,
Drehenπ Erhalten und Wiedererlernen
von Funktionenπ Kompensation einseitiger
Bewegung, z. B. Ausweich
bewegungenπ Verbesserung der Körper
haltung und des Alltags
verhaltensπ Erhöhen der Bewegungs
sicherheitπ Entwickeln einer Atem
ökonomieπ Erlernen von sportart
spezifischen Techniken,
z. B. Walking, Schwimmen,
verschiedene Wurftechniken
im Basketball
π Erleben von Spaß und
Freude an Bewegungπ Erleben des allgemeinen
Wohlbefindensπ Erfahren und Erlernen der |Selbstwirksamkeit
π Stärkung des Selbstwert
gefühlsπ Erweiterung des Gesund
heitsbewusstseinsπ Verbesserung der Wahr
nehmungπ Erwecken von Gefühlen zum
Bewegungserlebenπ Erleben von Erfolgserleb
nissenπ Erspüren eigener körper
licher Grenzenπ Erleben von An und
Entspannungsfähigkeitπ Erlangen einer Motivation
zum Sporttreiben und
Bewegen
π Erleben von Integration in
die soziale Gruppeπ Kontaktaufnahme zu
anderen Teilnehmernπ Fähigkeit, eigene Probleme
äußern zu könnenπ Sensibilisierung für die
Probleme der Mitbetroffenenπ gemeinsames Lösen von
Aufgaben und Konfliktenπ Herauslösen aus einem un
günstigen sozialen Umfeld,
z. B. bei Suchtpatientenπ Erleben von Akzeptanz und
Toleranzπ Reintegration in die Gesell
schaftπ Erfahren von Grenzen und
Fair Play in der Gruppe
π Wissen über die biologischen
und medizinischen Gegeben
heiten erlangenπ Wissen über die korrekte
Bewegungsausführung π Fähigkeit erwerben, die Be
wegungsausführung selbst
ständig den eigenen Möglich
keiten anzupassenπ Wissen über die Auswir
kungen der Übungen und
ihre Notwendigkeit erlangenπ Erlernen von Grundlagen der
Bewegungs und Trainings
lehreπ Wissen über gesundheits
fördernde Themen erlangenπ Erlernen eines Hauspro
gramms und dessen richtiger
Ausführungπ Wissen erhalten über geeig
nete und ungeeignete Sport
arten und deren Ausführungπ Erlernen und selbstständiges
Anwenden von Atem
technikenπ Wissen über Spielregeln und
Taktiken
[Tab. 1] Beispiele für Lernzielbereiche für Bewegungsgruppen in Prävention und Rehabilitation
9783064503267 Inhalt_S074 74 25.03.11 14:26
75
2 Lernziele
75
Beispielübung: Stabhandling
Die Gruppe steht in einem |Innenstirnkreis. Jeder Teilnehmer hält einen Gymnastikstab
senkrecht vor sich und stellt ihn auf dem Boden ab. Nachdem ausprobiert wurde, wie man
den Stab am günstigsten ausbalanciert [Abb. 1], sodass er kurz frei steht, beginnt das Spiel.
Auf ein Kommando, z. B. nach Zählen „1-2-3-4“, lassen die Teilnehmer ihren Stab stehen
und gehen einen Platz weiter in eine vorher abgesprochene Richtung. Hier wird der Stab des
Nachbarn aufgefangen [Abb. 2]. Fällt ein Stab zu Boden, so wird gewartet, bis der Teilnehmer den
Stab wieder senkrecht aufgestellt hat.
Das Spiel wird allmählich gesteigert: Die Bewegungsrichtung ändert sich, z. B. auf 4 wird
nun die Bewegungsrichtung angesagt, also Kommando: „1-2-3-rechts“, alternativ wird nur
noch die Bewegungsrichtung angesagt oder die Teilnehmer geben selbst die Bewegungs-
richtung an, und zwar ohne Absprache, nach Gefühl.
motorische Lernziele affektiv-motivationale
Lernziele
soziale Lernziele kognitive Lernziele
π Verbesserung der
koordinativen Fähig-
keiten, ins besondere
der Reaktion, der
Orientierungsfähig-
keit, des Gleich-
gewichts und der
Umstellungs-
fähigkeitπ Verbesserung der
Griff sicherheitπ Stabilisierung des
Körpers nach Gleich-
gewichtsverlustπ Verbesserung der
Schrittsicherheit
π Spaß an der
Bewegungπ Motivation zur
Bewegungπ Erleben von starken
Gefühlen, z. B. Sieg
und Niederlage,
Freude, Ärgerπ Relativieren von
starken Gefühlenπ Erkennen der
eigenen Leistungs-
grenzen
π miteinander spielen
und Erleben der
Gruppenzugehörig-
keitπ gemeinsame Erfolge
und Teamgeist
π Gruppenteil nehmer
sollen Wissen über
den Nutzen koordi-
nativer Fähigkeiten
für die Sturzprophy-
laxe erlangen.
[Tab. 2] Umsetzungsbeispiel zum Erreichen verschiedener Lernziele
InnenstirnkreisKreisaufstellung der Gruppe
mit dem Gesicht zur Kreis-
mitte
[1] Die Teilnehmer balancieren Ihren Stab aus. [2] Die Teilnehmer lassen ihren Stab stehen und gehen einen Platz weiter zum Stab des Nachbarn.
9783064503267 Inhalt_S075 75 25.03.11 14:26