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Volker Krämer

ALTERA –ALTERA –Spiel um dasSpiel um das

LebenLeben

Professor Zamorra Hardcover

Band 20

Zaubermond Verlag

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»Bist du ich? Bin ich du? Waren oder sind wir? Oder ist doch alles ganz, ganz anders?«

Eine Welt spielt. Es ist ein Spiel, dessen Regeln sich ständig selbst neu zu erfinden scheinen. Ein Spiel, das keine Sieger kennt – nur Verzweifelte. Es hat keinen Anfang, kein Ende, denn es währt wohl ewig. Oder?

Professor Zamorra wird Zeuge dieses Szenarios – wenn auch auf ganz spezielle Weise. Als auch er vor der Unsinnigkeit kapituliert, da bleibt für ihn nur noch die eine Frage: Wer ist der Puppenspieler, der hinter allem steckt? Als er es erkennt, da ahnt er, dass man vielleicht nicht jede Antwort kennen sollte …

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Prolog

Nennt mich Arbiter.Nein, das ist nicht mein wahrer Name.Mehr noch – er entspricht ebenso wenig meinem

tatsächlichen Status.Ich richte, das stimmt. Ich bin es, der die Waage zum

Ausschlag bringt. Ganz so, wie es mir gefällt, denn die Regeln und Werte, die andere sich geben, die können ja nicht für mich gelten.

Undenkbar!Nun, sie alle wissen es ja nicht besser. Ich kann ihnen

deshalb nicht einmal böse sein. Sie sind doch nur Kinder, die spielen, ohne das in letzter Konsequenz zu begreifen. Alles meine Kinder … nur eine Ausnahme existiert …

Ich bin müde, also soll Nacht sein.Um mich herum ist alles still. Warum kann ich nicht

schlafen? Die Kinder schlafen doch auch, wenn ich es ihnen zugestehe. Die Stille, sie weckt den Zwang tief in mir. Dagegen tun kann ich nichts – wie oft habe ich es versucht …

Langsam steige ich auf, still, und ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen. Ich bin gnädig mit den Schlafenden, die ihre Ruhe behalten sollen. Ein Schmerz macht mir das Atmen schwer, schnürt meine Kehle zu.

Ich weiß ja, was nun auf mich wartet.Muss es wirklich sein? Jede Nacht, die ich werden lasse?

Können meine Augenlider sich erst schließen, nachdem sie gesehen haben, was sie doch nur zu genau kennen?

Mein Körper schwebt, findet den Weg ganz ohne mein Dazutun. Er kennt das Ziel.

Das Larb-Gebirge liegt tief unter mir; seine Spitzen berühren die Wolken, durchstoßen sie, sind dem Himmel nah. Weil ich das so vorgesehen habe, weil ich es will.

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Alles, weil ich es will …Langsam sinke ich tiefer. Der See ist gewaltig in seinen

Ausmaßen und perfekt geformt. Ein Oval – mein Oval, denn sicher hat ihn außer mir noch nie jemand erblickt. Kein Kind des Arbiters hat hier etwas zu suchen.

Nur knapp über der Wasseroberfläche stoppe ich ab. Kein Windhauch rundum – die Elemente gehorchen mir. Wie ein Spiegel liegt das Wasser unter mir. Glatt, rein, perfekt.

Und meine Augen sehen.Das fröhliche Blitzen in den Pupillen des jungen Burschen,

sein ansteckendes Lächeln, das wohl stets um seine Lippen lag; die lockigen Haare, tiefschwarz, ungebändigt … die feine Nase, das Grübchen am Kinn …

Nein – nicht mehr der Selbstbetrug. Die Zeit ist vorbei, denn sie hat den Schmerz nur noch vergrößert.

Sieh hin – sieh die Realität! Es ist so … wird nie wieder anders sein. Mach die Augen weit auf, bis sich die Wahrheit tief in sie eingefressen hat. Sieh hin!

Ja, ich sehe.Nur wenige Momente, dann beginnen sich meine Augen

mit Tränen zu füllen, die gnädig eine Schleierschicht vor das legen, was mir entgegenstarrt.

Tränen – ein Meer von ihnen … bis mein Weinen in einem endlosen Schrei mündet …

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1. Gift der Erinnerung

Er war ihnen in die Falle gegangen.Gut ein Dutzend umringten ihn, griffen einzeln oder in

kleinen Gruppen an. In diesem Augenblick sich selbst einen Narren zu nennen, mit der eigenen Dummheit zu hadern, machte keinen Sinn. Im Gegenteil – er benötigte wirklich seine ganze Konzentration, wenn er die kommenden Minuten überstehen wollte.

Trotzdem … er konnte es einfach nicht fassen, wie blauäugig er vorgegangen war. Nach der Vernichtung des Vampirdämons Sarkana durch Professor Zamorra und seinen Mitstreitern war das, was der Dämon angestrengt hatte, sofort wieder zerfallen:

Eine Gemeinschaft aller Kinder der Nacht – aller Vampirclans unter einer festen Führung.

Jeder Clan hatte seinen Anführer, und es gab nicht einen darunter, der nicht sofort wieder nach seinem Zepter griff, das er aus Angst vor Sarkana demütig niedergelegt hatte. Nun kämpften sie wieder alle ihren eigenen Kampf, hetzten der Macht und der Befriedigung des eigenen großen Egos hinterher. Die Mitglieder der Clans duckten sich, so wie sie es unter dem Dämon getan hatten. Für sie machten die veränderten Machtverhältnisse keinen großen Unterschied aus.

Kein guter Zeitpunkt, um unbequeme Neuerungen anzusprechen.

Das wurde ihm nun klar. Ein wenig spät für solche Einsichten. Wie hatte er nur glauben können, Gehör bei den Clans zu finden? Über seine Ideen lachten sie nur schallend.

Was für ein Spinner! Friede mit den Menschen? Gleichberechtigtes Nebeneinander? Rückkehr zu den Werten, die Vampire sich stets auf ihre Flaggen geschrieben hatten – Kreativität, Schöngeist, Musik, Literatur, Malerei, die Vorreiterrolle in den bildenden Künsten, den

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Geisteswissenschaften …Für die Clans zählten diese Dinge nicht mehr viel, besser

gesagt, überhaupt nichts mehr. Einzelne Vampire, die sich von den Zusammenrottungen fernhielten, mochten Reste dieses Denkens in sich tragen, es vielleicht sogar wirklich noch vertreten. Die Masse war davon weit entfernt.

Und der Preis, den sie bezahlen sollten, damit sie von gejagten Jägern zu Partnern werden konnten, der war so hoch, dass der Mann, der seine Botschaft zu den Kindern der Nacht bringen wollte, nur auf Unverständnis und Häme stieß.

Sie alle lachten ihn aus – ihn, Dalius Laertes, der vor langen Zeiten von seiner Heimatwelt Uskugen zur Erde gekommen war, der hier von Sarkana zum Vampir gemacht worden war. Lange hatte Laertes in den Diensten des Vampirdämons gestanden, hatte im Geheimen gegen seinen Herrn gearbeitet.

Er redete nicht lange um die Sache herum, wenn er von dem sprach, was sein Traum für die Zukunft war – und er hielt auch nicht mit den harten Tatsachen hinter dem Berg –, mit dem, was einem Frieden zwischen Nachtvolk und den Menschen vorangehen musste:

Der Verzicht auf Menschenblut.Sie rückten nun gleichzeitig gegen ihn vor. Laertes spürte,

dass sie seine ganz spezielle Magie fürchteten, denn das allein war der Grund, warum sie sich noch nicht konzentriert auf ihn gestürzt hatten. Der Grund, warum er noch existierte.

Es hätte ihn stutzig machen müssen, warum man ihn ausgerechnet hier anhören wollte – in England, einem der traditionell stärksten Vampirclans überhaupt. Aber was hätte Dalius tun sollen? Diese Chance ungenutzt verstreichen lassen? Wohl kaum.

Hätte er sich absichern sollen? Niemand wusste, wo er sich jetzt aufhielt. Zamorra und die Seinen darüber zu informieren, wäre eine überaus makabere Variante gewesen. Zamorra, Nicole Duval oder gar deren Freund, der Silbermonddruide Gryf ap Llandrysgryf, hätten der

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Versuchung sicher nicht widerstehen können. Speziell Gryf hätte hier sicher nur zu gerne blutige Ernte gehalten.

Nein, Laertes hatte sich für einen Alleingang entschieden. Mit dem Ergebnis, sich nun gegen die zur Wehr setzen zu müssen, denen er doch helfen wollte.

Zwölf gegen einen.Kein übles Verhältnis für die Angreifer. Dennoch musste

etwas hinter dieser Attacke stecken, das Laertes bis jetzt noch nicht erahnen konnte. Es mochte überheblich klingen, doch er war fest davon überzeugt, mit seinen Widersachern fertig zu werden. Und das, da war er sicher, wussten auch sie – oder zumindest ihr Anführer, der sich dezent im Hintergrund hielt. Die Tatsache, dass Dalius über die zusätzliche Macht seiner Uskugen-Magie verfügte, machte ihn für die Vampire doch zu einem schier übermächtigen Gegner.

Warum also griffen sie ihn aus ihrer schwächeren Position heraus an? Zwei von den Dunklen sprangen plötzlich gleichzeitig vor. Ein Scheinangriff, mehr konnte das nicht sein, denn es reichten dem Uskugen zwei kurze Energiestöße, die er aus seinen Händen abfeuerte, um sich die beiden vom Hals zu halten.

Kurz überlegte er, sich in einen Schutzschirm zu hüllen und von hier zu verschwinden. Es war für ihn ein Leichtes, sich durch einen Sprung in Sicherheit zu bringen. Diese zeitlose Methode der Überwindung von großen Distanzen beherrschte er in hoher Perfektion. Doch noch wollte er einen letzten Versuch starten, so etwas wie einen Dialog in Gang zu bringen.

Die Angreifer hielten sich in respektvollem Abstand. Laertes tat, was er besser nicht getan hätte – er schenkte seinem Gegner Zeit.

»Wollt ihr mir denn nicht einmal zuhören? Was kostet es euch? Zeit? Einen winzigen Blick über euren eingeschränkten Sichthorizont? Gebt mir nur fünf Minuten Zeit.«

Seine Stimme war nicht extrem laut, doch sie füllte in Klarheit und Bestimmtheit den gesamten Raum aus. Die

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Antwort waren einige kurze Geplänkel, die Dalius ohne Probleme abzuwehren wusste.

Dann drang ein tiefer Bass an seine Ohren. Ob der Clanführer sprach, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, doch der Sprecher schien es gewohnt zu sein, dass man ihm zuhörte.

»Menschenfreund! Jeder weiß, dass du längst die Seiten gewechselt hast. Dein Herr heißt Zamorra – unser erbitterter Feind mitsamt seinen verfluchten Bastarden, die ständig um ihn herum sind. Glaubst du denn, so einem Verräter am Volk wie dir hören wir zu? Dir – ausgerechnet dir, der kräftig mitgeholfen hat, Sarkana zu vernichten?«

Laertes traf jedes dieser Worte hart, denn sie waren ja nicht erfunden und erlogen. Er hatte sich längst für die Sache von Professor Zamorra entschieden, doch das bedeutete sicher nicht, dass er gegen sein Volk anging. Er war und blieb nun einmal ein Vampir.

Es war etwas in der Stimme, das ihm deutlich machte, wie sinnlos es wäre, sich hier und jetzt verbal zu verteidigen. Er verschwand besser. Doch die Stimme klang erneut auf.

»Stygia, unsere Fürstin der Finsternis, war es, die uns ein Geschenk für dich übergab.« Die Alarmsirenen in Laertes' Kopf schlugen hell an. Stygia – selbst hier hatte sie ihre Finger mit im Spiel. Zurzeit war sie an allen Fronten aktiv, plante offensichtlich große Dinge, die sicher nur ein Ziel haben konnten – ihre Position innerhalb der Schwarzen Familie zu festigen … oder gar noch mehr? Laertes machte sich zum Sprung bereit.

Ein heller, pfeifender Ton drang an das sensitive Gehör des hageren Vampirs. Etwa so klang es, wenn ein irdisches Insekt einen gezielten Angriff startete … eine Biene, eine Wespe …

Irgendetwas schlug im gleichen Augenblick gegen Laertes' rechten Oberarm, kaum spürbar, doch überaus real. Laertes griff zu, zog eine hauchdünne Nadel heraus, deren feine Spitze seltsam glänzte.

Laertes sprang … und die Glut der Hölle begann in seinem Körper zu toben.

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Warum habe ich nicht den Schutzschi…Er schlug unkontrolliert irgendwo auf. Sein Kopf prallte

hart gegen ein Hindernis, das er nicht zu benennen wusste. Der Vampir verlor die Besinnung.

Er stand auf …Die Wahrheit war, das es bei diesem Denken blieb, denn

Laertes konnte sich nicht rühren.Er kämpfte gegen die Schmerzen an …In der Realität sah es so aus, dass er hilflos wimmernd am

Fuß des Urwaldriesen lag, der seinen Sprung mehr als unsanft beendet hatte.

Sein Körper setzte seine selbstheilerischen Kräfte erfolgreich ein …

Fakt war – Dalius Laertes starb!Da war nichts mehr in ihm, das die Kraft besaß, etwas

dagegen zu tun. Nichts! Der Raum in seinem Kopf, der zwischen Wunsch und Wahrheit geschaltet war, kollabierte.

Laertes nahm nicht wahr, wohin ihn sein in Panik vollzogener Sprung gebracht hatte; es interessierte ihn auch nicht. Da gab es nur noch die Hitze, das entsetzliche Feuer, das durch den Vampirkörper tobte.

Gift … sie haben mir eine Injektion verpasst …Dalius konnte seine Beine nicht mehr spüren. Kälte zog

von unten her kommend langsam durch seinen Körper. Stygias Gift – nicht mehr lange, dann würde das Ende kommen. Und Laertes war sich nicht mehr sicher, ob er seinen endgültigen Tod nicht bereits herbeisehnte. Diese Schmerzen überboten wirklich jede Vorstellungskraft.

Nein. So enden? So? Ohne Abschluss, ohne Sinn?Dalius Laertes versuchte zumindest eine winzige Nische

seines gequälten Bewusstseins von den Schmerzen zu reinigen, sie beiseitezuschieben. Nur für einen kurzen Moment der Konzentration. Ein Sprung noch – wohl der letzte, doch der musste ganz einfach gelingen. Mehr konnte er nicht mehr für sich selbst tun.

Die Hoffnung stirbt zuletzt – welch ein Klischee! Hier traf

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es zu, vielleicht zum ersten Mal.Laertes starb in Raten … und wahrscheinlich war es nur

dieser kleine Funken Hoffnung, der das Ende bislang zurückhielt.

Er sprang.Und sein Kopf schien in hoch aufflackerndes Feuer zu

tauchen …

Château Montagne, Loire-Tal, Frankreich13:03 Uhr

Das Wetter war nicht einmal schlecht, wenn man die Jahreszeit bedachte.

Kalt war es dennoch. Kalt genug jedenfalls, um nicht so ohne Weiteres dem Schwimmvergnügen nachzugehen. Allerdings auch nicht kalt genug, um Nicole Duval von diesem Vorhaben abbringen zu können.

Man war ja nicht unbedingt so arm auf Château Montagne …

Man gab zwar niemals mit voller Absicht damit an, doch man hielt damit auch nicht hinter dem Berg. Nicole grinste, als sie vom Inneren des Hauptgebäudes aus die entsprechenden Knöpfe bediente. Um den großzügig angelegten Pool herum begann es zu rumoren – Elektromotoren summten ihr Lied, und mit leichtem Knirschen schoben sich die Glaswände aus den Bodenfugen in die Höhe.

Das alles musste wieder einmal dringend gewartet und gereinigt werden.

Nicole nahm sich vor, einen großen Knoten in ein Taschentuch zu knüpfen, der sie daran erinnern sollte, die Wartungsfirma zu informieren. Das einzige Problem war, dass sie keine Taschentücher besaß.

Ein einfacher Eintrag im Kalender musste also auch reichen.

Der ganze Vorgang, der da draußen nur wenige Meter von

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Nicoles jetzigem Standort ablief, dauerte seine Zeit. Gut und gerne 30 Minuten würden vergehen, ehe sich schließlich auch das Glasdach über die Umrandung geschoben hatte.

30 Minuten waren der schönen Französin erheblich zu lang, um sie hier mit Nichtstun zu vergeuden. Nicole erinnerte sich plötzlich, im letzten Sommer so einen Stofffetzen erstanden zu haben, dessen Ladenpreis Zamorra nach Luft hatte schnappen lassen. Gut, er war nicht blau angelaufen, aber viel hatte da nicht gefehlt.

Jedenfalls nannte sich dieses teure Nichts doch Bikini, oder? Warum sollte sie den nicht endlich einmal einweihen? Nackt konnte doch jeder zum Schwimmen gehen – Nicole wollte ihren Lebensgefährten einmal überraschen, wenn der sich denn endlich einmal von seinen Computerdateien trennen konnte.

Es war ja nicht so, dass der Parapsychologe gerne den Archivar spielte. Doch es musste eben sein. Die ständig neu gewonnenen Erkenntnisse brachten sich nicht von selbst in Dateiform. Obwohl … Zamorra träumte ab und an einen Traum, den er erst kürzlich seiner Geliebten wieder erzählt hatte.

Ein Mikro-Computer, den man wie eine Pille schlucken konnte. Der lief dann ständig mit, zeichnete auf, erfasste, sicherte. Schließlich brachte er dann selbsttätig den gesamten Datenwust in Textform, speicherte den ganzen Kram in einem täglich neu zu erstellenden Ordner ab. Dann musste man sich selbst nur an eine Schnittstelle ankoppeln, damit die Datensätze auf den großen Server übertragen wurden.

»Spinner …« So lautete Nicoles Antwort auf diese Fantasien.

Andererseits gab es ja nichts, was es nicht gab – und wenn nicht, dann erfand es irgendwer auf dieser – oder einer anderen Welt.

Nicht heute, sicher auch nicht morgen … aber vielleicht schon am Tag darauf?

»Aber schön wäre das schon …« Zamorra hatte Nicole

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angegrinst. »Lege neuen Ordner an – Zamorra rettet die Welt … und noch ein paar andere dazu … 2.345-A. Zeichne auf …« Das mochte sich großspurig anhören, doch so ganz falsch war das alles ja nun wirklich nicht.

Und besonders lustig war das auch nicht gerade. Aber wenn der Parapsychologe und seine Gefährtin dem Grauen erlaubt hätten, ihnen auch noch ihren Humor zu lähmen, dann wäre dieses Leben sicher schier unerträglich geworden.

In aller Ruhe machte Nicole sich nun an die Suche. Wenn sie es auch nicht gerne tat – und öffentlich schon gar nicht –, so musste sie doch bei sich ein Geständnis ablegen. Ihre Kleiderschränke quollen schier über! Vieles, was sie hier entdeckte, hatte sie höchstens einmal, manches auch überhaupt noch nie getragen.

Du bist eine schlimme Verschwenderin …Bei diesem Gedanken konnte sie nur bestätigend nicken.

Der prallgefüllte Schrank ließ auch keine andere Aussage zu – zudem bewies er, dass Nicole Duval sich nur äußerst schwer von ihren geliebten Klamotten trennen konnte. Wenn sie es denn tat, hatte sie sich allerdings als äußerst harte Verkäuferin gezeigt, denn der Erlös einer solchen bitteren Aktion, der ging nicht in ihre Tasche – oder auf Zamorras Konto … das nun wirklich nicht –, sondern wurde einem wohltätigen Zweck gespendet. Letzteres versüßte den Trennungsschmerz zwar nicht wirklich, machte ihn aber ein wenig erträglicher.

Wer jedoch glaubte, er müsste die schöne Französin auf teure Mode, wechselnde Haarfarben, Schuhe und Schminke reduzieren, der beging einen großen Fehler. Vielleicht den dümmsten seines ganzen Lebens. Mehr als eine Kreatur der dunklen Magie hatte sich Nicole als Opfer ausgesucht, um dann den Professor in der Hand zu haben.

Kaum einer dieser Dummköpfe existierte heute noch. Duval war nicht die Frau hinter Zamorra, sie war nicht seine Begleitung – sie stand direkt neben ihm. Oft auch vor dem Parapsychologen, wenn der einmal schwächelte. Als Kampfteam waren sie eine Macht – als Lebensgefährten

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eine Einheit, die ihresgleichen suchte.Nicole seufzte. Sie wollte diesen Zwergbikini finden,

komme was wolle. Und wenn sie diesen Schrank komplett leer räumen musste. Vom Fenster aus, das direkt neben dem zimmerdurchspannenden Schrank lag, konnte die Französin einen flüchtigen Blick auf den Pool werfen. Sie hatte noch Zeit, denn die Mechanik hatte ihren Job gerade einmal zur Hälfte erledigt.

Ruckartig riss sie erneut den Blick zum Fenster hin.Im Pool lag ein Mensch!Zumindest von der Körperform her – groß, hager, in

tiefstem Schwarz gekleidet … der Körper schaukelte bäuchlings liegend auf der Wasseroberfläche. Und um die Konturen des Wesens herum, da bildete sich ein roter Umriss, der sich wie eine Korona ausbreitete. Blut? Die langen Haare der Person fächerten sich, einem Pfauenrad gleich, um ihren Kopf, das Gesicht war tief im Wasser eingetaucht.

Nicole Duval sprintete los.Wenn du nicht schnell genug bist … dann ertrinkt er glatt!

Doch dieser Gedanke wollte keine richtige Akzeptanz in ihrem Bewusstsein auslösen.

Konnte ein Vampir denn ertrinken? Wahrscheinlich nicht …Mit weiten Sätzen hetzte sie die Treppe hinunter, stoppte

auch nicht, als sie den Poolrand erreicht hatte – und sprang elegant in das wohltemperierte Wasser.

Der Rest war für Nicole Duval kein Problem. Es war nicht das erste Mal, dass sie als Rettungsschwimmerin fungierte. Das sie dieses Können jedoch bei einem Kind der Nacht zum Einsatz bringen würde, hätte sie kaum vermutet.

Doch das hier war schließlich kein normaler Vampir.Auf dem breiten Bett im Gästezimmer des Châteaus wirkte

die nackte Figur des Dalius Laertes ein wenig verloren.Mit Zamorras Hilfe hatte Nicole dem Vampir die

vollkommen durchnässten Kleider ausgezogen.Das Blut, das Nicole im Wasser gesehen hatte, stammte

aus einer Platzwunde am Hinterkopf des Uskugen. Eine Wunde, sicherlich … doch die war nicht Ursache von

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Laertes' Zustand. Jeder Versuch, den Vampir zu Bewusstsein zu bringen, war kläglich gescheitert.

In Zamorras Blick lag ein hoher Anteil Hilflosigkeit, fand Nicole.

»Ich kann nichts tun.« Zamorra saß auf der Bettkante, starrte in Laertes' Gesicht, in dem der Kampf zu lesen war, den der Vampir tief in sich ausfocht. »Mit weißer Magie erreiche ich bei ihm nichts. Seine ureigene Uskugen-Magie, gemischt mit den Kräften, die er als Vampir besitzt, blockt alles ab, was ich versucht habe. Selbst mit dem Dhyarra kann ich keine Besserung erzielen; Merlins Stern ist das vollkommen falsche Medium für diesen Fall … und meine eigene Zauberkunst versagt ganz einfach.«

»Wir können schlecht einen Arzt holen …« Nicole musste den Satz nicht beenden. Nein, diese Lösung schied aus. »Seltsam – im Kampf haben Dalius und du schon mehr als einmal die so unterschiedlichen Magievarianten miteinander verknüpft. Doch hier funktioniert das nicht?«

»Es kommt mir so vor, als würde Laertes gegen einen Gegner kämpfen, der tief in ihm verankert ist. Ehrlich gesagt – ich bin ziemlich ratlos.« Der Parapsychologe wusste keinen Weg, um sich in diesen Kampf einzuklinken, der im Körper – und wohl auch im Bewusstsein – des Vampirs tobte.

Nicole Duval beugte sich weit über den nackten Körper. Akribisch begann sie, Laertes von allen Seiten, aus jedem erdenklichen Blickwinkel mit den Augen zu studieren. Zamorra war überrascht.

»Was suchst du?«Nicoles Antwort klang abwesend, denn jedes Wort störte

sie in ihrer Konzentration. »Keine Ahnung. Doch wenn dieser Zustand von außen an den Uskugen herangetragen worden ist, dann muss es dafür ein Indiz geben. Eine Schramme, eine Wunde … was weiß denn ich?«

Zamorra nickte. Dalius Laertes war ein mit ungewöhnlichen Kräften und Fähigkeiten ausgestattetes Wesen. Ihn auf mentaler Ebene mit einem Angriff zu überraschen, war äußerst unwahrscheinlich. Da musste es

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eine andere Erklärung geben. Der Professor schwieg, um Nicole nicht unnötig abzulenken.

Minuten vergingen, ehe Nicole plötzlich merklich stutzte. Dann wies sie auf Laertes' rechten Oberarm. Zamorra konnte auf den ersten Blick nichts erkennen, was irgendwie ungewöhnlich erschien. Doch dann sah er es auch. Ein winziger Punkt nur – eine kaum zu erkennende Kruste. Wenn man sich beim Arzt eine Schutzimpfung in den Arm jagen ließ, würde die entstehende Blutgerinnung um einiges deutlicher zu erkennen sein.

»Was ist das?«Zamorra antwortete nicht auf Nicoles Frage. Er löste

Merlins Stern von dem Schnellverschluss der Halskette, die er stets trug. Vorsichtig bewegte der Franzose das Amulett nahe an Dalius Laertes' Oberarm heran. Und die Silberscheibe reagierte!

Mit den Fingerkuppen strich Zamorra über den winzigen Punkt. Eine Spritze … nein, etwas Feineres war dort in das Fleisch eingedrungen – eine Nadel etwa, und die war ohne jeden Zweifel schwarzmagischen Ursprungs gewesen. Zumindest jedoch das, was sich an ihr befunden hatte.

»Gift.« Nicole sprach es aus.»Ja, es scheint, als wolle die Schwarze Familie sich des

Dalius Laertes entledigen. Verdammt, ich fürchte, sie haben ihren Job in diesem Fall zu gut gemacht.«

In Nicoles Blick war Unglauben. »Glaubst du nicht, der Uskuge weiß sich seines Lebens zu wehren? Ich meine …«

Zamorra unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. Viele Worte waren nicht nötig.

»Wer dieses Gift angemischt hat, war ein Meister seines Faches.« Er dachte an Stygia höchstpersönlich. Die Fürstin der Finsternis befand sich seit geraumer Zeit auf einem Feldzug in eigener Sache. Lange hatte sie sich relativ ruhig verhalten, hatte ihre Stellung genossen. Das war ihr nun offenbar nicht mehr genug. Was sie genau plante, wusste das Zamorra-Team nicht, doch ihre Aktivitäten ließen auf ein großes Ziel schließen.

Stygia liebte die Macht – absolute und uneingeschränkte

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Macht.Sie wusste sehr wohl, dass man sie mehr oder weniger auf

ihrem Thron nur duldete. Eine wirklich potente Rolle spielte sie in der schwarzen Hierarchie nicht. In den Schwefelklüften gab es zurzeit einfach niemanden, der sich nach ihrem Posten drängte. Jeder verfolgte seine eigenen Ziele, bei denen der Platz auf dem Knochenthron eher hinderlich sein mochte. Wäre dem anders gewesen …

Stygia wusste um ihre schwache Position. Ihr erstes Ziel war es sicher, diese zu stärken. Was danach kommen würde, wusste sicher nur sie alleine.

»Was können wir tun?« Zamorra bemerkte, wie kurz angebunden Nicole war. Sollte sie sich denn tatsächlich Sorgen um Laertes machen? Sie, die stets an den Plänen und der Loyalität des Vampirs gezweifelt hatte?

»Nicht viel – besser gesagt, überhaupt nichts. Ich werde einen weißmagischen Schutz um ihn legen. Château Montagne ist gegen Schwarzmagie zwar gesichert, doch ich will Laertes den bestmöglichen Schutz geben, den ich zu bieten habe. Und dann können wir nur abwarten. Ich werde die Nacht hier verbringen. Wenn sich etwas an seinem Zustand verändert, will ich da sein. Man weiß ja nie …«

Nicole blickte in das aschfahle Gesicht des hageren Wesens, in dem kein Leben mehr zu stecken schien.

»Du glaubst, dass er stirbt, nicht wahr?«Zamorra antwortete nicht sofort. Seine Gefährtin hatte

ihm eine klare, eindeutige Frage gestellt. Das verdiente eine ehrliche Antwort.

»Ja, ohne ein Wunder wird er sterben – er ist ein Vampir, der nicht wirklich Leben in sich trägt. Er wird … verlöschen.«

Irgendwann weit nach Mitternacht war Professor Zamorra in leichten Schlummer gefallen.

Eine Berührung ließ ihn hochschrecken. Nicole war lautlos in das Zimmer getreten.

»Leg dich ein paar Stunden hin. Ich übernehme die

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Wache.« Sie musste Zamorra nicht fragen, ob sich am Zustand des Vampirs etwas geändert hatte – es war deutlich zu erkennen, dass dem nicht so war.

Zamorra nickte, überließ ihr gerne den Lehnsessel, in dem er viele Stunden gesessen hatte. An der Tür blieb er noch einmal stehen.

»Ich hatte viel Zeit, um über Laertes nachzudenken. Ich habe mich an alles erinnert, was ich damals im geistigen Verbund mit Dalius über seine Vergangenheit erfahren habe.«

Nicole nickte. Sie entsann sich der langen Stunden, die sie zu einer Statistin gemacht hatten. Untätig hatte sie über die Körper der beiden Männer gewacht, die – ausgelöst durch ein Symbol – zu einer wohl einzigartigen Fusion gelangt waren. Zamorra und Laertes waren gemeinsam zu einer Welt gelangt, die sich Uskugen nannte.

Uskugen … Dalius Laertes' Heimatplanet. Sie hatten den jungen Dalius erlebt – anerkannter Wissenschaftler, Ratsherr und gefeierter Sportstar; glücklich verheirateter Mann, Vater von zwei wunderbaren Kindern.

Uskugen … Welt der Magie, Welt der Wissenschaft, die gemeinsam eine funktionierende Symbiose der besonderen Art eingegangen waren. Eine Welt, deren Bewohner in sich den Drang verspürten, ihr Wissen, ihr Glück mit den Intelligenzen in der Galaxis zu teilen, bedrohte Spezies zu unterstützen, sie vor Unheil zu bewahren.

Dabei waren sie selbst bedroht, denn die beiden Pfeiler, auf denen alles ruhte – Wissenschaft und Magie –, gerieten ins Schwanken. Mehr als das: Eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes bedrohte die friedliche Welt.

Zamorra-Laertes hatte die Rettung miterlebt, die in letzter Sekunde gelang. Doch der junge Laertes wurde in die Dunkelheit der Ungewissheit gestürzt. Der, den er für seinen besten Freund gehalten hatte, wurde zum Verbrecher am Leben, zum Verräter an seiner eigenen Welt. Neid, Eifersucht, Hass … das waren seine Triebfedern. Und sie alle bündelte er auf die Person Laertes'.

Semjon Tanno war sein Name – und sein Ziel war es, die

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magischen Schwächen, die in den Uskugen existierten, auszumerzen. Perfekte Wesen wollte er erschaffen, die Uskugen zu einer Macht im Universum machen sollten. Er bezahlte diesen Frevel mit seinem Leben – starb durch den ultimativen Klon, der er kreiert hatte.

Den Klon des Dalius Laertes!Es kam zu dem Duell, in dem Laertes seiner Kopie

gegenüberstand. Am Ende lebte nur noch einer der beiden. Sie hatten schnell und hart gekämpft, ein Pardon konnte es dabei nicht geben. Einer nur blieb übrig. Ein Dalius Laertes.

Doch welcher?Das Zamorra-Laertes-Bewusstsein hatte sich zurückziehen

müssen. Zurück in die Gegenwart, in die Realität der Erde. Und das Dilemma des Vampirs war übermächtig geworden. Einen Teil seiner Vergangenheit kannte er nun. Doch was war anschließend geschehen? Wie war er überhaupt zur Erde gelangt? Vor allem – wer war er? Ein Klon?

Von da an hatte Laertes alles darangesetzt, diese Leere mit Antworten zu füllen. Gelungen war es ihm nicht.

»Und zu welchem Resümee bist du gelangt?« Nicole fragte sich, was die damaligen Ereignisse mit der jetzigen Situation zu tun haben sollten.

Zamorra schien unschlüssig, was er Nicole antworten sollte. Sicher war er sich ja selbst nicht, doch irgendetwas sagte ihm, dass Dalius auch in diesen Stunden, in denen er mit dem Tod rang, dicht bei den weißen Stellen war, die sein Ego aufwies – die Wüsten in seinem Bewusstsein, so hatte er es einmal ausgedrückt. Endlose Zeiträume, die darauf warteten, dass man sie mit Erkenntnis, mit Wissen füllte. Doch nun schien es, als würde das nie mehr geschehen.

Nicole hatte mit keiner Antwort gerechnet. Sie sollte recht behalten. Mit dem Handrücken berührte sie Laertes' Stirn – und zuckte zurück.

»Grundgütiger … er glüht ja.« Der Uskuge schien extremes Fieber zu haben. Nicole konnte die Temperatur nur schätzen, doch sie lag sicher weit höher als alles, was bei einem Menschen bereits als lebensbedrohend zu

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bezeichnen war. »Wir sollten ihn irgendwie kühlen.«Weiter kam sie in ihren Überlegungen nicht, denn exakt in

diesem Augenblick schlug der Uskuge die Augen auf … Fieberaugen, die durch Nicole hindurchblickten, als wäre sie überhaupt nicht im Raum.

»Ein Spiel!« Die schöne Französin erschrak. Laertes war bei Bewusstsein, sprach – nein, er schrie. »Alles ist doch nur ein Spiel. Komm, hören wir damit auf … lass uns weiterziehen. Wir … nein! Nur ein Spiel, hörst du?«

Zamorra trat an das Bett heran, fasste Laertes bei den Schultern. Nun spürte auch er die Hitze, die von dem Uskugen ausging. »Dalius – komm zu dir. Ich bin es, Zamorra. Man hat dich vergiftet. Sag mir, wie ich dir helfen kann.«

Laertes' glasiger Blick heftete sich an den Professor.Tatsächlich war darin so etwas wie Erkennen. »Zamorra?

Wo bin ich denn? Im Spiel?«Ob es das Fieber war, oder ob das Gift in Laertes' Körper

seine verheerende Wirkung bereits bis auf dessen Verstand ausgeweitet hatte, das war Zamorra unklar. Doch das Ergebnis war in jedem Fall schlimm. Der Vampir schien nicht mehr aus der Fantasiewelt herauszukönnen, in der er gefangen war.

»Du bist im Château, mein Freund. Sag mir, ob du einen Weg kennst, wie wir dir helfen können.« Zamorra hoffte, der Uskuge wusste mehr über den schleichenden Tod, der in ihm wütete. Laertes' Blick wanderte zu Nicole.

»Ihr seid beide bei mir? Wollt ihr mit mir spielen?«Zamorra und Nicole sahen sich an. Es war zwecklos. Der

Vampir war in einem Traum, der für ihn keinen Ausgang bereithielt.

Keiner der beiden hatte eine Chance zu reagieren, als der scheinbar körperlich hinfällige Uskuge sich unvermittelt aufsetzte und blitzschnell nach ihnen griff. Nicole fühlte die Hitze von Dalius' Hand, die sich rasend schnell durch ihren Körper verbreitete. Sie hörte Zamorra aufstöhnen … doch zu einer Reaktion kam auch er nicht mehr.

Sie wurden eins.

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Sie stiegen gemeinsam auf – hoch und immer höher. Weiter nach oben, als je zuvor … bis ein Licht die Dunkelheit zerfetzte, das Licht der anderen Welt, der Fieberwelt.

»Alle sollen spielen. Weil ich es so will!« Nicole wusste nicht, wer diese Worte gesprochen hatte. Doch das hatte ja auch keine Bedeutung. Denn es begann – einfach so.

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2. Drei Köpfe

Das also war sie.Die Stadt.Seine Stadt – der Ort, an dem er geboren worden war. Das

zumindest hatte man ihm immer gesagt. Gesagt? Wer eigentlich sollte das gesagt haben? Im Augenblick fiel ihm keine Antwort ein, also stellte er die Frage ganz nach hinten.

Der Himmel war grau über der Stadt. Ganz so, als wollte er sie vor Blicken schützen, wölbte er sich über die Ruinen, die unzähligen Brandherde, aus denen Rauchfäden zu ihm in die Höhe stiegen.

Die Luft war rau an diesem Morgen, biss ihm kräftig in seine Atemwege. Wenn er es wagte, tief einzuatmen, konnte er ein Rasseln nicht überhören, das in seiner Brust auf und nieder tanzte. Der Hustenreiz war groß, doch noch beherrschbar. Mit Mühe hielt er ihn im Zaum, denn es war vielleicht nicht ratsam, hier auf sich aufmerksam zu machen.

Vielleicht irrte er auch, vielleicht wollte ihm niemand Böses. Vielleicht wartete seine Stadt ja nur auf seine Rückkehr?

Doch seine Erfahrungen sagten ihm, dass Vorsicht angebracht war. Erfahrungen? Tatsächlich?

Intensiv ließ er seine Blicke umherschweifen. Alles hatte sich hier innerhalb nur weniger Spiele verändert. Es musste so sein, denn die hohen Gebäude zeugten davon, dass hier noch vor nicht sehr langer Zeit eine blühende Industrie vorgeherrscht hatte.

Dann war die Zeit gekippt.Genau so musste es gewesen sein. Jeder Bewohner

Alteras kannte dieses Phänomen. Was man kannte, das verging – was man bekam, das war anders. Der größte Teil der Menschen dieser Welt nahm das als gottgegeben hin,

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als Wille der einen Macht, der sich alle unterordnen mussten.

Nur wenige lehnten sich dagegen auf, auch wenn dies mehr als lächerlich war. Ändern konnten auch sie nichts. Und so hatte sich bei jenen eine Art von Nomadentum entwickelt, denn eine andere Alternative gab es für sie nicht. Nur die Suche nach einem Ort, der ihnen etwas von dem zurückgeben konnte, das ihnen genommen worden war.

Schon seit einiger Zeit hatte er aus den Augenwinkeln heraus den Schatten bemerkt, der zwischen den Ruinen hin und her huschte – er wurde verfolgt. Wenn er sich nicht irrte, dann handelte es sich um eine einzelne Person. Wahrscheinlich drohte ihm von dort also keine akute Gefahr. Unangenehm wurde es wohl erst, wenn sich eine Marodeurbande für ihn interessierte. Doch das war eher unwahrscheinlich – es war deutlich zu erkennen, dass bei ihm nichts von Wert zu holen war.

Er beschloss, den Schatten vorerst zu ignorieren.Erst einmal war für ihn etwas ganz anderes von Interesse.Dies war also seine Geburtsstadt. Wie sie damals auch

immer ausgesehen hat – wie viele drastische Veränderungen sich hier vollzogen haben mochten … ein Kern, ein Fixpunkt, irgendetwas einmalig Markantes musste vorhanden sein. Niemand erlebte seine prägende Phase an einem Ort, von dem ihm später nicht der Hauch einer Erinnerung blieb. Niemand!

Langsam begannen sich die Straßen zu füllen. Kleine Läden, denen man deutlich ansah, dass ihre Ausstattung eilig improvisiert war, öffneten – Handwerker, Händler, Gaststätten. Der Wandel der Zeit hatte eine neue Richtung vorgegeben.

Aus den Arbeitern in den Erzminen wurden nach und nach Schuster, Tischler, Obsthändler; Fisch und Fleisch wanderte über die Theken. Spärlich noch, und so manche Ware machte wahrlich nicht viel her, doch das würde sich bald von selbst regulieren. Wer bemerkte, dass er nun doch nicht zum Särge bauen geschaffen war, der würde eben die

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letzten rohen Bretter nehmen, daraus eine Theke bauen und Gemüse unter die Leute bringen. So oder ähnlich würde es ablaufen.

Ohne zu klagen, hatten die Bewohner dieser Stadt sich gefügt. Die Maurer würden aus den Industrieruinen schon bald schlichte, durchaus ordentliche Wohnhäuser schaffen. Und die Schwelbrände hatten sicher bald ihre Schrecken verloren.

Es war eine Welt der Wechsel. Altera erschuf sich in Teilen ständig neu.

Und er? Nach wie vor kam ihm hier nichts bekannt vor. Wo hatte er als Kind, als Jugendlicher hier gewohnt? Seine Eltern – waren sie einfache Arbeiter gewesen? Oder reiche Leute, die ihre Villa an den Rand der Stadt gebaut hatten? War der Löffel in seinem Kindermund aus Gold … oder war er aus dünnem Blech gewesen?

Die Fragen bereiteten ihm so langsam Kopfschmerzen – Fragen, immer nur Fragen. Eine Antwort wäre nun nett gewesen, zumindest eine. Sein Magen meldete sich mit lautstarkem Grummeln. Wann hatte er seine letzte Mahlzeit zu sich genommen? Nein, nicht schon wieder eine Frage!

Mit Schwung hebelte er den großen Ledersack von der Schulter, den er dort mit Riemen befestigt hatte. Nicht fragen – nachsehen. Viel war es nicht, was in dem Beutel verstaut war. Ein Hemd, einige Tücher, eine Hose aus dünnem Wildleder, deren Beine knapp unter den Knien endete – und eine Geldkatze. Schon bevor er sie öffnete, war ihm klar, dass darin keine Reichtümer zu erwarten waren, denn dazu war sie einfach zu leicht. Er zählte die Münzen. Gut, in den kommenden Tagen musste sein Magen nicht leiden, und es würde vielleicht auch für eine einfache Unterkunft reichen. Dann jedoch sollte er eine Arbeit gefunden haben, wollte er nicht betteln gehen.

Suchend blickte er in die Runde. Hier gab es sicherlich auch Menschen, die den Zeitenwechsel dazu genutzt hatten, so etwas wie eine Pension zu eröffnen. Sein Blick blieb an einem recht kleinen Gebäude hängen, über dessen Tür zwei Zeichen angebracht waren – das eine zeigte

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gekreuzte Gabeln, das zweite ein stilisiertes Bett. Schulterzuckend richtete er seine Schritte dorthin. Warum noch lange suchen?

Irritiert stoppte er. Aus dieser Perspektive heraus nahm er die beiden Stahlpfeiler wahr, die nun scheinbar direkt hinter dem Gasthaus in den Himmel ragten. Der linke war in sich verdreht, wie von einer Titanenfaust gewrungen. Der rechte schoss pfeilgerade nach oben, und an ihm hingen noch Fragmente, die einmal festes Mauerwerk gewesen sein mochten.

Erinnerte er sich? Nein … es war eher dieses Symbol des Zerstörten, des Vergangenen, das ihn beeindruckte. Er schüttelte diesen Gedanken aus seinem Kopf. Symbole machten nicht satt, Grübelei schon gar nicht.

Die Tür zu dem Gasthaus war weit geöffnet. Mit Geschick und Phantasie hatten die Inhaber aus ihrer guten Stube ein Ambiente gezaubert, das zum Bleiben animierte. Ein paar schlichte Tische mit nicht minder schlichten Stühlen – eine Art Raumteiler, den man als Theke erkennen konnte. Blumen, Bilder an den Wänden, unter der Decke einen Lüster von mindestens sechs Fuß Durchmesser, der 12 dicken Kerzen Platz bot. Das passte prächtig zusammen. Ein weiterer Beweis, wie flexibel die Bewohner dieser Stadt waren.

Der Raum war menschenleer – zumindest was den Gastbereich anging. Hinter der Theke jedoch stand eine Frau, die ihm den Rücken zukehrte. Sehr groß erschien sie ihm nicht, ihr Alter schätzte er nach der Art ihrer Bewegungen ab, denn sie wienerte eifrig mit einem Lappen an irgendetwas herum – sie mochte ein paar Runden weniger als er zählen, doch das konnte täuschen. Ihr Gesicht blieb ihm ja unsichtbar. Dafür konnte er sich an ihren Haaren sattsehen. Nachtschwarz und von einer Dichte waren sie … gebändigt in zwei dicken Zöpfen, die der Frau bis weit in den Rücken hinabfielen.

Sie hatte sein Eintreten gehört, wandte sich dennoch nicht um.

»Setz dich. Du wirst schon noch einen freien Platz finden.«

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Er grinste. Ihr Humor schien von der ironischen Sorte zu sein. »Möchtest du etwas essen? Sicher möchtest du, denn ich höre deinen Magen ja beinahe bis hierher brummen. Eine Fleischsuppe kann ich dir anbieten. Wein dazu?« Er wollte antworten, doch dazu ließ sie ihm keine Gelegenheit. Plötzlich war sie durch eine Tür verschwunden, die wohl in die Küche führte.

Erst jetzt bemerkte er, wie sehr ihm die Füße schmerzten. Er musste einen langen Weg gegangen sein, der ihn schließlich in die Stadt geführt hatte. Er setzte sich an den Tisch, der dem Tresen am nächsten stand. Einen langen Weg … Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht. Warum wollte sich keine Erinnerung einstellen? Nicht an diese Stadt, nicht an seine Vergangenheit, von der er doch einen großen Teil hier verbracht haben musste … nicht einmal daran, woher er jetzt gekommen war.

Altera – er wusste viel über diese Welt, kannte deren Gesetze, deren Einzigartigkeiten. Und doch auch wieder nicht. Beinahe so, als hätte irgendwer seinen Kopf geöffnet, ihn mit diesem Wissen vollgestopft, Wissen, das er nicht verarbeiten konnte, das keine Wurzeln hatte. Müde schloss er für einige Sekunden die Augen. Er durfte nicht einschlafen, nicht in dieser Stadt, in der vielleicht alte Feinde auf ihn warteten? Oder liebe Freunde? Schon wieder Fragen … nichts als Fragen …

»Hey! Aufwachen!«Er zuckte zusammen, sprang von seinem Stuhl hoch. Die

Müdigkeit musste ihn übermannt haben. Kraftlos und erschrocken sank er wieder zurück, als er bemerkte, dass ihm niemand an den Kragen wollte. Es war die Frau – die Wirtin? –, die eine dampfende Terrine vor ihm auf dem Tisch abgesetzt hatte. Eine Karaffe von ordentlicher Größe und ein Becher standen gleichfalls mit auf dem Tablett. Der Geruch des starken Weines mischte sich mit dem Aroma der heißen Suppe. Das war es, was er gebraucht hatte. Genau die Kombination, die seine Lebensgeister wieder weckte.

»Das hier ist eine Gaststube. Schlafen kannst du oben, in

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einem sauberen Bett, wenn du hier ein Zimmer nehmen willst. Verstanden?« Am liebsten hätte er sich sofort über die Suppe hergemacht, den Wein gekostet, aber ein Blick in ihr Gesicht bremste seine Vorhaben komplett aus.

Auf ihrer Stirn hatte sich eine senkrechte Wutfalte gebildet, doch ihre Augen lachten! Tiefgrüne Augen, wie er sie so zuvor noch nie gesehen hatte. Es war für ihn sicher – wenn sie lächelte, dann würden sich die schönsten Grübchen dieser Welt zeigen!

Doch sie lächelte ja nicht. Ihr Mund war ein wenig zusammengekniffen, die Lippen leicht gespitzt. »Willst du nun ein Zimmer oder nicht? Ich muss das rechtzeitig wissen.« Warum dem so war, blieb ihr Rätsel, denn es schien, als wäre er nicht nur in der Gaststube der einzige Kunde. »Warum glotzt du mich eigentlich so an?« Ihre Stimme bekam einen drohenden Beiklang, und er entschied, sie besser nicht zu reizen. Was hätte er auch sagen sollen?

Ich glotze, weil ich dich für das süßeste Wesen auf dieser Welt halte?

Das hätte sie übel genommen, ganz sicher. Mit ein wenig zitternder Hand fasste er den Löffel, kostete die Suppe. Sie schmeckte ihm wie das teuerste aller Festmahle. Beinahe verlegen blickte er sie an.

»Die Suppe schmeckt traumhaft gut.« Ihr Gesicht hellte sich beinahe schlagartig auf. »Und ja, ich möchte gerne ein Zimmer. Ich kann zahlen – und wenn du willst, dann auch im Voraus.«

Die junge Frau richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sah von oben herab auf ihren Gast. Sie war tatsächlich nicht sehr groß, mochte ihm höchstens bis zu den Schultern gehen. Das verwaschene Kleid aus Wildleder, dessen Farbe sicher einmal ein warmes Braun gewesen war, wirkte an ihr wie eine Trophäe, die sie stolz trug. Sie konnte hart arbeiten, scheute sich nicht vor Schweiß und blauen Flecken. Und nun … lächelte sie endlich, zeigte ihre Grübchen.

»Keine Ahnung, was für ein Spiel du hier spielst. Vielleicht

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erkennst du mich ja wirklich nicht. Es ist lange her, seit du aus der Stadt verschwunden bist.« Er blickte sie an, verstand nicht eines ihrer Worte. »Warum sollte ich von dir Geld nehmen? Du warst schon immer ein Spinner, doch nun sollten wir dieses Spiel beenden, Neob Ciffa. Ich finde es jetzt wirklich nicht mehr lustig.«

Eine tiefe Stimme klang laut von der offenen Tür zu ihm herüber. Ein Blick genügte, um ihm zu beweisen, dass sich dort der Schatten aufgebaut hatte, der ihm draußen gefolgt war. Der Kerl grinste breit.

»Ein Spinner war er doch immer, Rana, hattest du das vergessen? Hol's der fette Henker! Du bist es tatsächlich. Mein Raufbruder ist zurück!«

Wie kraftlos und ausgehungert er wirklich war, das bemerkte er, als dieser ungeschlachte Bursche ihn spielerisch in die Höhe hob und wild an sich drückte. Viel hätte nicht gefehlt, und seine Rippen hätten Schaden genommen. Mit letzter Kraft röchelte er einen Gnadenappell hervor.

»Willst du mich umbringen? Lass doch los …« Das Ganze mündete in einen Hustenanfall, der das Riesenbaby zur Vernunft brachte. Erschrocken von der eigenen Energie, setzte er sein Opfer zurück auf den Stuhl.

»Gütige Zeit … was bist du abgemagert. Wo ist deine Kraft geblieben, Mann?«

Neob antwortete nicht – er konnte nicht sprechen, denn noch immer wollte einfach nicht ausreichend Luft in seine Lungen wandern. Wenn das die Begrüßung eines alten Freundes war … was mochte dann einem Feind von diesem Knaben blühen? Neob wollte sich das nicht ausmalen.

Neob … Neob Ciffa … ja, das war sein Name.Es war keine Sache der Erinnerung, die ihn da so sicher

machte. Es war schlicht eine Wahrheit, die ihm nun wieder bewusst war. Verrückt, denn schloss das eine das andere nicht ein? Wissen und Erinnerung – zumindest waren sie enge Verwandte. Und um es auf die Spitze zu treiben: In

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seiner Erinnerung gab es kein Wissen um diesen Grobian, der ihn beinahe umgebracht hätte … und das dann auch noch aus reiner Freude!

Wenn es denn so war, dass er hier bei alten Freunden war, vielleicht bei den beiden einzigen, die er aktuell besaß, dann musste er ihnen reinen Wein einschenken. Ein doch unmögliches Unterfangen, wenn man selbst nicht wusste, wer man denn tatsächlich war … was man war. Verzweifelt suchte Neob nach einer Variante seiner Befindlichkeit, die von den beiden hier geschluckt werden konnte. Er fand sie schneller, als er es je geglaubt hätte. Im Erzählen von Geschichten – wohl auch im Erfinden erstklassiger Lügen – schien er geübt.

»Vergebt mir, aber in meinem Kopf herrscht Unordnung. Ich hatte einen Unfall – so viel weiß ich noch. Doch seither irre ich umher, ohne mich und meine Vergangenheit wirklich zu kennen. Vielleicht war es ein großer Zufall, der mich hierher verschlagen hat. Doch es scheint, als hätte ich hier meine eigene Historie gefunden. Bitte … helft mir weiter, Freunde.«

Der Mann ließ sich geräuschvoll auf einen Stuhl fallen. In seinem Gesicht war Unglauben zu lesen. Die schöne Wirtin ließ sich direkt neben Neob nieder. Er ließ es sich nicht anmerken, doch die plötzliche Nähe zu ihr machte ihn reichlich nervös.

»Du erinnerst dich nicht an uns? Überhaupt nicht?« Er zog es vor, erst einmal den Mund zu halten, schüttelte nur den Kopf. »Armer Neob.« Ihr Mitleid war echt, denn da war wieder die kleine Falte auf ihrer hübschen Stirn. Doch jetzt signalisierte sie keine Wut, sondern Bedauern und Sorge.

Neob riskierte nun doch einen kleinen Einwurf, denn es war ihm nicht unangenehm, von der schönen Frau bemitleidet zu werden. »An überhaupt nichts. Nicht einmal an meine Eltern.«

Rana – diesen Namen würde Neob sicher nie mehr vergessen – wechselte mit dem Grobian einen bestürzten Blick. »Er hat tatsächlich alles vergessen, Blauu.«

Der Mann nickte bedächtig. »Das erklärt viel – darum

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warst du so lange fort von hier. Neob, du hast keine Eltern. Rana und ich ebenso wenig – wir alle sind Waisenkinder. Und im Waisenhaus sind wir auch gemeinsam aufgewachsen, waren wie Geschwister.«

Neob atmete tief durch. Kein Elternhaus also, kein Vater, keine Mutter. Wie hätte er also eine Erinnerung daran haben sollen, wenn es keine gab? Das erklärte jedoch alles andere nicht, denn weder Rana noch Blauu hatte er je zuvor gesehen. Hätte nicht genau jetzt ein Fetzen Vergangenheit durch seine Gedanken wehen müssen? Doch da war nach wie vor nichts.

Rana sprach weiter, während sie liebevoll seine Hand in die ihren nahm. Neob begann zu schwitzen.

»Als wir alt genug schienen, warfen sie uns aus dem Waisenheim. Dann haben wir uns gemeinsam durchgeschlagen. Ihr habt auf den Feldern gearbeitet, manchmal bei einem Schmied oder Tischler ausgeholfen, und ich habe die Häuser der Reichen und Faulen geputzt.« Einen Moment hielt sie inne, suchte in Neobs Gesicht einen Erinnerungsfunken. Sie fand ihn dort nicht.

»Schließlich haben wir ein Stück Land gepachtet, haben Obst und Gemüse gezüchtet. Salat wurde rasch zu unserer Spezialität – man hat uns das Zeug aus den Händen gerissen. Wir waren nicht unbedingt reich, aber nicht weit davon entfernt. Doch dann …«

Blauu unterbrach Rana.»… dann verdorrte der Boden. Alles hier …« Er machte

eine umfassende Handbewegung. »Die ganze Gegend war davon befallen. Der Zeitwandel kam so überraschend, dass sich die meisten der Bauern einfach nicht schnell genug umstellen konnten. Viele wanderten einfach ab. Die, die blieben, wurden zu Minenarbeitern, die tief im Bauch der Erde nach Erzen wühlten.« Ein verächtlicher Zug lag um Blauus Mund. »Mich haben die da nicht hinbekommen, mich nicht! Aber auch das ist ja zum Glück nun vorbei.« Er schien mit der neuen Entwicklung zufrieden zu sein.

Rana sah Neob in die Augen. »Und du … du bist einfach verschwunden. Wir haben die ganze Stadt, die ganze

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Gegend nach dir abgesucht. Finden konnten wir dich jedoch nicht. Es war, als hätte es dich überhaupt nie gegeben.«

Neob schwieg dazu, doch das war exakt die Beschreibung seines Seelenzustandes – als hätte es ihn noch vor kurzer Zeit nicht gegeben.

Die Frau fuhr fort. »Doch jetzt bist du ja wieder bei uns. Zu dritt werden wir den Gasthof zu einer Goldgrube machen. Endlich sind wir wieder komplett. Du wirst schon sehen, bald kommt deine Erinnerung zurück. Dann ist es wieder wie früher.«

»Na ja, nicht so ganz, Rana.« Blauu stand auf und stellte sich hinter Rana. Seine Hände, diese fleischigen Schaufeln, mit denen er Neob fast erdrückt hatte, lagen nun zärtlich und leicht auf den Schultern der Schwarzhaarigen. »Wir müssen es ihm sagen. Mach du das … ich bin in solchen Dingen nicht so gut.«

Rana legte den Kopf schief, sodass ihre Wange Blauus rechte Hand berührte. Für Sekunden schloss sie die Augen. »Natürlich müssen wir es ihm sagen. Neob, Blauu und ich sind den Bund eingegangen. Wir hätten dich so gerne dabeigehabt, doch du warst ja scheinbar für immer fort.«

Ein peinliches Schweigen entstand. In den Blicken der beiden stand es deutlich geschrieben. Sie erwarteten eine Reaktion von Neob. Nur … wie sollte die aussehen? Wie hatten sie früher zueinander gestanden? Neob wusste in dieser Sekunde nur, dass die Frau, bei deren Anblick er zittrige Beine bekam, für ihn unerreichbar geworden war.

Ihm fiel nichts Besseres ein, als sich Wein in seinen Becher zu füllen. Sicher sollte er den zwei Liebenden nun gratulieren. Aus irgendeinem Grund schaffte er das nicht. Um Zeit zu gewinnen, nahm er einen kräftigen Schluck …

… und die Schwärze kam jäh, sprang ihn wild an! Da gab es nur noch die Stimme, die seinen Kopf ausfüllte.

… … …»Nein, das ist nicht recht.

Ganz falsch.Anders – ich will es anders!«

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… … …

Neob war blind! Nicht der winzigste Funke an Helligkeit war um ihn herum. Wie eine Glocke hatte sich tiefste Finsternis über ihn gestülpt. Entsetzt wollte er aufschreien, doch nicht einmal dazu war er noch fähig. Die Worte trafen ihn Schlägen gleich, Hammerschläge, die jeden einzelnen Buchstaben in sein Bewusstsein schlugen.

… und dann war es vorbei. Er ließ den Becher auf den Tisch fallen, schlug die Hände vor das Gesicht, weil die plötzliche Wahrnehmung von Licht und Farben ihm Schmerzen bereitete. So musste es sich anfühlen, wenn man viele Tage oder Wochen in einem finsteren Loch gelegen hatte, und plötzlich riss der Boden über einem auf, ließ Tageslicht und Sonnenstrahlen schlagartig einfallen.

Das alles hatte sicher nur wenige Momente gedauert, doch Neob Ciffa konnte einfach nicht fassen, was er nun zu sehen bekam.

Blauu saß ihm direkt gegenüber, als wäre er nie von diesem Stuhl aufgestanden. Freundlich lächelte er Neob an. Rana hielt nach wie vor Neobs Hand. Rana … ihre grünen Augen waren voller Mitleid. Grün, so wie ihr Kleid … grün? Wieso grün? Als sie ihren Kopf zur Seite drehte, sah Neob ihren Zopf, der ihre wilde Mähne bannte. Ein einziger Zopf nur, nicht deren zwei.

»Ich habe auf dich gewartet, lieber Neob. Und Blauu hat wie ein Bruder über mich gewacht. Doch nun bist du wieder bei uns. Endlich.«

Ciffa erhob sich mit zitternden Beinen. Ihm war schwindelig. Wahrscheinlich war das alles einfach zu viel für ihn. Er halluzinierte ganz eindeutig.

»Ich … ich möchte mich hinlegen, erst einmal ausschlafen. Seid mir nicht böse, aber all diese Eindrücke – ihr versteht sicher.« In Ranas Augen war Enttäuschung zu erkennen, doch Blauu rettete die Situation.

»Komm, ich bringe dich auf ein Zimmer. Wir haben mehr als genug freie Gästeräume. Aber das wird alles bald anders werden. Komm, Raufbruder, schlaf dich aus, dann sieht

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alles gleich ganz anders aus.« Das Zimmer war klein, doch sauber und freundlich eingerichtet. Neob wäre alles recht gewesen, solange dort ein Bett zu finden war.

So erschöpft er auch war – es dauerte eine ganze Weile, bis er einschlief. Was er vorhin erlebt hatte, überstieg ganz einfach seinen Horizont. Im Grunde war es dieser ganze Tag, der ihm die Ruhe stahl. War wirklich alles so, wie die zwei es ihm erzählt hatten? Aber was hatte es dann mit der Stimme auf sich, die sich in seinen Kopf gestohlen hatte – und welche Wahrheit war die echte?

Oder war die Realität so leicht zu spalten?Er verschlief einen ganzen Tag und eine ganze Nacht.Es war ein Schlaf ohne Träume.

Die Zeit verging schnell auf Altera.Ein Sonnenumlauf war seit dem Tag seiner Ankunft in der

Stadt vergangen – Neob kam es vor, als wäre es nur ein paar Sonnenaufgänge her. Es war ein warmer Tag, an dem er vor dem Drei Köpfe stand und mit skeptischem Blick die neue Werbetafel betrachtete, die der Kunstmaler soeben mit seinen Gehilfen über dem Eingang des Gasthauses angebracht hatte.

Drei Köpfe – zwei Männer und eine Frau waren dort zu sehen; darunter in geschwungenen Buchstaben der Name dieser Mischung aus Restaurant und Gasthof. Es war durchaus gelungen, was der Meister abgeliefert hatte. Dennoch war es für Neobs Blick ganz einfach falsch. Es war sein Gesicht, das ihn störte, weil es dort nichts zu suchen hatte.

Er war falsch hier! Seit besagtem Tag hatte es keine so drastische Veränderung in seinem Realitätsempfinden mehr gegeben. Er neigte manchmal, wenn seine Stimmung es zuließ, sogar dazu, seine damalige Wahrnehmung überspannten Nerven zuzuschreiben. Doch dazu hatte sich alles viel zu klar und eindeutig abgespielt.

Nein, eine Wiederholung hatte es nicht gegeben, doch es war kaum ein Moment vergangen, in dem er sich nicht

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beobachtet, geleitet und kontrolliert gefühlt hatte. Er hatte für sich keine Möglichkeit gefunden, diese Gefühle in eine vernünftige Antwort zu packen. Alles war glatt verlaufen – viel zu glatt:

Das Gasthaus hatte seither nie wieder über Gästemangel zu klagen gehabt. Im Gegenteil. Nicht lange, da hatten die drei beschlossen, einen Anbau zu errichten. Platz war vorhanden, die finanziellen Mittel flossen beinahe wie von selbst. Blauu und Neob hatten sich darum gekümmert, packten kräftig mit an, als der Bau rasch in die Höhe gezogen wurde. Rana war unglaublich, denn nicht nur ihre Kochkünste wurden schnell zur Legende – für die Gästezimmer stellten sie drei Mädchen ein, die alles in bester Ordnung hielten, in der Küche und beim Bedienen der Hungrigen ihr Bestes gaben. Nun ja … zumindest einen gewissen Teil davon.

Die Stadt wurde im rasenden Tempo zu einem Handelstreffpunkt – jeder hetzte und hastete, versuchte, seinen ganz persönlichen Wohlstand zu erhaschen. Niemand sprach auch nur noch mit einem Wort über die Epoche, die doch erst vor so kurzer Zeit in sich zusammengebrochen war.

Wahrhaftig … die Zeit verlief schnell auf Altera. Viel zu schnell. Unnatürlich schnell!

Neob deckte seine Augen mit der flachen Hand ein wenig ab, denn die Sonne stand direkt hinter dem Drei Köpfe. Und wenn er das Schild noch so lange anstarren mochte, so wurde es dadurch nicht richtiger. Er war es, der hier nicht hingehörte. Sein Gesicht hatte dort neben dem von Blauu und Rana nichts zu suchen. Dieser Gedanke wiederholte sich wie in einer Endlosschleife in seinem Verstand.

Rana … sie arbeitete doppelt so viel wie die beiden Männer, und manchmal glaubte Neob, den Grund dafür zu kennen. Die Arbeit hielt sie davon ab, zu viel über sich und Neob nachzudenken. Blauu konnte sich ab und zu nicht beherrschen – dann machte er seine witzigen Anspielungen, in denen es um seine Freunde ging. Für ihn war klar, dass sie zwangsläufig ein Paar werden mussten. Rana schwieg

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stets dazu, Neob lenkte schnell auf andere Themen ab.Vielleicht hatten sie ja wirklich einmal zusammengehört,

doch Neob hatte keine Erinnerungen daran. Er war hier … und doch wieder auch nicht. Inszeniert – für ihn in Szene gesetzt … so waren seine Empfindungen, wenn er sein momentanes Leben betrachtete. Aber von wem denn nur?

»Hallo Neob! Gute Geschäfte für dich!« Neob hob die rechte Hand zu einem flüchtigen Gruß. Er achtete nicht darauf, wer ihn da im Vorüberhetzen angesprochen hatte. Man kannte ihn, schätzte seine Art. Er war ein Teil dieser Stadt, zumindest sahen die anderen das so.

Doch Neobs Entschluss stand längst fest. Er würde gehen. Wohin, das wusste er natürlich nicht, denn die Himmelsrichtung, in die er aufbrechen wollte, sie spielte nun wirklich keine Rolle. So wenig, wie er hierher gehörte, so wenig gehörte er an einen anderen Ort dieser Welt.

Der Gedanke, nicht nur dieser Stadt und seinem momentanen Leben, sondern dieser ganzen irren Welt zu entfliehen, war ihm schon mehr als einmal gekommen. Was für ein Unsinn. Wie konnte man eine Welt verlassen – doch wohl nur durch den eigenen Tod.

Neob zögerte den Schritt nun schon einige Zeit hinaus. Die einzige Lösung war, einfach so zu verschwinden. Keine Erklärungen, kein langer Abschied. Der wäre ihm besonders bei Rana unendlich schwer gefallen. Doch es ging nicht anders. Er musste von hier fort, etwas anderes beginnen, etwas anderes finden? Etwas, das er als seine wirkliche Realität erkennen konnte.

In der kommenden Nacht würde er es tun. Kein Aufschub mehr!

So rasch der Zeitfluss auf dieser Welt auch zu sein schien, so träge gab er sich für den Rest dieses Tages. Es schien Neob ewig zu dauern, ehe endlich die Sonne unterging. Dann erst begann das Hauptgeschäft in den Drei Köpfen. Mitternacht war bereits passé, als in der Gaststube noch immer gut zwanzig Frauen und Männer saßen, die laut ein derbes Sauflied nach dem anderen grölten. Neob war bemüht, sich wie immer zu geben. Dennoch spürte er die

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Spannung, die seinen ganzen Körper ergriffen hatte.Als Blauu endlich damit beschäftigt war, die allerletzten

der Trinkfesten zum Gehen zu bewegen, verabschiedete sich Neob auf sein Zimmer. In der Dunkelheit wartete er geduldig, bis sich in Ranas Zimmer nichts mehr rührte, schließlich auch in Blauus Kammer.

Dann erst verließ er lautlos das Haus.

Alteras einziger Mond stand bereits tief, als Neob die Stadtgrenze hinter sich ließ.

Das fahle Licht, das der Trabant zu spenden bereit war, hatte eine Ockerfärbung, die es einem Wanderer nicht eben leicht machte, wenn er sich in diesen Stunden auf fremdes Territorium begab. Neob erging es da nicht besser. Nur langsam tastete er sich weiter. Außerhalb der Stadt schloss sich ein dichtes Waldgebiet an. Er hatte diese Richtung zwar nicht bewusst eingeschlagen, doch sie kam ihm gelegen, denn wenn ihn jemand suchen sollte, würde der in diesem Grüngürtel kaum eine Chance auf Erfolg haben.

Ständig blieb er stehen, lauschte in die Nacht hinein. Da waren keine Schritte zu hören – seine Flucht war bisher also unentdeckt geblieben. Er stolperte weiter voran, drückte sich an Baumriesen vorbei, die plötzlich wie mächtige Ungeheuer in dem diffusen Nachtlicht vor ihm auftauchten. Erst jetzt wurde ihm klar, wie unüberlegt und dumm er seinen nächtlichen Abschied geplant hatte. Abschied war sicher auch nicht das richtige Wort, denn es war ganz klar eine Flucht … vor sich selbst.

Nahrung hatte er keine bei sich. Seine Schuhe waren eher nicht vom Schuster gemacht worden, um damit Wanderungen über Waldboden zu unternehmen. Vor allem jedoch hatte er kein Wasser mitgenommen. Er wusste nichts über seine Tun in der Vergangenheit, doch eines war ihm nun klar: Ein Wanderer war er sicherlich nie gewesen.

An irgendeiner Wurzel blieb er schließlich dann doch hängen, schlug der Länge nach hilflos zu Boden. Neob Ciffa schloss die Augen. Zu allem Übel wollte ihn nun auch noch

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die Müdigkeit übermannen. Aber war er denn schon weit genug gegangen, um sich eine solche Schlafpause gönnen zu können? Sicher nicht.

Die Müdigkeit floh aus seinem Geist, als er das Leuchten bemerkte, das sich vor ihm durch die Bäume bewegte – exakt auf Neob zu. Es war einfach nicht möglich, dass jemand, aus dieser Richtung kommend, nach ihm suchte. Schon Sekunden später war ihm klar, dass dieses helle Licht nicht von Lampen stammte, erst recht nicht von Fackeln, denn es bewegte sich gleitend in seine Richtung. Zudem war es viel zu schnell, um menschlicher Natur zu sein.

Dann wurde aus dem Gleiten ein Jagen … und Neob riss die Hände vor sein Gesicht, weil er befürchtete, das Gleißen könnte ihm das Augenlicht rauben. Instinktiv wandte er sich um, wollte in die Dunkelheit entfliehen, aus der er eben erst gekommen war. Doch die gab es nicht mehr. Alles war so lichtdurchflutet, als wäre ein Teil der Sonne auf die Welt gestürzt.

Zitternd verharrte Ciffa in völliger Unfähigkeit, auch nur einen Schritt zu tun.

… … …»Sieh mich an. Ich will es so.«

… … …

Neob spürte das Entsetzen in sich. Diese Stimme – sie hatte damals die Realität verändert. Und nun war sie wieder ganz nah bei ihm, in ihm. Jetzt jedoch war sie weit mehr als eine Stimme, denn ihre Präsenz fühlte Neob in jeder Faser seines Körpers.

… … …»Sieh mich an!«

… … …

Die Stimme war befehlend, duldete keinen Widerspruch. Doch was sie vortrug, hatte einen flehenden Charakter. Nein, er wollte das Wesen nicht ansehen. Er wollte nur fort

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von hier. Plötzlich war da wieder Kraft und Energie in Neob. Er machte einen seitlichen Sprung, der ihn aus dem Zentrum der Lichterscheinung brachte. Dann spurtete er los.

Neob Ciffa schrie entsetzt auf, als er den Kontakt zum Boden verlor. Hilflos zappelte er in der Luft – doch dieser Zustand dauerte nur einen Herzschlag lang.

Dann schien ihn eine Titanenfaust zu ergreifen, schleuderte ihn nach hinten, direkt gegen den Stamm eines der uralten Bäume. Neob hing gut vier Fuß hoch über der Erde, mit dem Rücken an den Stamm gebannt. Wie ein Nachtfalter, der sich in seiner Einfältigkeit zu nahe an die harzige Rinde eines Gehölzes gewagt hatte, das ihn nun für immer festhalten würde … bis zum bitteren Ende.

Das Zentrum des Lichtes näherte sich ihm gleitend. Neobs Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt.

Er verfluchte diese Tatsache, denn was er nun sah, hätte er sich lieber erspart.

Da war ein Gesicht.Neob fragte sich, ob man das, was nun so dicht vor ihm

schwebte, tatsächlich so nennen konnte. Mit einem tiefen Stöhnen schloss er die Augen.

… … …»Nein – du sollst mich ansehen!«

… … …

Er konnte nichts dagegen tun, dass sich seine Augenlider hoben. Er sah das übergroße Antlitz, das uralt zu sein schien. Die dicke Lederhaut war mit tiefen Furchen durchzogen, die von Kummer und Qual sprachen. Die Stirn endete in wulstigen Knochen, die sich über den Augenhöhlen weit nach vorne wölbten. Unter diesen Augen hingen dicke Tränensäcke, die sich ständig zu bewegen schienen. Die Augen selbst waren winzig, verschwanden beinahe verschämt hinter den mächtigen Wölbungen, die sie umgaben. Ihre Farbe war undefinierbar.

Die Nase – breit, breiig … dann die kurze Oberlippe, die

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kaum ins Auge fiel, denn sie war ja nur eine Begrenzung. Begrenzung für ein ständig offenstehendes Maul, das die gesamte untere Hälfte der grotesken Fratze dominierte. Zwei Reihen schief gewachsener Zähne, die Neob an lange Speere erinnerten, die sich in einer hoffnungslosen Schlacht gegenüberstehen.

Zweimal je sechzehn entsetzliche Waffen, die einen ausgewachsenen Menschen sicher ohne Schwierigkeiten in zwei Hälften zerteilen konnten. Doch Neob war überzeugt, dass dieses Wesen nicht auf körperliche Gewalt angewiesen war.

… … …»Du willst eine eigene Wahl treffen. Deinen eigenen Weg willst du dir suchen.

Du vergisst etwas dabei:Dies ist meine Welt – nicht deine.«… … …

Neob wusste nicht, ob er nun antworten sollte. Wahrscheinlich war das unnötig, denn dieses Ding kannte keine Grenzen. Sicher lag Neobs Innerstes weit offen vor der Fratze.

… … …»Du wirst nicht fortgehen. Auch wenn dies wohl das Beste ist, was du kannst.

Nein, du wirst bei den Deinigen bleiben, wirst ihr Leben mit ihnen teilen.

Alles Unglück, jedes Glück. Es gibt keine Ausrede für dich. Hier nicht.«

… … …

Eine Gegenrede war Ciffa einfach nicht möglich. Was hätte er auch sagen können? Er verstand die Anspielungen der Kreatur ja nicht. Ihm war nicht bewusst, sich je einer anderen Verantwortung entzogen zu haben. Wenn, dann war das alles in einer anderen Ebene geschehen, an die

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Neob keine Erinnerungen mehr besaß.

… … …»Füge dich, was immer auch geschieht. Wenn nicht …«

… … …

Von einem Herzschlag zum anderen war die Fratze verschwunden. Was sie hinterließ, war das Inferno. Der ganze Wald um Neob herum war in hellste Flammen getaucht. Ciffa rutschte unsanft zu Boden, denn die unsichtbare Kraft, die ihn am Stamm gehalten hatte, existierte nun nicht mehr.

Feuer – wohin er auch sah. Er musste fort von hier, doch es gab keinen sicheren Fluchtweg. Was bezweckte das Wesen mit seiner Handlung? Es band ihn mit Drohungen an das Leben, dem er hatte entfliehen wollen. Dann jedoch schloss es ihn in einer Feuerhölle ein, in der er erbärmlich umkommen musste.

Trotz der verzweifelten Lage nahm die blanke Wut in Neob überhand.

»Du hässliches Vieh! Warum tust du das? Lass mich hier nicht verrecken!«

Die Hitze griff nach ihm – bald würden die Flammen nach ihm lecken … doch wahrscheinlich war er dann schon nicht mehr bei Bewusstsein. Neob rannte los. Dort … von dort war die Fratze gekommen. Es war sicher unsinnig, doch er bildete sich in seiner übergroßen Panik ein, der Erscheinung in genau diese Richtung folgen zu müssen. Neob hustete entsetzlich – der immer dichter werdende Rauch kroch in seine Atemwege, schnürte ihm die Luft ab.

Die Beine wollten ihm den Dienst versagen. Angst! Also hing er doch an diesem Leben, das ihm oft so gleichgültig gewesen war. Er wollte hier nicht verrecken … nicht auf diese Art und Weise. Vielleicht gab es hier in der Nähe einen Teich, einen winzigen Tümpel. Irgendetwas, wo er sich vor den tobenden Flammen in Sicherheit bringen konnte. Und wenn es nur für Minuten sein sollte. Selbst die schienen ihm

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nun wichtig und begehrenswert.Neobs Schritte wurden langsamer, die Füße hoben sich

nur noch gequält vom Waldboden, der eine enorme Hitze abstrahlte. Durch den Rauch hindurch sah er etwas silbrig glänzen. Wasser? Neue Kräfte durchfluteten Ciffa. Mit jedem Schritt, den er sich dem neuen Ziel näherte, wurde die Gewissheit größer. Ein kleiner Teich, tatsächlich.

Die letzten Meter hetzte er voran, sprang mit letzter Kraft nach vorne, um in das vielleicht Rettung bringende Nass einzutauchen. Der Aufprall schmerzte in allen Gliedern, griff jeden Muskel an.

Kein Wasser, sondern … Eis?Der Tümpel war mit einer dicken Eisschicht überzogen. Eis

– mitten in der wärmsten Jahreszeit, die Altera aufweisen konnte – inmitten einer Feuersbrunst, deren glühender Hauch nach Neobs Atemwegen griff.

Erschöpft, mutlos und ohne den allerletzten Hoffnungsfunken blieb Neob einfach so liegen. Die Kälte, die von unten kam, sie würde ihm für eine kurze Zeit Erleichterung bringen. Bis zu dem Augenblick, in dem die Flammen auch über die Eisfläche schwappten.

… … …»Meine Welt – nicht deine!

Es geschieht, was ich will.Daran denke immer …«… … …

Die Stimme verklang, und Neob fühlte das Wasser, das seinen Körper umschmeichelte. Er schwamm in dem kleinen See. Es war, als hätte es diese Eisschicht nie gegeben – so wenig wie das Feuer. Die Nacht war lauwarm, kein Rauch, keine Flammen.

Neob schaffte es, sich mit einigen kräftigen Armzügen ans Ufer zu bringen. Zu keiner weiteren Bewegung mehr fähig, schlief er ein. Oder hatte er die ganze Zeit über geschlafen? Alles nur ein bitterer Traum?

Als die Sonne aufging, weckten ihre Strahlen Ciffa auf.

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Sein Körper schmerzte. Seine Blicke gingen in die Baumwipfel. Dort waren keine Feuerspuren zu erkennen. Der Tümpel lag ruhig und friedlich vor ihm. Hatte das Wesen ihm alles nur vorgespielt? Es konnte keine Traumsequenz gewesen sein, das bewiesen die Brandspuren, die er an Armen und Beinen vorfand.

Meine Welt – nicht deine!Diese Worte dröhnten immer wieder in Neobs Kopf, als er

vorsichtig ein Bad in dem Tümpel nahm. Das nachtkühle Wasser linderte die Schmerzen in seinen Muskeln. Zudem hatte es eine belebende Wirkung auf Neobs Geist.

Die Kreatur wollte ihn zur Umkehr zwingen, so viel war klar. Sie wusste offenbar mehr über ihn als er selbst. Und doch hatte er das Wesen nie zuvor gesehen. Neob trocknete seinen Körper in den frühen Sonnenstrahlen. Dann zog er seine lädierte Kleidung an. Sein Magen meldete sich. Nur den Durst hatte er am Tümpel stillen können, etwas Essbares war dort nicht zu finden.

Bei seiner Flucht vor dem Feuer, seinem harten Sturz auf den vereisten See, hatte er restlos die Orientierung verloren. Die Drohung, die von den Worten der Kreatur ausging, die Warnung, diese Flucht zu beenden … wie sollte er ihr nachkommen? Neob hatte keinen Schimmer, in welcher Richtung er nach der Stadt suchen musste.

Also konnte er nur seinem Gefühl vertrauen. Oder dem Zufall. Irgendwann würde er den Wald durchquert haben, dann erst hatte er eine Chance zur Orientierung. Relativ ausgeruht, wenn auch hungrig, machte er sich auf den Weg, der nach wie vor nicht der seine war. An seiner Absicht, alles hinter sich zu lassen, hatte sich nichts geändert, doch eine freie Wahl besaß er nun nicht. Zumindest vorläufig musste Neob sich fügen. Zu deutlich hatte die Kreatur ihm aufgezeigt, was anderenfalls geschehen würde. Sie hatte die Macht, sie bestimmte, was Ciffa zu tun hatte.

Es musste einen Weg geben, sich aus dieser Klammer zu lösen, doch dazu war nun nicht der richtige Moment. Er musste geduldig warten, sich Informationen beschaffen. Dieses Wesen – es konnte ja wohl kaum sein, dass die

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anderen es nicht kannten. Warum nur hatte er in der vergangenen Zeit bei seinen Freunden nie etwas darüber gehört?

In den Drei Köpfen war es an der Tagesordnung gewesen, dass man zu vorgerückter Stunde die wildesten Geschichten erzählte. Neue Gäste, die zum ersten Mal in der Stadt verweilten, waren daher besonders gerne gesehen, denn die brachten neue Schauergeschichten, die oft haarsträubend waren. Das alles nahm natürlich niemand besonders ernst. Es gehörte ganz einfach dazu, wenn man in fröhlicher Runde beieinander hockte. Jeder schwor, nichts als die reine Wahrheit zu berichten – und log dann die Sterne samt Mond vom Himmel.

Nie war in diesen Märchen und Mythen von einer Kreatur die Rede gewesen, wie Neob sie gesehen und erlebt hatte. Nicht mit einem Wort wurde sie erwähnt. Welchem Einfluss unterlag er hier nur …

Der Mittag nahte bereits, als der Wald beinahe unmerklich lichter wurde. Neob hatte sich von seinen Füßen leiten lassen – immer geradeaus, soweit das in diesem Dickicht überhaupt möglich war.

Als er den Blick zu den Baumwipfeln hob, da sah er sie. Zwei dürre Finger, die unwirklich jäh in den Himmel stießen.

Die beiden Pfeiler hatten die Stadt schon immer überragt, einst als stützendes Skelett für zwei mächtige Türme, deren Bewandtnis Neob nie erfragt hatte. Es mochte sein, dass sie einfach nur als weit sichtbares Wahrzeichen gedient hatten. Nun wirkten sie auf ihn wie zwei mahnende Finger, die ihm drohten.

Als er den Waldrand hinter sich ließ, da war Neob sicher, dass er auf den Schritt genau an der Stelle stand, an der er in der vergangenen Nacht sein Entkommen gestartet hatte. Resigniert senkte er den Kopf.

Vorläufig war an einen zweiten Versuch nicht zu denken. Also musste er weiter das Leben führen, das nicht das seine war und niemals werden konnte! Es war falsch, falsch, falsch!

Die Straßen waren belebt, so wie es hier in letzter Zeit ja

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stets der Fall war. Neob sah das Drei Köpfe bereits von Weitem. Und er sah die Männer, die dort auf wackeligen Holzleitern am Eingang standen. Mit Kraft und Geschick waren sie bemüht, das Schild über der breiten Tür zu befestigen.

So, wie sie es gestern getan hatten.Neob blieb erstarrt stehen.»Hallo Neob! Gute Geschäfte für dich!« Neob hob die

rechte Hand zu einem flüchtigen Gruß. In Zeitlupe wandte er seinem Kopf dem Grüßenden nach … wie gestern …

Sein Blick krallte sich an dem Schild fest. Sein Gesicht – sein Kopf – befand sich links neben dem Ranas. Nicht rechts … so wie es gestern noch gewesen war.

Blauu kam aus der Gaststube, warf einen langen Blick auf das Kunstwerk. Er hob den Daumen und grinste dem Schildermaler freundlich zu. Dann schlenderte er zu Neob, legte dem Freund einen Arm um die Schulter.

»Das macht was her, oder? Ich sage dir, mein Freund, wir schwimmen bald in Silber und Gold.«

Neob nickte abwesend, unfähig, Blauu eine Antwort zu geben. Als der wieder zum Haus zurückwollte, hielt Ciffa ihn am Arm fest.

»Blauu … habt ihr mich gesucht? Ich meine … hast du mich heute schon gesehen?«

Der bullige Mann machte ein verdutztes Gesicht. »Was für eine Frage, Neob? Geht es dir vielleicht nicht so gut heute? Wir haben doch alle noch vor ein paar Minuten gemeinsam kräftig gefrühstückt. Lässt dich dein Hirn im Stich, Alter? Komm, wir gehen hinein. Vielleicht sticht die Sonne heute zu stark.«

Neob ließ es sich gefallen, von Blauu regelrecht in das Drei Köpfe geführt zu werden.

So brachte man einen alten Mann in sein Haus, wenn er verwirrt und armselig durch die Gegend irrte.

Ein alter Mann.Genau so fühlte Neob Ciffa sich in diesem Augenblick.

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Neob saß an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Gaststube, in der es vor Trinkfreudigen nur so wimmelte. Eine friedliche und entspannte Stimmung hatte sich breitgemacht. Keine Spannungen zwischen den Menschen, die sich ja teilweise hier zum ersten und letzten Mal begegneten. Die Durchreisenden machten einen großen Teil der Kundschaft aus. Kaum einer von ihnen, der nicht mit guten Erinnerungen die Drei Köpfe hinter sich ließ.

Neob war überrascht, als sich Rana zu ihm setzte. Das war ungewöhnlich, denn sie ließ die Mädchen in der Küche und hinter dem Tresen nur ungern ohne Aufsicht. Sie führte ein strenges Regiment, doch niemand beschwerte sich darüber. Die Drei Köpfe zahlten gute Löhne, für die man sich schon einmal antreiben ließ.

Rana stellte einen schweren Krug vor Neob auf den Tisch, dazu zwei Becher, und schenkte ein.

»Auf uns. Oder magst du nicht auf uns trinken, Neob Ciffa?«

Neob verstand diese Worte nicht, doch er hob lächelnd den Becher, trank in einem Zug aus. Der Wein rann wie Öl durch seine Kehle. In den Drei Köpfen bekam man keine gepanschte Ware – auch das hatte sich herumgesprochen.

»Warum sollte ich nicht auf uns trinken wollen? Sieh dich um, Rana. Es geht uns so gut wie nie zuvor.«

Die junge Frau blickte ihn nachdenklich aus ihren grünen Augen an. Ein Blick, in dem etwas lag, das Neob nervös machte. Er fühlte sich von diesen Augen durchschaut.

»Es geht uns gut, ja. Den Drei Köpfen geht es gut. Dir nicht. Seit dem Tag, an dem Blauu dich so verstört und verwirrt gefunden hat, bist du anders geworden.«

Vor genau diesem Gespräch hatte Neob große Angst gehabt. Er hatte keinen Zweifel gehabt – es würde stattfinden. Irgendwann. Das es so schnell geschah, ängstigte ihn umso mehr. Denn die Fragen, die nun folgen würden … wie sollte er sie beantworten?

Blauu gesellte sich zu seinen Freunden und Geschäftspartnern. »Wenn ich störe, dann sagt es – ich verschwinde sofort. Doch ich glaube, hier geht es schon um

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eine Sache, die auch mich betrifft, und die mich sehr bedrückt.«

Rana lächelte ihm zu. Dann drückte sie Neobs Hände zwischen den ihren. »Wir wollen dich zu nichts drängen, aber …«

Ciffa nickte. Er musste ihnen seine Erlebnisse berichten. Wenn nicht ihnen, wem dann?

Er machte es so kurz wie nur möglich. Schweigend hörten Rana und Blauu ihm zu. »… und dann bist du aus dem Drei Köpfe auf mich zugekommen, Blauu. Den Rest kennt ihr. Wenn ihr mich nun für verrückt haltet, kann ich euch nicht böse sein. Aber jedes Wort stimmt, entspricht der ganzen Wahrheit.« Neob hatte nichts verschwiegen. Auch die Tatsache nicht, dass es für ihn keine Erinnerungen an eine Vergangenheit auf Altera gab. Kein Erinnern … auch nicht an seine Freunde.

Lange Zeit herrschte Schweigen am Tisch. Der Lärm aus der Gaststube wollte nicht abebben. Die Leute waren alle groß in Form, sangen, lachten, ließen die Krüge kreisen. Neob hätte sich gerne unter sie gemischt, um sich von ihrer Unbekümmertheit anstecken zu lassen.

Schließlich war es Blauu, der als Erster sprach. Doch er sah dabei nicht Neob, sondern Rana an. »Kann es sein?« Drei Worte nur, doch die junge Frau verstand.

»Er ist ihm begegnet. Mehr noch – Neob hat seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen.«

Ciffa lehnte sich schwer atmend zurück. »Wovon redet ihr? Ich verstehe nicht.«

Rana suchte nach Worten, die schließlich nur unsicher und langsam aus ihrem Mund kamen.

»Was du berichtet hast, hätten wir niemand anderem geglaubt, Neob. Doch du bist mehr als ein Freund für uns.« Sie warf einen kurzen Blick zu Blauu, der mit bleichem Gesicht auf seinem Stuhl hockte. »Es … es muss so sein, wie du gesagt hast. An nichts erinnerst du dich, auch nicht an das, was jedes Kind auf Altera weiß und was jeder hier tief in seiner Seele verschlossen hält. Niemand spricht darüber, so ist das ungeschriebene Gesetz.« Ranas Stimme

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wurde leise, sie verfiel in eine Art Singsang, dem Neob nur mit Mühe folgen konnte.

»Sprich seinen Namen nicht aus – denk nicht einmal an ihn. Er ist überall – er wird dich hören, wird dich sehen. Dann wird er kommen und dich strafen – und die Deinen dann mit dir. Er ist immer, ist überall – was er tut, das nimm hin, ohne zu klagen. Du änderst es nicht, machst es nur noch schlimmer. Er ist der Richter und der Henker. Er schenkt, er bestraft … sprich seinen Namen doch nicht aus!« Auf Ranas Stirn waren feine Schweißperlen getreten, die Neob bewiesen, wie aufgewühlt die Frau war, die er so sehr liebte.

Blauu sprach für Rana weiter. »Du bist ihm begegnet – dem Arbiter.« Den Namen flüsterte er nur, hauchte ihn mit gesenktem Kopf, als hoffte er, so keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Neob sah die Freunde an. »Redet ihr von einem Gott? Ist es das, was ihr mir sagen wollt?«

Blauu stieß ein kurzes Lachen aus, das mit Angst getränkt war. »Ein Gott? Ja, vielleicht könnte man ihn so nennen. Viele Länder auf Altera haben ihre Götter, ihre ganz eigenen Religionen. Jeder mag glauben, woran er will. In tiefer Vergangenheit soll es sogar einmal einen Krieg gegeben haben, weil ein Volk dem anderen seinen Glauben aufzwingen wollte. Aber das ist wahrscheinlich nur ein Märchen. Warum sollte so etwas geschehen? Doch der Arbiter ist mehr als ein Glaube. Er ist real. So sehr real …«

Ranas Hände zitterten. »Er ist Altera! Er hat unsere Welt erschaffen, geformt aus Dreck. Und uns … aus niederen Wesen hat er uns in die Höhen gehoben. Denken, Fühlen, das alles hat er uns gegeben. Doch seither bestimmt er auch über uns. Wir dürfen so leben, wie er es für richtig hält. Er formt Altera stets neu, wenn es ihm gefällt.«

Ganz langsam formte sich in Neobs Bewusstsein ein noch blasses Bild von dem, was seine Freunde ihm hier berichteten. So verrückt das alles auch klang, es erklärte vieles von dem, was er in dieser Nacht erlebt hatte – diese Nacht, die der Arbiter dann ganz einfach ausgelöscht hatte?

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Konnte es denn ein so mächtiges Wesen geben?Die so seltsam verrinnende Zeit auf dieser Welt, die

ständigen Veränderungen, die von den Menschen hier klaglos hingenommen wurden – alles Werke dieses Überwesens? Wie hatte Rana gesagt? Richter und Henker … Judikative und Exekutive in einem. Alleinherrscher über eine ganze Welt, über ihre ungezählten Bewohner.

Doch warum hatte dieses Gottwesen sich Neobs angenommen? Dazu noch in einer Form, die wie eine persönliche Abrechnung mit Ciffa erschien.

Neob saß lange Zeit still zwischen Rana und Blauu. Dann stellte er die Frage, die sich in den letzten Minuten immer deutlicher und zwingender in ihm aufgebaut hatte.

»Wo finde ich den Arbiter? Ich muss zu ihm, denn nur so werde ich erfahren, was ich bin – wer ich wirklich bin.«

Irgendwie hatte er mit keiner Antwort gerechnet. Wenn es diesen Ort wirklich gab, an dem man den Arbiter finden konnte, dann würden Blauu und Rana sicher versuchen, ihn vor Neob geheim zu halten.

Blauu zog zischend die Luft ein, als er hörte, was Rana sagte. Doch er ließ sie gewähren, denn sie hatten bereits so viel gesagt – warum nun nicht auch noch dies? Und Neob würde keine Ruhe geben, ehe er nicht alles wusste.

»Man sagt, er ruht auf dem Dach des Larb-Gebirges. Niemand hat es je geschafft, die Felsen zu erklimmen. Vielleicht ist es ja nur eine Legende, doch viele glauben daran. Es soll am Fuß der Berge so etwas wie eine Zeltstadt geben, in der sich die unterschiedlichsten Menschen einfinden. Manche sind dort, weil sie den Arbiter anbeten und ihm nahe sein wollen. Andere kommen, weil er ihre Leiden heilen soll … oder das Unglück von ihnen nehmen. Wieder andere wollen den Arbiter vernichten, mit allen Mitteln, denn für sie ist er der Ursprung alles Schlechten.«

Neob stellte den leeren Becher vor sich auf den Tisch. »Dorthin werde ich gehen. Und auch der Arbiter selbst wird mich nicht daran hindern können. Also versucht ihr es erst gar nicht.«

Rana wollte aufbegehren, doch dazu kam sie nicht mehr.

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Von weit her grollte ein unheimlicher Donner – und er kam rasend schnell näher, wurde mit jedem Atemzug intensiver, bis er die Schmerzgrenze überschritten hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Menschen in der Gaststube einander an. Dann tobte der Boden unter ihren Füßen. Das Chaos ließ keinem die Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Tische, Stühle … alles sauste durch den Raum, als die Erde sich aufblähte; ein breiter Riss verlief quer durch die Drei Köpfe, verschlang einen Teil der Gäste, schluckte sie, als hätte es keinen von ihnen je gegeben.

Blut spritzte auf Ranas Kleid … von irgendwoher sauste eine schwere Karaffe heran, die nur um eine Handbreit Neobs Kopf verfehlte. Exakt das war der Augenblick, in dem er aus seiner Starre erwachte. Mit beiden Händen griff er nach Rana und Blauu, riss die Freunde mit sich.

Der Anbau … noch war er nicht vollständig beendet. Dort musste es einen Fluchtweg nach draußen geben. Es musste ganz einfach!

Blauu schüttelte nun ebenfalls das Entsetzen von sich. Seine Stimme war schon immer der Lautstärke nach einer Fanfare gleichgekommen. Er brüllte über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg.

»Folgt uns! Hier entlang – schnell!«Ein halbes Dutzend der Menschen, die noch auf den

eigenen Beinen stehen konnten, hörten ihn tatsächlich und folgten. Neob zerrte Rana hinter sich her. Mit Tritten machte er sich den Weg frei – Regale, Bruchstücke von Tischen … alles flog zu den Seiten weg. Ein Knarren machte dem Donnern des Bodens Konkurrenz. Neobs Blick ging nach oben. Der Dachstuhl!

Das ganze Gebäude würde in wenigen Momenten einstürzen. Endlich sah er die klaffende Öffnung in der Wand vor sich, die nur notdürftig mit einer dicken Plane abgedeckt war.

Neob zögerte nun nicht mehr. Er fasste Rana um die Hüften, hob sie scheinbar spielerisch hoch und sprang geduckt durch den weichen Stoff hindurch. Ein Ruck ließ das Haus erneut erzittern, als die Vorderfront einbrach –

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einfach so. Wer dort die Flucht versucht hatte, wurde unter den Steinmassen begraben.

Hinter Neob und Rana stürmte Blauu wie ein wild gewordener Kasaab-Stier ins Freie, strauchelte, fiel der Länge nach zu Boden. Ihm folgten sieben Männer und Frauen, die sich rasch in Sicherheit brachten. Neob und Rana spurteten auf den Platz, der sich vor dem Drei Köpfe öffnete.

Blauu sah sich fassungslos um.Die Stadt fraß sich selbst!So irrsinnig das auch klang, so deutlich war die Realität:

Ein gut und gerne zwanzig Fuß breiter Riss zog sich unweit von dem kleinen Platz quer durch die Straße – und wahrscheinlich auch durch die gesamte Stadt. Was über oder zu nahe an seinen Rändern gestanden hatte, existierte nun nicht mehr. Verdaut von den Innereien der Erde!

Das massive Beben hatte den Rest erledigt. Ein unheiliger Feuerschein erhellte die Nacht. Die Häuser brannten, brachen einfach in sich zusammen. Überall irrten schreiende Menschen umher, dazwischen erklangen Todesschreie, die keiner der Überlebenden je vergessen würde.

Dies ist die neue Realität. Neobs Gehirn arbeitete erschreckend klar und pragmatisch. Dies wird morgen nicht verschwunden sein, ausgetilgt, als wäre es niemals geschehen. Dies ist sein neuer Wille, mit dem er mich in die Knie zwingen will!

Ganz plötzlich wusste Neob Ciffa genau, dass es hier nur um ihn ging, um ihn … und um den Arbiter. All diese Menschen mussten wegen ihm leiden. Kalter Hass stieg in ihm hoch, und er machte erst gar nicht den Versuch, ihn zu unterdrücken.

Du willst es so, nicht wahr? Gut, Arbiter – ich komme. Wir werden sehen, ob ich dir nicht gewachsen bin.

Ciffa zog Rana zu sich hoch, die weinend auf ihren Knien lag. Unbeholfen versuchte er sie zu trösten. Unvermittelt mischte sich ein Kreischen in die Lärmkaskaden, die auf die Menschen eindrangen.

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Blauu war der Erste, der die Ursache erkannte. »Lauft! Schnell … die Pfeiler … lauft um euer Leben!«

Neob riss Rana noch einmal mit sich, machte erst halt, als die Stadtmauer ihm den Weg versperrte. Ohnmächtig sahen die drei Freunde, was hinter ihnen geschah.

Es waren die beiden in den Himmel ragenden Pfeiler, die sich langsam, beinahe andächtig dem Boden zuneigten. Tod oder Leben – Haus oder bereits Ruine – sie begruben alles unter sich. Der Aufprall setzte Staubmassen in Bewegung. Hustend und um Atem ringend, standen die Freunde dicht beieinander, als könnten sie sich gegenseitig schützen.

Von irgendwoher wurde Wasser angekarrt, Löschwasser, das hier wirklich nicht mehr helfen konnte.

»Ich glaube, es werden nur sehr wenige Menschen hierbleiben.« Blauu rang um seine Fassung. »Das ist das Ende dieser Stadt. Unserer Stadt. Vielleicht musste sie sterben, weil wir Fehler gemacht haben.«

»Nein!« Ranas Antwort kam in einem bestimmten Tonfall. »Nein, Blauu, da geht es nicht um dich oder mich. Du musst dir keine Vorwürfe machen.«

Neob mischte sich ein. »Rana sagt die Wahrheit. Es ging um mich. Er fordert mich heraus, und ich kenne den Grund dafür nicht. Ich werde ihn herausfinden. Das verspreche ich euch.«

»Wir werden ihn gemeinsam finden.« Rana hatte es ausgesprochen, Blauu nickte heftig dazu. »Nenne uns einen Grund, warum wir noch hierbleiben sollten.«

Neob konnte nicht widersprechen. Die Stadt existierte nicht mehr. Ob hier je etwas Neues entstehen mochte, das war mehr als fraglich.

Als die Sonne den folgenden Tag unschuldig beschien, da machten sich die meisten der Bewohner auf den Weg in eine ungewisse Zukunft, die sicher nicht hier lag.

Neob Ciffa, Rana und Blauu waren schon in der Nacht aufgebrochen.

Es war ein weiter Weg bis zum Larb-Gebirge.

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3. Das Larb-Gebirge

Die Frau besaß einen durchtrainierten Körper.Es hatte Jahre gedauert – Jahre, in denen sie sich

geschunden und gequält hatte –, bis sie sicher war, diese Herausforderung hier bestehen zu können. Eine lange und einsame Zeit lag hinter ihr. Nun würde sich zeigen, ob das alles umsonst gewesen war. Oder … ob sie ihr großes und einziges Ziel erreichen konnte.

Ein Ziel, dem sie nun entgegenkletterte. Getrieben von Ehrgeiz und tiefem Hass!

Hass auf das Wesen, das dort oben leben sollte. Hass, immer wieder nur Hass, der ständig neue Energien von der Erinnerung an den einen Tag erhielt, der sich in ihr Denken so fest eingebrannt hatte.

Sie war noch ein halbes Kind – eben einmal knappe 15 Sonnenläufe alt – und lebte mit ihren Eltern in dem kleinen Dorf, das weit abseits der großen Städte lag.

Jeder hier baute Getreide an, Gemüse und Obst. Niemand war reich, niemand wirklich arm. Es war, wie es eben war. Bis zu dem Tag, an dem die Zeit in dieser Gegend kippte. Über Nacht verdorrten die Felder, warfen die Obstbäume verfaulte Früchte von sich … die Brunnen versiegten.

Vater und Bruder waren in den einzigen Brunnen gestiegen, der für die Familie zur Verfügung gestanden hatte. Sie wollten sehen, ob nicht doch noch etwas zu retten war, denn ohne Wasser gab es keine Hoffnung, kein Bleiben mehr. Mutter sicherte die Männer am Brunnenrand mit Seilen, die sie im Notfall schnell über eine hölzerne Kurbel in die Höhe bringen konnte.

Dann kam der Sand.Der heiße Wind war urplötzlich da, und er brachte

ungeheure Sandmassen mit sich. Mutter und Tochter versuchten alles, um die Männer schnell an die Oberfläche zu holen.

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Die Sandkörner waren wie Geschosse, die sich die Frauen als Ziel ausgesucht hatten. Irgendwie hielten sie durch, doch dann verfing die Mutter sich in den Seilen, verlor den Stand. Die Tochter konnte sie nicht halten, sah hilflos zu, wie ihre Mutter im Brunnen verschwand.

Dann hörte sie die Schreie, hörte sie das Winseln um Gnade, das die Sterbenden von sich gaben. Nur wenig später war der gesamte Brunnen mit Sand gefüllt, so wie alles, was die Augen des Mädchens erblicken konnten – Wüste … nichts weiter.

Bei dem Versuch, die Mutter zu retten, hatte die abwärts rasende Holzwinde der jungen Frau die Finger der rechten Hand gebrochen, als wären es nur dürre Zweige. Doch das war nicht der Grund, warum man sie Tage später schreiend auffand. Freundliche Menschen nahmen sich ihrer an, doch sie blieb nicht bei ihnen. Sie musste fort, musste lernen, wie man den Arbiter töten konnte.

Sie stählte ihren Körper, ging mit glasklarem Verstand an die Aufgabe heran.

Niemand konnte das Dach des Larb-Gebirges erreichen, so sagte man. An diesem Tag war sie nicht die Einzige, die einen Versuch startete. Die Menschen, die mit ihr in dieser steilen Wand hingen, hatten die unterschiedlichsten Beweggründe. Nicht jeder wollte den Arbiter töten. Manche wollten ihm nur nahe sein, zu seinem ergebenen Diener werden; wieder andere reizte die sportliche Herausforderung – oder sie wollten beweisen, dass der Arbiter nur eine Figur aus einem Märchen war, das man Kindern erzählte.

Sie wusste, das es ihn gab. Nur wenige Körperlängen neben ihr sah sie in das Gesicht eines jungen Mannes, der bis zu dieser Höhe mit ihr mitgehalten hatte. Seine Augen blickten sie an. In ihnen lag eine tiefe Verzweiflung. Er wusste, dass er es nicht schaffen konnte. Im nächsten Moment schon war er verschwunden – abgestürzt, ohne auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben.

Sie kletterte langsam, aber kontinuierlich weiter. Sicher hätte ihre Körperkraft hier auch bereits die letzten Grenzen

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erreicht. Doch sie hielt sich an der spiegelglatten Felswand.Wie ein Spiegel – diese Bezeichnung traf den Kern der

Sache nahezu perfekt. Die ersten Höhenmeter dieser Wand konnte selbst ein Anfänger leicht überwinden, doch ab siebenhundert Fuß änderte sich alles. Die zerklüftete Felswand bot plötzlich keinen Halt mehr. Ihre Oberfläche wurde so hart wie ein Diamant.

Handschuhe und Füßlinge, die viele mit Widerhaken oder Krallen aus Eisen ausgestattet hatten, verloren jede Wirkung. Stahlnägel ließen sich nicht in diese Oberfläche hineintreiben. Die meisten der Kletterer gaben auf, wenn sie diese Höhe erreicht hatten. Für viele war es eine Art Pilgergang, der bis hierher und nicht weiter führte. Sie waren zufrieden und glücklich mit dem, was sie erreicht hatten – dem Arbiter einmal so nahe wie nur möglich gewesen zu sein.

Die Frau gehörte nicht zu dieser Gruppe. Hier oben war es still. Unten – am Fuß des Gebirges – standen die Schaulustigen, die Gläubigen, Händler, Gaukler und Scharlatane. Jeder, der den Aufstieg wagte, wurde von ihren Schreien und Anfeuerungen begleitet. Doch hier waren diese Stimmen nur noch ein weit entferntes Säuseln.

Vorsichtig schob sie den linken Arm und das linke Bein in die Höhe. Sie konnte das Rauschen der unzähligen Borsten hören, das dabei entstand. Borsten einer Tierart, die nur weit im Süden Alteras existierte. Diese kleinen Raubtiere hatten die Fähigkeit, sich an senkrechten Ebenen mühelos in die Höhe zu bewegen, als gäbe es für sie keine Schwerkraft.

Die Frau hatte diese Tiere gejagt, viele von ihnen getötet und ihre Haut untersucht, die mit winzigen Borsten übersät war, mit denen die Raubtiere ihr Kunststück vollbrachten. Der hautenge Anzug, den die Kletterin trug, war aus diesen Hautfetzen hergestellt worden.

Sie würde es schaffen – bis ganz nach oben. Was dann kam, wusste sie nicht, denn wie tötete man einen Gott? Das würde sich ergeben, wenn es erst so weit war. Jetzt war der Himmel ihr Ziel, denn dort irgendwo endete die

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mörderische Wand.Sie hatte den Anzug getestet, natürlich, denn sie wollte

nichts dem Zufall überlassen. Sie hasste, doch das trieb sie zu keiner irrationalen Handlung. Sie plante – sie testete – so lange, bis sie sicher war. Es gab nur diesen einen Versuch …

Die Borsten verrichteten ihren Dienst perfekt. Schneller als erhofft kam sie nun voran. Links und rechts von ihr war nur der nackte Fels, niemand konnte ihr folgen. Vielleicht war sie schon jetzt weiter gekommen als je ein anderer Mensch vor ihr.

… … …»Du bist schlau. Du bist gut.

Doch glaubst du wirklich, schlauer und besser als der zu sein,

der diese Welt schuf?«… … …

Diese Stimme war so dramatisch und unerwartet in ihrem Kopf erklungen, dass sie beinahe den Halt verloren hätte. Nicht einen Moment hatte sie Zweifel, wer da gesprochen hatte. Kurz schloss sie die Augen. Es war zu Ende. Er hatte ihr Kommen registriert. Still und unbeweglich wartete sie ab, wartete auf die Vollstreckung ihres Todesurteils.

Etwas benetzte ihre Handschuhe – Wasser? Die Flüssigkeit war klar und rein – ein feiner Film lief von oben an der Felswand herab.

Plötzlich verlor ihr rechter Arm den Kontakt zu der Wand, dann der linke. Hektisch versuchte sie sich zu halten, doch es war sinnlos. Ein feiner Rauch stieg ihr beißend in die Nase.

Säure … ja, es war Säure …Ein Ruck löste ihren Oberkörper von dem Stein. Hilflos

ruderte sie mit den Armen. Ein Instinkt nur – kein Versuch, der irgendeine Wirkung nach sich ziehen würde. Die Borsten lösten sich auf, verbrannten; die Säure drang durch den enganliegenden Anzug ein, griff nach ihrer Haut. Sie

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registrierte die Schmerzen kaum. Nur noch von der Gürtellinie abwärts hatte sie Halt, hing im Nichts, wie eine Marionette, der man die Hälfte ihrer Schnüre gekappt hatte.

Dann kam der freie Fall. Ihr letzter Gedanke war von gebündeltem Hass durchdrungen, denn nichts anderes hatte es für sie in den vergangenen Sonnenläufen gegeben. Nur Hass!

Sie spürte den Aufschlag nicht – ihr Kopf war mehrfach gegen Felsvorsprünge geschlagen, war geplatzt wie eine überreife Frucht.

Neob Ciffa riss Rana zur Seite, als der Körper keine drei Schritte neben ihnen auf den Boden prallte.

Blauu stand mit versteinerten Gesichtszügen da, konnte den Blick nicht von dem wenden, was einmal der Körper einer jungen und schönen Frau gewesen war. Rana schluchzte trocken an Neobs Schulter.

Sie waren in der Zeltstadt angekommen, die am Fuß des Larb-Gebirges lag. Von Weitem machte das alles den Eindruck eines riesigen Marktes, einer Kirmes, die sich in ständiger Wandelung befand. Zelte wurden abgebaut, auf großen Wagen verstaut, die, von Ochsen gezogen, diesen Ort verließen. Nicht lange, da wurde der frei gewordene Platz neu ausgefüllt – ein neues Zelt wurde gebaut, aus dem heraus fleißige Händler Früchte und Getränke feilboten. Es gab ganze Sängertrupps, die ihre Kunst darboten, Spiele, Kuriositäten – alles war vorhanden.

Vor allem jedoch fahrende Gastwirte, die Hochprozentiges aus ganz Altera unter die Menschen brachten. Es sah ganz so aus, als diente dieser Ort den meisten anwesenden Menschen nicht als heiliger Ort, eher schon als bunter Jahrmarkt.

Doch es gab auch andere. Ganze Sippen hatten sich hier regelrecht angesiedelt, die den verehrten, dessen Namen sie nicht auszusprechen wagten. Sie fürchteten ihn, doch sie wollten ihm so nahe wie nur möglich sein. Neob und seine Begleiter hatten den Anführer einer dieser

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Gemeinschaften kennengelernt. Er hieß Mungam, war bereits im Greisenalter, was ihn nicht daran hinderte, jede Nacht in einem der Trinkzelte zu verbringen. Ohne dazu aufgefordert zu werden, hatte er die drei Neuankömmlinge durch das Lager geführt.

Es schien, als vertriebe er sich so nur zu gerne die eintönigen Tage. Um sich an den Aktivitäten der jungen Leute seiner Sippe zu beteiligen, fühlte er sich körperlich nicht in der Lage – sein ausgezehrter Körper verfügte längst nicht mehr über die Kräfte, die man zum Erklimmen der Felsen benötigte.

»Wieder eine …« Mungam beugte sich über den zerschmetterten Körper der Toten. Von irgendwoher näherten sich bereits vier Männer, die eine Trage mit sich führten. Alles schien hier geregelt zu sein. Wortlos brachte man den Körper fort.

»Sie wird verbrannt, wie all die anderen.« Er sah zu Neob. »Auch aus meiner Sippe haben schon einige junge Hüpfer ihr Leben verloren. Sie sollten diese Kletterei sein lassen. Wenn der dort oben niemanden bei sich haben will, dann sollte man das so akzeptieren.« Er blickte prüfend in die Gesichter der drei. Neob schwieg, doch das Blitzen in seinen Augen sagte dem alten Mann alles.

»Du willst auch auf den Gipfel, nicht wahr? Lass es bleiben. Du wirst scheitern.«

Neob ging nicht darauf ein. »Hat es überhaupt schon jemand geschafft, diese Wand zu überwinden?«

Mungam lachte leise auf. »Nein, das ist noch nie gelungen. Das hält die Hitzköpfe, die Wahnsinnigen und die Fanatiker aber nicht davon ab, es immer und immer wieder zu versuchen. Die junge Frau … ich habe versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie war nicht sehr gesprächig, müsst ihr wissen, doch was sie sagte, das hat mir deutlich gezeigt, was sie trieb. Es war ihr ganz persönlicher Hass. Er hat ihr alles genommen, was sie je geliebt hat. Sie konnte nicht anders, versteht ihr? Dort oben lag ihr Ziel. Sie ist hoch gekommen, höher als die allermeisten. Jetzt ist sie tot. Also, was hat es ihr gebracht –

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nichts.«Mungam steckte sich eine große Nuss in den Mund, kaute

sinnierend darauf herum. Neob kannte diese Schalenfrüchte, deren Fruchtinneres nicht nur eine Form der Sättigung vorgaukelte, sondern gleichzeitig auch noch gemütsaufhellend wirkte. Der Alte kaute ständig auf diesen Dingern, die in Verbindung mit Wein oder anderen hochprozentigen Getränken eine enorme Wirkung entfalten konnten. Er selbst ließ die Finger davon, doch Blauu bekam leuchtende Augen, als er den Nussvorrat des Sippenführers erblickte.

Der hagere Alte blickte zum Gipfel, der jetzt wieder hinter dichten Wolkenbergen verschwunden war. »Niemand hat es nach oben geschafft. Doch es geht die Sage, dass einst ein Mann den umgekehrten Weg genommen hat.«

Rana stieß einen überraschten Laut aus. »Wie jetzt das? Dort oben ist doch nur der …« Sie bremste sich gerade noch rechtzeitig. Hier galt es als Sünde, den Namen auszusprechen. »Das musst du erklären.«

Mungam kicherte. »Ich muss überhaupt nichts – und ich kann es in diesem Fall auch nicht. Vielleicht ist das ja nur eine Mär? Wenn nicht, dann kann es ja nur bedeuten, dass er dort oben nicht immer alleine war.«

Die Wolken am Gipfel des Larb-Gebirges entschlossen sich in diesem Moment, ihre Schleusen zu öffnen. Ein heftiger Platzregen ergoss sich auf die Zeltstadt. Neob und die anderen folgten Mungam in ein Weinzelt, um dem Unwetter zu entgehen. Der Alte war offensichtlich nicht unzufrieden, hier gelandet zu sein. Mit einer großen Karaffe und einem Becher machte er es sich auf dem Fußboden gemütlich, steckte sich eine neue Nuss in den Mund. Sein Lächeln wurde von Sekunde zu Sekunde breiter – und dümmlicher.

Neob, Rana und Blauu waren schweigsam. Gemeinsam standen sie am Zeltausgang, blickten auf die Wassermassen, die sich jetzt auch langsam ihren Weg in die Zelte suchten.

Sie hatten ihr Ziel nun erreicht. Was nun geschehen sollte, wusste keiner von ihnen. Auch Neob Ciffa nicht, und er war

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froh, dass die Freunde ihn in diesen Augenblicken nicht danach fragten. Er hätte ihnen die Antwort nicht geben können.

Als der Regen endlich nachließ, brach die Nacht herein. Viel zu früh, wie es Ciffa erschien. Wieder einmal schien der Zeitablauf auf Altera seinen ganz eigenen Gesetzen zu folgen. Um ein Nachtlager mussten sie sich nicht sorgen, denn sie wurden freundlich von Mungams Sippe aufgenommen, als sie den Alten zu seinem Zelt brachten. Besser gesagt – sie trugen ihn mehr, als dass er selbst gegangen wäre, denn dazu war er nicht mehr in der Lage. Zu viel Wein … zu viele glücklich machende Nüsse …

Neob schaffte es einfach nicht, Schlaf zu finden, auch nicht, als die letzten Lampen in dem großen Zelt erloschen waren. Lange lag er ruhelos auf dem einfachen Lager.

Irgendwann erhob er sich leise, verließ unbemerkt das Zelt …

Der Fels fühlte sich unter seinen tastenden Fingerkuppen unspektakulär an. Da war nichts Außergewöhnliches zu spüren.

Neob wusste selbst nicht so genau, was er hier erwartet hatte.

Er war auf dem kurzen Weg hierher kaum jemandem begegnet. Ein paar Betrunkene, die verzweifelt in der Dunkelheit nach ihren Zelten gesucht hatten, ein Wachmann, der Neob mit seiner Fackel ins Gesicht geleuchtet hatte, mehr nicht.

Lange Minuten stand er vor der steil ansteigenden Wand, die er in der Finsternis nur erahnen konnte. Er dachte an die junge Frau, deren geschundener Körper so dicht neben ihm aufgeschlagen war. Er, Neob Ciffa, hatte nicht die geringste Chance, auf diesem Weg den angeblichen Sitz des Arbiters zu erreichen. Das änderte nichts an der Tatsache, dass er dort hinmusste. Einen anderen Weg, um etwas über seine Vergangenheit, sein Leben vor dem Tag, an dem er in die nun zerstörte Stadt gekommen war, sah er nicht.

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Er sah ihn nicht, weil es ihn einfach nicht gab. Sein Schicksal war mit dem des Arbiters verknüpft. Mungam hatte von der Legende des Mannes erzählt, der angeblich vom Larb-Gebirge herabgestiegen war. Diese Geschichte ließ Neob Ciffa nun nicht mehr zur Ruhe kommen.

Der Grund war einleuchtend:Er war dieser Mann gewesen!Neob lehnte sich gegen die Felswand, die vom Regen noch

feucht und kühl war. Er drückte seine Stirn gegen das Gestein. Die Kälte war angenehm, sie vertrieb die Flamme für einige Momente, die in seinem Kopf zu lodern schien. Wie konnte er sich nur so sicher sein? Eine konkrete Erinnerung hatte er daran nicht.

Aber es gab für ihn keine Zweifel an dieser Tatsache – er, Neob Ciffa, war von dort oben gekommen, und er war in eine Zukunft gegangen, ohne den Hauch einer Vergangenheit mit sich zu führen. Die hatte er dort auf dem Gipfel zurückgelassen. Sie musste noch immer dort sein und auf ihn warten. Es war an ihm, sie wieder in Besitz zu nehmen.

All diese Menschen hier, und alle weiteren, die es seit ewigen Zeiten versuchten, den Berg zu besiegen, waren gescheitert. Warum sollte ausgerechnet er es schaffen? Der Mensch konnte nun einmal nicht fliegen.

Zumindest nicht auf dieser Welt. Neob erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Diese Welt? Welche denn sonst? Solch ein Denken machte ihm Angst, denn es bewegte sich außerhalb der Wahrheit und den Tatsachen, die es nun einmal gab. Er wandte sich um, wollte zurück zu den anderen. Vielleicht konnte er nun doch einige Stunden schlafen. Das wäre sicher wichtig gewesen, denn gleich morgen musste er die gesamte Gegend erkunden. Wenn er denn tatsächlich vom Gipfel gekommen war, dann gab es hier auch einen Weg, der in der entgegengesetzten Richtung gangbar war. Man musste ihn nur finden.

Ciffa zuckte zurück, bis die Felswand seinen Fluchtinstinkt stoppte.

Im fahlen Schein des Mondes hing das Antlitz des Arbiters

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übergroß direkt vor ihm. Die Augen waren noch mehr zusammengekniffen als bei ihrer letzten Begegnung, das entsetzliche Gebiss der Kreatur war vollständig entblößt.

… … …»Nun bist du also hier.

Du suchst den Weg zu mir?Warum kannst du nie mit dem zufrieden sein, was

du hast, Neob Ciffa?Das war schon immer so – du wolltest immer mehr,

immer etwas Neues.«… … …

Neob riss sich zusammen. »Ich verstehe deine Worte nicht. Da ist keine Erinnerung in mir. Wer bin ich? Wer bist du? Hilf mir – oder töte mich.« Er war sich kaum bewusst, was er hier sagte. »Tust du es nicht, dann werde ich dich finden und töten. Was du dieser Welt antust … das darf so nicht sein, hörst du? Wer bin ich?«

Die letzten Worte hatte er der Fratze entgegengeschrien. Für lange Sekunden herrschte Stille, die beinahe körperlich schmerzte. Dann erst sprach der Arbiter. Jedes seiner Worte war wie ein Messerstich, der in Ciffas Hirn eindrang.

… … …»Du bist viel mehr ich, als du es ahnst.

Ich bin mehr von deiner Art, als es recht ist.Du willst die Wahrheit? Dann finde mich – komm zu

mir.Dazu musst du spielen … also spiele, Neob, spiele

um alles!Und spiele gut!«… … …

Das Wesen bewegte sich auf Neob zu, der die Arme abwehrend vor sein Gesicht geschlagen hatte. Nichts als den Tod konnte er von diesem Ding erwarten. Doch es war nicht der Tod, den der Arbiter ihm gab.

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Es war eine neue Zeit.Es war ein neues Leben, ein ganz neues Sein. Ja, eine

vollkommen andere Welt.»Hauptmann Ciffa, sie greifen uns an! Was sollen wir nur

tun? Hauptmann … was ist mit Euch?« Neob öffnete die Augen, starrte ungläubig auf den Soldaten in vollem Harnisch, der zwei Schritte entfernt vor ihm stand. Seine rechte Hand hielt das Langschwert, seine linke mit dem Schild hing kraftlos herunter.

Und Neob sah die Lagerfeuer, sah die langen Fackelreihen, die auf den schweren Holzpalisaden aufgepflanzt waren. Er sah die Zelte – rund und nach oben hin spitz zulaufend, sah die Reiter, die Bogenschützen, die sich zu Formationen aufstellten. Er hörte geschriene Befehle, die er nicht verstand, nicht zuordnen konnte, Liederfetzen, die von rauen Stimmen gekrächzt wurden.

Die Zeltstadt war verschwunden, hatte dem hier Platz gemacht.

Dem hier … einem mächtigen Feldlager … voll mit Soldaten, die im Krieg standen.

»Hauptmann, wir erwarten Eure Befehle.«Du musst spielen … die Worte des Arbiters hingen noch

in Neobs Ohren.Spielen? Es war das Spiel des Todes, denn in diesem

Augenblick raste ein Pfeilhagel über die Palisade.Der Angriff hatte begonnen.Und wer auch der Feind sein mochte – er schien zu allem

entschlossen.

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4. Im Spiel

Bilaal war sich ihrer privilegierten Position im Heer durchaus bewusst.

Dabei war sie doch noch vor nicht sehr langer Zeit nichts weiter als ein Stallmädchen gewesen, das den Kot der Kriegspferde auskehrte, die Tiere fütterte und, wenn der Tiermeister einen sehr guten Tag hatte, sie sogar striegeln durfte. Doch das kam leider nur sehr selten vor, weil der alte Wat im Grunde ja immer mies gelaunt war. Das lag nicht zuletzt daran, dass er magenkrank war, was sich selbst in seine Gesichtszüge eingeprägt hatte.

Er sah aus wie der sprichwörtliche Sauertopf, doch Bilaals Mitleid mit dem Mann hielt sich immer in engen Grenzen. Er fraß wie ein Schwein, soff alles in sich hinein, was einen Rausch versprach. Auf Dauer würde ihn das umbringen, doch das scherte Bilaal nicht. Sollte er doch. Ein Menschenschinder weniger auf dieser Welt.

Eine Sache war stets das absolute Tabu für Bilaal und die anderen, die Wats unterstellt waren.

»Wagt es nicht, eure Drecksfüße in die Vogelstallungen zu setzen. Die Viecher hacken euch in zwei Teile, ehe ihr auch nur Papp sagen könnt. Und wenn nicht, dann tue ich das anschließend. Habt ihr verstanden?«

Laut genug hatte er ja immer gebrüllt – keiner, der das nicht verstanden hätte.

Die Vogelstallungen … dort gab es spezielle Stallknechte, die mit hocherhobenen Nasen an Bilaal und ihresgleichen vorbeistolzierten, sie keines einzigen Blickes würdigten.

Die Vogelstallungen … natürlich war das der Bereich, der die Phantasie und Neugier aller nur noch anstachelte. Wenn die Kriegsvögel trainierten, dann gab es stets einen Menschenauflauf. Denn das war die einzige Chance, sie einmal in Ruhe betrachten zu können.

Auch Bilaal bekam dann Herzklopfen und große Augen.

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Jeder einzelne der Vogelreiter war ein gefeierter Held, ein leuchtender Stern, der aus dem großen Heer des Südherren herausragte. Die Mädchen und Frauen vergötterten sie regelrecht, so dumm und hässlich die Kerle auch immer sein mochten. Die Fähigkeit, auf den Rücken der mächtigen Vögel in den Kampf zu ziehen, machte diese Mängel locker und leicht wett.

Bilaal sah das anders. Sie sah nicht diese eitlen Gecken, die sich für Gott weiß wen halten mochten. Sie sah nur die Vögel. Diese Laune der Natur. Doch selbst sie betrachtete Bilaal nüchtern und sachlich. Die Tiere waren riesig – ihre Rückenhöhe betrug sechs Fuß, was die Reiter dazu zwang, die Tiere über ein Holzgestell zu besteigen. Wenn die das denn zuließen, denn die Vögel waren launisch. Selbst erfahrene Vogelreiter machten immer wieder unsanfte Bekanntschaft mit dem Stallboden.

Die Vögel – und da musste sie dem alten Menschenschinder tatsächlich einmal recht geben – waren gefährlich … und sie waren grundhässlich. Keine Großausgaben eines Torp-Adlers, den man in der südlichen Hemisphäre Alteras antreffen konnte, auch keine der roten Raben, die von allen Bauern dieser Welt gefürchtet waren, weil ihre Mägen zwei Drittel ihrer gesamten Körpermasse beanspruchten.

Nichts von alledem – die Kriegsvögel kamen da schon eher den Sumpfgeiern nahe, deren extrem lange und nackte Hälse in beinahe jedem Morastgebiet zu sehen waren.

Gefährlich und hässlich – dazu nicht eben mit Schläue gesegnet. Im Grunde keine gute Kombination. Doch sie waren im Kampf effektiv einzusetzen. Dazu kam, dass sie in ihrer Dummheit einfach keine Angst zu kennen schienen. Eine Ausnahme gab es da allerdings schon. Es war die Höhe – ihre eigene Flughöhe. Mehr als einhundert Fuß überstiegen die Tiere ganz einfach nicht. Niemand hatte je eine Erklärung dafür gefunden, wohl weil niemand danach gesucht hatte.

Denn diese Höhe reichte ja voll und ganz aus, um den Feind aus der Luft anzugreifen. Keine Palisade oder

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Stadtmauer war je so hoch gebaut worden. Hindernisse gab es für die Vogelstaffeln also nicht.

Diese hohlköpfigen Reiter träumten eben nicht den Traum von der großen Höhe – von dem freien Schweben über allen Wolken. Bilaal träumte ihn in jeder Nacht, immer und immer wieder.

Die Zucht der großen Vögel war ein Problem. Es gab allerlei Theorien, die ihre Runde machten. Sie besagten etwa, dass die Tiere sich in Gefangenschaft nicht paarten, dass sie ihre Fruchtbarkeit verloren, den Instinkt, für das Fortbestehen der eigenen Rasse zu sorgen.

Bilaal sah das anders. Sie glaubte wirklich, dass die Vögel selbst dazu zu blöde waren. Selten nur gab es ein befruchtetes Ei, und es war beinahe eine Sensation, wenn dieses dann auch noch ausgebrütet wurde. Das war vor einem Sonnenlauf hier der Fall gewesen. Die Vogelreiter hatten gejubelt, als das Junge geschlüpft war. Zu allem Glück kam dann auch noch die Tatsache, dass es sich fabelhaft machte. Es wuchs und gedieh prächtig.

Da war nur ein Haken. Schnell wurde klar, dass dieses Tier nie einen Reiter auf seinem Rücken dulden würde. Spätestens seit dem Tag, an dem das Jungtier seinen Pfleger mit einem einzigen Schnabelhieb in zwei Teile riss.

Das war der Tag, an dem der Vogel von seinem zukünftigen Reiter einen Namen erhalten sollte. Doch diese Zeremonie strich man ganz einfach. Einen Namen hatte das Tier dennoch bekommen. Jeder nannte es nur Biest. Seither kümmerte sich kaum noch jemand um den Vogel, niemand wagte sich auf Schnabelweite an ihn heran.

Biest verwahrloste.Das war genau der Zeitpunkt, an dem Bilaal ihre Neugier

einfach nicht mehr zügeln konnte. Neugier und Mitleid, denn sie hörte die Schreie des jungen Vogels, wenn seine Artgenossen trainiert wurden, er jedoch allein in den Stallungen bleiben musste. An so einem Tag hatte sie es dann gewagt.

Bilaal lächelte, als sie sich jetzt daran erinnerte.In ihren vor Dreck starrenden Lumpen war sie damals über

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den Platz geschlichen. Immer wieder hatte sie sich umgesehen, doch da war niemand gewesen, der sie entdecken konnte. Nicht einmal der alte Wat schlich irgendwo herum. Er scherte sich nicht um das Training der Vögel. Damit hatte er nichts am Hut. Bilaal hatte es nie herausgefunden, doch sie glaubte, dass Wat mächtigen Respekt vor den Tieren hatte. Ein alter Schisser war er! Irgendwann würde sie ihm das sagen. Nur so zum Spaß.

Damals hatte sie noch Angst vor seinen Schlägen gehabt, die er gerne mit der langen Peitsche austeilte. Heute würde er es nicht mehr wagen, gegen Bilaal die Hand zu erheben.

Damals jedoch … … hatte sie ihre Angst hintenangestellt. So schwer ihr das

auch gefallen war. Leise öffnete sie eine der Seitentüren, die direkt in die Stallung führte. Es stank entsetzlich hier. Bilaal hielt sich für Sekunden die Hände vor Nase und Mund. Dann würgte sie heftig, bis sich ihr Magen an diese scharfen Gerüche gewöhnt hatte. Wer pflegte diese Tiere? Was waren die Vogelreiter doch für Schweine – ihre Stallburschen nicht minder! Wenn der alte Wat das gewusst hätte … doch der setzte selbst keinen Fuß hier hinein. Aber so konnte man doch nicht mit lebenden Wesen umgehen. Kein Wunder, wenn sie unwillig und stets gefährlich blieben.

Irgendwo in der hintersten Ecke der weitläufigen Stallung hörte Bilaal ihn schreien. Biest brüllte seine Wut in die Welt hinaus, die für ihn an den Holzwänden seiner Box endete. Bilaals Füße bewegten sich wie von selbst; ihre Angst wollte sie zur Flucht überreden, doch ihre Beine schritten immer weiter nach vorne.

Zum ersten Mal sah sie ihn vor sich. Er war beinahe ausgewachsen. Doch bereits jetzt überragte er an Größe und Kraft seine älteren Artgenossen. Sein gebogener Schnabel war weit geöffnet, schrie in Richtung Decke. Doch als Bilaal in seine Sichtweite kam, da veränderte sich sein Verhalten sofort. Für Momente wurde er ruhig, erstarrte beinahe. Nur das Zittern seines pechschwarzen Gefieders verriet die Erregung des Tieres.

Zwei gelbe Augen starrten der jungen Bilaal entgegen,

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wollten sie hypnotisieren. Lebende Beute! Sein Instinkt als Jäger war hellwach. Vielleicht würde die Beute ja unvorsichtig sein.

Seine Hoffnung erfüllte sich, denn Bilaal unterschätzte den Aktionsradius des Vogels, der mit schweren Ketten am Boden festgemacht war. Als er sich mit einem wilden Schrei auf sie stürzte, erwischte er sie mit der Seite seines schwertscharfen Schnabels.

Bilaal konnte nicht einmal schreien, als sie durch die Luft geschleudert wurde, denn die Panik stahl ihr den Atem. Als sie sich, noch halb benommen, aufrappelte, da bemerkte sie entsetzt, dass das Biest sie nicht einfach nur hatte treffen wollen. Nein, der Vogel hatte sie durch diesen Schlag in seine Richtung geschaufelt. Sie war gefangen zwischen der Außenwandung und dem Tier.

Langsam beugte Biest seinen Kopf der auf dem überlangen Hals saß, nach unten, während seine halb gespreizten Flügel dem Mädchen jeden Fluchtweg nahmen. Mit einem Biss würde er ihr den Kopf vom Rumpf reißen …

… und Bilaal schlug mit der flachen Hand zu. Sie traf den Schnabel, der überrascht zurückzuckte. Das Mädchen sprang auf die Füße. Was sie dann tat, geschah aus reiner Panik. Doch es rettete nicht nur ihr Leben, es veränderte es von einer Sekunde zur nächsten.

Sie schrie Biest an!»Verschwinde, du hässliches Vieh! Was glaubst du, wer du

bist? Ein Killer, ein Schlächter? Geh fort, mach mir Platz sonst schlage ich dich noch einmal! Warum bist du nur so? Geh, lass mich!«

Bilaal konnte sich heute noch an diesen Moment erinnern. Niemand hatte ihr sagen können, was in dem Vogel vorgegangen war. Wahrscheinlich konnte er einfach nicht fassen, dass dieses kleine Ding ihn so laut anbrüllte. So ein Verhalten war nicht in seinem Denken gespeichert. Wie auch immer …. auf jeden Fall hatte Biest die Flügel angelegt, den Kopf schräg gelegt und Bilaal fragend angesehen. Die hatte weitergeschrien. Die wildesten Flüche, die ihr in diesem Moment eingefallen waren.

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Unbeholfen war Biest zur Seite gehüpft, als wollte er diesem Schreihals zeigen, dass der Weg doch schon längst frei war.

So ruhig, wie es nur ging, ein Bein nachziehend, das sie sich bei dem Sturz verrenkt hatte, war Bilaal mit hoch aufgerichtetem Haupt aus der Box marschiert. Als sie die hinter sich hatte, da begann ihr Kopf erst zu reagieren, zu registrieren, was da eben geschehen war. Sie knickte ein, fiel auf die Knie. Tränen rannen aus ihren Augen; ihr Körper zitterte wie altes Laub im Wind. Auf allen vieren bewegte sie sich in Richtung Ausgang, als hinter ihr plötzlich ein Wimmern ertönte. Eine Mischung aus Ratlosigkeit und großer Trauer lag darin.

Bilaal glaubte damals, eine Frage aus diesen Lauten filtern zu können:

Warum gehst du fort? Bleib doch noch …Sie hatte sich umgewandt, war zu dem Käfig

zurückgekrochen. Sie konnte sich heute nicht mehr daran erinnern, dass es so gewesen war. Doch als die anderen Vogelreiter sie entdeckten, lag sie bewusstlos nahe der Box des unzähmbaren Vogels. Viel zu nahe! Er hätte Bilaal leicht erreichen und zerreißen können.

Doch das tat er nicht – er tat etwas anderes.Mit gespreizten Flügeln und spitzem Schnabel wehrte er

jeden ab, der an das Mädchen heranwollte. Erst vier Männer schafften es, den Vogel abzulenken, damit die anderen das Kind in Sicherheit bringen konnten.

Tags darauf war der Führer der Vogelreiter in Begleitung von Wat zu ihr gekommen. Bilaal hatte still auf ihrem Lager gelegen, denn sie erwartete eine Standpredigt mit anschließender Strafverkündung. Für ein paar Tage würde sie das Bett hüten müssen, weil der Sturz ihre Hüfte in Mitleidenschaft gezogen hatte, doch was ihr anschließend blühen würde, konnte sie sich ausrechnen.

Der Führer der Staffel war ein harter Mann. Er machte nicht viele Worte. »Ich weiß nicht, warum, aber Biest hat dich nicht getötet. Verdient hättest du es gehabt! Doch nun habe ich beschlossen, dass du dich um den Vogel kümmern sollst. Versuche, den Hass aus ihm zu treiben. Dann werden

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wir sehen.«

Bilaal betrat die Stallung. Nicht durch eine Seitentür, das war Geschichte, denn heute gehörte sie längst zu der Staffel. Nach wie vor lag die Box von Biest ganz am Ende des Gebäudes, abseits der anderen. Das hatte einen guten Grund. Es hatte sich nämlich nichts daran geändert, dass der Vogel seine Aggressivität nicht im Griff hatte.

Das würde sich sicher auch nicht mehr ändern. Doch eine Rolle spielte das für Bilaal und den Staffelführer nicht. Solange Biest Bilaal wortwörtlich aus der Hand fraß, ihren Befehlen gehorchte, so lange war alles in bester Ordnung. Denn zusammen waren sie nun das beste Gespann in diesen Stallungen.

Als der Vogel Bilaal erblickte, riss er den Kopf in den Nacken, stieß einen Freudenschrei aus. Die anderen hatten sich bereits mit dem Heer auf den langen Weg gemacht, fungierten als Kundschafter und Schutz für den Nachschub.

Es war Krieg!Sosehr Bilaal diesen Gedanken auch hasste. Sie wusste ja

nicht einmal genau, gegen wen der Südherrscher ziehen ließ. Man sagte, eine Bergregion im Mittelwesten Alteras. Bilaal war Soldatin, sicherlich, doch dieses blutige Geschäft lag ihr nicht. Sie war Vogelreiterin – etwas anderes interessierte sie seit diesem bestimmten Tag nicht mehr.

War es denn nicht so unendlich viel wichtiger, diese Kunst zu perfektionieren, die Fähigkeiten dieser Tiere zu vervollkommnen? Krieg war doch nur unsinnige Vergeudung von Leben.

Bilaal tätschelte Biests Schnabel. Der Vogel zitterte. Ein Zeichen, wie sehr er sich freute, dass seine Freundin endlich da war.

In aller Ruhe legte sie dem Tier den kompliziert aufgebauten Sattel auf. An seiner rechten Flanke hing die hölzerne Konstruktion, die ein wenig an eine Trittleiter erinnerte. Mit deren Hilfe kamen die Reiter auf die Rücken ihrer Tiere.

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Bilaal grinste, als sie daran denken musste, wie dumm die anderen geschaut hatten, als sie ihnen gezeigt hatte, wie man das auch anders machen konnte. Ein Wink von Bilaal ließ Biest seinen langen Hals in Richtung Boden senken. Die junge Frau stellte sich rittlings darüber, was allgemeines Gelächter bei den Männern hervorgerufen hatte. Das Lachen blieb ihnen jedoch im nächsten Moment im Hals stecken.

Vorsichtig, nahezu zärtlich, hob der riesige Vogel den Kopf nach oben, bis sein Hals kerzengerade war. Sanft, und mit einem Siegerlächeln auf den Lippen, war Bilaal nach unten direkt in den Sattel geglitten.

Es war durchaus so, dass die Männer Bilaal nicht als Kämpferin anerkannten, doch niemand hier bestritt ernsthaft, dass sie die beste Vogelreiterin weit und breit war.

»So, mein Freund, jetzt wird es auch für uns Zeit.« Sie strich beruhigend mit beiden Händen am langen Hals des Tieres entlang. Biest schüttelte sein Gefieder, als wollte er es locker und startklar machen. Richtig wohl war Bilaal bei der Spezialaufgabe nicht, die der Staffelführer ihr gegeben hatte.

Biest war schnell und ausdauernd. Bilaal und der Vogel sollten sich nicht mit dem langsamen Heerestross aufhalten, denn für sie hatte man eine bessere Verwendung. Die beiden war das perfekte Kundschaftergespann. Während sich das Heer vom Süden auf sein Ziel zubewegte, sollte Bilaal einen Bogen fliegen, die Sachlage von Osten her begutachten und anschließend Meldung machen.

Natürlich hatte sie konkrete Anweisungen bekommen, worauf sie zu achten hatte. Die zahlenmäßige Stärke des Feindes war auszukundschaften, seine Bewaffnung, mögliche Ausweichmöglichkeiten, um ihn von den Flanken her zu attackieren. Bilaal hatte verstanden, was man von ihr erwartete. Begeisterung wollte bei ihr dennoch nicht aufkommen.

Im Rücken des Angriffsziels lag ein mächtiges Gebirge,

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dessen Gipfel natürlich viel zu hoch waren, als dass Biest es hätte überqueren können. Doch auch daran arbeitete Bilaal mit ihrem Vogel. Biest war noch jung, doch bereits jetzt zeigte er ungewöhnliche Steigfähigkeiten.

Willig marschierte Biest in seinem Watschelgang, den er ab und an nur durch einen kleinen Hüpfer unterbrach, aus der Stallung hinaus. Als er den freien Himmel über sich spürte, stieß er einen markerschütternden Schrei aus – ein Schrei des Glücks. Er wollte fliegen – er sollte seinen Willen bekommen.

Bilaal ließ die Zügel frei, und mit einem mächtigen Flügelschlag erhob das große Tier sich spielerisch vom Boden, auf dem er sich ja nur linkisch fortbewegen konnte. Wie ein Pfeil stieg er in den Himmel hinauf, und nur die Kreuzgurte, die zu dem Sattel gehörten, hielten Bilaal auf seinem Rücken.

Eine winzige Korrektur am Zügel reichte aus, um Biest in die gewünschte Richtung zu bringen.

Bilaal genoss den Flug mindestens ebenso sehr, wie der Vogel es tat.

An die Aufgabe, die am Ziel auf sie wartete, mochte sie jetzt noch nicht denken.

Neob Ciffa schwang das Langschwert mit beiden Händen.Breitbeinig stand er auf der Palisade, die das ganze Lager

umlief. Jetzt, da der Tag zaghaft anbrach und die Sichtverhältnisse mit jedem Atemzug besser wurden, realisierte er mit Entsetzen, wie es um die Verteidiger stand, auf dessen Seite er als Hauptmann kämpfte.

Er kämpfte … tötete … er fragte nicht, schlug zu, wehrte ab. Er wollte nicht sterben, und so starben andere durch seine Hand.

Das war also das Spiel, das der Arbiter ihm aufgezwungen hatte. Ein Spiel, an dessen Ende nur Tod oder Leben stehen konnte. Einfache Regeln, doch wann war es beendet? Wenn der anstürmende Feind besiegt war? Das Licht der frühen Sonne machte Neob klar, wie unwahrscheinlich dieser

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Ausgang schien. Es würde wahrscheinlich ein kurzes Spiel werden.

Ein wirklich gewaltiges Heer bestürmte das befestigte Lager, griff es von drei Seiten her an. Nur im Rücken waren sie geschützt, denn dort war die Felswand. Neob sah riesige Wurfmaschinen auf Rädern, die in Stellung gebracht wurden. Drei waren bereits einsatzbereit, an zwei weiteren wurde hinter den Feindeslinien noch gearbeitet.

Die Nacht hatten die Angreifer genutzt, um die Verteidiger in Atem zu halten. Viel mehr als ein Vortasten war das noch nicht gewesen, doch es hinderte die Krieger in der Festung daran, den Bau der Maschinen zu stören – sie waren viel zu beschäftigt, ihr Leben zu schützen, um sich darum Gedanken zu machen.

Ein erstes Vortasten also … doch bereits das hatte Dutzenden das Leben gekostet. Auf beiden Seiten waren viele Tote zu beklagen, die Verwundeten schrien ihre Schmerzen in den Himmel. Wundärzte versuchten, das Ärgste zu behandeln, doch sie waren rettungslos überfordert.

Ciffa sah sich um. Auf der Seite, für die er kämpfte, konnte er keine Kriegsmaschinen entdecken. Nichts, mit dem man die kommenden Attacken der Angreifer hätte erwidern können. Sie würden Felsbrocken über die Palisaden schleudern, würden die hölzerne Barrikade damit durchschlagen. Kein Zweifel – die Verteidiger standen auf verlorenem Posten. Ihre Feinde konnten in Ruhe das volle Tageslicht abwarten, ehe sie ihren Angriff fortsetzten.

Neob blickte an sich herab. Er war voll gerüstet, so wie seine Mitstreiter. Das Langschwert baumelte in der Scheide an seiner linken Hüfte, zwei kurze, aber robuste Dolche steckten in dem Wehrgehänge; an seiner rechten Seite war ein Streitkolben mit einer Lederschlaufe befestigt. Das runde Schild hatte er längst zu Boden fallen lassen, denn es hinderte ihn in diesem Nahkampf mehr, als dass es nützlich sein konnte.

Das Kettenhemd hatte in den vergangenen Stunden mehr als einmal dafür gesorgt, dass Neob noch auf den eigenen

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Füßen stand. Er mochte gar nicht daran denken, wie seine Haut darunter aussah. Schwertern und Lanzen hatte es standgehalten, doch die Kraft der Hiebe und Stiche war dadurch ja nicht verschwunden, sondern nur gebremst worden. Er spürte die Schmerzen, die nun langsam einsetzten, jetzt, da sein Körper ein wenig zur Ruhe kam.

Ciffa sah sich noch einmal suchend um. Diese wütenden Angriffe mussten einen Grund haben. War es ein Krieg, bei dem es nur um territoriale Macht ging? Worum sonst? Hier gab es kaum etwas zu erobern und in Besitz zu nehmen. Er konnte zumindest nichts entdecken. Um den nackten Fels mochte es doch wohl kaum gehen. Welchen Sinn machte dieses bewehrte Lager?

Der Kämpfer, der direkt links neben ihm stand, blickte eben zu diesem Fels, hatte den Kopf dabei weit in den Nacken gelegt. Seine Stimme war ein Flüstern, beinahe wie ein Gebet.

»Die Silbersäulen des Arbiters – bald werden sie in den Händen dieser Barbaren sein. Wir werden es nicht verhindern können, Hauptmann.«

Erst jetzt bemerkte Neob, dass der Mann mit ihm sprach. Neob blickte in die Höhe. Der Gipfel der Steilwand war zu hoch, als dass er Details erkennen konnte. Doch er sah die zwei blitzenden Säulen, die dort oben auf der Felskrone in die Höhe ragten.

Die Zahl Zwei hatte es dem Arbiter angetan, wie es schien – reine Symbolik? Zwei Säulen … wie die zwei stählernen Träger, die als Wahrzeichen einer vergangenen Zeit die Stadt überragt hatten.

Neob konnte keinen Sinn in dieser Parallele erkennen, doch sie war unzweifelhaft gegeben. Das also war der Einsatz, um den es bei diesem Spiel ging. Der Arbiter dachte wirklich an alles, wenn er seine Spielorte schuf.

Entsetzt vernahm Ciffa die Schreie eines noch blutjungen Burschen, dem man das Bein amputieren musste. Kaum jemand unter den Verteidigern war ohne Blessuren aus dem nächtlichen Kampf hervorgegangen.

Ein Spiel also? Das war abartig, schlicht pervers.

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Neob sah sich um. Wo waren Rana und Blauu abgeblieben? Hatte der Arbiter auch für sie neue Identitäten geschaffen? Ein letzter Blick auf die Feindlinien zeigte Neob deutlich, dass auch dort Wunden geleckt wurden. In den nächsten Stunden war mit einem neuen und wohl entscheidenden Angriff nicht zu rechnen. Müde und hüftlahm stieg er die Holzstufen der Palisade hinab. Irgendwo in den Zelten würde es einen Platz für ihn geben, an dem er sich ein wenig erholen konnte.

Er wandte den Blick ab, als er an einem Leichenberg vorüberging – Arme, Beine, Körper – es war nicht zu erkennen, was zu welchem der unglücklichen Opfer gehörte, die sich hier auftürmten. Sein Blick fiel auf die drei größten Zelte, die direkt an den Fels gebaut waren.

Er hätte jetzt nichts gegen eine Karaffe starken Weines einzuwenden gehabt. Wer weiß – vielleicht fand er dort auch Rana in der Rolle des Mundschenks. Als er das Zelt betrat, da bemerkte er sofort, dass ihn sein Instinkt richtig geführt hatte. Hier wurde für die müden Kämpfer Suppe ausgegeben – dünne Suppe … wie dumm musste ein Kriegsherr sein, wenn er seinen Soldaten so einen wässrigen Fraß zumutete. Dass in den Karaffen sicher kein Wein zu finden war, stand für ihn schon fest, ehe er sich davon überzeugt hatte. Das Wasser war abgestanden, roch brackig.

Wut keimte in ihm auf. Vielleicht würden diese Burschen hier in kurzer Zeit allesamt ihr Leben im Kampf lassen müssen – hungrig, mit fauligem Wasser im Bauch und einer Suppe, die diesen Namen nicht verdiente.

Neob überlegte nicht erst lange, er handelte.Der Arbiter hatte ihm in seinem dummen Spiel den Rang

eines Hauptmanns zugeteilt. Ciffa wusste nicht, wie viele solcher Hauptleute es im Lager gab, wer ihr Vorgesetzter war, doch das interessierte ihn nicht. Arbiter wollte spielen – also machte Neob seinen ersten Zug.

An der Reihe der Wartenden schritt er einfach vorbei. Niemand wagte es, den Hauptmann daran zu hindern. Erst direkt vor der hölzernen Theke blieb Neob stehen, hinter

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der ihn drei Bedienstete mit großen Augen ansahen. Einen Hauptmann hatten sie hier wohl nicht erwartet. Ciffa wurde klar, dass auch hier die höheren Dienstgrade eine Sonderbehandlung erfuhren.

Wortlos löste er den Streitkolben von seinem Wehrgehänge, hieb ihn mit aller Kraft auf die Theke. Karaffen und Suppenterrinen hüpften wie Gummibälle in die Höhe, landeten scheppernd und klirrend auf dem schmutzigen Boden.

»Holt Fleisch, Brot, Käse – alles, was eure Kammern hergeben. Los, worauf wartet ihr? Und vergesst den Wein nicht, viel Wein. Mischt ihn mit Wasser, damit die Männer nicht betrunken umfallen. Ich hoffe für euch, er ist gut gekühlt.«

Die drei Männer, von denen der eine wohl der Koch war, der diesen Fraß hier verbrochen hatte, waren wie erstarrt. Endlich lockerte sich bei dem sogenannten Koch die Zunge.

»Aber Herr, wir haben die Anweisung … die Belagerung kann noch lange dauern … Nachschub wird es vorerst keinen geben. Der Fürst …«

Ciffa packte blitzschnell zu, zog den wohlgenährten Kerl über die Theke zu sich heran.

»Wo ist der Fürst?« Der Koch stammelte unverständliche Worte. Neob wusste dennoch, was er sagen wollte. »Weit weg von hier, irgendwo auf seiner Festung, nicht wahr? Und wo sind wir, Kerl? Uns spuckt der Tod mitten ins Gesicht.«

Der Koch wollte einen leisen Einwand erheben, doch Neob war viel schneller als er. Ansatzlos zuckte seine freie Hand vor – die Backpfeife saß. Hinter Ciffa wurde Gejohle laut. Die Männer konnten es kaum fassen, dass sich ein Hauptmann hier für sie einsetzte.

Neob sprach noch lauter, damit ihn alle verstehen konnten. »Hör zu – da draußen, gleich hinter der Palisade, wartet ein riesiges Heer darauf, unser Lager zu stürmen. Und sie werden schon bald kommen. Was denkst du, wie lange halb verhungerte Krieger sie aufhalten können?« Er bekam keine Antwort.

»Also mach deine Vorratskammern auf, sonst gibt es hier

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kein Morgen mehr. Und dann wird der Feind sich über das hermachen, was du da wie einen Schatz hortest.« Neob gab dem Mann einen Stoß, der ihn weit nach hinten taumeln ließ. Als der Koch sich wieder einigermaßen gefangen hatte, sah man ihn aus dem Zelt rennen, als wären Dämonen hinter ihm her. Seine beiden Helfer folgten ihm.

Neob wandte sich um, hob eine Hand. Es wurde still im Zelt.

»Der Kampf wird hart, das weiß ein jeder, der heute Nacht auf den Palisaden war. Ihr habt die Wurfmaschinen gesehen – ich auch! Wenn wir eine Chance haben wollen, dann sicher nicht mit leerem Magen. Also wartet, bis der Tropf und seine beiden Schatten wieder hier sind.« Gelächter wurde laut. Die Männer sahen den Hauptmann bewundernd an. Genau das hatte Ciffa erreichen wollen. Wenn er dieses Spiel gewinnen wollte, dann brauchte er Verbündete und keine Feinde, die ihm in den Rücken fielen.

Neob griff hinter die Theke und zauberte dort eine Karaffe hervor. Mit der Nase prüfte er deren Inhalt. Dann streckte er sie in die Höhe. »Sieh einer an, Köchlein trinkt also selbst kein Seuchenwasser.« Die Leute brüllten vor Lachen. Sie bildeten eine Gasse, durch die Neob mit dem Krug in der Hand das Zelt verließ.

Mit dieser Aktion hatte er sich hier sicher nicht nur Freunde gemacht, das war klar. Er trank einen großen Schluck direkt aus dem Krug. Sein Blick ging nach oben – zum Gipfel hin, dort, wo die Silbersäulen in der Sonne blitzten. Dorthin musste er. Wie, das war ihm nach wie vor ein Rätsel. Doch wenn es eine Möglichkeit gab, dann konnte er sie nur finden, wenn er die nächste Angriffswelle irgendwie überlebte.

Er brauchte Zeit, denn die Lösung seines Problems würde ihm sicher nicht einfach so in den Schoß fallen. Nein, Arbiter würde ihn dafür leiden lassen, Neob ganz sicher nichts schenken. Warum nur? Was war es, das Ciffa und dieses abstoßend hässliche Wesen miteinander verband?

Neobs Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er von den Palisaden her laute Rufe hörte. Verwundert sah er, wie sich

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dort oben gut und gerne vier Dutzend Kämpfer versammelt hatten, die zu den feindlichen Reihen wüste Beschimpfungen schickten.

Ciffa nahm einen weiteren Schluck aus dem nun beinahe leeren Krug. Achtlos ließ er ihn zu Boden fallen, stieg die Stufen nach oben. Die Krieger machten ihm bereitwillig Platz, als er sich nach vorne begab.

Neob sah den Mann, der in der Nacht direkt neben ihm gekämpft hatte. »Was ist hier los?«

Der Angesprochene wies nach unten, dorthin, wo ihre Feinde die kommende Angriffswelle vorbereiteten. »Hauptmann, das sind keine Menschen. Sie haben in der Nacht Gefangene gemacht. Seht selbst …«

Neob beugte sich über die Palisade. Dort unten schien sich nicht viel verändert zu haben bis auf die Tatsache, dass die vierte Kriegsmaschine kurz vor der Vollendung stand. Doch das war sicher nicht der Grund, warum die Männer so erregt und wütend waren.

Dann sah Neob es.Direkt in bester Sichtweite für die Verteidiger hatten die

Krieger dort unten eine Art Arena geschaffen – ein etwa fünfzig Schritte durchmessendes Oval, das an seiner Rückseite durch lange Pfähle begrenzt wurde, die man in den Boden gerammt hatte. Pfähle, die oben spitz zuliefen. Neob zählte zweiundzwanzig von ihnen … und zweiundzwanzig Körper hingen aufgespießt an ihnen …

Neob unterdrückte den Entsetzensschrei, der aus ihm herauswollte. Junge Männer, selbst ein paar Frauen waren dabei … wie Insekten durchbohrt. Das Grauen in Ciffa steigerte sich noch, als er erkannte, dass einige von ihnen sogar noch lebten!

»Bogenschützen!« Neob presste den Befehl zwischen den Zähnen hervor. Erstaunt bemerkte er, wie schon Augenblicke später fünf Krieger mit Langbogen neben ihm auftauchten. Es schien, als hätten sie nur auf einen Einsatzbefehl gewartet. »Macht dem Leiden ein Ende. Schnell! Warum habt ihr das nicht schon früher gemacht?«

Einer der Krieger blickte ihn mit hassverzerrtem Gesicht

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an. »Wir hatten Befehl, keine Aggressionen zu begehen. Danke, Hauptmann.« Das war von Herzen gekommen, denn die Männer wollten ihre Kameraden nicht mehr leiden sehen.

Sie schossen gut …Doch damit war das Spektakel noch nicht beendet. Mitten

in dem Oval waren eine Handvoll Männer und Frauen in einen Käfig gesperrt worden. Die Angreifer machten sich ihre Späße mit den Gefangenen, derbe Späße, die jedoch deren Leben nicht gefährdeten. Neob fragte sich, was die Aggressoren vorhatten. Die Antwort bekam er nur wenige Momente später.

Ciffa blickte überrascht in die Höhe – Schatten lagen plötzlich vor der Sonne, huschten rasch vorüber, senkten sich dann zu Boden. Neob glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er sah, wessen Schatten es waren.

Vögel – mächtige Tiere, wie Neob sie noch nie zuvor gesehen hatte. Was für eine Teufelei mochte noch in Arbiters Spiel auf ihn warten. Er sollte es rasch erfahren. Denn wenn er gedacht hatte, den ersten Spielzug getan zu haben, dann bewies ihm der Arbiter nun, was er darunter verstand.

Nur kurz klang die Stimme in Ciffas Bewusstsein auf.

… … …»Ein guter Spielzug kann nur der sein,

der den Gegner schwächt … der ihn leiden lässt!Sieh hin! Und lerne …«… … …

Zwei der Vögel waren unweit des Käfigs gelandet. Ihre Reiter trugen schwarze Lederharnische, die in der Sonne glänzten. Neob konnte ihre Gesichter nicht genau erkennen, doch er ahnte die Grausamkeit, die sich darin eingebrannt hatte. Die Vögel selbst schienen vor Kraft nur so zu strotzen. Ihre langen und kahlen Hälse waren hässlich, doch gerade deswegen wirkten die Körper äußerst respekteinflößend.

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Drei Männer zerrten einen der Gefangenen aus dem Käfig, stießen ihn zwischen die Tiere, die sofort begannen, nach dem Mann zu hacken. Die Reiter hinderten sie nur halbherzig daran, was zur Folge hatte, dass der Bedauernswerte rasch aus mehreren Wunden zu bluten begann. Dann griffen die Reiter nach den Armen des Mannes, hielten ihn zwischen sich fest.

Wie auf ein unhörbares Kommando hin schwangen die Tiere sich in die Luft, gewannen schnell an Höhe, bis sie endlich fast bewegungslos zwischen Himmel und Erde verharrten. Von unten ertönten Jubelschreie, als die Reiter die Arme des Mannes freigaben.

Hinter der Palisade tobten Neobs Männer, schüttelten die Fäuste in ohnmächtigem Hass, als der arme Kerl auf dem Boden des Ovals aufschlug. Vollkommen verdreht, blieb er regungslos liegen. Die Vögel landeten erneut. Neobs Bogenschützen zogen durch, doch ein Schwarm Armbrustpfeile ließ sie in Deckung gehen. Die Krieger dort unten wollten sich in ihrem Vergnügen nicht stören lassen.

Eine weitere Person wurde aus dem Käfig geholt und zwischen die Vögel gestellt. Die Reiter griffen jedoch nicht nach ihren Armen. Dieses Mal sollte der Spaß auf andere Weise vonstattengehen. Dem Gefangenen wurden die Hände fest an die Sattelgestelle der Riesenvögel gebunden.

Dann stiegen die Tiere erneut auf, jetzt allerdings nicht sehr hoch. Der Misshandelte hatte bislang keinen Ton von sich gegeben, doch nun hob er den Kopf … erschüttert sah Neob, dass es sich um eine Frau handelte.

Um eine noch junge Frau … um Rana!Neob sprang hoch, störte sich nicht um das Dutzend

Pfeile, das sofort in seine Richtung gejagt wurde.»NEIN!« Sein eigener Schrei klang so unwirklich in Neobs

Ohren, denn er wollte einfach nicht enden. Ein Pfeil kratzte an Ciffas Helm entlang, drückte dessen Eisenrand in die Stirnhaut des Mannes. Blut floss, bahnte sich seinen Weg in Neobs Augen. Durch den roten Schleier hindurch sah er alles so unwirklich verfremdet – sah, wie die Vögel in entgegengesetzte Richtungen flogen, angetrieben von den

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harten Befehlen ihrer Reiter. Er hörte die junge Frau schreien … und sie rief nach ihm! Dann schien etwas vor Ciffas Augen zu explodieren. Es dauerte lange, bis sein Gehirn die Information verarbeitet hatte, bis es begriff, dass die Riesenvögel die Frau in zwei Stücke gerissen hatten.

Schrie er noch immer?Ja, das war seine Stimme … Hände griffen nach ihm,

hielten ihn wohl fest?Warum? Er wollte doch nur dort hinunter – wollte zu Rana

… zu Rana … Sein Schrei schien nie enden zu können …

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5. Hoch oben

Sein Schrei schien nie enden zu können …… Professor Zamorra schrie! Etwas drückte ihn nach

außen? Außen? Wo war das? Eine zweite Stimme fiel in seinen Schrei mit ein. Die Stimme einer Frau? Nicole Duvals Stimme!

Zamorra reagierte instinktiv – wild mit den Armen im Nichts rudernd, griff er um sich. Da – eine Hand. Zamorra fasste hart zu, denn er fürchtete, den Kontakt wieder zu verlieren.

Wohin? Nur fort … weiter nach außen!Waren das seine Gedanken gewesen oder die seiner

Gefährtin? Gleichgültig – er musste sie nur befolgen, dann wurde alles gut. Wild stieß er sich ab. Von wo? Wohin? Wie viele Fragen gab es in so einem Augenblick denn nur?

Dann plötzlich spürte er den harten Boden, auf den er unsanft mit der Schulter aufschlug. Vollkommen orientierungslos riss er die Augen auf.

»Aua!« Was dann folgte, war ein absolut undamenhafter Fluch, der eher schon zu einem Bierkutscher gepasst hätte. Aus Nicoles Mund gefiel er dem Parapsychologen jedoch viel besser.

Es war das Zimmer im Château – es war der Fußboden neben dem Bett, auf dem der nach wie vor um sein Leben ringende Dalius Laertes lag.

»Verdammt, was war das?« Nicole Duval konnte sich einfach nicht aus ihrer Verwirrung lösen.

»Das war das Ergebnis von Ranas grässlichem Tod.« Zamorra war sicher, dass Nicole exakt die gleichen Erlebnisse mitverfolgt hatte wie er. Gemeinsam waren sie in Laertes' Fieberwahn gezogen worden.

»Er hat uns abgestoßen?« Nicole Duval rappelte sich auf. »Das begreife ich nicht.«

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Zamorra analysierte die Sache, so gut er es eben konnte – vieles blieb Spekulation, Ahnung.

»Sicher nicht bewusst, aber vielleicht war es durchaus bewusst – und nicht nur von seinem giftigen Fieber gesteuert –, dass er uns in seine Phantasien einbezogen hat.«

»Phantasien?« Nicole blickte zu Laertes' scheinbar leblosem Körper. »Oder mehr als das … sicher mehr als das, nicht wahr?«

Der Professor nickte. »Ich weiß nicht, was wir gesehen und erlebt haben. Ein Stück von Dalius' Vergangenheit, die nach und nach zu ihm zurückkehrt, vielleicht. Wenn ja – dann wollte er uns vielleicht dieses Arbiter-Wesen bewusst machen. Kannst du dir vorstellen, was wäre, wenn eine solche Kreatur noch heute existent wäre? Die Fähigkeiten des Arbiters, Welten nach seinem Gusto zu erschaffen, sie zu verändern, würde neue Maßstäbe setzen. Niemand könnte sich ihm entziehen, wenn er diese Macht überall einzusetzen in der Lage wäre. Selbst unsere lieben Freunde der Schwarzen Familie wären doch machtlos gegen ihn.«

»Du willst zurück, nicht wahr?«Professor Zamorra blickte seine Gefährtin an. Sie wusste

so oft, was er plante, noch ehe er selbst Sicherheit darüber besaß. Zamorra lächelte seine schlaue Partnerin an.

»Ja, ich muss erfahren, was weiter geschieht. Das kann nicht das Ende gewesen sein. Wer ist dieser Neob? Ich bin mir nicht absolut sicher. Was, wenn er das Spiel zu seinen Gunsten entscheiden kann? Nur einmal angenommen, er findet den Arbiter – was dann?«

Nicole hatte gewisse Ahnungen, doch die behielt sie für sich. Sicher gingen Zamorras Gedanken in ganz ähnliche Richtung. »Aber ich bleibe außen vor. Zamorra, Laertes wird bald nicht mehr sein. Schau ihn dir an. Was, wenn du nicht rechtzeitig aus seinem Fieberwahn entkommen kannst? Ich …«

Der Franzose strich ihr zärtlich über die Wange. »Keine Sorge, ich werde es schaffen. Ich fürchte, wenn der Uskuge seinen letzten Kampf hier verliert, wird das ganz von alleine

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so geschehen. Und ich fühle mich um einiges wohler, wenn ich dich hier als Kontrollinstanz weiß.«

»Kontroll-was?« Nicole grinste, küsste Zamorra auf den Mund. »Schaffst du es zurück in Laertes' Bewusstsein?«

Der Parapsychologe war sicher. Es war nicht die erste Verschmelzung, die er mit dem Uskugen vollzog.

»Aufpassen, Cheri.« Nicoles Stimme klang wie in Sorgen getränkt, auch wenn sie Zamorra voll und ganz vertraute. Er ging oft Risiken ein, die nicht kontrollierbar waren.

Der Professor setzte sich neben Laertes auf die Kante des Lagers, lehnte seinen Rücken gegen die Wand. Dann griff er mit der linken Hand nach der Stirn des Vampirs.

Es ging ganz schnell – wie das Eintauchen in einen Pool, der mit klarem Wasser gefüllt war.

Wieder einmal blieb eine sorgenerfüllte Nicole Duval allein zurück …

Der Angriff kam in den frühen Stunden des Nachmittags.Die Angreifer aus dem Süden hatten gewartet, bis die

Sonnenstrahlen sie nicht mehr blendeten. Dann kamen sie mit allem, was sie hatten.

Große Steinbrocken rasten gegen die Palisade, erschütterten sie einschneidend – doch noch hielt sie. Dann flogen die Findlinge über die Einfriedung hinweg, schlugen schreckliche Wunden in Menschen, Tiere, verwüsteten die Zelte.

Die Sturmleitern knallten gegen die Brüstung, der Feind war so zahlreich wie Ameisen in einem Haufen – doch noch hielt man ihn auf.

Neob Ciffa kämpfte wie ein seelenloser Untoter.Er spürte nicht die Wunden und Schläge, die seinen Körper

übersäten. Er fühlte nichts, wenn sein Langschwert in die Köpfe der Feinde eindrang, wenn es Arme und Beine abhackte. Irgendwann zerbrach die Klinge, doch selbst mit halbierter Waffe drosch er weiter auf die Gegner ein, bis ihm jemand zwei Streitkolben in die Hände drückte. Von dieser Sekunde an wurden seine Arme zu Dreschflegeln, die

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Tod und Verderben brachten. Links und rechts von ihm fielen seine Mitstreiter – er registrierte es nur wie durch einen Blutdunst hindurch.

Als große Wannen mit brennendem Öl und Pech über die Köpfe der nach oben kletternden Krieger ausgeschüttet wurden, hörte er eine hässliche Lache, die den Kampflärm übertönte, selbst die Schreie der Sterbenden.

Dass er es war, der so wahnsinnig lachte, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.

Er war weniger als ein Tier, denn Tiere konnten fühlen, konnten Emotionen ausdrücken. Er konnte nichts davon. Er war tot – und doch tötete in diesen Stunden niemand so ungemein effektiv wie er, der Tote! Als es vorbei war, da wussten alle, dass sie keine Chance gehabt hatten – und doch stand das feste Lager noch. Über die Hälfte der Verteidiger lebte nicht mehr. Doch als die Nacht sich ankündigte, da zogen die so hoch überlegenen Angreifer sich zurück. Die Verluste in ihren Reihen waren entsetzlich, zudem verließen sie nach und nach die Kräfte. Selbst die Vogelstaffel war schwer angeschlagen. Elf Tiere und deren Reiter hatten den Tag nicht überstanden. Die Bogenschützen der Verteidiger waren konzentriert gegen sie vorgegangen.

Ciffa ließ die Streitkolben achtlos zu Boden fallen. Von einer Sekunde zur anderen schienen sie ihm als tonnenschwerer Ballast, den seine Arme niemals mehr in die Höhe bekommen hätten. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Als er den Helm vom Kopf nahm, kam sofort der Schmerz. Wo er stand, ließ Neob sich zu Boden sinken, schloss die Augen. Schlafen … ja, nur noch ausruhen.

Sein Zeitgefühl war komplett ausgefallen. Er wusste wirklich nicht, wie lange er dort so gehockt hatte. Niemand kümmerte sich um ihn. Jeder hatte in diesen Stunden mehr als genug mit sich selbst zu tun. Irgendwann schaffte er es wieder, auf die Beine zu kommen.

Nicht weit von ihm stand ein Bottich, gefüllt mit Wasser. Neob kniete davor nieder, steckte seinen Kopf in das kühle Nass. Langsam kamen die Gedanken zurück, die

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Erinnerungen an den vergangenen Tag, auch wenn sein Unterbewusstsein viel von dem, was er getan hatte, vorsorglich ausgeklammert hatte. Gut so … er wäre sonst sicher dem Wahnsinn verfallen.

Die meisten Zelte standen nicht mehr. Die Geschütze des Feindes hatten wahrhaftig gute Arbeit geleistet. Neob sah die Feuerscheine – irgendwo mitten im Lager hatten Männer und Frauen sich zu einem großen Kreis zusammengefunden. Irgendwer drückte ihm eine volle Weinkaraffe in die Hand. Wie ein Ertrinkender hielt er sich daran fest, wie ein Verdurstender leerte er sie mit einem Schluck bis über die Hälfte.

Ciffa erkannte zwei der Männer, mit denen er Seite an Seite gekämpft hatte. Sie holten den Hauptmann zu sich. Als er sich gesetzt hatte, fühlte er den stechenden Hunger. Es war der sogenannte Koch, der ihm einen Brotfladen und ein paar Fetzen Pökelfleisch in die Hand drückte.

Neob bemühte sich darum, nicht zu hastig zu essen. Er hörte den Gesprächen der Männer zu.

»Morgen werden sie mit Feuer kommen. Dann ist es aus mit uns.«

Ciffa gab dem Mann recht. Es war verwunderlich, warum die Angreifer das nicht schon heute versucht hatten. War das ein Zeichen von Überheblichkeit, von der sicheren Annahme, diese Festung auch so im Handstreich schleifen zu können?

»Vielleicht fürchten ihre Vögel das Feuer? Sonst hätten sie uns sicher schon heute in Flammen gelegt.« Der Krieger, der das gesagt hatte, wandte seinen Blick zu Neob. Ciffa bemerkte, dass viele der Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Er war ein Hauptmann – man erwartete so etwas wie eine Analyse von ihm … vielleicht auch Worte, die Hoffnung machten. Woher sollte er die nehmen?

»Nein, das ist es nicht.« Neob stopfte sich den Rest des Brotfladens in den Mund, spülte ihn mit dem verdünnten Wein hinunter. »Das sind Kampftiere, die speziell für diese Aufgabe gezüchtet und trainiert werden. Die fürchten kein Feuer. Aber sie haben einen Schwachpunkt – sie können

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nicht sehr hoch fliegen, denn sonst hätten unsere Schützen keinen von ihnen erlegen können.«

Er machte eine Pause. Niemand sprach – alle warteten, was der Mann zu sagen hatte, der wie ein Berserker gekämpft hatte. Neob warf einen Blick in die Runde. Er sah in müde, kranke und verzweifelte Gesichter von Frauen und Männern, die wussten, dass der Tod ihnen nur eine kleine Ruhepause einräumte. Nicht lange, dann würde er erneut gegen die Palisade hämmern.

Ciffa konnte keinen Ranghohen entdecken. Er war nicht der einzige Hauptmann im Lager gewesen, doch nun schien er die letzte lebende Führungsperson zu sein. Sie brauchen dich jetzt … dabei weißt du ja selbst nicht weiter.

Er riss sich zusammen.»Gut. Die Nacht ist noch jung. Wir werden hier nicht wie

Schlachtvieh darauf warten, dass die Sonne aufgeht – denn dann werden sie uns mit ihren Kriegsmaschinen endgültig den Garaus machen. Mit oder ohne Feuer sind sie uns unendlich hoch überlegen.« Ciffa stand auf, trat in den Kreis bis nahe an das lodernde Feuer heran, das Dunkelheit und die Kälte der Nacht vertreiben sollte.

»Wir haben nur eine winzige Chance. Die Nacht ist unser Freund – und wir werden uns ihrer bedienen. Die Wurfmaschinen müssen brennen!«

Laute Rufe ertönen, einige der Männer schlugen sich mit den Fäusten gegen den Brustharnisch. Ciffa sah allerdings auch zweifelnde Gesichter. Er konnte es niemandem verdenken, wenn er ihn für verrückt hielt. Neob hob beide Arme in die Luft – und seine Muskeln jagten Schmerzwellen von seinen Schultern bis in die Fingerspitzen hinein –, doch die Geste erreichte ihr Ziel. Es wurde still um das Feuer herum.

»Also hört mir zu. Wir werden in kleinen Gruppen unbemerkt aus dem Lager schleichen – Löcher gibt es in der Palisade ja mehr als genug. Ich glaube kaum, dass der Feind jedes von ihnen bewachen lässt.« Er wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Einfassung. »Die sind nicht minder müde und erschöpft als wir. Wir haben ihnen

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einen bitteren Tag bereitet.« Neob sah das Glänzen in den Augen der Krieger, die stolz waren, zumindest das erreicht zu haben; sicher hassten viele dieses Schlachten wie er, doch sie waren Soldaten, die nichts anderes in ihrem Leben erlernt hatten. Neob fuhr fort.

»Wo die Wurfmaschinen stehen, das hat sich sicher jeder von uns mehr als eingeprägt. Es ist ein Todeskommando, darüber müssen wir uns klar sein, doch wenn auch nur zwei oder drei der Maschinen brennen, so wird das die Moral der Südländer erheblich zerstören.«

Die Männer brüllten laut auf. Was tat er hier? Ich impfe ihnen Hoffnung ein … vielleicht eine trügerische Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird. Und doch – alles war besser, als die Verzweifelten hier auf ihr Ende warten zu lassen.

»Viel braucht es nicht, um die Holzriesen zu fällen. Die Gestelle sind knochentrocken, die Spannseile werden auch jetzt noch vor Hitze dampfen, denn sie waren ja in ständigem Einsatz. Bildet acht Gruppen zu je drei Kriegern. Zwei sollen unter schweren Waffen stehen, damit sie im Ernstfall den dritten decken können, denn der wird nicht mehr als einen Schlauch mit Lampenöl und Feuersteine bei sich haben. Ihr versteht? Und klettern muss er können – bis hoch zur Spitze der Maschine, denn der Brand muss oben gelegt werden, damit ihn niemand rasch löschen kann.«

Die Frauen und Männer sprangen hoch. Den Rest würden sie unter sich regeln, da musste Neob nicht eingreifen. Zufrieden sah er, wie sich die Teams bildeten – einige der Frauen wurden zu Brandstiftern erkoren, denn sie waren wendiger, flinker und geübt im Umgang mit den Feuersteinen.

Ein alter Recke, dessen tiefe Beinwunde nicht zuließ, dass er sich aktiv beteiligte, legte Neob eine Hand auf dessen Schulter.

»Und du, Hauptmann? Willst du dich nicht ein wenig ausruhen? Wir alle werden dich morgen noch dringend brauchen.«

Neob nickte dem Alten zu. »Das wäre sicher besser, mein Freund.«

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Dann wandte er sich ab, ging mit schlurfenden Schritten in Richtung der Palisade. Sicher, ein wenig Schlaf hätte ihm jetzt neue Kraft bringen können. Doch da gab es etwas anderes, was er einem Ruhelager vorzog.

Wenn es gelang, die Kriegsmaschinen zu zerstören, sie doch zumindest effektiv zu beschädigen, dann würden die Kriegstreiber aus dem Süden Alteras dennoch voller Wut angreifen. Und es gab einen bestimmten Teil des Heeres, der dann größte Bedeutung haben würde:

Die Vogelreiter!Neob schlüpfte unbemerkt durch ein Loch in dem

hölzernen Wall. Niemand im Lager hatte es bemerkt – und außerhalb der Feste schienen ihre Feinde tatsächlich mit dem Lecken der eigenen Wunden beschäftigt zu sein. Im gegnerischen Lager loderten zahlreiche Feuer. Neob hörte die harten Gesänge der Südmänner, hörte ihr Lachen, ihr Schreien. Sie würden sich mit jeder Menge Wein die vergangene Schlacht schönreden und auf den morgigen Sieg saufen, den sie sicher wähnten.

Sollten sie nur.Ciffa gab noch nicht auf. Noch war das Spiel nicht verloren

– beendet war es sicher noch lange nicht! Hörst du, Arbiter – ich bin am Zug. Sei dir deines Sieges nicht zu sicher. Vielleicht stehe ich schon bald vor dir. Macht dir dieser Gedanke Angst?

Er erhielt keine Antwort. Das konnte alles und nichts bedeuten. Neob konzentrierte sich. Wahrscheinlich befand sich der Standort der Vogelstaffel ein wenig abseits vom eigentlichen Lager. Diese wilden Krieger und Tiere, das passte irgendwie nicht zusammen. Der Lärm, den die Männer veranstalteten, hätte die Riesenvögel sicher nervös gemacht.

Langsam schlich er sich in die Dunkelheit hinein.Er würde sicher finden, was er suchte. Und dann?Das würde sich ja zeigen …

Bilaal kauerte in der hintersten Ecke des provisorisch

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eingezäumten Areals, das man für die Vögel und ihre Reiter eingerichtet hatte.

Biest stand verstört vor ihr, schirmte seine Freundin vor den Blicken der anderen Männer ab, die bemüht waren, die Anstrengungen des vergangenen Tages aus den Gliedern zu bekommen.

Immer wieder stupste der junge Vogel seine Reiterin vorsichtig mit dem Schnabel an. Er war so sehr auf Bilaal fixiert, dass ihr seltsames Verhalten ihn seine eigenen Bedürfnisse einfach vergessen ließ. Die anderen Reitvögel waren damit beschäftigt, ihr Gefieder zu reinigen, zu fressen und den Durst zu stillen. Einige hatten den Kopf in die Federn gesteckt und schliefen bereits.

Bilaal wurde von Entsetzen geschüttelt. Was sie in den Stunden des Angriffs auf diese Bergfestung gesehen hatte, warf sie komplett aus ihrer Bahn. Krieg war grausam, das allein war keine neue Erkenntnis für das Mädchen. Es war schließlich ein Krieg gewesen, der ihr die ganze Familie genommen hatte. Doch das war lange her – so lange schon, dass sie sich an die Einzelheiten kaum noch erinnern konnte.

Dies hier war anders. Dies hier war schmutzig und barbarisch. Menschen wurden in Stücke gehauen, mit flüssigem Feuer übergossen, zu Krüppeln gemacht – für irgendwelche Säulen, die auf irgendeinem Felsmassiv standen?

Bilaal hatte die Silberstelen gesehen, hoch über sich, als sie mit Biest gleich beim ersten Angriff mitten im Geschehen war. So hoch … niemand, so lautete die Legende, hatte diesen Felsen je besiegt. Niemand war den Silbersäulen des Arbiters nahegekommen. Vielleicht lebte der Weltenschöpfer dort, vielleicht aber auch nicht. Es mochte sein, dass diese blitzenden Säulen nur zwei Felsnadeln waren, die das Sonnenlicht spiegelten … nichts weiter als grobes Gestein, das vom Boden aus wie ein großes Wunder erschien, das einem Gott würdig war.

Und dafür starben dort unten ungezählte Frauen und Männer?

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Für eine Sache, die man nur als schäbig bezeichnen konnte, denn es ging darum, diese Säulen in den Besitz des eigenen Volkes zu bringen.

Nichts wäre dadurch gewonnen, nichts würde sich für die Menschen zum Positiven hin ändern. Alles blieb, wie es war … bis zu dem Tag, an dem ein anderes Heer auftauchen würde. Dann begann das Sterben erneut.

In Bilaals Kopf spielte sich immer wieder die gleiche Szene ab. Sie war höher als die anderen geflogen, die mit ihren Schleudern und Armbrüsten das Verderben über die Köpfe der Verteidiger brachten. Sie brachte es einfach nicht fertig, auf einen Krieger oder eine der Frauen dort unten zu schießen. Einfach so abzudrücken, zu töten, ohne ihrem Opfer auch nur die Chance zu geben, sich in Deckung zu begeben. Bilaal war klar, dass ihre Skrupel ihr Ärger einbringen mussten. Sie ignorierte das, denn was man von ihr verlangte, das war kein Kampf, sondern ein Abschlachten.

Dennoch hatten es sich einige der Bogenschützen dort unten wohl zum Ziel gemacht, ausgerechnet sie vom Himmel zu holen. Immer wieder wich Biest geschickt den heranjagenden Pfeilen und Bolzen aus. Plötzlich war der Staffelführer unter ihr aufgetaucht. Sein Vogel schaffte die Höhe nicht, die Biest spielend meisterte. Er brüllte zu ihr herauf.

»Runter mit euch! Greift an – los, an meine Seite!« Er setzte zu einem Sturzflug an und erwartete, dass Biest und Bilaal ihm bedingungslos folgten. Die junge Vogelreiterin sah, wie er einen Blick zurückwarf – sie sah noch mehr … den Bogenschützen, der mit tödlicher Perfektion die Sehne seiner Waffe nach hinten zog. Sie sah, wen dieser Pfeil treffen würde. Der Staffelführer hatte keine Chance auszuweichen, selbst dann nicht, wenn er die drohende Gefahr in diesem Moment erkannt hätte.

Bilaal riss ihre Armbrust an die Schulter. Sie hatte keine Zeit mehr, um exakt zu zielen, denn sonst hätte der Stahlbolzen die Schulter, vielleicht ein Bein des Schützen getroffen. So jedoch blieb nur der instinktive Schuss, der

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das Ziel hatte, den Gegner zu stoppen.Der Pfeil verließ noch den Bogen des Kriegers, doch er

sauste weit an seinem Ziel vorbei. Erst jetzt bemerkte Bilaals Vorgesetzter, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Er riss seinen Vogel herum, flog einen Halbkreis, der ihn aus jeder Schusslinie brachte. Dann verschwand er aus Bilaals Sichtfeld.

Sie aber hatte nur Augen für den Toten dort unten, in dessen Stirn der Bolzen ihrer Armbrust steckte …

Irgendwie hatte sie die ganze Angriffswelle überstanden. Sie hatte immer wieder Schüsse in Richtung der Verteidiger abgegeben. Doch keiner davon hatte getötet. Für die anderen Vogelreiter sah es so aus, als wäre sie eine lausige Schützin, eine verdammt lausige …

Wie sollten sie auch wissen, dass Bilaal eine kleine Meisterin der Armbrust war? Nur der Staffelführer hatte eine Ahnung davon erhalten, als er sah, mit welcher Präzision Bilaal den Treffer gesetzt hatte, dem er es verdankte, noch am Leben zu sein.

Als die Vogelreiter den Angriff abbrachen, waren sie ohne Zwischenstopp sofort hier in ihrem Bereich gelandet. Einige der Männer wollten sich ihren Spaß mit Bilaals Fehlschüssen machen, doch der erste Reiter, wie der Führer dieser Soldaten genannt wurde, hielt sie zurück. Er sorgte dafür, das Bilaal ihre Ruhe bekam.

Vielleicht hätte er sich sogar gerne bei ihr bedankt, doch das war dann doch zu viel von ihm verlangt. Schließlich war sie ja noch ein halbes Kind … und eine Frau dazu.

Die völlige Ruhe, die man ihr dann ließ, hätte Bilaal guttun sollen. Das genaue Gegenteil war der Fall. Ihr Körper reagierte heftig – Bilaal zitterte vor innerer Kälte, während ihr gleichzeitig der Schweiß von der heißen Stirn rann. Ihre Knie hatte sie bis zum Kinn angezogen, wippte leicht vor und zurück wie ein Kind, das Trost und Schutz benötigte. Biest versuchte ihr das alles zu geben, doch das war natürlich nicht möglich.

Wenn sie auch nach außen apathisch wirkte, so arbeitete Bilaals Kopf ununterbrochen.

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Was, wenn nach Sonnenaufgang der entscheidende Angriff gestartet wurde? Alles würde sich wiederholen. Nein, es musste sogar noch entsetzlicher werden, denn die Verteidiger der Bergfeste – von denen Bilaal nach wie vor nicht einmal den Namen ihres Stammes kannte – mussten dann ein Desaster erleben.

Ein winziger Teil von Bilaals Bewusstsein registrierte die Gespräche und Gesänge der Vogelkämpfer, die schon jetzt den morgigen Sieg zu feiern begannen. Sieg? So würde man es kaum nennen können – für die junge Frau stand fest, dass es zu nichts anderem als einem Schlachtfest kommen musste. Kein einziger Krieger, keiner der Zivilisten der Verteidiger konnte mit dem Leben davonkommen.

Und ich? Werden Biest und ich vielleicht auch dem Blutrausch verfallen?

Sie blickte in die kreisrunden Augen des Vogels, der wieder und wieder seinen Schnabel zärtlich gegen Bilaals Schulter stupste. Sie hob die Hand, tätschelte Biests kahlen Hals. Nein, das durfte sie einfach nicht zulassen. Bilaal hob den Kopf zu den beiden Säulen, die im Mondlicht nur verschwommen und unwirklich erschienen.

Darum also ging es? Das war es, was über das Leben oder Sterben von so vielen Menschen entschied. Nicht über das ihre! Und nicht über das ihres geliebten Vogels.

Schlagartig wich die Schockwirkung, in der Bilaals Körper gefangen gewesen war. Sie musste handeln, alles Weitere wurde zur Nebensache.

Ein kurzer Blick zum Feuer genügte der jungen Frau – niemand beachtete sie. Nicht einmal der Staffelführer, der mit einem noch ziemlich vollen Weinschlauch beschäftigt war. Mit ganzer Absicht hatte er sich so gesetzt, dass sein Rücken zu Bilaal wies. Sie hatte ihn beschämt, sie – das vermeintlich schwächste Glied in der Kette, die er befehligte. Das war etwas, mit dem er fertig werden musste. Er wollte sie nicht sehen, nicht wissen, wie es ihr ging.

Bilaal war das mehr als recht. Aufmerksamkeit konnte sie bei dem, was sie vorhatte, sicher nicht brauchen. Sanft zog

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sie Biests Kopf zu sich heran. Der große Vogel ließ es sich ohne Protest gefallen.

»Man sagt, ihr seid nicht sehr schlau, aber ich bin sicher, du verstehst immer ganz genau, was ich sage und tue. Hör zu – wir dürfen hier nicht länger bleiben. Du und ich, wir suchen uns ein neues Leben. Irgendwo. Verstehst du?« Der Vogel schien ihr aufmerksam zuzuhören. »Also musst du nun ganz still sein, ja? Leise, Biest – sie dürfen uns nicht bemerken.« Bilaal legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Jeder andere Vogelreiter hätte sie für verrückt erklärt, denn die Vögel konnten solche menschlichen Gesten ganz sicher nicht deuten. Bilaal war sich da nicht sicher.

Sie sah sich um. Der Schein des Feuers reichte nicht aus, um das Areal bis in den letzten Winkel auszuleuchten, doch sie konnte sich auch im Dunkeln gut orientieren. Drei Ausgänge hatte man eingerichtet, drei Stellen also, durch den die Vögel mit ihren Reitern den einfachen Zaun passieren konnten. Die Tiere brauchten zum Starten nicht viel freien Raum um sich herum, doch innerhalb dieses umzäunten Lagers war dann doch zu wenig Platz für ihre mächtigen Flügel.

Vorsichtig bewegte Bilaal sich zu der Zaunöffnung, die dem Lagerfeuer abgewandt war. Unwahrscheinlich, dass die schon reichlich Betrunkenen ausgerechnet jetzt in diese Richtung blicken würden. Biest folgte ihr wie auf Wolken. Trotz ihrer Anspannung musste die junge Frau lächeln – der Vogel schlich ihr nach wie ein Verbündeter, ein Eingeweihter, der voll und ganz bei der Sache war.

»Wo willst denn du hin?« Bilaal zuckte zusammen. Aus dem Halbdunkel trat einer der Reiter. Was auch immer der hier tat, er hatte sie völlig überrascht. Sie fühlte, wie der Vogel hinter ihr nervös reagierte. Nach wie vor war es für niemanden außer Bilaal ratsam, sich Biest unvorsichtig zu nähern. Wenn das Tier den Mann nun anging, dann war alles aus. Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort, deren Inhalt eine gewisse Logik besaß. Es wollte ihr einfach nichts einfallen.

»Ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn …«

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Irgendwo draußen, im Hauptlager des Heeres, wurden Schreie laut, die alle anderen Geräusche übertönten. »Feuer! Alarm …« Der Schrei erstickte in einem Gurgeln. Die Vogelreiter sprangen auf die Füße. Der Mann, der noch vor einer Sekunde Bilaals größtes Problem gewesen war, rannte zu den anderen, ließ die junge Frau ganz einfach stehen.

Dann sah Bilaal es:Feuer – tatsächlich loderten helle Flammen mitten im

Heereslager auf. Doch sie leckten nicht vom Boden in die Höhe, nein, sie schwebten in der Luft! Bilaal tätschelte beruhigend Biests Hals; er und alle anderen seiner Rasse stießen krächzende Laute aus, die in Bilaals Ohren schmerzten. Die Tiere spürten die Gefahr, die dort drüben offenbar lauerte.

Die schwebenden Flammen breiteten sich rasch nach unten hin aus, und dann reichte die Helligkeit, die sie erzeugten aus, um das Rätsel zu lösen. Zwei der Wurfmaschinen brannten! Dann schlugen Flammen aus einer dritten empor.

Bilaal war überrascht, wie kühl und sachlich sie das alles aufnahm und verarbeitete. Wie dumm die Hauptleute dort drüben doch agiert hatten – im festen Glauben an den bevorstehenden Sieg hatten sie nicht damit gerechnet, dass die Verteidiger der Festung noch ausreichend Kraft und Willen besaßen, um sich mit unkonventionellen Mitteln zur Wehr zu setzen.

Sie lächelte. Drei Wurfmaschinen würden am kommenden Tag nicht zur Verfügung stehen, so viel war sicher. Also waren es wohl die Vogelreiter, die beim nächsten Angriff eine besonders tragende Rolle spielen mussten. Ihre Luftattacken waren natürlich gefährlich, doch längst nicht so effizient wie die riesigen Kriegsmaschinen.

Nun sah das Kräfteverhältnis schon ein wenig ausgewogener aus. Dieser Erfolg würde den Verteidigern neuen Mut und frische Kräfte geben.

Und ihr … ihr gab diese Aktion die einmalige Chance, in dem nun entstehenden Chaos unbemerkt zu fliehen. Sie

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hielt sich im Dunkeln verborgen, als die Vogelreiter zu ihren Tieren stürmten. Mancher der Männer konnte kaum noch auf den eigenen Beinen stehen, denn der Wein war schwer und süffig. Diese übereilte Hilfsaktion war unsinnig, denn nun brannte schon die vierte Maschine! Im Heereslager konnte man die Vogelstaffel wohl kaum brauchen, eher schon einen kräftigen Regenguss. Doch der nächtliche Himmel war wolkenlos.

Als einer der Reiter kraftlos aus dem Sattel sank, glaubte Bilaal an die Wirkung des guten Weines. Doch in der nächsten Sekunde erging es seinem Nebenmann nicht anders. Die Tiere wurden nervös, spürten viel schneller als die Menschen, dass hier etwas nicht stimmte.

Der Staffelführer brüllte irgendetwas, von dem Bilaal kein einziges Wort verstand. Dann sah sie aus den Augenwinkeln heraus links von sich einen huschenden Schatten, der es eilig hatte, seine Position zu verändern. Die zwei reiterlos gewordenen Vögel trippelten aufgeregt umher, stießen dabei aneinander.

Bilaal ging in die Knie, zwang Biest, sich hinzulegen. Genau wusste sie nicht, was hier geschah, doch sie hatte eine Ahnung. Die Zielscheibe spielte sie nun einmal nicht so gerne. Ihre Vermutung wurde gleich darauf bestätigt. Es war der Staffelführer, der sich an die rechte Schulter griff. Blut sickerte durch seine Finger hindurch, Blut aus einer Wunde, aus der deutlich sichtbar für alle der Schaft eines Armbrustbolzens herausragte.

»Deckung nehmen – sofort!« Er selbst ließ sich recht ungeschickt zu Boden sinken. Die Männer waren eine gut trainierte Einheit – trotz ihres Rausches reagierten sie richtig. Doch gegen einen Heckenschützen in der Dunkelheit waren sie machtlos, zumal der Feuerschein sie zu leichten Zielen machte. Drei weitere Reiter fielen den Attacken zum Opfer. Erst dann gab sich der Attentäter zufrieden.

Alle leben. Er hat sie nur verwundet. Und ausschließlich die Männer, keinen der Vögel …

Bilaal versuchte, diese Informationen in die korrekte Reihe

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zu bringen, doch sie war sich nicht sicher, ob sie das konnte. Nur eine Sache war ihr klar – erst die Kriegsmaschinen, dann die Vogelreiter. Wer den Plan ausgeheckt hatte, der wusste nur zu genau, wie er einen übermächtigen Gegner schwächen konnte. Bilaal kam nicht umhin, die Frechheit der Verteidiger zu bewundern. Gleichzeitig jedoch war sie schockiert, wie schlecht die angreifende Armee aus dem Süden doch organisiert war.

Die Reiter, die noch in den Sätteln saßen, machten sich daran, das Areal zu verlassen, denn sie wollten nur fort von hier. Die ersten Vögel schwangen sich bereits in die Lüfte. Bilaal zog den verwirrten Biest hinter sich her. Sie verzichtete auf die Sattelleiter, schwang sich am Hals des Vogels hoch, direkt auf seinen Rücken.

»Los, mein Freund, bring uns fort.« Sie wies mit ausgestrecktem Arm nach Osten. Osten … warum nicht? Zunächst würden sie am Felsmassiv entlangfliegen müssen, doch irgendwann musste sich ja freies Land vor ihnen auftun. Die Schreie hinter ihr wurden mit jedem Flügelschlag des Vogels leiser. Sie gestand sich selbst ein, wie gleichgültig ihr der Ausgang des Machtringens war, dem sie nun entfloh.

Wenn sie sich gegenseitig umbringen wollten, nur um sich als Hüter eines silbernen Monuments aufspielen zu können, das niemand von ihnen je aus der Nähe gesehen hatte, dann sollten sie das doch tun.

Bilaal hoffte in dieser Sekunde nur, dass sie nie wieder etwas mit diesem Unsinn zu tun haben würde …

Die Felsnische war kaum größer als der Körper des Vogels.Bilaal war klar, wie unwohl Biest sich in seiner

eingezwängten Lage fühlen musste, doch es ging nicht anders. Die junge Frau fluchte bitter in sich hinein. Sie waren nicht weit gekommen, Biest und sie. Der Vogel hatte seine Artgenossen als Erster bemerkt. Zwei Vögel mit ihren Reitern waren nicht weit hinter ihnen gewesen.

Bilaal musste landen. Der glatte Fels bot nur wenig Deckungsmöglichkeiten, und so war sie mehr oder weniger zufällig auf diese Spalte im Gestein gestoßen. Bilaal

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beobachtete aus der Deckung heraus den Himmel.Da oben zogen sie ihre Kreise, offenbar bemüht, sich in

einer bestimmten Höhe zu halten. Was das bedeutete, das konnte sie nur ahnen. Mit Biest und ihr hatte das alles anscheinend nichts zu tun. Nein, sie suchten nicht nach ihnen, sie suchten nach jemand anderem, zu dem sie jedoch einen respektvollen Abstand halten wollten. Sie fürchteten seine Armbrustbolzen, denn ihre Jagd galt dem Heckenschützen der vergangenen Nacht.

Bilaal ärgerte sich darüber, dass sie schon bald nach ihrer Flucht noch einmal gelandet war, um Biest an einem kleinen Fluss trinken zu lassen. Sie hätte sofort im Dunkeln weiterfliegen sollen, doch sie gönnte sich und dem Tier ein paar Stunden der Ruhe. Das hätte sie besser später erledigt. Doch nun half das Wenn-und-aber-Gezeter auch nicht mehr. Dennoch – sie wären diesem Jagdkommando nie in die Quere gekommen, wenn Bilaal sich nicht um Biests Durst Sorgen gemacht hätte.

So mussten sie nun abwarten, bis die beiden Gespanne dort am Himmel aufgaben. Es war unwahrscheinlich, dass der Attentäter ausgerechnet in diese Richtung geflohen war. Wahrscheinlich befand er sich längst wieder hinter der Palisade der Festung, ließ sich für seinen Erfolg feiern.

»Die machen es sich da oben bequem …« Biest legte seinen schweren Schnabel vertrauensvoll auf Bilaals Schulter. Ihm war es hier zu eng, ihm war es zu langweilig. Also wollte er zumindest gekrault werden. Instinktiv erfüllte Bilaal ihm seinen Wunsch.

Später – viel später – verschwanden die Vogelreiter auf ihren Tieren. Sie hatten nicht gefunden, was sie suchten. Bilaal lauschte. Keine Geräusche drangen zu ihr. Auch Biest schien entspannt, wenn auch genervt, denn diese Untätigkeit wurde ihm jetzt endgültig zu dumm. Nur zu gerne erlaubte Bilaal ihm, den schmalen Felsspalt zu verlassen.

Der mächtige Vogel reckte sich, schüttelte sein Gefieder. Bilaal ging in Deckung, denn dort lauerten immer Käfer, dicke Würmer und allerlei Ungeziefer. Sosehr sie Biest auch

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pflegte, die Parasiten vermehrten sich schneller, als man sie entfernen konnte. Zudem waren einige von ihnen für Biest ein feines Leckerchen, das er sich mit Freude aus den Federn klaubte.

Das war jetzt nicht anders – Bilaal grinste, als sie sein lautes Schmatzen vernahm.

Ein paar Minuten wollte sie ihm noch geben, doch dann sollte es endlich weitergehen. Was mochte sie erwarten? Im Grunde wusste sie nichts von ihrer Welt. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte man sie ohne Fragen in den Dienst der Armee des Südherrschers übernommen. Alles was sie wusste, hatte sie sich selbst angeeignet. Ihre Neugier war ihr dabei von Nutzen gewesen.

Doch zu mehr als einer Stallmagd hätte sie es dennoch niemals bringen können, wenn sie Biest nicht getroffen hätte. Und nun war sie ein Deserteur. So verrückt das für ihre Ohren auch klang, denn sie hatte nie Soldat werden wollen. Dieses Geschäft widersprach ihrer Natur.

»Na komm, mein Schöner, wir wollen fliegen.« Biest beugte bereitwillig seinen Hals, ließ Bilaal aufsteigen. Dann zuckte der Vogel plötzlich zurück. Sein Instinkt riet zur Flucht, doch Bilaal hielt ihn am Boden, beruhigte ihn. Dann sah sie den Grund für Biests Erregung.

Keine zwanzig Schritte von ihnen entfernt stand ein Mann in der Felswand. Zwei Mannslängen über dem Grund hatte er sich in eine Spalte gedrückt, die ähnlichen Ursprungs sein musste wie die, in der Bilaal und Biest sich versteckt hatten. Bilaal war zu weit von ihm entfernt, doch sie glaubte in glasige Augen zu schauen. Der Mann schien nicht ganz bei sich zu sein. Er torkelte vor und zurück. Wenn er sich nicht vorsah, dann würde er … und da war es auch schon geschehen.

Er verlor den Halt, kippte vornüber. Der Sturz war nicht sehr tief, doch er machte keine Anstalten sich abzurollen. Wie ein Strohsack knallte er ungebremst auf das dürre Gras, das hier bis an den Berg heranwuchs.

Bilaal reagierte, ohne groß nachzudenken. Behände sprang sie aus dem Sattel, lief zu dem Mann, der wie tot am

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Boden lag.Der verwirrte Vogel trottete hinter ihr her – dass Biest

keinerlei Anstalten machte, den Mann zu attackieren, zeigte Bilaal, dass von ihm wohl keine Gefahr drohte.

Sie kniete neben dem Ohnmächtigen nieder. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er schien Glück im Unglück gehabt zu haben, denn als Bilaal seine Arme und Beine abtastete, konnte sie keinen Bruch feststellen. Dann erst sah sie die Armbrust. Es war eine kleine, eher unauffällige Waffe, die er an seinem Gürtel trug. Bilaal kannte diese Modelle. Krieger benutzten sie nicht, denn ihre Bolzen erreichten keine großen Weiten. Nur auf relativ nahe Distanz traf man mit ihnen präzise und wirksam.

Sie wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, doch dieser Mann war für sie eindeutig der Heckenschütze, der die Vogelreiter so drastisch dezimiert hatte. Langsam erhob sich die junge Frau. Wenn sie ihn nun fesseln und ins Lager bringen würde, so konnte das ihrer Karriere im Heer des Südherrschers äußerst dienlich sein.

Sie blickte zu Biest, der sich über den mageren Grasbestand hermachte. Reitvögel waren Fleischfresser erster Güte, doch das hinderte sie notfalls nicht daran, anderen Vegetariern das Futter vor der Nase wegzustibitzen. Der Vogel graste friedlich und ohne jede Aggression. Er ignorierte den Fremden vollkommen – für Biest war der Mann kein Feind, kein Gegner, vor dem er seine Freundin hätte beschützen müssen.

Bilaal griff nach der Satteltasche. Das Seil war äußerst fest geflochten. Wenn es einen Kriegsvogel halten konnte, dann ganz sicher auch einen so mageren Burschen …

Neob Ciffa rang nach Atem.Tat er das im Spiel … oder in einer Realwelt? War beides

nicht eins?Wenn sein Bewusstsein sich entscheiden konnte, diese

Ohnmacht endlich zu beenden, würde er vielleicht eine Antwort darauf erhalten.

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Was er zuerst bemerkte, war die äußerst unangenehme Tatsache, dass er sich kaum bewegen konnte. Er war zusammengeschnürt wie ein Braten, den man gleich auf einen Spieß stecken wollte. In den Beinen hatte er kein Gefühl – die Stricke dort schnitten die Blutzufuhr ab. Ein Zustand, den niemand lange ohne heftige Spätfolgen überstand. Seine Hände waren über Kreuz auf dem Rücken gefesselt. Er lag auf dem Bauch … und irgendetwas zog und zerrte an seinen Haaren.

»Ach, lass das doch, Biest. Friss dein Gras, komm. Haare – pfui, komm da weg.« Neob hörte die weibliche Stimme klar und deutlich hinter sich. Zu seiner großen Überraschung endete das Gezerre tatsächlich. Dafür schob sich ein riesiger Vogelschädel in sein Blickfeld. Neob versuchte, sich zur Seite zu rollen, doch das misslang kläglich.

Der Vogel blickte ihn fragend an. Zum ersten Mal sah er so ein Tier aus der Nähe. Der Geierkopf hatte nicht viel Hübsches an sich … doch zumindest schien dieser Riesenflieger nicht aggressiv auf ihn zu reagieren.

»Ah, du bist also wach.« Schritte näherten sich, dann konnte er die Besitzerin der Stimme deutlich vor sich sehen. Eine junge Frau, eher noch ein Mädchen. Ihre zottelige Haarpracht schaute ungebändigt unter einer Lederkappe hervor, wie Neob sie bei den Vogelreitern gesehen hatte. Er atmete tief durch. Sie hatten ihn also doch erwischt.

Soweit ihm das möglich war, drehte er den Kopf in alle Richtungen. Außer dem Vogel und seiner Reiterin konnte Ciffa niemanden entdecken.

»Bringst du mich nun ins Lager? Dein Hauptmann wird dich loben, da darfst du sicher sein.«

Das Mädchen ging in die Hocke, sah Neob analysierend an.

»Du bist der Mann, der in der Dunkelheit meine Kameraden feige aus dem Hinterhalt niedergemacht hat.«

Neob explodierte vor Wut – er zerrte an seinen Fesseln, doch die waren meisterhaft geschnürt und gaben nicht nach.

»Feige? Was nennst du feige? Für mich ist es feige, wenn

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man eine Frau zwischen zwei Vögeln in Stücke reißt – eine Frau, die niemandem ein Haar gekrümmt hat. Und wie feige ist es, wenn man aus der Luft herab alte Männer und Kinder mit Steinschleudern und Armbrüsten tötet. Einfach so! Das ist feige, du Mörderin!«

Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle, hörte sich unbewegt seinen Wutausbruch an. Er hatte ja recht. Das alles war nicht nur feige, es waren entsetzliche Taten, von verrohten Geistern erdacht. Kein Tier hätte so etwas getan, niemals.

»Du hast auf keinen der Vögel geschossen, als sie am Boden waren. Die Männer hast du verwundet, aber nicht getötet. Warum?«

Neob hatte mit einer solchen Frage nicht gerechnet. Was sollte er darauf antworten? Am besten die Wahrheit.

»Ich bin kein Schlächter. Was können die Tiere dazu, wenn ihr sie für eure dummen Kriegsspiele abrichtet? Und ihre Reiter … ich bin nicht deren Scharfrichter. Sollen sie leben – doch beim Sturm auf die Festung werden sie kein Unheil anrichten. Ich bin sicher, es gibt nicht unendlich viele Männer, die mit den Vögeln umgehen können, nicht wahr?«

Ciffa verzog das Gesicht vor Schmerz. Seine Beine fühlten sich wie zwei Holzstümpfe an. Das Mädchen zog ein kurzes Messer aus ihrem Gürtel. Die Schnitte kamen schnell und präzise. Keine zwei Atemzüge später war Neob frei von den Fesseln.

Unbeholfen versuchte er, auf die Beine zu kommen, doch er knickte immer wieder ein. Die Kleine half ihm. Wie einen Greis führte sie ihn herum, während Neob sich auf ihr abstützte. Der Vogel beobachtete die seltsame Szenerie mit leicht schräg gestelltem Kopf. Ciffa fragte sich, was das Tier sich wohl dabei dachte … wenn es denn denken konnte.

Endlich war das taube Gefühl verschwunden. Ciffa setzte sich auf einen der unzähligen Felsbrocken, die hier am Fuß des Berges lagen.

»Du hast meine Nachtaktion also beobachtet. Und dann?« Irgendwie konnte er das Mädchen nicht einordnen. Sie gehörte zu den Vogelreitern, deren Grausamkeit er hasste.

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Rana hatte auf so schreckliche Weise sterben müssen. Diesen Anblick würde Ciffa sicher nie im Leben vergessen können. Im Lager hatte er später natürlich nach Blauu gesucht, doch von dem Freund war dort keine Spur zu finden gewesen. Entweder hatte er zwischen den Gefallenen gelegen, oder auch er war von den Angreifern zum Gefangenen gemacht worden. Neob vermisste die beiden.

Bilaal lehnte an Biest, der zufrieden war, denn seine Freundin vergaß nicht, ihn bei jeder Gelegenheit zu kraulen.

»Dann bin ich geflohen. Glaubst du vielleicht, ich wollte dies alles? Diesen Krieg um zwei dumme Säulen, die niemand je aus der Nähe gesehen hat? Ich hasse Gewalt. Als meine Eltern ihr Leben verloren hatten, da hat mich die Armee aufgenommen. Als Sklavin, ja, nichts Besseres war ich. Man hat mich grün und blau geprügelt, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Dann fand ich Biest.«

Als Bilaal seinen Namen nannte, stieß der Vogel eine Art Gurren aus, das Neob zum Lachen brachte. Die zwei waren wahrhaftig ein eigentümliches Pärchen. Bilaal fuhr fort.

»Ihn wollte auch niemand haben. Er ließ sich nicht zähmen, wie die anderen Vögel es taten. Er war böse und gefährlich. Aber nicht bei mir. Also ließen sie uns beide in Ruhe. Wahrscheinlich dachten alle, ich würde aus Biest einen lammfrommen Burschen machen, den dann irgendeiner dieser hirnlosen Idioten fliegen konnte.« Bilaal lachte laut auf. »Sie hatten sich erneut geirrt – nur ich darf mich ihm nähern. Jeden anderen hat er erst gar nicht in den Sattel kommen lassen.« Sie sah Ciffa fragend an. »Und du? Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, du passt überhaupt nicht in diese Welt. Wie bist du hierhergekommen – nach dem Attentat, meine ich.«

Neob erzählte es ihr in kurzen Sätzen.Die Vogelreiter, die sich noch in die Lüfte erheben

konnten, hatten Jagd auf ihn gemacht. In der Dunkelheit war er ihnen ein ums andere Mal entkommen, doch als der Morgen kam, fanden sie seine Spur. Der Weg zurück in die Bergfestung war ihm verstellt. Zufrieden hatte er noch

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registriert, dass die Aktion gegen die Kriegsmaschinen ein voller Erfolg gewesen war. Sie hatten den Gegner empfindlich schwächen können, doch nun mussten sie dort ohne Neob auskommen. Er war überzeugt, dass nun die Karten ganz neu gemischt wurden. Die bessere Moral mochte den Ausschlag geben.

Er hatte sich Richtung Osten orientiert. Seine Flucht war immer an dem Felsmassiv entlang gegangen. Doch dann waren die Verfolger so nahe gekommen, dass Neob sich verstecken und abwarten musste. Die Nische im Fels schien ihm ein relativ sicherer Ort, denn die Vögel wagten sich nicht sehr nahe an die Wand heran – dort lauerte Gefahr für ihre weit ausgebreiteten Flügel.

Er verhielt sich still. Die erste Stunde verging, doch noch immer konnte er aus seiner Deckung heraus die kreisenden Vögel am Himmel sehen. Irgendwann hatte er schwer zu atmen begonnen. Er hatte das ignoriert, ihm keine Bedeutung beigemessen. Doch die Luftnot hatte sich gesteigert, immer und immer weiter. In Schweiß gebadet wartete Ciffa sehnsüchtig darauf, dass die Vogelreiter endlich abzogen. Wenn sie es nicht bald taten, würde er hier ersticken.

Der Tod griff nach ihm – geruchlos, ohne einen Laut zu verursachen, ohne Erbarmen. Gas! Es musste so sein. Der Berg entließ durch diese Nischen giftige Gase, und Neob hatte keine Chance, sich dagegen zu schützen. Er fühlte sein Sterben nahen. Nur noch wenige Momente trennten ihn von dem Ende … und er wagte den Schritt aus der Nische. Er wollte so nicht sterben. Als er zum Himmel blickte, da waren die Vogelreiter verschwunden.

Keinen Augenblick zu früh!Er versuchte sich irgendwo festzuhalten, denn sein

Bewusstsein schlug Kapriolen, sein Gleichgewichtssinn nicht minder. Dann stürzte er nach vorne. Das war seine letzte Erinnerung gewesen, ehe er gefesselt wieder erwacht war.

»Und was willst du nun tun?« Bilaal hatte seinen Bericht nicht unterbrochen.

Neob überlegte. Sein Blick ging in die Höhe. Das Spiel ist

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noch lange nicht beendet, Arbiter!Er deutete mit einer Hand zum Gipfelkamm. »Dort liegt

mein Ziel.« Als er die Verblüffung des Mädchens bemerkte, fuhr er schnell fort. »Nein, mir liegt nichts an Macht oder religiösem Wahn. Doch ich habe keine andere Wahl. Dort oben – irgendwo zwischen diesen Silbersäulen – liegt meine Vergangenheit. Du hast recht gehabt. Ich gehöre hier nicht hin. Aber ich weiß auch nicht, wo mein wahrer Platz ist.« Vom Arbiter, dessen entsetzlicher Fratze und von dem Spiel sagte er nichts. Man konnte kaum erklären, was man selbst nicht verstand.

»Man sagt, diesen Berg hat noch keiner besiegt.« Bilaal glaubte dem dürren Mann, der so traurige Augen hatte. »Was mag hinter dem Massiv sein?«

Neob Ciffa wusste es nicht. Erst langsam wurde ihm klar, welche Bedeutung hinter der Frage der Vogelreiterin stecken konnte. Neugier? Erwachende Sehnsucht nach einer Welt, die niemand kannte, die ja nicht einmal in den Träumen der Menschen existierte?

Neob sah das Mädchen an. Er musste es ganz einfach versuchen.

»Warum übersteigen diese Vögel eine bestimmte Höhe nicht?«

Bilaal sah ihn erstaunt an. »Woher weißt du davon?«»Ich habe euch im Kampf beobachtet. Aus gut einhundert

Fuß Höhe habt ihr euch auf eure Feinde gestürzt. Doch höher ist keiner der Vögel gestiegen. Warum nicht? Können sie es nicht?«

Bilaal hatte längst ihre eigene Theorie zu dieser Thematik, doch bislang hatte die niemand hören wollen. Es war so, wie es war – niemand wollte daran rühren.

»Ob sie es können? Früher, bevor die Menschen sich ihrer bedient haben, da konnten sie es ganz sicher. Doch als man sie zähmte und ihnen Sättel auflegte, da haben die Reiter sie gezwungen, nicht weiter in den Himmel zu steigen. Vielleicht fürchteten sie sich davor – vielleicht verloren sie dort oben die Kontrolle über ihre Tiere. Ich glaube, sie könnten es noch heute.«

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Bilaal schwieg, strich über den messerscharfen Schnabel ihres Tieres.

Dann blickte sie den Mann an. »Biest kann es. Ganz sicher. Man hat uns zwar nie die Freiheit gelassen, es wirklich zu versuchen, aber ich habe es gespürt … er will bis zum Himmel! Doch deine Frage hat einen ganz bestimmten Grund, nicht wahr?«

Neob mochte das Mädchen. Sie war geradeheraus. Sie taktierte nicht, sondern ging direkt auf ihr Ziel zu. Er hatte bei ihr nur eine Chance, wenn er sich ebenso verhielt.

»Dort hinauf – könnte er dich dort hinaufbringen? Dich und mich?«

Bilaal taxierte die Gestalt ihres Gegenübers. Dann lächelte sie vielsagend.

»Sei mir nicht böse, aber du bist nur eine halbe Portion, deren Gewicht Biest nicht einmal spüren würde. Doch da gibt es zwei Probleme. Zum einen glaube ich nicht, dass er dich im Sattel dulden würde. Zum anderen – warum sollte ich etwas für dich tun? Wieso sollte ich dir trauen?«

Neob Ciffa war nicht sicher, ob seine Antwort dem Mädchen ausreichen würde, doch eine bessere hatte er nicht.

»Weil ich es war, der deinen Traum gerade erst geweckt hat. Der Traum von einer neuen Welt, die vielleicht hinter dem Gebirge liegt. Dein Vogel und du – ihr könnt da neu beginnen. Niemand, der euch jagt, niemand, der euch Befehle erteilen will. Vielleicht wird es ja dort so sein.«

Bilaal nickte bedächtig. »Vielleicht. Einen Versuch wäre es wert. Doch das ist kein Grund, warum ich dich mitnehmen sollte.«

»Das wirst du tun, weil du mir glaubst.« Neob hatte nicht lange überlegt – es war das einzige Argument, das er ins Feld führen konnte. Er würde die Reiterin und ihr Tier nicht daran hindern können, einfach so fortzufliegen. Ohne ihn.

Das Mädchen stand lange schweigend da. Schließlich war es der Vogel, der sie aus ihren Gedanken lockte. Biest klopfte fragend mit seinem Schnabel gegen Bilaals Schulter. Er wollte fliegen – und ihm war es gleich, wohin der Weg

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führte, solange seine Freundin mit ihm kam.Bilaal nahm den Schnabel des Tieres in beide Hände,

blickte tief in die Telleraugen des Vogels.»Was meinst du? Nach oben? Ganz weit nach oben – und

dann in ein anderes Leben? Warum denn eigentlich nicht? Hoch oben, Biest … ganz hoch oben! Du kannst das, da bin ich sicher.«

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6. Die Säulen

Nicole Duval war zur Untätigkeit verurteilt.Es gab nichts, was sie für Dalius Laertes tun konnte.

Immer stärker wurde der Eindruck, dass der Vampir den Kampf gegen das Gift aus den Schwefelklüften einfach nicht gewinnen konnte. Eigentlich schien es Nicole sogar, dass er es nicht wollte. Waren die Fieberfantasien des Uskugen wirklich so intensiv, dass er all seine Kräfte auf sie fokussierte, anstatt um sein Dasein zu kämpfen?

Nicoles Hilflosigkeit zehrte an ihren Nerven. Das Letzte, was sie ertragen konnte, war Untätigkeit. Die Französin setzte sich auf die Kante von Laertes' Lager. Die Stirn des Vampirs war fieberheiß, der Schweiß trat aus seinen Poren, befeuchtete das Bettlaken unter ihm. Vielleicht konnte sie ihm zumindest damit etwas Gutes tun, dass sie für frische Tücher sorgte.

Laertes auf die Seite zu drehen, bereitete Nicole keine Mühe. Rasch war die Arbeit erledigt. Doch nun glühte die Stirn des Schwarzblütigen noch stärker als zuvor.

Nicole begab sich zum Eisschrank. Eine flache Schale voll Eiswasser und frische Gästetücher waren ihre neuen Waffen, mit denen sie zu Laertes zurückkehrte. Ob sie ihm damit nun tatsächlich ein wenig helfen konnte, war ihr nicht klar, doch gut dreißig Minuten später hatte sie den Eindruck, als würde sich der hagere Körper auf der Liege ein wenig entspannen.

Nicole wechselte das Tuch, mit dem sie Laertes' Stirn gekühlt hatte – und stutzte.

Einige Stellen des weißen Leinens hatten grüne Stellen bekommen. Es sah tatsächlich ein wenig so aus, als hätte ein Kind mit grüner Wasserfarbe ein wirres Muster gezeichnet.

Grün?Nicole machte einen Versuch. Sie legte ein sauberes Tuch

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– getaucht in Eiswasser – auf die linke Schulter des Vampirs und wartete einige Minuten. Als sie es von Laertes' Körper nahm, zeigte es erneut die grünen Schlieren. Nicoles Forschertrieb war plötzlich hellwach. Ein Gegenversuch musste her. Heißes Wasser, frisches Leinen!

Das Ergebnis war verblüffend. Das Tuch reagierte in keinster Weise – nur Laertes zeigte eine Reaktion. Deutlich konnte Nicole erkennen, dass ihm die zugeführte Wärme alles andere als gut tat. Er schien sich zu verkrampfen, und erst nachdem die Französin die warme Feuchtigkeit von ihm entfernt hatte, stellte sich der alte Zustand erneut ein.

Wasser? Kaltes Wasser?Was konnte das bewirken? Noch verschloss sich jede Logik

in dieser Geschichte vor Nicole, vorausgesetzt, es steckte eine in ihr. Nur eine winzige Ahnung, der kärgliche Beginn einer verrückten Idee, begann sich in ihren Hirnwindungen zu entwickeln.

Wenn Zamorra dem Vampir in dessen Fieberwirrungen beistand, dann wollte sie nichts unversucht lassen, dem Körper des Vampirs eine echte Chance einzuräumen.

Nicole Duval handelte schnell. Auch wenn die Dinge, die sie nun vorbereitete, schon mehr als nur merkwürdig erschienen.

Äußerst merkwürdig …

Neob Ciffa hatte in seinem Leben ganz sicher schon komfortabler gesessen.

Vor allem aber: schmerzfreier!Nach dem sechsten Versuch, den Rücken des großen

Vogels zu besteigen, dem der sechste harte Abwurf gefolgt war, war er wirklich kurz davor gewesen, die Sache als undurchführbar zu beenden. Bilaal jedoch hatte ihm erneut ihre Hand entgegengestreckt, damit Neob sich an ihr in den Sattel ziehen konnte.

Dieser sogenannte Sattel war an sich schon so hart, dass man an gewissen Körperstellen die eine oder andere Schwiele sehr gut brauchen konnte. In Neob wuchs die

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Bewunderung für die Vogelreiter. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie Rana gestorben war – und Bewunderung wich Hass, von dem er Bilaal und Biest gänzlich ausnahm. Die beiden waren ein Paar, ein Team, nicht Herr und Sklave, wie Bilaal das Verhältnis zwischen den anderen Reitern und ihren Tieren beschrieben hatte.

Beim siebten Abwurf knackte es bedenklich in Neobs Beckenbereich. Es war bereits ein Wunder, dass Biest ihn überhaupt an sich heranließ. Bilaal hatte Ciffa berichtet, dass der Vogel bereits einen Menschen getötet hatte, der sich ihm gewalttätig hatte nähern wollen. Danach hatte sich keiner der Reiter mehr an das Tier heranwagen wollen.

Neob war sicher, dass Biest hier seinen Spaß hatte. Natürlich konnte der Vogel Emotionen wie Humor nicht zeigen, doch in seinen Augen blitzte es verdächtig, wenn Neob einen neuen Anlauf nahm.

Schließlich stieg auch Bilaal wieder aus dem Sattel. »Pause. Vielleicht überlegt Biest es sich anschließend ja anders.« Sie betrachtete Neob lange, der sich in das karge Gras gesetzt hatte. In Bilaals Satteltaschen befanden sich kaum erwähnenswerte Reste eines schon recht harten Brotlaibes sowie ein halb gefüllter Wasserschlauch. Wortlos teilten die beiden das karge Mahl miteinander.

»Wenn du dort oben etwas finden würdest, etwas, das dir alles zeigt, was du vergessen hast … wie sollte es für dich sein? Ich meine … was wäre es, was dich zufrieden machen könnte?« Die junge Frau wusste nicht richtig, wie sie die Frage formulieren sollte, doch Neob hatte sie gut verstanden.

»Wie? Auf jeden Fall nicht wie die, die sich nicht weit von hier jetzt gerade wahrscheinlich gegenseitig töten, nur weil sie alle dem Wahn verfallen sind, ihrem Götzenbild dienen zu müssen. So soll meine Vergangenheit nicht gewesen sein. Ich will nur die Wahrheit erfahren.«

Er sah Bilaal in die Augen. Sollte er dem Mädchen von seinen Begegnungen mit dem Arbiter berichten? Er tat es nicht, denn schlussendlich hätte sie das nur verwirrt. »Und du? Wie sehen deine Träume aus. Was hoffst du hinter dem

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Massiv zu finden?«Genau wusste Bilaal das nicht zu sagen.»Keine Ahnung. Vielleicht ein Land, in dem Biest und ich

leben können – einfach so. Aber wahrscheinlich wird es auch da Kriege geben, Soldaten und Schwachköpfe.« Sie zuckte die Schultern. »Komm, wir versuchen es noch einmal.«

Bilaal enterte den Sattel geschickt. Nur langsam näherte sich Neob dem Vogel. Mit der rechten Handfläche massierte Ciffa im Gehen seinen Allerwertesten. Noch ein paar solcher Abwürfe, und er würde in den kommenden Tagen nur auf dem Bauch liegend schlafen können.

Direkt vor dem Kopf des Vogels hielt er an. Biest blickte interessiert auf den Mensch, der hier Anstarren mit ihm spielen wollte.

Neob machte es kurz:»Du bist ein gemeiner Bursche. Ich bin sicher, du hast

deinen Spaß mit mir, richtig?« Der Vogel legte den Kopf ein wenig schräg, als könnte er so besser zuhören. »Doch jetzt ist damit Schluss. Wenn nicht, dann kommst du in die Suppe. Haben wir uns verstanden?«

Bilaal kicherte in sich hinein, als sie diese einseitige Unterhaltung hörte. Doch dann setzte sie sich verblüfft aufrecht hinter die Zügel. Als Neob noch regungslos vor Biest stand, berührte der Vogel den Mann mit seinem Schnabel an der linken Schulter, schob ihn sanft in Richtung des Sattels.

Verdutzt sah Neob zu dem Mädchen hoch. »Was war jetzt das?«

Bilaal reichte Neob die Hand, an der er sich rasch nach oben zog. Mit einem Fuß nutzte er die Trittleiter, die am Sattel befestigt war. Ein letzter Schwung, dann saß er hinter der Reiterin. Bilaal lachte, tätschelte Biests Hals.

»Das war seine Art, dir zu sagen, dass du nicht reden, sondern endlich aufsteigen sollst. Ich denke, wir haben es geschafft. Biest will fliegen – mit uns beiden!« Tatsächlich machte der Vogel keinerlei Anstalten, Neob im hohen Bogen durch die Luft zu katapultieren.

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Der Sattel war nicht für zwei Personen konzipiert. Es gab nur den einen Gurt, den Bilaal fest um Becken und Schultern gezurrt hatte. Aus dem Strick, mit dem das Mädchen Neob gefesselt hatte, sowie einem breiten Lederband, das als Reparaturstück für brüchig gewordene Sattelteile gedacht war, improvisierten sie eine halbwegs brauchbare Sicherung für den Gastreiter.

Bilaal ließ die Zügel schlaff hängen. Im Grunde benötigte sie die bei Biest nicht, denn der Vogel reagierte auf den kleinsten Schenkeldruck. »Mein Freund – und nun flieg, was du kannst! Flieg hoch und höher!«

In der kommenden Sekunde schien der Vogel unter Neob regelrecht zu explodieren. Es war gebündelte Energie, die sich in die Lüfte schwang, Energie und Lebensfreude. Das Tier stieß einen durchdringenden Schrei aus, dann sauste es dem Himmel entgegen.

Neob war gleich darauf der Vorsehung dankbar, dass seine Nahrung der vergangenen zwei Tage ausschließlich aus kargen Resten bestanden hatte – trockenes Brot und Fetzen von Pökelfleisch. Was davon noch nicht endgültig verdaut war, ließ sich nur zwei Atemzüge später noch einmal sehen …

Würgend übergab er sich, während Biest ihn hoch zur Sonne zu tragen schien. Als sich sein Magen endlich wieder zu entspannen begann, ging der Kampfvogel in den Gleitflug über. Neob wagte einen kurzen Blick nach unten. Sie waren hoch, schrecklich hoch, wie ihm schien, doch der Gipfel war noch so weit entfernt. Neob konnte nicht schätzen, wie viel Fuß das Tier an Höhe gewonnen hatte, doch die Grenze, die seine Art in sich gespeichert hatte, war sicher bereits überschritten.

Nur zu gerne hätte Ciffa mit Bilaal gesprochen, doch der Wind riss ihm die Silben von den Lippen. Doch er konnte sehen, was die junge Reiterin nun tat. Durch ihren Gurt gesichert, lehnte sie sich weit nach vorne, umfasste den Hals des Vogels, der seinen Kopf zu ihr wandte. Bilaals rechter Arm wies in die Höhe – ihr Zeigefinger sollte bis in die Wolken stechen. Immer wieder erneuerte sie diese

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Geste. Hoch – es war deutlich, was sie dem Tier sagen wollte. Hoch, mein Freund – immer weiter hoch!

Und Biest verstand seine Reiterin. Er schrie die große Leere über sich an, als wollte er sein Kommen nun ankündigen.

Doch der Schrei des Vogels wandelte sich in ein schmerzerfülltes Kreischen!

Etwas schlug in Biests Körper ein – direkt unter Neobs Füßen. Der Vogel erzitterte, verlor an Höhe. Bilaal starrte entsetzt zu der Flanke ihres Tieres, denn dort ragte ein Armbrustbolzen aus dem Gefieder! Ein Zischen übertraf den Lärm des Flugwindes, als ein weiterer Bolzen dicht über ihren Kopf hinwegsauste. Bilaal ließ Biest trudeln – in weiten Kreisen näherte er sich wieder dem Boden. Dann sah Neob sie. Es waren die zwei Vogelreiter, die ihn verfolgt hatten. Eine schlimme Fügung hatte sie erneut hierher gebracht – oder hatten sie die ganze Zeit über alles beobachtet? Was spielte das noch für eine Rolle – sie waren da, und sie griffen nun, von zwei Seiten kommend, an!

In Bilaals Händen lag wie hingezaubert ihre Armbrust, doch einen sicheren Schuss würde sie aus der kleinen Waffe erst abgeben können, wenn die Gegner schon sehr nahe gekommen waren.

Sie verfügten über andere Kaliber, die sie nun erneut einsetzten. Nur um Haaresbreite verfehlte der erste Schuss den Vogel, der mit angelegten Flügeln im Sturzflug kein gutes Ziel bot. Der zweite Schuss traf besser. Es knackte eine Handspanne vor Neob, doch Biest stieß keinen Schrei aus. Bilaal griff hinter sich und zog den Bolzen aus dem Sattel, dessen hartes Leder Biest das Leben gerettet hatte.

Dann richtete die junge Frau sich im Sattel auf, bot so ein gutes Ziel für die Feinde. Doch in dieser Position konnte sie selbst zielen – und treffen!

Der Vogelreiter zuckte nur kurz zusammen, als der Eisenbolzen seinen Harnisch spielerisch durchdrang. Verblüfft schaute er auf seine Brust, aus der das Blut pulste – sein Blut.

Dann kippte er aus dem Sattel, doch der Gurt hielt ihn. Mit

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seinem toten Reiter sackte der Vogel wie ein Stein nach unten, versuchte irgendwie zu landen. Doch er kam mit den Flügeln viel zu dicht an die Felswand … ein Bündel aus Federn, Blut und zerfetzten Knochen fiel wie ein Stein zu Boden.

Der zweite Reiter legte die Armbrust an. Er konnte Bilaal nun nicht mehr verfehlen.

Neob hatte keine Ahnung, ob er instinktiv oder kopfgesteuert handelte, als seine Hand in die Satteltasche langte, die seitlich von ihm hing. Als Bilaal vorhin das Lederband gesucht hatte, war ihm ein Leinenband aufgefallen. An seinen Enden war es dünn wie eine Kordel, doch in seinem Mittelteil verbreiterte es sich – die dazugehörenden Eisenkugeln lagen dicht dabei. Neob hatte erkannt, um was es sich handelte: Eine primitive Schleuder, wie sie wohl von Kindern, vielleicht noch von Wilddieben benutzt wurde, weil man sie zusammengefaltet völlig unauffällig bei sich tragen konnte.

Plötzlich hielt er sie in seiner rechten Hand, den Blick unentwegt auf den heranrasenden Vogel gerichtet, dessen Reiter mit Triumph im Blick auf Bilaals Oberkörper zielte. Der Staffelführer würde sehr zufrieden mit ihm sein!

Neob ließ die Schleuder in seiner Hand wirbeln, dann ließ er los. Er behielt das eine Ende der Kordel zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ sie anschließend achtlos zu Boden flattern, denn er brauchte sie nun nicht mehr. Er sah nicht hin – er wusste, dass er getroffen hatte.

Warum? Wo habe ich das gelernt?Ja … ich habe es früher schon beherrscht … doch nicht,

um zu töten … nein, es ging um ein Spiel, bei dem ich schier unschlagbar war.

Er drängte diese Gedanken von sich weg, denn nun hieß es, Bilaal wieder in die Realität zu holen. Die junge Frau war wie gelähmt. Sie hatte dem sicheren Tod in die Augen geblickt, und dann war es ihr Mörder, der mit zerschlagener Stirnplatte tot im Sattel seines Tiers hing.

Neob schlug dem Mädchen von hinten hart gegen den Rücken. Bilaal zuckte herum, sah ihn an, als wäre ein nur

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ein Gespenst, entsprungen ihrer Fantasie. Neob deutete mit dem Daumen nach unten, und Bilaal verstand nun.

So gut es ging, brachte sie den verstörten Biest wieder sanft zum Boden zurück.

Es war eine blutige Arbeit.Neob musste sich zusammenreißen, als er dem zerfetzten

Körper des Vogels den Sattel abnahm. Zu zweit wäre das um einiges leichter gewesen, doch mit Bilaals Hilfe konnte er nicht rechnen. Die Kleine kümmerte sich intensiv um Biest, wich ihm keinen Schritt von der Seite.

Dabei schien es der Vogel zu sein, der diesen Zwischenfall am Himmel bereits wieder vergessen hatte. Immer wieder konnte Neob sehen, wie das Tier sehnsüchtige Blicke in die Höhe schickte.

Kann es sein, dass Biest Blut geleckt hat? Hoch – höher als alle anderen vor ihm. Er will es!

Der Bolzen, der Biest getroffen hatte, steckte nicht sehr tief. Bilaal hatte ihn ohne Schwierigkeiten entfernen können. Die Wunde hatte kaum geblutet. Federn und eine dicke Fettschicht hatten das Schlimmste einfach verhindert.

Neob machte sich an dem blutbespritzten Sattel zu schaffen. So rasch er nur konnte, löste er die Nieten, die das lederne Gurtsystem hielten. Dann plünderte er die Satteltaschen, die allerdings kaum etwas Brauchbares enthielten. Einen Augenblick lang kam er sich schäbig vor, doch für ihn und Bilaal ging es hier um alles. Skrupel konnten sie sich nicht leisten.

Biest ließ es sich gefallen, dass Ciffa an seinem Sattel hantierte. Inzwischen wagte Neob es sogar, dem herrlichen Tier den Hals zu streicheln, wofür er freundliche Schnabelstupser als Gegenleistung erhielt. Die einfache Nietzange, die zum Gepäck der Vogelreiter gehörte, tat ihren Dienst. Wenn sie einen zweiten Anlauf starten würden, dann war das Risiko für Ciffa nun um einiges geringer.

»Wie bist du zum Meister der Schleuder geworden?« Neob

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wandte sich um. Er hatte nicht bemerkt, dass Bilaal dicht an ihn herangetreten war.

»Ich weiß es nicht. Ich wusste nur in diesem einen Augenblick, was ich tun musste. Ich habe nicht einmal gezielt – es ging wie von selbst.« In Bilaals Augen waren Bewunderung und Dankbarkeit.

»Dann stammt dieses Können vielleicht aus dem Leben, das du so verzweifelt suchst. Vielleicht warst du dort ein großer Meister. Ich habe zuvor niemals einen solchen Wurf gesehen.«

Sie legte für einen kurzen Augenblick ihre Handflächen gegen Neobs Brust. Verschämt blickte sie zu Boden. Sie war ihm dankbar, doch sie wusste nicht, wie sie das zeigen sollte.

Neob hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen, also handelte er instinktiv. Er hoffte, nichts falsch zu machen, als er Bilaal kurz an sich zog, sie tröstend in die Arme nahm. Wie ein Kind legte sie ihren Kopf an seine Schulter.

Das alles dauerte nur einige Sekunden, doch es war der wärmste, der intensivste Moment, den die zwei Menschen seit langer Zeit erlebt hatten. Er war schnell wieder vorbei.

Bilaal betrachtete Neobs Werk. Anerkennend nickte sie.»Das scheint jetzt eine sichere Sache zu sein. Also –

wollen wir es noch einmal versuchen?«Ciffa grinste sie an. Was für eine Frage.»Ja, und zwar so schnell, wie nur möglich. Irgendwann

wird der Kampf um die Festung beendet sein – so oder so. Dann mag man nach den beiden suchen und sie auch finden. Nur wir sollten dann nicht mehr hier sein.«

Sie nahmen die Wasserschläuche des toten Reiters an sich. An Essen mochte Neob noch immer nicht einmal denken, denn sein Magen war strikt gegen jede Nahrungsaufnahme.

Nur kurz darauf hob Biest erneut vom Boden ab.

Nicole Duval legte alle Schalter der Anlage auf null.Das allein würde natürlich keine große Hilfe bringen, doch

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es verhinderte zumindest neue Wärmezufuhr. Der gläserne Kasten hatte sich, hydraulisch gesteuert, rund um das Becken aufgebaut; selbst die Dachkonstruktion war nun geschlossen.

Als Nicole sich im Glashaus befand, ging ihr Blick nach oben. Auf der durchsichtigen Deckplatte hatten sich schon ein paar Blätter gesammelt. Kurz kontrollierte sie die Digitalanzeige, die direkt neben dem Eingang angebracht war.

Wassertemperatur: 27 Grad Celsius.Äußerst angenehm, wenn man sich im Pool entspannen

wollte. Angenehm für einen Menschen – extrem falsch für einen dahinsiechenden Vampir namens Dalius Laertes.

Die Französin setzte sich an den Beckenrand, ließ die Füße im Wasser baumeln. Dann begann sie mit dem Vorhaben, von dem sie absolut nicht wusste, ob es irgendeine Hilfe für Laertes bringen konnte. Doch es gab wohl kaum noch etwas, das dem Uskugen zusätzlich schaden würde. Nicole war sicher, dass er keine Stunde mehr hatte. Nicht einmal mehr sechzig lächerliche Minuten …

Sie musste sich sehr beeilen.Nicole fasste den Dhyarra-Kristall fester, versank in tiefe

Konzentration.Die blauen Kristalle, die aus den Tiefen des Weltalls

stammten, waren keine Waffe im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie waren Katalysatoren der Imagination dessen, der sie beherrschte. Sie ließen die Vorstellungskraft zur Realität werden – Zamorra hatte einmal gesagt, dass die Dhyarra-Kraft für ihn wie die Realumsetzung eines Comics war. Nur wer geistig so flexibel war, dass in seinem Kopf lebende Szenarien ablaufen konnten, für den konnte ein Dhyarra ein mächtiges Werkzeug sein.

Nicole Duval war eine wahre Meisterin darin.Kälte – weite Flächen, offene Wasser … stehend und doch

nicht ohne Bewegung in sich. Ein so großes Gewässer, beinahe wie ein Meer. Und an seinen Ufern Menschen, Tiere … karge Vegetation. Die Bäume mager, ihre dürren Äste beladen mit dicken Schneehauben. So groß und

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unbarmherzig war die Kälte. Tief bis zum Grund des Sees, der keinen Sommer kannte … Kälte, die bis in das Herz drang. Ewige Kälte im ewigen Winter …

Nicole zog mit einem Stöhnen ihre Füße aus dem Wasser. Ihre Zehen hatten schon begonnen, sich bläulich zu verfärben. Die Französin zitterte. Ihr rascher Blick ging zum Thermometer:

Wassertemperatur: 2 Grad Celsius.Rasch verließ sie den glasbegrenzten Raum, der nun nicht

mehr rundum einsehbar war. Die Scheiben waren dick beschlagen, Reif bildete sich auf ihnen. Das war schnell gegangen. Nicole war mit sich zufrieden. Doch nun fühlte sie eine leichte Erschöpfung. Der Einsatz eines Dhyarras erforderte Kraft – nicht nur die des Geistes und vor allem der Fantasie.

Nun lag ein weiteres Problem vor ihr. Sie musste Laertes hierher bringen. Der Vampir war ein asketischer Typ – hager, ohne auch nur ein Gramm Fett an der falschen Stelle. Dennoch war er kein Leichtgewicht. Sie benötigte Hilfe, denn ganz allein würde sie ihn nicht hier an den Pool bringen können.

Es gab Probleme, die man im Normalfall schnell und ohne jede Schwierigkeit lösen konnte. Im Grunde war Château Montagne ein Ort, der vor Leben nur so strotzte. Mehr noch. Wie oft hatte Nicole sich gewünscht, all die Bewohner, die Dienstboten und gebetenen – oft auch ungebetenen – Besucher würden sich zur Hölle scheren und dort bleiben.

Doch wenn man jemanden brauchte, war niemand da. Aber so war das nun einmal im Leben eingerichtet … von wem auch immer.

Zamorra fiel aus, denn der war in der Phase der Verschmelzung mit Laertes nicht ansprechbar. Nicole fragte sich, was geschehen würde, wenn sie den Vampir und Zamorra räumlich voneinander trennte. Es würde sich zeigen.

Schlussendlich fiel ihr nur eine Person ein, die wohl verfügbar war.

Nein, Fooly, der Château-eigene Drache, war es ganz

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sicher nicht. Sie war froh, dass der offenbar mit anderen Dingen beschäftigt war.

Also blieb nur die eine Person übrig. Begeistert würde sie sicher nicht sein.

Doch das war nun wirklich das Allerletzte, was Nicole Duval in diesem Moment interessierte.

Neob hatte damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde.

Und dann geschah es auch. Wenn Ciffa in die Höhe blickte, dann konnte er den Gipfel bereits fühlen, erahnen. Biest machte seine Sache ganz großartig. Angefeuert und immer wieder ermutigt durch Bilaal, stieg er in die höchsten Höhen. Er konnte es schaffen, ja, tatsächlich … es war nun kein Traum mehr.

Doch dann stieß der Vogel ein Krächzen aus, das eindeutig in seiner Bedeutung war:

Angst! Das Tier fürchtete sich vor seinen eigenen Fähigkeiten. Biest breitete seine Flügel aus, legte sich auf den Wind und begann zu kreisen.

So nahe am Ziel – doch so unerreichbar weit entfernt! Neob schloss die Augen. Sicher konnte der Vogel sich eine kleine Ewigkeit auf dem Wind halten, sich der Thermik ergeben, die ihn zwar noch um einige Fuß nach oben tragen würde, was den Gipfel jedoch nicht wirklich näher brachte.

Ciffa fürchtete, dass dieses Experiment am Ende fehlschlug.

… … …»Du verlierst?

Natürlich verlierst du.Zwar kamst du weiter, als ich es vermutet habe,doch gewinnen kannst du gegen mich ja doch

nicht.«… … …

Neob hatte hier oben nicht mit der Stimme des Arbiters

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gerechnet. Nenne mir den Sinn des Spiels! Ich verstehe es nicht.

… … …»Denke nach, Neob Ciffa.

Vielleicht hat es ja nur den einen Sinn: dich zu quälen!

Vielleicht will ich dich leiden sehen?Vielleicht ist es nur dazu da, mir meine Langeweile

zu vertreiben?Womöglich werde ich es aber auch leid, ändere die

Regeln erneut.Alles kann geschehen. Ich …«… … …

Die Stimme des Arbiters verhallte, ehe der letzte Satz beendet war. Neob war sich nicht sicher, was das nun wieder zu bedeuten hatte. Doch dann war die Erklärung dafür auf einmal ganz nahe. Er spürte es … der Vogel stieg wieder!

Ciffa kämpfte gegen die Kräfte an, die seinen Körper gewaltsam nach hinten drückten; er wollte den Grund für diese Veränderung wissen. Er sah Bilaals Kopf, der weit nach vorne gebeugt auf Biests Hals ruhte. Er konnte erkennen, dass sich ihre Lippen ununterbrochen bewegten, doch hören konnte er natürlich nicht ein Wort von dem, was sie dem Tier einflüsterte. Doch Biest schien genau zu verstehen.

Nun raste der Gipfel ihnen geradezu entgegen. Triumph baute sich in Neobs Bewusstsein auf.

Zu früh gejubelt, Arbiter? Es kam keine Antwort. Vielleicht war das besser so, denn wahrscheinlich war er, Neob, es, der zu früh jubelte. Er würde die Silbersäulen nun vielleicht erreichen, doch was war damit schon gewonnen? Endete das Spiel dann automatisch? Bedurfte es nicht vielleicht noch viel mehr, um als Sieger dazustehen?

Zum Nachdenken blieb ihm keine Zeit mehr, denn dieser herrliche Vogel hatte es tatsächlich geschafft. Er schoss am

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Gipfelrand empor, immer weiter nach oben. Für einen winzigen Augenblick fürchtete Ciffa, Bilaal könnte nun die Kontrolle über Biest verloren haben, ihn vielleicht nun überhaupt nicht mehr bremsen können, doch auch das hatte die junge Frau im Griff.

Unmerklich zunächst, dann immer deutlicher spürbar, verlangsamte sich der Steilflug, bis Biest sich erneut sanft auf den Wind legte und eine weite Kreisbahn einschlug.

Verblüfft sah Neob auf das Plateau hinunter. Was ihm und Bilaal dort für ein Anblick erwartete, das ließ deutlich werden, wie naturwidrig die ganze Kulisse im Grunde war.

Dieser riesige Berg, dieses Massiv, das anscheinend die Grenze zwischen zwei Welten darstellte, reichte tatsächlich von Horizont zu Horizont, gleich einer Trennlinie. Und eine gewisse Ähnlichkeit zu einer Linie ließ sich aus der Vogelperspektive auch nicht leugnen. Das Plateau hatte eine Stärke von nicht mehr als fünfzig Schritten! Im Grunde hätte es so überhaupt nicht existieren dürfen … existieren können! An seiner Neob unbekannten Seite ging es wieder steil in die Tiefe. Dichter Nebel lag über der anschließenden Schlucht. Zu dicht, als dass Neobs Augen irgendein Detail hätte ausmachen können.

Bilaal landete Biest dreißig Schritte neben den Silbersäulen.

Schweigend stiegen beide aus dem Sattel, und Neob bekam nun zu spüren, wie seine Knie zitterten. Einige Minuten hielt er sich an Biest fest, der ruhig und ohne Angst im dürren Geflecht, das hier den Boden bedeckte, nach Essbarem suchte.

Bilaal näherte sich nur vorsichtig den Säulen. Ja, es waren tatsächlich gefertigte Gebilde, keine Felsnadeln, die von unten das Auge täuschten und irreführten. Sie waren rund, vollkommen schnörkellos, gut vier Mannslängen hoch.

Bilaal konnte nicht eine noch so winzige Verzierung erkennen. Keine Schriftzeichen oder Bilder, die man zu deuten hatte. Da war einfach nichts, was die Ebenheit der Oberfläche störte. Die junge Frau wandte sich zu Neob.

»Und nun? Du hast gesagt, du würdest hier oben deine

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Vergangenheit suchen.« Sie breitete die Arme aus, drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. »Ich kann hier außer diesen Säulen nichts finden.«

Bilaal trat nahe an eine der Säulen heran, berührte sie mit den Fingern. Nichts geschah. Sie schüttelte den Kopf.

»Dafür töten sie sich irgendwo dort unten? Für zwei Stelen, die irgendwer vor ewigen Zeiten hier aufgestellt hat? Ich kann es nicht glauben, Neob.«

Ciffa gab der Kleinen ja im Stillen recht. Andererseits vergaß sie, dass es mit den Mitteln, die den Menschen auf Altera zur Verfügung standen, nahezu unmöglich war, diese Monumente hier oben zu installieren. Nein, Menschen hatten das hier sicher nicht errichtet. Das alleine gab den Säulen den Anstrich der Göttlichkeit. Menschen hatten schon für viel weniger als einen solchen Glauben getötet, ganze Rassen ausgelöscht.

Neob konnte Bilaal nicht aufhalten, als sie zwischen die Säulen trat. Nichts geschah, absolut gar nichts. Bedächtig näherte er sich den runden Objekten, die in der Sonne glänzten. Bei jedem seiner Schritte wuchs die Anspannung in ihm, bis er bemerkte, dass da mehr war als nur seine überspannten Nerven.

Bilaal sah es nun auch, und Biest stieß einen Warnschrei aus.

Neob Ciffa war von einem Leuchten umgeben, einer silbernen Korona aus Licht. Hastig wich er wieder zurück – das Leuchtphänomen verschwand.

Bilaal eilte auf ihn zu, berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Es erfolgte keinerlei Reaktion. Das Mädchen blickte zurück zu den Säulen, dann direkt in Neobs Augen.

»Du wirst für immer fort sein, wenn du durch diese Stelen gehst, nicht wahr?«

Neob nickte. Er vermutete es nicht, er wusste es.»Wohin wirst du gelangen?«Es war genau diese Frage, die er nicht beantworten

konnte. Tausend Möglichkeiten, tausend Varianten waren denkbar – vielleicht würde ihn der Weg direkt zum Arbiter führen, vielleicht in die Vergangenheit, seine

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Vergangenheit, die in Neobs Bewusstsein nach wie vor nicht existierte. Vielleicht würde dieser Schritt das Spiel beenden? Oder ein neues begann …

Er fasste Bilaal bei den Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich alleine gehen muss, ohne dich und Biest. Was wirst du nun tun?«

Bilaal lachte gekünstelt, als machte ihr ein Abschied nun wirklich nichts aus.

»Die eine Hälfte dieser Welt kennen wir ja nun. Mal sehen, was die andere bieten kann. Vielleicht gibt es dort keinen Krieg, kein Töten? Einfach nur einen Platz, an dem wir friedlich leben können. Biest folgt mir, wohin ich auch gehe, weißt du? Und ich lasse ihn nicht im Stich.«

Wie zur Bestätigung stieß der große Vogel ein ungeduldiges Krächzen aus. Hier fand er nun wirklich nichts Fressbares, außerdem langweilte er sich.

»Biest will fliegen, glaube ich. Also werden wir auch fliegen. Wir sehen uns nicht wieder, richtig?« Sie wollte darauf keine Antwort von ihm, presste sich nur kurz fest an seinen Körper. »Ich wünsche dir, dass du die Wahrheit erfährst und dass du mit ihr glücklich leben kannst, Neob Ciffa.«

Hastig löste Bilaal sich von Neob, sprang behände in den Reitsattel. Neob hob beide Hände. Etwas musste er ihr noch sagen.

»Du wirst mir vielleicht nicht glauben, was ich dir nun sage, aber du sollst es wissen. Wenn ich durch diese Säulen gehe, dann ist es möglich, dass diese Welt – deine Welt! – vollkommen verschwindet. Ich kann es dir nicht erklären … aber sie ist wohl nichts weiter als eine fiktive Oberfläche, eine Haut, auf der ein Spiel gespielt wird. Ich … mehr kann ich dazu nicht sagen, denn ich weiß es nicht besser.«

Bilaal beugte sich vom Sattel herunter, streichelte Neobs Wange, als wollte sie – die so viel Jüngere – ihn trösten.

»Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber wer weiß schon … vielleicht hast du ja Recht. Dann warte bitte, bis Biest und ich im Flug sind, ja? Wenn, dann soll es dort geschehen, wo wir beide am glücklichsten sind.«

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Der Vogel schien verwirrt, dass sie Neob nicht mitnahmen, doch dann setzte er sich hüpfend in Bewegung. Kurz vor der Felskante wandte er seinen langen Hals nach Neob um. Die riesigen Augen schienen glücklich zu leuchten – Biest wollte fliegen!

Und sie flogen. Hinunter in den Nebel, durch den sattes Grün leuchtete. Neob wünschte sich, dass die zwei dort unten ihren Traum finden konnten.

Als er sich erneut den Säulen näherte, setzte das Vibrieren wieder ein. Sein Körper schien sich wie ein Schwamm voll Energie zu saugen.

Neob Ciffa machten den entscheidenden Schritt nach vorne. Ein rascher Blick über die Schulter … doch dort war nichts mehr, nur noch eine tiefe Schwärze. Dann wandte er all seine Konzentration nach vorne.

Ich komme, Arbiter. Was hast du nun für mich parat?Neob ließ die Säulen hinter sich.Alles war neu.Alles war anders.So rundum anders, wie es nur sein konnte!

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7. Vater und Sohn

Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,Er hält in den Armen das ächzende Kind,

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;In seinen Armen das Kind war tot.

»Erlkönig«Johann Wolfgang von Goethe

»Neob! Neob Ciffa, nun warte doch!«Ciffa erkannte die Stimme natürlich sofort. Das war einer

der Zecken, die sich immer in den verbissen, dessen Stern momentan am hellsten leuchtete. Neob beschleunigte instinktiv seine Schritte, doch ihm war klar, dass er diesem schmierigen Typen nicht entkommen konnte.

»Ciffa – was hast du es heute so eilig? Aber ja, was frage ich überhaupt? Als Vorstand der Familie Nummer eins in diesen Tagen, da hast du sicher einen Termin nach dem anderen, richtig? Wann ist die große Ehrung noch?«

Ciffa hätte den Kerl am liebsten angeschrien, dass er seine Schleimerei an einem anderen ausprobieren sollte. Doch er schluckte Wut und Ärger runter, spülte mit dem Rest Freundlichkeit und Sanftmut nach, der ihm noch verblieben war.

»In drei Tagen, Nostor, aber ich denke, du hast den Termin fest im Kopf. Wahrscheinlich wirst du dich bis in die erste Reihe drängeln, so wie ich dich einschätze.« Ein wenig Bissigkeit war wohl doch in den Worten gelandet, doch Neob ließ es nur zu gerne geschehen. »Und nun wirst du mich sicher entschuldigen, aber als Vorstand der Familie Nummer eins … du weißt ja, da fällt so einiges an.«

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Er schaffte es, den verdutzt Dreinschauenden ganz einfach stehen zu lassen, indem er sich unter einen Pulk Vorbeiströmender mischte.

Familie Nummer eins! Diesen Schwachsinn konnte sich nur ein Idiot wie Nostor ausdenken. Andererseits lag der damit ja leider nicht falsch. Seit den Ereignissen der vergangenen Tage war es mit der Ruhe tatsächlich vorbei.

Seine Frau sah Neob kaum noch – die war mit Vorbereitungen beschäftigt.

Seine Tochter … nun, die Kleine ließ sich von Freundinnen anhimmeln, denn es ging schließlich um ihren Bruder.

Der Junge selbst – er wurde immer verschlossener. Was er getan hatte, was für eine Leistung er tatsächlich vollbracht hatte, das schien ihm selbst nicht klar zu sein. Allen anderen umso mehr. Die Medien mussten mit Gewalt von dem Jungen ferngehalten werden, denn sie hätten ihn sonst vollkommen vereinnahmt. Das konnte die hochsensible Psyche des Kindes nicht verkraften – niemals. Neob wusste das, seine Frau nicht minder. Doch bei ihr glaubte Ciffa von Tag zu Tag mehr, dass sie der Mutterstolz um den klaren Verstand brachte.

Neob selbst wurde von allen Seiten hofiert. Ziemlich schnell war ihm bewusst geworden, was die Tat seines Sohnes für ihn persönlich bedeuten konnte. Er war Ratsherr, jedoch einer, der irgendwo in den hinteren Reihen der Ratsversammlung zu finden war. Das würde sich nun bestimmt ändern. Karrieresprung – vorprogrammiert!

Und das willst du wirklich? Auch wenn du deinem Sohn allerhöchstens ein paar deiner Gene geschenkt hast … mehr nicht. Helfen musstest du ihm nicht. Du hättest es auch überhaupt nicht gekonnt.

War der Junge tatsächlich das, was die hohen Wissenschaftler und die Magier in ihm zu sehen glaubten? Der erste Spross einer neuen Spezies? Eine Weiterentwicklung, positiv oder negativ … Neob war sich nicht so ganz sicher.

Als er sein Haus erreicht hatte, war das wieder von unzähligen Medienvertretern umlagert. Es war ein

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regelrechter Spießrutenlauf, den er hinter sich bringen musste, ehe die Männer vom Sicherheitsdienst des Rates ihm eine Gasse freimachten. Es war nicht seine Frau, die ihm die Tür öffnete, sondern ein Bursche, den Neob heute zum ersten Mal sah. Er stellte sich Ciffa nicht einmal vor, benahm sich eher, als wäre die Ankunft des Ratsherren eine lästige Sache, die er gezwungenermaßen akzeptieren musste.

Neob spürte die Wut, die wieder in ihm nach oben kroch. Und wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hatte, dann konnte es durchaus sein, dass heute noch ein paar dieser Sicherheitsmänner rausfliegen würden.

Noch unfreundlicher als geplant fiel Neobs Frage aus. »Wo ist meine Frau? Wo sind meine Kinder? Ich kann mich nicht erinnern, aus meinem Haus eine Kommune gemacht zu haben.«

Der Leibwächter reagierte so, wie er es gelernt hatte – ruhig, sachlich.

»Ihre Frau ist nicht im Haus. Ich weiß nicht wo sie sich befindet. Ihre Kinder sind oben in ihren Zimmern.«

Neob nickte kurz und abweisend. Dann stieg er die Treppe hinauf. Jeder Schritt war eine kleine Quälerei. Warum fühlte er sich heute nur so müde? So falsch am Platz?

Oben angekommen wandte Ciffa sich zu den Zimmern der Kinder, doch noch ehe er den kleinen Trakt betrat, hielt er inne.

Nein, vielleicht war es besser, die beiden alleine zu lassen. Für sie musste das alles auch eine Belastung sein, wenn sie es auch nicht nach außen zeigten. Besser, er ging heute früh schlafen. Wann seine Frau nach Hause kommen würde, war reine Spekulation. Sicher gab es viel vorzubereiten, viel zu besprechen, doch sie übertrieb es wirklich.

Aber auch das würde irgendwann vorbei sein. Neob musste nur geduldiger werden.

Er schlief unruhig, träumte vom Fliegen …

»Dieser Tag soll uns stets an das Unglück erinnern, an die

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unfassbare Bedrohung, der wir nur um Haaresbreite entkommen sind. Er soll uns immer wieder vor Augen halten, wie groß die Gefahr ist, die Balance zu verlieren, in eine bestimmte Richtung zu streben. Eine Richtung, die falsch und bedrohlich ist.«

Der große Ratssaal war bis in den letzten Winkel gefüllt. Unter der hohen Decke schwebten so viele Satellit-Kameras, dass Neob Ciffa befürchtete, dass es zu Zusammenstößen kommen musste. Natürlich war das Unsinn, denn damit das nicht geschehen konnte, gab es ausreichend Sicherungsprogramme, die zentral gesteuert wurden. Es blieb nicht aus, dass man die Kamera des einen oder anderen Senders daher zwangsbremsen oder umleiten musste. Nach solchen Liveevents hagelte es dann auch regelmäßig Beschwerden der Sender, doch da hatte man sich eine dicke Haut zugelegt.

Neob schaute sich um. Natürlich hatten er und seine Familie die besten Plätze im Saal. Schließlich war der Sohn der Ciffas die Hauptperson des heutigen Abends. Doch selbst bis in die ungeliebten hinteren Reihen hinein konnte er Gesichter entdecken, die für Macht und Einfluss auf dieser Welt standen. Jeder wollte dabei sein. Ganz gleich, wie schlecht man ihn auch positioniert hatte. Die wenigen entscheidenden Frauen und Männer, die fehlten, waren wirklich ernsthaft verhindert gewesen.

Der Mann, der als erster Redner den Abend eröffnete, war der Ratsvorsitzende Sissor Cad. Nicht eben ein Freund Neobs, denn die Ansichten der beiden Männer waren einfach zu unterschiedlich. Cad war äußerst konservativ in seinen Ansichten; Magie und Wissenschaft gehörten seiner Meinung nach streng getrennt. Damit stand er im Rat nicht alleine da, doch die Tendenz, die beiden Grundlagen dieser Welt zu kombinieren, sie gemeinsam nutzbringend einzusetzen, nahm ständig zu.

Und nun, nachdem die große Katastrophe verhindert worden war, würden die Diskussionen erneut aufbranden. Ciffa würde seine Position vertreten, wie er es stets getan hatte.

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Heute allerdings kam Sissor Cad nicht umhin, den jüngsten Sprössling seines Kontrahenten in den Vordergrund zu stellen, ihn zu ehren.

Neob blickte zu seiner Frau. Molina war immer noch schön, und ihre Schönheit spiegelte sich in den Gesichtern der Kinder wider, die sie Neob geschenkt hatte. Jilira hatte die Augen und den Mund von ihrer Mutter geerbt. Das Mädchen würde in nur wenigen Jahren so manchem Mann den Schlaf rauben, da war Neob sich ganz sicher – und seinen Schlaf ebenfalls, wenn ihre Freier um das Haus schleichen würden.

Die Hauptperson des Abends war Jolas, Molinas und Neobs Sohn. Im Grunde kamen Ehrungen und Anerkennung für ihn viel zu früh, denn Neob wusste wirklich nicht, wie der Junge das alles verarbeiten sollte. Man nannte ihn einen Helden, der er sicher auch war … weil ohne ihn diese Welt wahrscheinlich jetzt nicht mehr existieren würde.

Sissor Cad sprach ohne Punkt und Komma – ein großer Redner war der Mann noch nie gewesen, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte. Neob konnte sich nicht auf die Worte des alten Mannes konzentrieren.

»… in der Stunde der größten Not. Nicht einmal unsere Flotte sah noch die Möglichkeit einzugreifen. Die Kommandanten unserer Schiffe waren voller Hoffnungslosigkeit – so, wie ich zugeben muss, auch im großen Rat vergeblich nach einem Ausweg geforscht wurde. Wie unvorstellbar – unsere Monde, Sinnbilder für das Leben auf unserer herrlichen Welt, sie wurden zur tödlichen Gefahr. Sie drohten unsere gesamte Zivilisation zu vernichten. Damals wie heute kannte niemand den Grund für dieses Desaster. Der Vorgang der Annäherung an …«

Neob hörte nur mit einem Ohr zu. Dennoch … was redete der alte Knabe da für einen Unsinn? Niemand kannte den Grund? Und – beide Monde?

Ciffa machte sich Sorgen um seinen eigenen Gesamtzustand. Offenbar hörte er Worte, die so nicht gesagt worden waren. Es sei denn, der alte Cad war es, der hier tief in die Märchenkiste griff. Unfug! Das würde Sissor

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niemals tun, denn dazu fehlte ihm schlicht die Fantasie.»… der junge Jolas, Sohn von Ratsherr Neob Ciffa und

seiner Frau Molina. Seine einzigartige Begabung, die tief und noch unerkannt in ihm schlummerte, kam im genau richtigen Augenblick zum Vorschein. Heldenhaft, das ist ein wahrlich großes Wort, das ich noch nicht oft in meinem Leben benutzt habe, doch hier und heute werde ich es mit voller Überzeugung tun.« Cad machte eine große Geste, wies auf Neobs Sohn, der mit dem Anflug eines überheblichen Lächelns in der ersten Reihe saß.

»Komm herauf zu mir, Jolas Ciffa – lass dich feiern, lass dich ehren. Wir alle verdanken dir allein unser Leben!«

Neob schloss die Augen, stöhnte innerlich auf. Was für ein geschraubter Mist. Wie redete Cad denn? Ciffa blickte zu seinem Sohn, der mit gemessenen Schritten auf das Podium zuging. Ein Jubelsturm begleitete ihn auf diesem kurzen Weg. Die Leute wollten sich überhaupt nicht mehr beruhigen – alle waren aufgestanden … selbst Molina und Jilira.

Jilira? Was für ein Name war das? So hieß seine Tochter doch nicht.

Und wer sollte Molina sein? Seine Frau hieß Mojica … ja, da war er plötzlich vollkommen sicher – Mojica …

Neob Ciffa erhob sich vom Sitz. Seine Beine zitterten, drohten einfach unter seinem Gewicht einzuknicken. Irgendwo hielt er sich fest und vermied den Sturz. Torkelnd näherte er sich der Bühne, schob die Sicherheitsleute einfach zur Seite. Mit beiden Händen griff er nach den Schultern seines Sohnes, drängte ihn zurück. Das arrogante Lächeln auf Jolas Lippen schmerzte Ciffa.

Nicht Jolas – natürlich nicht Jolas! Sein Sohn trug den Namen Sajol!

Ciffa stolperte die Stufen hinauf, ging neben dem Rednerpult in die Knie. Nur mit letzter Kraft zog er sich hoch. Er sah in Sissor Cads Gesicht – doch es war nicht das Gesicht des alten Mannes. Es war das von Sajol!

Neobs Blicke huschten ins Publikum – sie alle trugen die Gesichtszüge von Sajol, ohne Ausnahme.

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Ciffas Hände zitterten, doch er schaffte es, das Mikrofon zu fassen. Mit aller Kraft brüllte er in die Sprechmembrane hinein.

»Du spielst falsch, Arbiter! Dieses Spiel geht zu weit. Beende es. Sofort! Du darfst nicht falschspielen, hörst du? Du betrügst …«

Schlagartig verschwand die ganze Umgebung vor Neobs Augen. Wohin er auch blickte, da war nur milchweißer Nebel, dicht und starr. Doch er war nicht ganz allein. Inmitten dieser Dunstwelt sah er die Gestalt seines Kindes – Sajol! Doch als der sich langsam zu seinem Vater wandte, da starrte der in die Fratze des Arbiters.

Neob verlor die Kontrolle über seinen Körper und sackte nun haltlos zusammen.

Spiel – Ende? Zwei Worte nur, die schließlich zu der entscheidenden Frage wurden. Wirklich das Ende?

Neob verlor nicht sein Bewusstsein, er glitt hinüber in einen unruhigen Schlaf, der jedoch tief genug war, um ihn nicht aufzuwecken, als das entstellte Gesicht sich tief über ihn beugte.

Über ihn – der nun nicht mehr Neob Ciffa war …

Lady Patricia Saris lebte nun schon lange genug auf Château Montagne.

Es gab kaum noch etwas, das sie hier aus der Ruhe hätte bringen können – sie war alles gewohnt, mit Drachen, Geistern der verschiedensten Couleur und ab und an auch einem Ex-Teufel namens Asmodis unter einem Dach zu leben. Schließlich war sie die Mutter des kleinen Rhett, der die große Bürde des Erbfolgers in sich trug.

Sein und ihr Leben war im Prinzip ständig von den dunklen Mächten bedroht; ein Grund, warum Mutter und Sohn sich in die Obhut Professor Zamorras begeben hatten.

In Patricia lebte seither der Wunsch, sich für diesen Schutz erkenntlich zu zeigen. Sie nutzte jede sich bietende Chance dazu, und es kam vor, dass sie dabei weit über das Ziel hinausschoss. Etwa in der Sache mit einer gewissen

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Diebesbande, die Patricia beauftragt hatte, das Buch mit den 13 Siegeln aus dem Château zu stehlen.

Lady Saris hielt sich zwar stets weit im Hintergrund, wenn es um die Angelegenheiten des Zamorra-Teams ging, doch sie sah und hörte viele Dinge, die sie im Grunde überhaupt nicht wissen wollte. Als die Siegel Zamorras Psyche veränderten, als sie ihn zu Dingen verleiteten, die so gar nicht in das Persönlichkeitsbild des Parapsychologen passten, da hatte Patricia eingegriffen. Niemand schaffte es offensichtlich, den Professor von dieser Siegel-Last zu befreien – Patricia hatte gehandelt … und hätte dies beinahe mit dem eigenen Leben bezahlt. Seither zog sie sich noch mehr als früher zurück.

Als Nicole Duval in ihr Zimmer gestürmt war, hatte Patricia nicht nach den Einzelheiten gefragt. Sie würde helfen – gleichgültig, um was es sich handelte.

Nun jedoch … sah sie die Sache doch ein wenig anders.Patricia hatte den Mann hier schon mehr als einmal

gesehen. Zumindest Zamorra behandelte den düster blickenden Typen wie einen guten Freund … Nicole schien etwas zurückhaltender zu sein. Doch auch sie duldete ihn hier im Château – diesen spindeldürren Vampir. Mehr als das wusste Lady Saris nicht über ihn zu sagen.

Jetzt hatte sie seine Füße so fest, wie nur möglich, umklammert, während Nicole ihn unter den Achseln hielt. Er war hager, das konnte man nicht bestreiten, doch er hatte durchaus sein Gewicht … und er war splitterfasernackt! Patricia hatte ja nichts gegen nackte Männer einzuwenden. Jetzt allerdings …

»Du musst seine Füße höher halten, Patricia, sonst knallen sie auf jede einzelne Treppenstufe.« Lady Saris tat ihr Bestes. Rückwärts tastete sie sich die breite Treppe hinunter, was mit diesem Zusatzgewicht nun wirklich nicht einfach war.

»Nicole, ich will dich ja nicht kritisieren, aber bist du sicher, dass …«

»Bin ich.« Die Französin hatte keine Lust auf Diskussionen, denn die Zeit drängte. Vielleicht war es für das, was sie

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vorhatte, sogar schon zu spät.»Und warum wecken wir Zamorra nicht auf? Der …«

Erneut wurde ihr das Wort abgeschnitten.»Weil Zamorra nicht schläft. Ich könnte dir die ganze

Sache in allen Einzelheiten erklären, doch das dauert einfach zu lange. Nur so viel: Auch wenn es unlogisch für dich klingen mag, so stirbt dieser Vampir in diesen Sekunden. Wenn wir uns nicht beeilen, dann war alles umsonst.«

Patricia biss sich auf die Zunge, damit ihr nicht alle Fragen gleichzeitig aus dem Mund sprudeln konnten. Nein, sie würde nicht mehr fragen. Knapp verhinderte sie einen Sturz, als ihr Fuß im blinden Rückwärtsgang die nächste Stufe verpasste. Sie konnte sich halten, doch dazu musste sie die Füße des Nackten loslassen. Heftig knallte der mit Rücken und Steiß auf die Treppe.

Nicole stöhnte auf. Sollte das hier ein gutes Ende finden, dann konnte Laertes garantiert die kommenden Tage nicht auf seinen vier Buchstaben sitzen! Das war einmal sicher …

Es schienen endlos viele Minuten zu vergehen, ehe die zwei Frauen endlich am Ziel angekommen waren. Lady Saris verstand nun überhaupt nichts mehr. Der Pool – was wollte Nicole mit einem Vampir am Pool? Patricia fröstelte.

»Wieso ist das hier so unerträglich kalt? Habt ihr einen Pinguin in euren Pool aufgenommen? Wundern würde es mich nicht.«

Nicole schnaufte nur als Antwort.Das Gewicht des Vampirs schien sich mit jedem Schritt zu

verdoppeln. Endlich konnten sie Dalius am Beckenrand ablegen.

»Patti, ich muss dich enttäuschen. Kein Pinguin, kein Eisbär. Nur eine Kreatur, die jetzt gerade Höllenqualen ausstehen muss. Ehe du fragst – Laertes wurde vergiftet. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich kann ihn in seinem Kampf helfen.« Das Wasser strahlte tatsächlich eine Eiseskälte aus, die sich auch in Nicole einnistete.

»Wasser und Vampire? Ich dachte, die hassen das – offene, fließende Wasser. Aber ich bin schon still.« Eher

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ungewollt glitt Patricias Blick über den nackten Körper. Ein wenig errötend, wandte sie sich zur Seite. Da waren Dinge zu sehen, die sie schließlich nichts angingen.

Noch zögerte Nicole, denn sie war sich überhaupt nicht sicher, das Richtige zu tun.

Dann handelte sie. Der Körper des Vampirs glitt in das eisige Wasser hinein, als sie ihm den entscheidenden Stoß versetzt hatte. Langsam, beinahe quälend langsam, trieb der Vampir auf der Wasseroberfläche zur Mitte des Pools. Jetzt konnte Nicole nur noch abwarten.

»Was meinst du? Können Vampire Husten und Schnupfen bekommen?« Nicole reagierte nicht auf Patricias sicher spaßig gedachte Bemerkung. Sie ging rasch ins Haus zurück, schaltete die zusätzlichen Fluter ein, die das ganze Becken ausleuchteten. Sie musste beobachten, ob irgendeine Reaktion erfolgte.

Dann wandte sie sich zu Lady Saris.»Wenn Laertes nicht stirbt, dann dürfte das eher eine

ausgewachsene Bronchitis werden.« Sie grinste Patricia an.Die Lady zuckte mit den Schultern.»Heumanns Bronchialtee – altes Mittelchen aus

Deutschland. Soll helfen, habe ich mir sagen lassen.«Nicole antwortete nicht, sondern starrte konzentriert auf

den Körper, der sich langsam um seinen Mittelpunkt zu drehen begann. Es konnte nicht lange dauern, bis sich der Erfolg einstellen sollte.

Oder das exakte Gegenteil davon …

Wie ein alter Film lief da die eine Szene immer wieder in diesem Traum ab, den Neob Ciffa zu träumen glaubte:

»Der Start wird in wenigen Minuten freigegeben, Ratsherr Laertes. Einen guten Flug und viel Erfolg.«

Laertes nickte dankend und verschloss die Einstiegsluke des Pyet.

»Alles klar, Sajol?«Der Junge sah lächelnd zu seinem Vater hoch. Er

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war stolz, dass er mit ihm auf Entdeckungsreise gehen durfte. Wohin es ging, hatte Dalius ihm nicht gesagt.

Er wusste es ja selber nicht.Die Narbe auf seinem Kopf schmerzte noch immer.

Es war nun beinahe ein halber Umlauf vergangen, seit dem Tag des Endspieles – und dem seltsamen Vorfall im Stadion, der nie aufgeklärt werden konnte.

Als Dalius Laertes nicht zu den Feiern zurückgekehrt war, da hatte man ihn natürlich gesucht. Er hatte schliesslich den Sieg für seine Mannschaft errungen – man wollte ihn ehren.

Sie fanden ihn bewusstlos am Rande des Spielfeldes. Eine blutige Spur zog sich über seinen Kopf. Im Hospital vermutete man, dass ihn irgendjemand mit einer der Spielkugeln angegriffen hatte. Jemand aus dem Lager der unterlegenen Endspielmannschaft? Alle Nachforschungen hatten keine Klärung gebracht.

Dalius hatte einige Zeit benötigt, um wieder einigermassen der zu werden, der er einmal gewesen war. Manche seiner Mitarbeiter und Freunde sagten, er hatte sich seither sehr verändert. Er konnte das nicht verstehen.

Oder?Das Verhältnis zu Mojica allerdings hatte sich

radikal verändert. Sie wusste oft nicht, was sie von den Dingen halten sollte, die ihr Mann sagte oder tat. Daher hatte sie auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, als er mit Sajol diesen Flug geplant hatte. Sie hielt es für eine gute Idee, dass Laertes diesen Flug ganz offiziell als Suche angemeldet hatte.

Eine Suche war nichts anderes als das Auskundschaften von unbekannten Welten, die unter Umständen die Hilfe Uskugens brauchten. Erst die Sucher in ihren Pyets waren es ja, die diese Welten entdeckten.

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Und eine solche Suche konnte unter Umständen viele Umläufe dauern.

Hauptsinn von Laertes Flug war jedoch sein Sohn. Der Rat hatte Dalius nahegelegt, eine Lösung für das Problem Sajol zu finden, wie sie es ausdrückten. Sajol würde Uskugen nie wiedersehen. Uskugen nicht, Mojica und Jicada nicht.

Vielleicht fanden sie ja eine neue Welt … einen neuen Beginn.

Laertes zog nichts zurück zu der Welt, die seine Heimat war. Seine Heimat … oder der Ort, an dem man ihn künstlich erschaffen hatte? Was waren das nur für Gedanken, die ihm da immer wieder kamen?

Der Schmerz in Laertes' Kopf liess nur langsam wieder nach. Er hatte sich inzwischen an diese Attacken beinahe schon gewöhnt. Wenn sie nur sein Erinnerungsvermögen nicht so beeinträchtigen würden.

Ihm war oft, als müsste er sich unter allen Umständen an eine Tatsache erinnern, die auf den Tag des Endspiels zurückging.

Sosehr er es auch versuchte – es wollte nicht gelingen.

Die Startfreigabe kam.Der Pyet hob lautlos vom Boden ab.Irgendwann würde er sich schon erinnern …

irgendwann einmal.

Und dann startete diese Sequenz von vorne … und dann noch einmal … noch einmal … und dann lief sie plötzlich weiter, als hätte es diese Endlosschleife nie gegeben. Neob Ciffa? Was war das nur für ein dummer Name? Er hieß nicht Neob! Er war doch niemand anderes als … dieser Laertes! Der sich an Bord eines Raumschiffes befand. Das hier war kein Traum mehr, keine Filmszene – das war die Erinnerung, die so lange hinter den dicken Mauern in seinem Bewusstsein gehockt hatte, eingesperrt und unerreichbar für ihn.

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Irgendwann würde er sich schon erinnern. Ja, Irgendwann war jetzt!

Es war quälend eng an Bord des kleinen Raumschiffes.Die Pyets waren als reine Scoutboote konstruiert worden,

deren zur Verfügung stehendes Platzvolumen zu über neunzig Prozent von der Antriebssektion, des Equipments zur Lebenserhaltung des Piloten sowie der extrem starken Funkanlage beansprucht wurde.

Da blieb nicht mehr viel Platz für den Piloten. Den einen Piloten!

Doch an Bord des Pyets waren zwei Personen, die sich in dieser Enge zurechtfinden mussten.

Ratsherr Dalius Laertes beobachtete das Verhalten seines Sohnes so unauffällig, wie es ihm möglich war. Der Junge war ja so stolz, dass er mit seinem Vater dieses riesige Abenteuer angehen durfte. Laertes konnte nur hoffen, dass es auch so blieb, denn er wusste um das magische Potential seines Sohnes.

Der Rat hatte es öffentlich natürlich so dargestellt, als hätte Laertes mithilfe seines Sohnes die Gefahr für Uskugen abwenden können. Niemand außerhalb der Ratsversammlung wusste, dass die drohende Zerstörung der Welt durch Sajol in Gang gesetzt worden war. Unbewusst natürlich, denn der Junge konnte seine Kräfte ja nicht kontrollieren. Er wusste nicht einmal um sie. Jeder Uskuge besaß ein gewisses magisches Können – die einen mehr, die anderen weniger. Doch wie ausgeprägt es auch immer war, es hatte seinen Ursprung in dem perfekten Gleichgewicht der Monde Sip und Rof. Die Erfahrung der raumfahrenden Rasse hatte gelehrt, dass es zwei Faktoren gab, die starken Einfluss auf diese Fähigkeiten besaßen.

Entfernung und Zeit.Je weiter, je länger sich ein Uskuge von seiner Welt

entfernte, je geringer wurde seine Magie, bis sie schließlich ganz erlosch. Es hatte keinen Fall gegeben, bei dem das anders gewesen wäre.

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Laertes blickte zu seinem Sohn. Sajol … er war die große Ausnahme. Ein Kind, das seine Kräfte nicht beherrschen konnte. Kräfte, die Monde aus ihren Bahnen werfen konnten!

So sehr es Laertes auch geschmerzt hatte, so sehr verstand er den Beschluss der Ratsversammlung. Sajol war für diese Welt einfach nicht haltbar. Zu groß war die Gefahr, die in dem Kind schlummerte.

Es gab nur den einen Weg. Laertes musste sein Kind von Uskugen fernhalten.

Er musste Sajol irgendwohin bringen, wo der Junge ein glückliches Leben führen konnte, ohne eine ganze Zivilisation zu gefährden.

Mojica … er hatte es seiner Frau nicht gesagt. Nur Andeutungen hatte er ihr häppchenweise serviert. Die einst so glückliche Beziehung der beiden war so stark abgekühlt … alles war anders geworden. Oder doch nur er, Dalius Laertes?

Die Entscheidung zu dieser Suche war ihm schließlich recht leicht gefallen, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Der zwölfte Teil eines Umlaufs war vergangen, als Laertes die erst kleine Veränderung bei Sajol registrierte. Eine Veränderung allerdings, mit der er gerechnet hatte. Nach und nach wurde dem Jungen bewusst, dass dies kein kleiner Ausflug war, sondern ein Fernbleiben auf unbestimmte Zeit. Heimweh überfiel Sajol in heftiger Form.

Der Kleine konnte damit überhaupt nicht umgehen. Wie hätte er das auch verstehen können? Dalius kontrollierte die Maschinen. Alle Werte waren konstant. Er rechnete mit nichts anderem, denn die Pyets waren wirklich extrem zuverlässig. Ein Sucher konnte sich den Kleinraumern bedenkenlos anvertrauen.

Heute war es so weit. Laertes wandte sich Sajol zu, der an einer Konsole saß und lustlos irgendein Geschicklichkeitsspiel abspulte. Der Junge war noch keine fünf Jahre alt, doch er beherrschte die Technik nahezu perfekt. So kam es auch, dass er den Computer ein ums

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andere Mal besiegte.»Sajol. Ich muss dir jetzt etwas erklären.«Der Kleine wandte sich zu seinem Vater. Jede Ablenkung

kam ihm gelegen, denn dann dachte er nicht so sehr an seine Dey, wie die Uskugen ihre Mütter nannten – und nicht an seine Zwillingsschwester Jicada, die er schmerzlich vermisste.

»Unsere Suche hat erst begonnen. Der Kurs, den ich gewählt habe, geht in einen Bereich der Galaxis, der weit, sehr weit entfernt liegt. Um diese Entfernung für uns nicht zu einer endlos langweiligen Sache werden zu lassen, werden wir nun schlafen.«

Sajol blickte Laertes fragend an.»Wie lange? Wenn wir dann dort sind, fliegen wir danach

wieder nach Hause?«Die Frage versetzte Laertes einen Stich. Wie hätte er Sajol

erklären sollen, dass es für Vater und Sohn kein zuhause mehr geben konnte? Er antwortete ausweichend.

»Mal sehen. Erst werden wir schauen, dass wir helfen können – es gibt Lebensformen, die ohne die Hilfe der Uskugen keine wirkliche Zukunftschance haben, weißt du?«

Sajol nickte. Natürlich wusste er das. Er kannte das Programm, das die Uskugen über die Galaxis hinweg anwandten. Es war nicht immer tatsächlich von Erfolg gekrönt, doch es hatte schon viele Zivilisationen vor drohendem Untergang bewahrt.

»Wie lange schlafen wir?« Sajol wiederholte hartnäckig diesen Teil seiner Frage.

»Warte nur ab …« Dalius ließ sich auf keine präzise Antwort ein, denn er hatte eine Ruhephase von mehr als zwei Umläufen programmiert. Das Stase-Programm verhinderte zwar nicht die Alterung des Suchers, doch es schonte extrem seine Kräfte.

Sie würden ausgeruht erwachen – und vielleicht waren Sajols düstere Gedanken dann verschwunden. Laertes konnte es nur hoffen.

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Der Pyet verließ den Planeten mit spielerischer Leichtigkeit.Die Schwärze des Alls breitete sich auf dem Screen aus,

der direkt vor Dalius Laertes lag. Der Kurs musste nicht neu eingegeben werden, denn dies war ja nur eine mehr oder weniger geplante Unterbrechung der Fluglinie gewesen.

Wasser und Nahrung hatten sie auf dieser blühenden Welt aufgenommen; beides wurde nun in der Anlage des Pyets aufbereitet und haltbar gemacht. Ein Seitenblick auf seinen Sohn zeigte Laertes die Enttäuschung, die sich in dem Gesicht des nun gut zwölf Jahre alten Kindes spiegelte. Laertes musste erst gar nicht nachfragen. Er wusste, wie gerne Sajol noch auf diesem Planet geblieben wäre. Es war kein Ersatz für Uskugen. Die dominierende Lebensform dort unten war erst in ihrer noch sehr frühen Entwicklungsphase, doch sie waren durchaus freundlich und fröhlich gestimmte Wesen, die Vater und Sohn mit offenen Armen bei sich aufgenommen hatten.

Gut einen halben Umlauf waren die beiden auf dieser Welt geblieben. Für einige wenige Tage hatte Laertes geglaubt, die neue Heimat für Sajol und sich gefunden zu haben.

Sajol hatte sich mit einer Gruppe von etwa gleichaltrigen Kindern dieser Welt angefreundet. Der Junge war gelöst und positiv gewesen wie lange nicht mehr. War es möglich, dass diese Umgebung die Gefahr neutralisiert hatte? Laertes hätte es besser wissen müssen.

Irgendwann hatte es dann helle Aufregung in der großen Ansiedlung gegeben. Dalius war sofort zur Stelle gewesen, um eventuell Hilfe zu leisten – was auch immer geschehen sein mochte.

Dann sah er die Männer des Dorfes, die mit einem ihrer primitiven Karren den Pfad vom Tal hinauf ins Dorf kamen. Man öffnete ihnen die Tore in der Palisade, die gegen wilde Tiere schützen sollte.

Dalius sah mit Entsetzen, welche makabere Ladung der Karren hatte. Die Leichen von neun Kindern lagen auf der Pritsche! Mütter schrien und weinten. Die Alten begannen Gebete zu murmeln, doch die Männer, die als Jäger das Überleben der Gemeinschaft sicherstellten, die blickten

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Laertes nur stumm und mit Vorwurf in den Blicken an.Laertes erkannte, was geschehen war. Die Körper der

Kleinen waren zertrümmert. Sie hatten in der Ebene gespielt, ganz in der Nähe der Felsen. Die Angst schnürte dem Uskugen die Kehle zu, doch Sajol war nicht unter den Toten.

Tolko Bies, der älteste Jäger der Gemeinschaft, blickte Laertes mit gebrochenem Blick an.

»Große Steine kamen von oben herab. Sie wurden von ihnen erschlagen … konnten nicht mehr fliehen.« Um seinen Mund legte sich eine harte und verbitterte Linie. »Noch nie kamen Steine von dort oben. Suchst du deinen Sohn? Er ist noch dort – geh zu ihm. Frage du ihn, Dalius Laertes, frage, was geschehen ist. Geh – schnell!«

Laertes spürte die Feindseligkeit, die da plötzlich zwischen ihm und Tolko Bies stand. Sajol saß mit untergeschlagenen Beinen unweit der Unglücksstelle. Er drehte sich nicht einmal um, als Laertes direkt hinter ihm stand. Er wusste auch so, dass sein Vater gekommen war.

»Sie wollten ohne mich spielen. Wir haben Jagd gespielt, weißt du? Aber ich wollte auch einmal Jäger sein, nicht immer nur das Wild. Da haben sie gesagt, ich sollte gehen. Nur sie durften Jäger sein. Ich niemals.« Langsam erhob sich Sajol, ging mit unsicheren Schritten in Richtung der steilen Felswand, an deren Fuß überall die mannsgroßen Felsbrocken lagen, die Tod und Verderben über die spielenden Kinder gebracht hatten. An manchen von ihnen waren Blut und Haarfetzen zu erkennen. Laertes wandte sich entsetzt ab.

»Sie hätten mich mitspielen lassen sollen, nicht wahr?« Laertes hörte die Frage, doch er antwortete nicht. Seine Zunge lag bleischwer in seinem Mund, unfähig, sich zu bewegen. Seine Lippen zitterten.

»Wann fliegen wir wieder, Vater? Ich will nach Hause zurück.« Sajols Stimme klang ruhig, keine Emotionen schwangen mit – am wenigsten jedoch etwas, das man Schuldgefühl nannte.

Man hatte sie ziehen lassen. Niemand in der Ansiedlung

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war mit ihnen zu der Palisade gekommen, um Vater und Sohn zu verabschieden. Es gab keine Beschuldigungen, keine Hassattacken. Jeder wusste, was geschehen sein musste, doch es wurde nicht ausgesprochen. Laertes und Sajol waren Gäste, genau bis zu dem Moment, in dem sie das große Tor durchquert hatten. Die schweren Torflügel schlugen hinter ihnen hart zu. Ein Geräusch, das Laertes sicher nie vergessen würde.

Der Uskuge überprüfte noch ein letztes Mal den Kurs. Dann begab er sich zu den engen Stase-Kammern. Sajol blieb sitzen.

»Komm, die nächste Etappe ist zu lang, um sie wach zu durchleben. Das würde unserem Verstand nicht gut bekommen.« Sajol überhörte die Worte seines Vaters. Zärtlich legte Dalius eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. »Nun komm schon. Es hat keinen Sinn, die Sache hinauszuzögern.«

Nur widerwillig erhob Sajol sich endlich.Laertes wusste es nur zu genau – bei der nächsten Etappe

musste er eine Lösung finden. Ganz gleich, wie die schlussendlich aussah.

Er kannte nur den Namen der letzten aller möglichen Lösungen.

Und der lautete Tod.

Die Kammer neben Laertes war leer.Seine magischen Fähigkeiten waren schon längst nicht

mehr so ausgeprägt wie früher vorhanden. Das war nur normal, denn es waren gut acht Jahre vergangen, seit er Uskugen verlassen hatte; dazu kam die enorme Distanz, die der Pyet zurückgelegt hatte. Irgendwann würde sich auch der schier unerschöpfliche Energievorrat des Scoutschiffes dem Ende zuneigen.

Die Antriebsform nutzte alle nur erdenklichen Möglichkeiten, durch Anzapfen erreichbarer Energiequellen stets auf einem gewissen Level zu bleiben, doch das war nicht dauernd gewährleistet. Die letzte Etappe, die Laertes

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nun in Stase hinter sich gebracht hatte, war durch Sternenarmes Gebiet gegangen. Kaum Sonnen, die als Lieferant für Energie herhalten konnten.

Die Kammer war leer – er musste nicht erst nachsehen, denn um dies festzustellen, reichte sein Magiepotential durchaus noch. Laertes beruhigte sich selbst. Wahrscheinlich war der Wiederbelebungsvorgang in diesem Fall bei Sajol schneller als bei ihm gewesen. Er bemühte sich, daran zu glauben.

Er konnte es nicht. Etwas war geschehen.Ungeduldig wartete der Uskuge die Zeit ab, die sein

Körper benötigte, um sich wieder in einen Normalzustand zu versetzen.

Auf unsicheren Füßen betrat er die kleine Zentrale des Schiffes. Sein Platz war besetzt.

»Hallo Vater. Ich spüre, dass du zu früh aufgestanden bist. Das solltest du nicht tun, das ist ungesund für dich. Es soll schon Fälle gegeben haben, die nach verfrühter Stase-Beendigung dauerhafte motorische Schäden davongetragen haben.«

Dalius ließ sich schwer in den Sessel sinken, der eigentlich für seinen Sohn reserviert war. Doch der hatte nun die Kommandoposition übernommen. In Laertes wuchs die Angst in unbekannte Höhen. Mit raschen Bewegungen holte er sich über die Tastatur die aktuellen Daten auf den Bildschirm, den Sajol im Grunde nur zum Spielen benutzt hatte.

Die Lebenserhaltungswerte waren alle durchaus im grünen Bereich.

Die Anzeige des Energiepotentials des Pyets allerdings verblüffte Laertes. Annähernd dreißig Prozent Restenergie? Er hatte mit weitaus weniger gerechnet, denn in diesem Außenbereich der Galaxis, den sie während der Stasis-Phase durchquert hatten, waren Energiequellen wirklich rar. Ein Gedanke flackerte in Dalius' Kopf auf, den er am liebsten sofort wieder verworfen hätte. Doch das konnte er nicht. Seine Finger flogen über das Terminal – dann sah er die aktuellen Positionsdaten des Schiffes, die von einer

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kleinen Grafik begleitet wurden. Sie zeigte die Strecke, die der Pyet im vergangenen Sonnenumlauf – dem Uskugen-Jahr – zurückgelegt hatte.

Dalius Laertes schloss die Augen. Genau das waren seine Befürchtungen gewesen …

»Du warst nicht in Stase, nicht wahr?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Sajol gab keine direkte Antwort darauf. Er wandte sich nicht um, schien nach wie vor in die Daten vertieft, die vor ihm auf dem Bildschirm abliefen.

»Während du dich erneut in diesen sinnlosen Zustand versetzt hast, habe ich gelernt. Viel gelernt, Vater. Ich habe mir das gesamte Wissen der Datenbank dieses Schiffes angeeignet. Das jedoch war sehr lückenhaft. Als ich damit durch war, da konnte ich den Raumflug endlich wirklich begreifen – etwa die Änderung eines programmierten Kurses. Nicht sonderlich schwer, finde ich.«

Sajol schwenkte mit seinem Sessel herum, sodass er seinem Vater direkt in die Augen blicken konnte. Laertes erkannte die Wandlung im Gesicht seines Sohnes, der nun endgültig kein Kind mehr war.

»Ich wollte natürlich viel mehr wissen. Alles, ich wollte alles wissen, das verstehst du sicher gut, denn von dir hätte ich nie erfahren, wer ich tatsächlich bin. Was ich bin! Jetzt weiß ich es, Vater. Ich bin ein ganz spezielles Wesen, nicht wahr? Du kannst es ruhig zugeben.«

Dalius verstand nicht, woher Sajol solche Informationen haben konnte. Im Speicher des kleinen Schiffes waren sie sicherlich nicht vorhanden. Wenn es sie überhaupt gab, wenn das Sajol-Problem in einer eigenen Datei gespeichert worden war, dann konnte das nur an einem einzigen Ort sein:

Dem Zentralrechner des Rates von Uskugen!Doch wie hätte der Junge an diese Informationen gelangen

können.Das war unmöglich.»Ich kann deine Gedanken zwar nicht lesen, doch ich

kenne sie genau. Ja, ich habe mir das entsprechende Wissen aus dem Rats-Rechner beschafft. Schau mich nicht

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an, als wäre ich ein Gespenst, Vater. Wenn man Daten absenden kann, dann kann man sie auch empfangen, abrufen. Bilateral – doch das muss ich dir ja nicht erst erklären.«

»Ich glaube dir nicht.« Laertes war noch immer geschwächt von der Stase. Seine Stimme klang leise und rau. »Der Rechner des Pyets ist nicht stark genug dazu – erst recht nicht über die große Entfernung hinweg. Zudem kommt man an verschlüsselte Daten aus dem Rechner des Rates nicht so einfach heran. Ich denke, du lügst mich einfach an.«

Sajol lachte, und in diesem Lachen lag ein Anflug von Größenwahn und Irrsinn. Laertes registrierte das mit Entsetzen.

»Schlüsselworte, Codes – das ist doch lächerlich, wenn man über die Kraft verfügt, die du nie hattest … und deren winziger Rest nur noch schwach in dir ruht. Die Entfernung war da schon eher ein Problem, doch du hast unsere Positionsdaten ja eben selbst eingesehen. Der Rest war Magie – reine, echte Magie, Vater!«

Ja, Laertes hatte die Daten gesehen. Wie hatte er seinen Sohn nur so unterschätzen können? Während er im Tiefschlag lag, hatte Sajol den Kurs geändert. In einer flachen Kurve näherten sie sich wieder der Welt, von der Laertes regelrecht geflohen war.

Ihr Ziel hieß Uskugen.Dalius Laertes verstand. Also hatte Sajol seine ungeheure

magische Kraft genutzt, um die Wahrheit über sich selbst zu erfahren. So unglaublich es auch klang – es war genau so geschehen.

»Nun glaubst du mir also endlich. Ich sehe es in deinem Gesicht.« Sajol krampfte seine Hände um die Sessellehnen, bis seine Fingerknöchel vor Anstrengung weiß wurden.

»Ich habe unsere Welt damals vor der Katastrophe bewahrt, ja, das habe ich. Doch ich war es, der sie erst ausgelöst hat. In euren Augen muss ich ein Monster gewesen sein. Ihr mit eurer schwächlichen Magie, gebunden an das Gleichgewicht der beiden Monde. Was seid ihr doch

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nur für armselige Kreaturen.« Sajol hielt seine Überheblichkeit nun nicht mehr zurück. »Und als alles vorbei war, da seid ihr nervös geworden, nicht wahr? Was macht man nur mit so einem Überwesen?«

Laertes schüttelte energisch den Kopf.»Du weiß nicht wovon du sprichst, Sajol. In dir schlief eine

gewaltige Gefahr für eine ganze Zivilisation. Noch wusste die Bevölkerung davon nichts, also warst du sicher. Hätten die Uskugen die Wahrheit erfahren, wäre die Hetzjagd in Gang gekommen. Was man nicht versteht, das fürchtet man. Kannst du das nicht begreifen?«

»Ich verstehe nur, dass du mich von meiner Heimat weggebracht hast. Von meiner Dey und meiner Zwillingsschwester. Ja, ich habe alle Dateien studiert. Ich weiß, dass dir der Rat nahegelegt hat, das Problem Sajol Laertes zu beheben. Warum haben sie mich nicht sofort getötet? Vielleicht wäre das gnädiger gewesen.«

Jedes Wort traf Dalius wie ein Peitschenhieb.Jetzt erst erkannte er, was er seinem Sohn angetan hatte.»Und ich habe mich auch noch gefreut, als ich mit dir

diesen Flug antreten durfte. Ein Abenteuer mit meinem Vater … ich konnte ja nicht ahnen, dass dieses Abenteuer den Rest meines Lebens dauern sollte. Wie selbstlos du doch bist, Vater. Wahrscheinlich müsste ich dir auf Knien danken, dass du mich verschleppt hast. Und? Was hattest du am Ende mit mir vor? Wolltest du mich irgendwo aussetzen, an einem Ort, an dem ich für niemanden eine Gefahr werden konnte? Und du? Wärst du anschließend wieder zu Frau und Tochter zurückgekehrt?« Die schiere Ironie troff aus den Worten des jungen Mannes, und sie erreichte ihr Ziel voll und ganz.

Der Stachel saß tief in Sajols Seele, doch nun hatte er sich darangemacht, das Gift des Stachels auszuspucken – direkt vor die Füße des Vaters, den er für all seine Qualen verantwortlich machte.

»Ich hätte dich nie allein gelassen. Das weißt du genau, auch wenn du es zu verdrängen versuchst. Doch für Uskugen warst du eine Gefahr, ich musste einfach

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handeln.« Sajol wollte Dalius das Wort abschneiden, doch der war nun am Zug.

»Ich war auf der Suche nach einer Welt, auf der wir beide – nur du und ich – in Frieden leben konnten. Du bist heute eine noch viel größere Gefahr für andere, als du es damals warst.«

Sajol lachte höhnisch auf. »Ich habe meine Kräfte absolut unter Kontrolle.«

»Unter Kontrolle?« Dalius Laertes quälte sich aus dem Sitz nach oben, stand mit zittrigen Knien vor seinem Sohn. »Nichts hast du unter Kontrolle. Oder warum mussten die jungen Wesen auf unserem letzten Zwischenstopp sterben? Du hast dich zurückgesetzt gefühlt, hast deine Wut und Trauer auf sie projiziert. Sie mussten einen schlimmen Tod erleiden, weil du in all deiner Schwäche Rache an ihnen genommen hast!«

Dalius Laertes sackte in sich zusammen, als ganz plötzlich eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern zu liegen schien. Gleichzeitig fasste er sich mit beiden Händen an die Kehle. Luft … er konnte nicht mehr atmen. Kurz bevor er in eine Ohnmacht fiel, war alles schlagartig vorbei – sein Sohn hatte den Angriff auf ihn abgebrochen.

Mit Mühe rutschte Laertes zu seinem Sessel zurück und zog sich an ihm hoch. Völlig entkräftet sank er in die Polsterung zurück.

»Du lügst, Vater. Du hast mich immer schon belogen! Ihr hattet alle nur Angst vor mir, denn ich bin der Erste einer völlig neuen Rasse – ich bin der neue Uskuge! Und wenn Uskugen irgendwann einmal mit meinen Nachkommen überzogen ist, dann endet die Herrschaft der Schwächlinge endlich. Ich muss zurück, muss Kinder zeugen. Nur so kann es einst ein perfektes Volk der Uskugen geben.«

Laertes lauschte den Worten eines Wahnsinnigen. Die Wahrheit traf Dalius hart, doch er musste sie akzeptieren. Sein Sohn war geistesgestört. Mitleidig blickte Sajol auf die in sich zusammengesunkene Gestalt des Vaters.

»Wie unfertig du doch bist. Wie … falsch! Vielleicht wäre es besser gewesen, der Klon Semjon Tannos hätte dich

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ersetzt.Tanno war nahe an der Wahrheit. Er wusste, dass die

Philosophie des Ausgleichs zwischen Magie und Technik am Ende war. Die Magie verlor an Boden – und so hat er im Grunde doch nur das Richtige getan, als er seine Klone gezüchtet hat.«

Dalius Laertes blickte auf, direkt in die irren Augen seines eigenen Kindes. »Was weißt du über den Klon, den Tanno von mir angefertigt hatte? Weißt du mehr als ich? Sag es mir, Sajol.« Nach wie vor nagte die Ungewissheit an Dalius – wer war er wirklich?

Sajol zog die Augenbrauen hoch. »Du rätselst also noch immer? Kannst du nicht logisch denken? Ich war damals ein vierjähriges Kind, doch ich wusste die Antwort auf deine Frage schon sehr bald. Du bist du! Ihr habt euch einen guten Kampf geliefert, da bin ich sicher. Der Klon war natürlich ein ebenso guter Spieler wie du, natürlich war er das. Geworfen habt ihr zur gleichen Zeit. Ihr habt sicher auch beide getroffen, doch du wurdest nur verletzt, weil du zwar dein Können mit dem anderen geteilt hast – nicht aber deine Reflexe, die man wohl erst nach unzähligen Spielen in sich hat. Tannos Geschöpf starb, weil es bei all seiner Perfektion dennoch ein Baby war.«

Sajol setzte sich wieder hin. »Du hast ihn getötet – abgeschossen! Aber wie konntest du denn daran überhaupt noch zweifeln? Spürst du nicht die schwindende Magie in dir? Wärst du der Klon, hätte es dies nie geben dürfen, oder? Denn er war so perfekt, dass er seine Kräfte nicht an Raum und Zeit verloren hätte.«

Das war die Theorie, die sich auch Laertes immer und immer wieder selbst ausgemalt hatte. Doch aus Sajols Mund klang sie nicht mehr wie eine pure Theorie, sondern wie eine Tatsache. Er war Dalius Laertes. Seltsam, doch diese Erkenntnis brachte ihm keinerlei Erleichterung. Es spielte irgendwie ja auch keine Rolle mehr, denn inzwischen war er sicher, dass Sajol längst seinen Tod beschlossen hatte.

Lange Zeit schwiegen Vater und Sohn.Dann hatte Sajol sich entschieden.

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»Es wird Zeit, dass sich unsere Wege nun endgültig trennen, Vater.«

Das letzte Wort hatte wie eine Verhöhnung geklungen. Dalius Laertes gestand sich ein, dass eine tiefe Furcht in ihm wuchs. Die Furcht vor dem eigenen Tod – und die Furcht, dass sein Sohn es schaffen würde, Uskugen mit seinen Nachkommen zu überschwemmen. Mit realen Magie-Monstern, die ihre Kräfte nicht unter Kontrolle hatten.

Wesen, für die es keine natürlichen Grenzen mehr geben würde.

Wesen, vor denen das All in die Knie gehen würde …

Professor Zamorra prallte aus der Fantasie aus Fieber und Gift zurück in die eigene, die reale Welt. Der Grund war so simpel wie unlogisch – seine Zähne schlugen im wilden Stakkato aufeinander wie zwei Kastagnetten, die einer schnellen Melodie zu folgen versuchten.

Er fror hundsgemein!Ein wenig benommen noch, sah er sich um. Wo war

Nicole? Vor allem jedoch – wo war Dalius Laertes abgeblieben? Eben noch hatte er mit dem Uskugen gemeinsam die Auflösung des vielleicht letzten Rätsels des Vampirs erlebt, und nun war niemand mehr hier. Noch musste Laertes leben, denn Zamorra war ihm vor Augenblicken noch ungemein nahe gewesen.

Der Parapsychologe musste das Erlebte erst einmal für sich selbst begreifen. Also war es der echte Dalius Laertes, der dann irgendwann einmal hier auf der Erde von Sarkana zum Vampir gemacht worden war. Wie aber war er hierhergekommen? Was wurde aus Laertes' Sohn? Nein, da existierten noch ungelöste Rätsel genug.

Zamorra schob diese Gedanken beiseite, denn nun musste er den Uskugen erst einmal finden. Wenn er Stygias Gift bisher widerstanden hatte, so grenzte das an ein Wunder. Warum fror Zamorra nur so? Konnte das bedeuten, dass Laertes in diesem Moment niedrigen Temperaturen ausgesetzt war? Das war nur eine Idee, aber sie erwies sich

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Sekunden darauf als Tatsache.Zamorra war zum Fenster gegangen, hatte es geöffnet,

um dem Raum frische Luft zuzuführen. Der Blick nach unten vertrieb die letzten grauen Fetzen aus seinem Kopf.

Er konnte von hier aus den Pool sehen. Weiße Schwaden stiegen von der Wasseroberfläche in die Höhe – und sie führten Eiseskälte mit sich. Aber er sah noch mehr als diese wohl urplötzlich eingetretene Eiszeit in seinem Swimmingpool. Zamorra sah Nicole und Lady Patricia, die wie gebannt zur Mitte des Pools starrten … dorthin, wo der nackte Dalius Laertes trieb.

Zamorra schüttelte sich heftig. Das musste doch auch ein Fiebertraum sein, oder? Hier oben würde er das nicht aufklären können.

Also gab es für ihn nur ein Ziel – die Eiswasserpfütze, die bis vor wenigen Stunden noch sein Pool gewesen war …

Nicole Duval und Professor Zamorra erzählten sich die Kurzversionen der Ereignisse, die sie unabhängig voneinander erlebt hatten – die Französin hier im Château, Zamorra in der intensiven Fantasiephase des Vampirs.

Beide waren von den Ist-Zuständen verblüfft, die sie sich da anhören mussten. Nicole hatte zunächst so ihre Probleme, wieder in Laertes' Vergangenheitsträume einzusteigen, die Zamorra ihr da offenlegte. Laertes war also tatsächlich der echte Laertes, nicht sein eigener Klon. Doch was war mit Sajol geschehen? Was oder wer war dieser Arbiter?

Sie konnten es nur über Dalius erfahren … wenn der überleben sollte. Der Professor schüttelte nur den Kopf, als er Nicoles Theorie über die Vergiftung des Uskugen vernahm.

»Ich weiß ja nicht, Nicole. Wasser? Kaltes Wasser soll wie ein Gegenmittel wirken? Ein wenig an den Haaren herbeigezogen, finde ich zumindest.«

Seine Gefährtin sah ihn unsicher an. So richtig traute sie ihren eigenen Diagnosen in dieser Sache ja auch nicht.

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»Kein Gegenmittel – eher ein Auswaschmittel, verstehst du?« Zamorra verstand nicht. »Stygias Höllenbrühe sitzt in Laertes' Körper, zerstört ihn von dort aus. Weder Merlins Stern noch der Dhyarra konnten es attackieren. Also reagiert es auf keine magischen Waffen oder Hilfsmittel. Stygia ist nun wirklich alles andere als dumm. Sie weiß, was wir versuchen werden, wenn Laertes uns um Hilfe bittet, richtig?« Dieses Mal nickte Zamorra nur bejahend.

»Also wird sie auf ein Gift zurückgreifen, das vollkommen andere Eigenschaften besitzt. Eines ist sicher – ein Vampir hält nicht viel von großen Wasserflächen, von eisgekühlten wohl erst recht nicht.«

Der Parapsychologe ergriff das Wort. »Ich habe nie von einem Gift gehört, das sich aus dem Körper des Befallenen ausspülen lässt. Aber vielleicht liegst du ja nicht falsch. Wir werden …«

Lady Patricia stieß einen erstaunten Schrei aus. »Schaut hin. Ich glaube es ja nicht!«

Nicole Duval erging es da nicht viel anders, denn nun sah sie es auch.

Rund um den nackten Körper Laertes' hatte sich das Wasser verfärbt – grünlich verfärbt! Es klappte tatsächlich. Das Gift wurde durch das kalte Wasser aus dem Körper gewaschen, kam durch die Hautporen heraus. Minuten später sah Laertes aus, als wäre er von einer grünen Aureole umgeben.

Das Gift verdünnte sich zusehends im Wasser. Weitere Minuten vergingen, dann hatte es sich gänzlich im Pool verteilt. Nicole und Zamorra hatten einige Mühe, den nach wie vor regungslosen Uskugen wieder an den Beckenrand zu steuern. Lady Saris hielt sich dabei tunlichst im Hintergrund, gab ab und an ihre Kommentare ab.

Als Dalius Laertes endlich wieder auf der Liege im oben gelegenen Zimmer lag, verschwand Patricia unauffällig. Mit dem Rest wollte sie sicher nichts mehr zu tun haben. Da waren Zamorra und Nicole die Experten. Sie war das ganz sicher nicht …

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8. Wenn das Spiel endet …

Vier Tage lang blieb Dalius Laertes ohne Bewusstsein.Das Gift hatte seinen Körper unfreiwillig verlassen, und die

selbstheilerischen Kräfte des Uskugen waren groß.Das war es auch nicht, was Zamorra Sorgen bereitete.

Vielmehr befürchtete der Professor, dass Laertes keinen Weg aus seiner Vergangenheitsbewältigung fand.

Was sollte geschehen, wenn es diesen Weg für den Vampir nicht gab?

Dann hätte Stygia ihr Ziel dennoch erreicht, wenn auch nicht so, wie sie es geplant hatte. Das Ergebnis zählte … Zamorra war sicher, dass die Fürstin der Schwefelklüfte exakt so dachte. Gemeinsam mit Nicole hatte er alles versucht, um Dalius eine Tür zu öffnen, die er alleine vielleicht nicht finden konnte. Doch erneut versagten Magie und alle anderen Hilfsmittel ziemlich kläglich. Der Uskuge war in der Lage, sich gegen jede Beeinflussung von außen hervorragend zu sperren.

Manchmal schrie Laertes in diesen Tagen entsetzlich auf. Dann wieder lag er wie tot da, regte sich nicht mehr. Oder er drehte sich wie ein Kind auf die Seite, zog die Beine hoch bis zu seinem Kinn, wiegte sich wie ein Baby immer vor und zurück.

Allerdings gab es auch Phasen, in denen er schnarchte wie der Wolf, der sich soeben sieben Geißlein einverleibt hatte! Vampire konnten also schnarchen – Nicole registrierte es mit einem schrägen Grinsen.

Zufällig waren sowohl Nicole und Zamorra im Zimmer, als es am späten Abend des vierten Tages geschah:

Dalius Laertes schlug die Augen auf, setzte sich aufrecht hin. Zamorra und Nicole wechselten einen raschen Blick. Das hatte nun wirklich niemand so erwartet. Laertes' Brustkorb hob und senkte sich schnell, als müsse er sich erst wieder an die Bedingungen der Realität gewöhnen.

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»Wie lange hat es gedauert?«Zamorra verstand die Frage des Vampirs. »Alles in allem

sechs Tage. Verdammt, Laertes, wo warst du? Was hat dich noch so lange in deiner Traumwelt festgehalten?«

Der Uskuge blickte unter die Decke, die über ihm ausgebreitet war. »Bringt mir bitte meine Kleidung. Verzeiht, aber ich muss trinken. Doch ich möchte euch danach um eure Zeit bitten. Ich will reden … ich muss reden. Wartet bitte auf mich.«

Als der Vampir sich in die Dunkelheit aufgemacht hatte, blickten Zamorra und seine Gefährtin sich lange schweigend an. Beide fragten sich, was da auf sie zukommen mochte. Drei Stunden später erschien Laertes wieder im Château. Ein Hirsch hatte sein Blut opfern müssen, damit Dalius auch weiterhin leben konnte – so, wie ein Vampir Leben definierte.

»Bis zu einem bestimmten Punkt seid ihr im Bilde. Vielleicht erscheint euch genau dieser Punkt als ein Abschluss.«

Nicole nickte. »Dein Sohn hat dich hier auf der Erde ausgesetzt, ist seine Route alleine weitergeflogen. Irgendwie bist du dann auf der Erde an Sarkana geraten, der dich zum Vampir machte. Zumindest könnte ich mir das so denken.«

Laertes blickte zu Zamorra, der ihn nur schweigend ansah. »So könnte es gewesen sein, ja.« Laertes schien für Sekunden in sich selbst versunken.

»Wer aber ist dann der Arbiter? Wozu seine Spielchen? Die ganzen Realitäten, die er dich hat erleben lassen? Oder ist dieser Teil Ausgeburt deiner Fieberfantasie gewesen?« Zamorra holte den Vampir mit seinen Fragen in das Jetzt zurück.

Dalius schüttelte unendlich langsam den Kopf. »Nein, das sicher nicht. Ich könnte sagen, dass Nicole richtig liegt, aber ich will, dass ihr den ganzen Dalius Laertes kennt. Wer weiß, wozu das einmal gut sein kann. Nein, ich muss es anders sagen: Vielleicht wird euch die ganze Wahrheit einmal das Leben retten. Oder anderen … ich … hört mir

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einfach zu.« Er sah in gespannt wartende Gesichter. Laertes schloss die Augen …

Selbst wenn Dalius Laertes den Willen gehabt hätte sich aus dem Formsessel zu erheben und die Konfrontation mit seinem Sohn zu wagen – selbst dann hätte er es nicht gekonnt. Mit einer beiläufigen Geste hatte Sajol seinen Vater an den Platz gebannt, von dem aus der nun zusehen musste, wie sein Sohn Vorbereitungen traf.

Vorbereitungen … zu was?Dalius konnte den Hauptscreen gut einsehen. Der Pyet

bewegte sich in rasendem Flug auf ein Planetensystem zu. Die entsprechenden Daten rasten über die Nebenbildschirme.

Laertes konnte in den Auswertungen der Pyet-Sonden nichts Ungewöhnliches entdecken.

Die Sonne war ein gelber Zwerg, deren Durchmesser, Masse und Leuchtkraftklasse in etwa dem Gestirn Uskugens entsprachen.

Fünf Planeten umkreisten das Gestirn, das in den Sternenkarten mit Neo C – ffa bezeichnet wurde. Der vierte von ihnen wies durchaus akzeptable Parameter auf, die intelligentes Leben möglich machten. Bei genauerer Betrachtung wurde jedoch klar, dass ein zivilisatorisch funktionierendes Leben dort erst in ferner Zukunft eine Chance bekommen konnte. Jetzt konnte es dort nicht viel mehr geben als Insekten, Würmer, Fische in den großen Ozeanen. Keine Welt, die eine helfende Hand der Uskugen brauchte.

Keine Welt, die ein Sucher je angeflogen hätte.Dieser Pyet aber tat genau das. Sajol war ungemein

geschickt. Laertes bewunderte seinen Sohn beinahe, der mit fliegenden Fingern die Landedaten programmierte.

»Was willst du auf dieser Welt? Die Daten haben mir gezeigt, dass der Wasservorrat voll und ganz ausreichend ist; ebenso sieht es bei den Nahrungsmitteln aus. Du willst nach Uskugen zurück – die vorhandenen Mengen reichen

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bequem.«Dalius ahnte die Antwort, doch er wollte sie jetzt von Sajol

hören, nicht irgendwann, wenn der sich bequemen würde, seinen Vater zu informieren.

»Ich werde mehr als bequem auskommen, denn der Vorrat muss bald nur noch für eine Person reichen.« Sajol drehte den Sessel in die Richtung seines Vaters. Seine Augen blickten kalt auf Dalius. »Aber keine Sorge. Ich werde dich nicht töten, auch wenn ich das ganz leicht könnte.«

»Warum nicht? Warum der ganze Aufwand – ich vermute, du willst mich auf diesem Ödplaneten aussetzen. Das kostet dich Zeit, Energie für Landung und Start. Also – warum? Wenn du mich so hasst, dann verstehe ich deinen Entschluss nicht so wirklich.«

Sajol lächelte, und in dieser Sekunde sah er aus wie das Kind, das Dalius so geliebt hatte. Zwillinge … wie stolz er bei der Geburt von Sajol und Jicada gewesen war! Und nun …

»Warum? Wenn ich nach Uskugen zurückkehre, dann wird mich meine Dey fragen, wo du bist. Ich kann Mutter nicht in die Augen blicken, wenn ich dich getötet habe. Aber sie wird mir glauben, wenn ich ihr berichte, dass du eine Welt gefunden hast, auf der du leben willst. Vor unserem Abflug habt ihr euch nur noch gestritten. Wärst du auf Uskugen geblieben, hättet ihr euch längst getrennt. Jicada und ich haben das alles mitbekommen, auch wenn ihr euch noch so leise gestritten habt. Dey wird nicht besonders betrübt sein, dich nicht zu sehen. Denn sie hat dann ja ihren Sohn wieder bei sich.«

Sajol wandte sich wieder den Anzeigen zu. Der Pyet befand sich im planetennahen Anflug.

»Dennoch solltest du nicht versuchen, mich zu überwältigen. Es würde dir nicht gelingen. Und … die Versuchung wäre dann sehr groß, mich deiner endgültig zu entledigen. Verhalte dich also ruhig, Dalius.«

Er nannte ihn bei seinem Vornamen – das Wort Vater brachte er wohl nicht mehr über die Lippen.

Die Landeautomatik des Kleinraumers begann ihre Arbeit.

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In wenigen Augenblicken würde die Eintauchphase in die Atmosphäre eingeleitet. Laertes zermarterte sich das Gehirn. Einmal auf diesem Steinbrocken abgesetzt, war er verloren. Sajol hatte seine Skrupel, Dalius zu töten, begründet. Entsetzt stellte der Ratsherr fest, dass ihm im umgekehrten Fall wahrscheinlich nichts anderes übrig geblieben wäre, als den eigenen Sohn zu töten.

Sajol durfte Uskugen nicht erreichen. Die Folgen konnten, nein, sie mussten fürchterlich sein! Das alles war jedoch reine Theorie, denn Dalius sah keine Chance, das Machtverhältnis zwischen ihm und Sajol noch einmal umzukehren.

Laertes entsann sich der Dinge, die man einem Sucher als Mahnung mit auf den Weg gab, der sich einem dieser winzigen Raumschiffe anvertraute. Die Technik der Pyets war narrensicher, absolut ausgereift und unempfindlich gegen äußere Einflüsse. Fehler, die zu dann jedoch meist tödlichen Unfällen geführt hatten, hatten sich im Nachhinein im Grunde immer als Pilotenfehler herausgestellt.

Die Technik dieser Schiffe war wirklich nahezu fehlerfrei … ein unerfahrener Pilot war das ganz sicher nicht. Laertes spürte die kärglichen Reste seines Magiepotentials. Da war nicht mehr viel übrig, doch vielleicht konnte es ausreichen, um den so selbstsicheren Sajol zu Fehlern zu bewegen? Es war nur ein eher unausgereifter Plan, der sich in Dalius' Kopf an die vordere Position drängte.

Er hatte nichts mehr zu verlieren – Uskugen hingegen alles! Dalius Laertes handelte.

Maschinenausfall! Maschinenausfall!Abbruch der Landephase nicht möglich!Bremsenergie – ausgefallen!Verzögerung – negativ!Lebensgefahr! Lebensgefahr!

Die mechanische Stimme schmerzte Laertes in den Ohren, doch zumindest war er darauf vorbereitet gewesen, dass sie erklang. Sajol hingegen nicht – sein Körper hatte sich

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versteift, schien regelrecht erstarrt zu sein. Immer und immer wieder brüllte der Computer die gleichen Worte in die enge Kabine hinein.

Dalius Laertes hatte mit einer panischen Reaktion seines noch so jungen Sohnes gerechnet, wenn er mittels seiner Magie die natürlich falschen Katastrophenmeldungen aus dem Sprachmodul des Rechners zwang. Sajol mochte ein übermächtiger Magier sein, doch irgendwo in ihm schlummerte das Kind – und Kinder reagierten auf unerwartete Ereignisse oft mit Entsetzen … und sie begingen Fehler.

Sajol zitterte am ganzen Körper. Sein Blick hing am Hauptbildschirm, der vollkommen schwarz vor ihm lag. Hätte er sich auch nur für einen Augenblick zu seinem Vater umgedreht, wäre ihm sofort klar geworden, auf welchen Taschenspielertrick er hier hereinfiel. Laertes' Gesicht war schweißbedeckt. Eine solche Manipulation hätte ihm auf Uskugen nur ein Lächeln abgefordert, hier jedoch brachte es ihn beinahe um. Die kärglichen Reste seiner Magie wollten ihm kaum noch gehorchen, seinem Willen folgen. Doch er hielt durch.

Maschinenausfall! Maschinenausfall!Der Aufprall steht unmittelbar bevor.Lebensgefahr! Lebensgefahr!

Dann geschah das, was Dalius erhofft hatte, auch wenn die Auswirkungen ihm mit ziemlicher Sicherheit das Leben kosten würden: Sajol verlor die Kontrolle über sich. Wie im Wahn begann er an der Konsole zu manipulieren. Sinnlos nahm er Schaltungen vor, deaktivierte Aggregate, schlug schließlich mit den flachen Händen auf die Anlage ein. Todesangst überfiel ihn – und all seine Überlegenheit, seine Sicherheit, sie waren restlos verschwunden.

Laertes hörte wie durch eine Wattewand hindurch, wie sein Sohn wie ein Tier zu schreien begann. Dalius schwanden die Sinne, und nur mit aller Kraft konnte er sich dagegen wehren.

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»Ich will nicht sterben – ich werde nicht sterben! Das geht nicht … das darf nicht geschehen! Ich bin der neue Uskuge, ich muss leben und herrschen!« Das Geschrei ging in ein Schluchzen über.

Als sich erneut die Computerstimme meldete, da war die Warnung, die sie anbrachte, echt – nicht von ihm manipuliert – und sie war das, worauf Dalius gehofft hatte.

Warnung!Pilot hat die Landeautomatik deaktiviert!Manuelle Landung notwendig –übernehmen Sie bitte die Landekontrollen!Warnung!

Sekunden herrschte vollkommene Stille, dann drehte sich Sajol wie in Zeitlupe zu seinem Vater um.

»Du … du hast mich dazu gebracht. Das warst alles du. Du spielst mit mir – ich hätte dich sofort töten sollen. Ich …«

Weiter kam er nicht, denn hinter ihm flammte der Hauptschirm wieder auf. Dalius' Kontrolle war beendet. Erschöpft ließ er sich nach hinten fallen. Es war nur das Klammern an den allerletzten Strohhalm gewesen, doch so unglaublich es ihm auch vorkam: Seine Verzweiflungstat hatte Früchte getragen.

Ein einziger Blick auf den Screen bewies es ihm, denn dort türmte sich ein mächtiges Felsmassiv auf, das bereits mehr als ein Drittel der Schirmfläche einnahm. Der Pyet raste führerlos auf die Berge zu! Wenige Sekunden noch, dann würden sie daran zerschellen, in unzählige Fetzen gerissen werden. Der nach wie vor eingeschaltete Schutzschirm würde das auch nicht mehr verhindern können – sie würden ungebremst auf das unverrückbare Hindernis treffen.

Der Todesmoment kam immer näher.Dalius Laertes wollte die Augen schließen. Es war nur so

gegangen – nur so! Es kam ihm nicht in den Sinn, mit seinem Schicksal zu hadern. Es war richtig, wie es war. Es

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rettete seine Heimatwelt vor dem Wahnsinn seines Sohnes. Auf Uskugen würde nie jemand erfahren, was sich an Bord des Scoutschiffes abgespielt hatte. Dalius bedauerte auch das nicht. Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm.

Und war hellwach!Er konnte nicht glauben, was er sah. Der Pyet hatte seine

Schnauze steil nach oben gerissen. Noch immer kamen die Felsen schnell näher, doch nun befanden sie sich in einem geradewegs in den Himmel führenden Steilflug!

Schon konnte Dalius die obere Kante des Massivs erkennen. Er blickte zu Sajol. Der Junge saß mit geschlossenen Augen da, schien kaum bei sich zu sein.

Magie! Er ist so unglaublich stark … es ist nur seine Magie, die den Pyet in die Höhe schiebt!

Diese Leistung hätte niemand auf Uskugen so vollbringen können. Laertes erinnerte sich an die bangen Momente, in denen einer der beiden Monde Uskugen bedroht hatte. Natürlich war es auch da schon Sajols Magie gewesen, die alles in das rechte Lot gebracht hatte. Der Rat hatte Laertes nicht umsonst ersucht, seinen Sohn von Uskugen fernzuhalten.

Und nun war er noch um so vieles stärker geworden. Alles war umsonst gewesen. Dalius' verzweifelter Versuch würde fehlschlagen.

»Nein!« Der entschlossene Schrei war von ihm gekommen. Verzweifelt bäumte er sich in seinem Sitz auf … und der Schwung riss ihn unkontrolliert nach vorne. Er war frei! Der Bann, mit dem Sajol seinen Vater bewegungsunfähig gemacht hatte, existierte mit einem Mal nicht mehr. Der Junge hatte seine komplette Konzentration auf den Pyet gerichtet. Dalius hatte er dabei wohl völlig vergessen.

Seine unverhoffte Bewegungsfreiheit ließ Laertes ungeschickt gegen die Lehne von Sajols Sessel prallen. Der Magier schien davon nicht beeindruckt. Anscheinend war er so tief in Trance, dass er die Ereignisse um ihn nicht bewusst mitbekam. Laertes taumelte wieder einige wenige Schritte zurück. Sein Blick blieb am Bildschirm hängen,

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denn in dieser Sekunde schoss das kleine Raumschiff über die Oberkante der Felswand hinaus, wurde langsamer und kippte in die horizontale Lage zurück.

Dalius Laertes spürte den schweren Gegenstand in seiner linken Hand.

Es war die Cesta, das Wurfgeflecht, aus dem heraus der Ventur-Spieler seine Kugel schleuderte – mit ungeheurer Wucht und – je nach Können – mit erstaunlicher Präzision. Wie von selbst rutschte Dalius' Hand in den Griff der Cesta hinein, die nun wie eine natürliche Verlängerung seines Armes wirkte. Sie war schwer … schwer und aus unzerstörbarem Material gefertigt.

Laertes wusste nicht einmal genau, warum er das Sportgerät mit an Bord genommen hatte. Sentimentalität? Sicher, denn etwas anderes konnte es kaum gewesen sein. Sicher war es nicht die Hoffnung gewesen, auf irgendeiner Welt Wesen zu treffen, die ein ähnliches Spiel kannten und liebten.

All das schoss ihm in diesem einen Moment durch den Kopf, dem Augenblick, da sein Sohn dabei war, den Pyet durch seine erstaunlichen Fähigkeiten sicher auf dem Felsplateau zu landen. Dann schaltete sich Laertes' Willen aus – sein Instinkt übernahm die Kontrolle. Er schrie wie ein Irrer, als die Cesta immer und immer wieder den Hinterkopf Sajols traf.

Ich töte mein eigenes Kind!Noch ein Schlag … noch einer … bis Sajol kraftlos wie eine

Lumpenpuppe im Sessel zusammenbrach. Sein Gesicht schlug schwer auf das Instrumentenpult. Dann begann die Maschine des Pyets aufzuheulen. Ein kurzer Blick auf den Screen zeigte Dalius, dass es gleich vorbei sein würde. Der Pyet stürzte wie ein Stein dem Felsplateau entgegen.

Der Kleinraumer fiel in einem steilen Winkel nach unten. Ein brutal harter Schlag ließ den Pyet erzittern, als er den Boden berührte, sich wieder um einige Meter in die Höhe schnellte wie ein Gummiball, der seine Restenergie noch zu verbrauchen gedachte. Sechsmal erfolgte ein Aufschlag, dann ein Rutschen, ein Schleudern, das von infernalischem

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Lärm dramatisch untermalt wurde.Dalius Laertes wurde wie ein Spielball durch die Kabine

geschleudert. Immer wieder versuchte er, irgendwo Halt zu bekommen – vergeblich. Ein mörderischer Schlag fuhr in seinen Rücken, als er gegen die Wandung gepresst wurde.

Dann riss die Lärmkaskade plötzlich jäh ab. Absolute Stille herrschte um Laertes, die nur von seinem eigenen hektischen Atmen gestört wurde. Der allerletzte Ton, den er vernommen hatte, der war nicht von dem havarierenden Pyet gekommen. Nein … dieser so hässliche Klang war rief in ihm entstanden – in Dalius' Körper.

Der Uskuge machte den zaghaften Versuch, sich zu bewegen, auch wenn er ganz genau wusste, mit welchem Ergebnis er dabei zu rechnen hatte. Er spürte nicht einmal Schmerzen – er spürte nichts!

Es war ja im Grunde nur die Bestätigung dessen, was er geahnt hatte, und doch traf ihn der Schock hart.

Der hässliche Klang … er hatte ein Ereignis begleitet:Dalius Laertes' Rückgrat war gebrochen. Er würde sich

sicherlich nie wieder auch nur um einen Deut bewegen können. Hier würde er liegen, genau an dieser Stelle, bis ihn der Tod bei der Hand nahm …

Laertes schloss die Augen. Der Weg bis zu diesem letzten Augenblick war noch lang.

Wie lang? Das würde sich zeigen. Einen Traum lang? Vielleicht zwei? Oder würden es unzählige werden?

Der letzte würde ihn sicher wieder hierher führen – zu der stählernen Gruft, in der Vater und Sohn auf die letzte, die allerletzte Erlösung hofften.

Die Erschöpfung besiegte seine Gedanken. Dalius Laertes schlief ein.

Vielleicht war es Zufall, doch in genau dieser Sekunde öffnete jemand anderes mit einem Ruck seine Augen – Blut verschleierte seinen Blick, Blut, das aus der großen Wunde an seinem Hinterkopf floss.

Er bewegte sich nicht, doch er sah!Winzige Dinge … fremde Dinge … Dinge, die er sich nicht

einmal hatte träumen lassen.

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Und sein Verstand begann eine neue Welt zu formen.

Neob Ciffa.Ciffa …Neob Dalius Ciffa?Neob Laertes?

Nein, das alles war er nicht – und war es doch gewesen. Gewesen? Er war! Es gab ihn, er existierte doch. Links und rechts von ihm reckten sie die beiden Silbersäulen in die Höhe, die sich als Tor erwiesen hatten. Tor zu welcher Welt? Gehörte sie zum Spiel … war sie die zukünftige Realität, eine vergangene?

Als welche Person mochte er sie betreten, diese Spieletappe, dieses Level in Arbiters Reigen? Wem würde er hier begegnen? Sein Blick ging nach hinten, wo die Variante seiner Existenz ruhte, die ihn zu einem Piloten gemacht hatte. Auf dem Rücken des wundervollen Vogels war er senkrecht in den Himmel gestiegen, immer knapp am Fels entlang. Vogel? Oder doch Raumschiff?

Er wandte den Blick vom Vergangenen ab, denn es würde ihm sicher nicht ein zweites Mal begegnen.

Neob?Dalius? Ja … sein Name lautete Dalius. Zumindest hier und

jetzt. Zögerlich wagte er einige Schritte nach vorne. Die Felsenebene lag weit und kahl vor ihm. Wenn das hier das Ziel von Arbiters Spiel war, dann war es auch der Ausgangspunkt. Start und Ziel – beides war eins.

Dalius Laertes entdeckte den havarierten Pyet, der nahe dem Abgrund lag, der die Ebene an ihrem hinteren Ende begrenzte. Der Uskuge setzte einen Fuß vor den anderen, doch er kam nicht einen Schritt weit nach vorne. Er lief auf der Stelle. Was geschah nun? Wieder ein neues Spiel?

… … …»Du kannst dort nicht hin, denn du bist ja bereits da«

… … …

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Die hässliche Fratze des Arbiters materialisierte nur wenige Schritte vor Laertes, der seine Gehversuche aufgegeben hatte.

»Was soll das alles?« Laertes hatte jede Furcht vor dieser Kreatur abgelegt. »Ich will jetzt eine Erklärung von dir. Du spielst mit fühlenden, denkenden Wesen. Du tötest in diesem perversen Spiel, ergötzt dich am Leid anderer. Was bist du? Wer bist du? Beende diese Abnormität, die du als Spiel bezeichnest.«

Die Fratze schwebte näher, und nun konnte Laertes zum ersten Mal sehen, dass hinter dem monströsen Schädel eine Art von Schweif existierte – wie bei einer Schlange oder einem Wurm.

… … …»Ich töte nicht – sie töten sich gegenseitig.

Ich muss es ihnen nicht befehlen. Sie sind so dumm … wollen mir nahe sein. Mir! Dabei können sie fühlen, lieben – alles das ist mir verwehrt.«

… … …

Dalius Laertes lachte ironisch auf. »Was willst du? Mitleid? Ich habe gesehen, wie eine junge Frau zwischen zwei Riesenvögeln zerrissen wurde – und wie ungezählte Kinder, Frauen und Männer in einem sinnlosen Kampf abgeschlachtet wurden … nein, du hast sie nicht selbst getötet, aber du hast dies alles initiiert. Du hättest es stoppen können! Kein Mitleid für dich, Monster!«

Laertes dachte an Rana, an Blauu, an seine Mitstreiter in der Felsenfestung.

… … …»Das alles ist nun vorbei.

Das Spiel ist beendet … du hast das Ziel erreicht.Ja, du bist Sieger in diesem Kampf, doch du wirst

alles verlieren.«… … …

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»Wenn ich der Sieger bin, dann gib mir endlich den Weg frei. Ich muss dorthin, muss zu dem Raumer … zu meinem Sohn.« Laertes zögerte bei den letzten Worten, denn ihm wurde klar, dass er dort in dem Pyet nicht nur Sajol finden würde, sondern auch sich selbst; schwer verletzt, vielleicht sogar mehr als das.

Er bekam keine Antwort, doch ein Versuch bewies ihm, dass der Arbiter den Bann gelöst hatte – Dalius verließ den Ort zwischen den Säulen. Die Fratze war verschwunden, ließ sich nirgendwo blicken. Vorsichtig näherte Laertes sich dem Pyet.

Langsam umkreiste er das Schiff. Es war wirklich kaum zu glauben, doch der Scout-Raumer war nahezu unbeschädigt. Als würde sich ein lange verschlossenes Buch vor ihm auftun, so kamen dem Uskugen die Erinnerungen an technische Details wieder in den Sinn. Der Aufprall – dieses mehrfache Aufschlagen wie von einem flachen Kieselstein, den man über eine Wasserfläche hüpfen ließ – war in einer Sicherheitsvorkehrung dieser Schiffsreihe begründet.

Bei einem Absturz zog die Elektronik alle irgendwie entbehrlichen Energien ab, bündelte sie in einem Prallfeld, das sich um die Aufprallseite des Pyets legte. Sinn dieser Notfallschaltung war der, dass niemand wissen konnte, unter welchen Umständen die Sucher auf einer fremden Welt landen konnten. Selbst eine einigermaßen sichere Wasserlandung war durch dieses Feld gewährleistet.

Dalius Laertes war sich natürlich nicht zu einhundert Prozent sicher, doch es schien ihm, als könnte der Kleinraumer wieder zurück ins All gebracht werden. Letztendlich hing das vom Zustand des Antriebs ab, doch es war unwahrscheinlich, dass der stark gelitten hatte.

Gelitten hatten die beiden Insassen des Pyets, denn im Moment des Aufpralls waren beide nicht gesichert gewesen. Laertes wusste, dass er nun in das Innere des Schiffes gelangen musste. Er hatte nur keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen konnte. Wenn man es darauf anlegte, fremde Welten zu erforschen, dann war es nicht unbedingt ratsam, sein Raumschiff von außen leicht zugänglich zu

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gestalten. Niemand konnte doch garantieren, dass fremde Lebensformen auch friedliche Lebensformen waren.

… … …»Du musst es dir nur vorstellen, dann wirst du es können.«

… … …

Laertes zuckte zurück, denn direkt vor ihm war die Fratze des Arbiters erschienen.

»Was! Was soll ich mir vorstellen. Hör endlich auf, in Rätseln zu sprechen!«

Die Antwort klang in Dalius' Ohren zu simpel, als dass er an ihren Wahrheitsgehalt glauben konnte.

… … …»Stelle dir vor, in dem Schiff zu sein. Ganz einfach so …«

… … …

Der Arbiter drang durch die Schiffswandung, als wäre sie nur ein Hologramm. Instinktiv griff Laertes nach der Kreatur – und sah, wie seine Arme in die massive Wandung eindrangen, einfach so … wie der Arbiter es gesagt hatte. Der Uskuge holte tief Luft, dann machte er einige Schritte nach vorne.

Es war totenstill in der winzigen Zentrale des Pyets. Bin ich ein Geist, der durch feste Materie gehen kann? Vielleicht war das hier ja auch alles wieder eine vom Arbiter geschaffene Spiel-Realität. Laertes konnte sich mit diesen Gedanken nicht mehr beschäftigen, denn das Erste, das er hier sah, war ein lebloser Körper.

Sein Körper.

… … …»Halt! Versuche nicht, ihn zu berühren!

Du würdest sonst wieder eins mit ihm werden.

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Er stirbt – du lebst. Dafür habe ich gesorgt.«… … …

Laertes hielt inne.Entsetzt sah er auf den leblosen Körper, seinen Körper.

Seltsam verrenkt lag er dort am Boden. Noch lebte er. Seine Atmung war flach und mit dem bloßen Auge kaum erkennbar.

Laertes war kein Arzt, doch das musste er in diesem Fall auch nicht sein. So, wie seine sterbliche Hülle dort ruhte, gab es keinen Zweifel an der vorhandenen Art der Verletzung. Das Rückgrat war gebrochen. Wäre das auf Uskugen geschehen, so hätte es durchaus Hoffnung gegeben. Doch hier …

Sein Blick wanderte zu Sajol.Der Junge saß in dem Pilotensitz, sein Oberkörper war

nach vorne gesunken, sodass sein Gesicht direkt auf dem ovalen Hauptbildschirm ruhte. Laertes näherte sich ihm vorsichtig, doch Sajol reagierte in keiner Weise. Die Augen des jungen Magiers waren weit geöffnet. Was mochte er sehen? Der Bildschirm war ausgefallen, zeigte eine milchig weiße Färbung. Und doch … Sajol schien zu sehen, denn seine Pupillen waren in ständiger Bewegung. Es dauerte einige Augenblicke, ehe Laertes es sah:

Auf der Oberfläche des Screens waren unzählige winzige schwarze Pünktchen zu sehen … und sie bewegten sich. Dalius verstand nicht – was war das? Erst als er sich tief hinunterbeugte, bekam er Klarheit. Winzige Lebewesen, Milben gleichend, huschten scheinbar unkontrolliert über die Fläche. Das war nicht möglich, denn der Pyet war absolut dicht; nicht einmal die winzigsten aller Lebewesen konnten in sein Inneres gelangen. Es sei denn …

Laertes blickte zu dem Analysebildschirm, über den ständig die Systemdaten des Zentralrechners des Schiffes liefen. Was er las, erklärte vieles:

Absturz – 7:002 Schiffszeit.Beide an Bord befindlichen Piloten nicht mehr

handlungsfähig.

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Rechner übernimmt – Nofallcode: 1-1-Lebenssicherung.Notruf absetzen.Außenbedingungen prüfen. Medizinisches Eingreifen

prüfen. … … … … … … …

Schiffszeit-7:006 Analyse:Notruf – negativ. Schwere Beschädigung in der

Sendeanlage.Medizinisches Eingreifen – negativ.Erster Pilot – Lebenszeichen nur schwach erkennbar.

Exitus – 95% wahrscheinlich.Zweiter Pilot – Lebenszeichen unter Normal – Exitus – 68%

wahrscheinlich.Außenbedingungen geprüft:Temperatur, Luftgemisch – positiv.Lebenserhaltungsanlage wird auf Minimum geschaltet.Luftzufuhr – Außenmodus – einschalten.Gesamtanalyse:Nicht möglich! Schalte in Ruhemodus. … … … … … … …

Die Zeilen wiederholten sich ständig, liefen in einer Schleife ab.

Laertes' Blick fiel auf die Anzeige der Standard-Uskugenzeit, die mit der Schiffszeit identisch war.

9:103 Nur etwas mehr als zwei Einheiten waren seit dem Absturz vergangen. Zwei lächerliche Einheiten! Und ausgerechnet der Sender musste defekt sein – die Analyse des Rechners klang hart, doch sie war korrekt. Im Grunde sagte sie nichts anderes, als dass die Situation hoffnungslos war.

Seit er sich hier an Bord befand, fühlte Laertes seine Kräfte schwinden. Er blickte auf seinen Körper. Exitus – 95% … keine Frage, wer damit gemeint war.

Dalius wandte sich zum Arbiter, der die ganze Zeit über stumm geblieben war, dessen Blick sich in keinem

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Augenblick von Laertes entfernt hatte.»Und nun? Ich habe das Spiel gewonnen, sagst du. Ist das

hier mein Gewinn? Die Gewissheit, dass ich hilflos zusehen muss, wie mein Leben langsam endet? Und noch schlimmer – das meines Sohnes gleich mit! Sag mir, wo der Sinn von all dem ist. Ich …«

Laertes wich zurück, erneut las er die Ist-Analyse des Rechners.

Um Energie zu sparen, hatte die Elektronik die Außenluft in den Pyet gelassen. Das war ein ganz normaler Vorgang, wenn die Umwelt des jeweiligen Planeten dies zuließ. Natürlich blieben hochempfindliche Filter vorgeschaltet, die alles, was auch nur im Entferntesten für den Pilot schädlich sein könnte, fernhielten.

Und dennoch – diese winzigen Lebewesen, die auf dem Bildschirm in ständiger Bewegung waren, hatten den Weg hierher gefunden. Wenn Laertes genau hinsah, dann schienen sie sich gar nicht einmal so unkontrolliert zu bewegen. Sie bildeten Gruppen, die sich voneinander absetzten, dann plötzlich wieder in eine andere Region des Screens wanderten. Es sah tatsächlich so aus, als würden diese Blöcke sich möglichst aus dem Weg gehen. Wenn sie jedoch dennoch aufeinandertrafen, dann entstand eine große Unruhe. Beinahe so, als fochten sie dann eine Schlacht aus …

Laertes atmete heftig ein. Die Erkenntnis traf ihn so hart, schien so unsinnig zu sein, dass er sich selbst einen Narren schalt. Das konnte so nicht stimmen. Allein der verstrichene Zeitraum war doch viel zu kurz … doch das Ergebnis blieb immer gleich. Ganz langsam drehte sich Dalius Laertes zu dem Arbiter. Laertes' rechter Arm wies auf den ovalen Bildschirm, auf dem die Kleinstlebewesen stets einen Abstand zu Sajols Kopf einhielten … beinahe ehrfurchtsvoll.

»Das Spiel ist nicht beendet, nicht wahr? Dort … dort leben, lieben, sterben und töten sie weiter. Habe ich recht? Sie sind deine Kreaturen. Sie haben sich in dieses Schiff verirrt, wahrscheinlich auf Suche nach Nahrung. Du, du hast sie zu deinen Spielfiguren gemacht. Hast ihnen eine

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Geschichte, eine große Vergangenheit gegeben – hast sie geformt wie Kunstwesen. Klonen ist dagegen nichts – du hast ihr simples Leben genommen, das nur auf Fressen und Überleben ausgelegt war … hast sie zu denkenden, fühlenden Wesen erhoben. Du hast Gott gespielt!«

Der Arbiter schien bei jedem Wort von Laertes zu schrumpfen. Ruckartig wich er immer weiter von dem Uskugen zurück. Und Laertes setzte schnell nach.

»Rana, Blauu, Bilaal … Biest – all die Wesen, denen ich begegnet bin – sie waren nur die Püppchen in deiner perversen Fantasie. Du hast deine eigene Schrecklichkeit zum Leben erweckt.«

Der Arbiter verzog weinerlich die entstellten Züge seines Gesichtes. Wieder wich er nach hinten, war beinahe schon an der Schiffswandung angelangt.

»Ganze zwei lächerlich kurze Einheiten hast du gebraucht, um eine Welt nach deinem Gusto zu erschaffen. Und ich war dein einziger wirklicher Gegenpart, denn ich bin real. Diese Einzeller dort mussten für mich leiden, wurden gequält, weil du mich besiegen wolltest. Nur mich!«

Laertes riss seinen Arm nach vorne, deutete nun auf den Arbiter.

»Wage es nicht zu fliehen! Ich befehle dir hierzubleiben, dir alles anzuhören, was ich dir zu sagen habe. Und nun beende diese Farce endgültig. Deine Mutter, deine Dey, hat dich nicht dazu geboren, um Gott zu spielen. Du bist nach wie vor ihr Kind – und das meine, Sajol. Wache endlich auf aus deinem grässlichen Traum!«

Der Schmerz war unerträglich.Das gebrochene Rückgrat sandte ständig Schmerzspeere

aus, die in Dalius' Gehirn explodierten. Er schrie. Irgendwann fehlte ihm die Kraft, um seine Qual aus sich herauszubrüllen. Laertes wünschte sich, er hätte den Arbiter nicht dazu gebracht, seine Illusionen zu beenden. Dennoch wusste er genau, dass der Tod auch dann sein dunkles Tuch über ihn gedeckt hätte. Die Schmerzen waren

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ja nur sein Abgesang für ein großes Leben. Und das war es wirklich gewesen. Laertes dachte an seine Studienjahre, an seine sportlichen Erfolge – an die Ernennung zum Ratsherrn. In erster Linie jedoch an Mojica und seine Tochter Jicada. Er hätte die beiden Frauen so gerne noch ein einziges Mal gesehen, in ihre strahlenden Augen geblickt.

Es war ihm nicht vergönnt. Das Ende kam in Einsamkeit zu ihm.

Irgendwo fern von ihm, da schien ein tiefer Atem im Raum zu schweben. Also war er doch noch nicht allein.

Sajol schien aus seinem Traumwahn erwacht zu sein. Laertes erschrak, als er die lautlose Stimme seines Sohnes direkt im Kopf empfing. Sajol benötigte seine Stimme nicht, wenn er kommunizieren wollte. Er war tatsächlich der neue Uskuge.

Dennoch – Laertes hoffte inständig, dass sein Sohn mit ihm sterben musste. Er durfte nicht leben. Sajols Macht war zu groß, sie musste alles und jeden verbrennen, ganz gleich, was sich ihm auch in den Weg stellte.

»In manchen Momenten habe ich wirklich gehofft, dass du mich besiegen kannst, Vater.«

Laertes vernahm die Worte, und in seinem Kopf entstand das Bild des vierjährigen Sajols, den er so geliebt hatte. Laertes antwortete seinem Kind auf der gleichen Ebene. Wenn Sajol sich ihm telepathisch mitteilen konnte, dann würde er auch die Gedanken seines Vaters empfangen können.

»Du wirst leben, ich werde sterben – von welchem Sieg redest du also. Ich wollte das All von einer Gefahr befreien, der es einfach nicht gewachsen ist. Ich habe versagt, also bin ich der Verlierer dieses Spieles.«

»Ich habe in dem Wahn gelebt, dass ich völlig entstellt bin.« Sajol ging auf die Gedanken seines Vaters nicht ein. »Ich fühlte, wie du immer wieder auf meinen Hinterkopf geschlagen hast. Dann floss das Blut in meine Augen … ich dachte, es würde mein Gesicht zerfressen.«

Das war also der Grund, warum der Arbiter in dieser

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abschreckenden Gestalt erschienen war. Eine Erkenntnis, die Laertes jetzt nicht mehr weiterbringen konnte. Sajol sprach wie zu sich selbst.

»Jetzt ist mir alles ganz klar. Bald schon werde ich diese öde Welt verlassen. Uskugen wartet auf mich. Uskugen … und dann noch viel, viel mehr!«

Die triumphierenden Gedanken Sajols bewiesen Dalius seine tatsächliche Niederlage. Niemand konnte den jungen Magier, dessen Macht ja noch nicht einmal ausgereift war, an seinem Vorhaben hindern. Niemand – er am wenigsten. Laertes' matte Atemzüge flachten immer weiter ab.

»Um eine Sache habe ich dich immer beneidet, Vater. Auf Uskugen, ja – selbst hier in meinem Spiel, warst es immer du, der von den anderen geliebt wurde – es mag kitschig klingen, aber du kannst Herzen gewinnen. Ich glaube, diese Fähigkeit hast du mir nicht vererbt.«

»Dann hol sie dir doch. Das dürfte für den neuen Uskugen kaum ein Problem sein. Oder bist du doch noch lange nicht so weit, wie du es von dir selbst behauptest?« Dalius Laertes hatte seinen Gedanken einen ironischen Unterton verliehen. Warum auch nicht, denn sollte er jetzt noch die Wut seines Sohnes fürchten? Nein, in ihm war nur die eine Furcht, dass Sajol zur Bedrohung der gesamten Galaxie werden konnte.

Sajol war ärgerlich, denn die Kritik, den Zweifel eines Sterbenden mochte er sich nicht gefallen lassen. »Ein guter Gedanke von dir, Vater. Vielleicht können mir deine sentimentalen Emotionen einmal sehr hilfreich sein. Zudem – du brauchst sie ja sicher jetzt nicht mehr … nie mehr!«

Dalius spürte das Tasten, das Suchen, das nach seinem Bewusstsein griff. Sajol griff brutal und tief in die Seele seines Vaters ein.

»Du dummer Junge. Du musst ja noch so vieles lernen. Du magst mächtig sein, magst deine Magie perfektionieren, doch es gibt Dinge, die schaffst du nicht einmal mit ihr.« Sajol achtete nicht auf die Gedanken des Vaters. »Aber nun habe ich dich genau dort, wo ich dich hinhaben wollte.« Sajol stutzte bei den letzten Worten, doch für eine Reaktion

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war es bereits zu spät.Dalius Laertes' Bewusstsein packte zu – griff mit aller Kraft

an!Es war exakt der Moment, in dem Dalius' Körper den

letzten Lebensrest aushauchte. Es gab keine Beschränkung mehr für Verstand und Seele, der Kerker des Körperlichen existierte nicht mehr. Erst jetzt begriff Laertes die Möglichkeiten seiner selbst. Niemals hätte er vermutet, dass auch er bereits eine neue Stufe dessen in sich trug, was die Zivilisation der Uskugen ausmachte. Sajol war sein Sohn … und wie viel hatte er von seinem Vater in sich!

Auch Sajol begriff, doch dieses Verstehen kam den Bruchteil eines Herzschlages zu spät. Dalius hatte ihn überrumpelt. Der geistige Kampf war heftig. Sajol taumelte aus seinem Sitz hoch. Mit krampfenden Schritten näherte er sich dem Leichnam seines Vater, über dem er zusammenbrach.

»Wehre dich nicht, mein Kind. Höre auf damit! Du schadest dir nur selbst … wehre dich doch nicht.«

In der Kabine des Pyets herrschte Totenstille.Was hier geschah, das lief auf einer Ebene ab, die nun

einmal nicht nach außen dringen konnte, denn es war in der Stille des Geistes beheimatet …

Zwei leblose Körper lagen übereinander.Noch immer war es still, nur der Analysescreen

signalisierte Bewegung – neue Daten, aktualisiert, die sich allerdings in nichts von den vorherigen unterschieden. Nichts war geschehen. Zumindest nichts, was für den Zustand des Kleinraumers von Bedeutung sein konnte.

Und doch war der Tod als ungebetener Gast im Pyet erschienen.

Irgendwann bewegte sich der oben liegende Körper. Schwach nur, aber diese Bewegung war mehr als nur ein Nervenzucken, das unkontrolliert entstanden war. Weitere Einheiten vergingen, bis Sajol Laertes, Sohn des Ratsherren Dalius Laertes und seiner geliebten Dey Mojica, die Augen

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öffnete. Reste von getrocknetem Blut klebten in den Augenwinkeln, doch das bemerkte Sajol jetzt nicht.

Es dauerte lange, bis er endlich auf den eigenen Füßen zu stehen kam. Schwankend wie ein angeschlagener Boxer torkelte er zum Pilotensitz, ließ sich kraftlos hineinfallen. Seine Stimme klang rau, irgendwie falsch, irgendwie um viele Jahre gealtert.

»Pilot an Rechner – aktuelle Analysedaten auf den Hauptschirm …« Er unterbrach sich abrupt, denn seine müden Augen sahen die winzigen Einzeller, die sich dort nach wie vor tummelten. »Stopp – Korrektur: auf den Analysescreen.« Seine Anfrage wurde sofort bearbeitet, und nur Sekunden später waren die Daten für ihn ablesbar. Er nickte zufrieden.

»Pilot an Rechner – Schiffsinnenraum mit sanfter Saugluft reinigen – anschließend Schließen der Außenluftzufuhr, Filter erneuern und aktivieren.« Nur kurze Zeit später zeigte ihm ein leises Zischen an, dass die Reinigungseinheit in Aktion getreten war. Er hoffte, die Prozedur würde wirklich sanft genug ablaufen. Jedenfalls waren bald darauf auch die letzten Milbenwesen vom Hauptschirm und seiner Umgebung verschwunden. Die Kabine füllte sich mit der recycelten Eigenluft des Pyet.

Eine ganze Weile saß Sajol sinnierend in seinem Sitz, erst dann kehrten die Lebensgeister in ihn zurück.

»Pilot an Rechner – Schadensmeldungen – Ausnahme: Sendeanlage, weil bereits bekannt.«

Eine detaillierte Auflistung der bei dem Absturz erlittenen Schäden kam sofort auf den Hauptschirm. Es war nichts dabei, was nicht entweder zu reparieren oder für einen Weiterflug uninteressant war. Das Prallfeld hatte wirklich ausgezeichnet funktioniert. Hinzu kam die kompakte Bauweise dieser Schiffsreihe.

»Pilot an Rechner – schnellste Behebung der Schäden starten. Ende.«

Er schloss erneut die Augen, doch er schlief nicht ein – der Kampf in seinem Inneren war ja längst nicht beendet …

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Als die Sonne am nächsten Tag aufging, da startete sie einen Tag wie jeden anderen auf Altera. Ausnahme war allerdings eine Zeremonie, wie sie es hier so wohl noch nie gegeben hatte.

Sajol legte den Körper seines Vaters in die tiefe Mulde, die er mit einem konzentrierten Energiestrahl in die Felsoberfläche gebrannt hatte. Anschließend bedeckte er den Leichnam mit Steinen und kleinen Felsbrocken. Kurz überlegte er, ob es hier so etwas wie eine Namenstafel geben sollte. Hier ruht Dalius Laertes vom Planet Uskugen. Sajol entschied sich dagegen. Es war sehr wahrscheinlich, dass in den kommenden tausend oder mehr Umläufen niemand diese Stelle entdecken würde, der des Lesens mächtig war. Noch wahrscheinlicher schien es ihm, dass dieser Fall niemals eintreten mochte. Wozu dann also eine Gedenktafel?

Sajol kehrte zum Pyet zurück. Er drehte sich nicht mehr zum Grab um.

Drei Einheiten später hob der Pyet vom Felsplateau ab, schien noch kurz zu verharren und schoss dann mit wahnwitzigen Beschleunigungswerten in die Tiefe des Alls hinaus.

Zurück blieb eine Ödwelt, überzogen mit Wüsten, Gebirgszügen, einigen wenigen kargen Steppen … und winzigen Kreaturen, die sicher nie mehr als Milben sein konnten.

Und mit dem Raumschiff verschwand auch der Name der Welt – ALTERA …

An Bord des Pyets meldete sich die Elektronik beim Pilot.»Kurs Uskugen wieder eingeschlagen. Neue

Anweisungen?«Sajol zögerte mit der Antwort eine Weile. Neue

Anweisungen? Wohl eher alte – ursprüngliche.»Pilot an Rechner – wir kehren zu dem Kurs zurück, der

beim Start von Uskugen bestimmt worden ist. Seitenarm der Galaxis … Ziel unbekannt. Ende.«

Der junge Pilot schüttelte den Kopf, immer und immer

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wieder. Es schien, als würde er damit einen anderen Willen abwehren, dessen drängende Befehle von sich weisen.

Später, viel später erst bewegten sich seine Lippen beinahe lautlos.

»Nein, dorthin gibt es für uns keinen Weg zurück. Das wird nie wieder unser Ziel sein, nein. Ich weiß auch nicht, was auf uns wartet. Hundert Jahre Einsamkeit? Vielleicht mehr, viel mehr. Und nun sei still, mein Kleiner. Schlaf … Vater singt dir auch das Lied. Ja, das, was deine Dey dir immer vorgesungen hat, wenn du mal wieder nicht schlafen wolltest …«

In die Stille der Kabine hinein, in das Schweigen des unendlichen Alls tönte der leise Singsang eines Lullabys …

»Es wurden mehr als einhundert Jahre …«Im Wohnraum von Château Montagne herrschte eine

Stille, die vergleichbar war mit der, die Dalius Laertes soeben geschildert hatte.

Professor Zamorra und Nicole Duval sahen auf den hageren Vampir, der nach dem Ende seiner Erzählung die Augen geschlossen hatte. Wie ein düsterer Schatten, so wirkte er in diesen langen Minuten – wie ein Schatten, der vor sich selbst fliehen wollte und doch nicht konnte. Endlich war es Nicole, die diese bedrohliche Stille beendete. Ihre Worte wirkten wie ein Schnitt in einen großen Watteberg, der sich rasch aufzulösen begann.

»Du bist … Sajol.« Keine Frage, sondern eine Feststellung, die von der Französin kam. An ihrer Stimme konnte Zamorra die Erschütterung feststellen, die Nicole fest im Griff hielt. »Was geschah weiter?«

Laertes hielt die Augen geschlossen.»Stase – ich weiß nicht mehr, über welchen Zeitraum

hinweg, doch die Elektronik beendete die Ruhephasen immer dann, wenn ein Erfolg versprechendes Planetensystem angeflogen werden konnte. An Einzelheiten erinnere ich mich heute nicht mehr. Es war ein ständiger Kampf zwischen zwei Willen, die nur mit Mühe in der Waage

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gehalten werden konnten. Ich glaube, ich stand oft am Rande einer Niederlage. Dann irgendwann flog der Pyet in dieses Sonnensystem ein.«

Zamorra griff ein.»Du hast die Gefahren für den Planeten Erde erkannt.

Irgendwie hast du Kontakt aufgenommen, hast die Hilfsmaschinerie der Uskugen in Bewegung gesetzt, die dann die Station im Tonga-Graben errichteten.«

Laertes nickte.»Ich selbst habe mich daran nicht beteiligt, das wird mir

nun langsam alles wieder klar. Ich hatte Angst, dass die Anwesenheit anderer Uskugen einen ungünstigen Einfluss auf den Kampf in mir haben könnte. Ich habe mich regelrecht versteckt, habe nur aus der Entfernung beobachtet.«

Der Dunkle machte eine Pause, die Zamorra deutlich anzeigte, wie erschöpft sein Gegenüber war; die Erinnerung nahm ihn ungemein mit – geistig und körperlich.

»Irgendwann bin ich dann in eine Falle getappt. Ich erinnere mich an Gestalten, wie ich sie zuvor nicht gekannt hatte. Ich … es war Sarkana. Und bei ihm war Tan Morano.«

Zamorra zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. Morano und der Vampirdämon? Wie mochte das zusammenpassen? Laertes sprach Zamorra direkt an.

»Nun weißt du auch, warum ich Morano auf der Spiegelwelt des Sammlers so intensiv nach meiner Vergangenheit gefragt habe. Auch dort hat es mich gegeben, auch dort bin ich in die Falle der Vampire gegangen. Aber er konnte oder wollte mir ja keine Antwort geben. Ich weiß nicht mehr genau, wer mich zum Vampir gemacht hat … aber seit diesem Augenblick war all das, was ich euch nun berichtet habe, für mich hinter einer dicken Wand in meinem eigenen Ich verschwunden.«

Nicole Duval konnte die entscheidende Frage nicht für sich behalten.

»Und was, wenn …«Laertes stand mit einem Ruck auf, und sein Schatten füllte

plötzlich den ganzen Raum aus.

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»… wenn er in mir wieder erwacht? Das wolltest du fragen, Nicole. Keine Sorge – er schläft tief und fest.

Das Lullaby wirkt noch immer.« Nicole fragte sich, ob es tatsächlich ein Lächeln war, das sie dort um Laertes' Lippen erkannte. »Doch wenn er einmal erwachen sollte, wenn er es schafft, den Kokon zu sprengen, den sein Vater um sein Bewusstsein gelegt hat … dann müsst ihr mich sofort töten! Hört mir genau zu – denn sonst droht nicht nur dieser Welt eine Gefahr, die sich niemand wirklich vorstellen kann.«

Am folgenden Morgen war der Vampir aus Château Montagne verschwunden.

Weder Zamorra noch Nicole wunderten sich darüber, war das doch schon früher seine bevorzugte Art gewesen, zu kommen und zu gehen.

Die Lebens- und Kampfgefährten sprachen nicht viel an diesem Vormittag. Es war schließlich Zamorra, der auf das Erlebte zurückkam.

»Ich weiß genau, welche Frage in deinem hübschen Köpfchen brodelt.« Sein Versuch, die Geschichte mit flapsigen Worten zu entkrampfen, wollte nicht so recht gelingen. »Er ist nach wie vor Dalius Laertes für mich, nicht Sajol, nicht Dalius-Sajol, oder wie auch immer. Es ist nur … nur so, dass wir nun mehr als vorher wissen. An seiner Person hat sich für mich nichts geändert.«

Nicole nickte zögerlich.»Ja, sehe ich auch so. Allerdings habe ich nun ein ganz

neues Problem mit Laertes. Bislang habe ich ihm stets misstraut. Ganz gleich, wie oft er uns auch geholfen und beigestanden hat, ich war mir seiner echten Solidarität nie gewiss. Du weißt ja … zu Vampiren habe ich meine ganz eigene Einstellung.« Nicole nahm einen Schluck aus ihrer übergroßen Kaffeetasse, über deren Rand hinweg sie Zamorra anblickte. »Nun hat sich mein Misstrauen in Angst gewandelt. Ich fürchte mich vor der Zeitbombe, die in Dalius schlummert … besser gesagt, im Kopf des Körpers, den er übernommen hat. Was, wenn sie eines Tages von

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Ticken auf Zünden umstellt?«Professor Zamorra lehnte sich in seinem Stuhl zurück.Wenn er ehrlich war, dann fiel ihm dazu keine gescheite

Antwort ein.Ja … was würde dann geschehen?Sein Schweigen bewies Nicole Duval, dass ihr Gefährte

inständig hoffte, dass dieser Tag niemals kommen würde …

Es waren seltene Momente, in denen Stygia vollkommen alleine war. Ständig war sie umgeben von ihren Bediensteten, von Hilfsgeistern und nervenden Bittstellern, die gekommen waren, damit die Fürstin der Finsternis ihre Probleme für sie löste.

Dies war einer von den raren Augenblicken – und Stygia genoss ihn. Das konnte sie auch, denn bei all den lästigen Pflichten, die ihr Amt mit sich brachte, schenkte es ihr doch große Macht. Macht, die sie auszubauen gedachte.

Erfolge waren dabei das Salz in der Suppe.Etwa der Erfolg, eines der Mitglieder in Zamorras Team zu

vernichten. Genau das war gelungen, auch wenn man diesen Dalius Laertes vielleicht nur bedingt zu diesem Team zählen konnte.

Er war vernichtet – die Falle hatte zugeschlagen, das Gift seine Wirkung getan.

Die Nachricht über das Ende des seltsamen Vampirs, bei dem niemand in der Schwärzen Familie so recht wusste, wie er einzuschätzen war, würde Stygia Pluspunkte einbringen. Sieg bedeutete Stärke – Stärke bedeutete Macht … ständig wachsende Macht!

Sie bemerkte den Schatten erst, als er sich bereits auf sie warf. Dann spürte sie den Einstich an ihrem rechten Handgelenk. Stygia wollte aufschreien, doch sie brachte die Lippen nicht auseinander.

Nur langsam schälte sich ein Gesicht aus der Finsternis des Schattens.

Mit weit aufgerissenen Augen erkannte die Fürstin Dalius Laertes!

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Ein kaltes Lächeln lag um seinen Mund. »Ich grüße dich, Stygia. Mit jedem anderen hättest du gerechnet, nicht wahr? Ja, dein Gift war von der feinsten Sorte – um ein Haar hätte es mich für alle Zeiten ausgelöscht. Doch da gibt es jemanden, der schlauer war als du. Du kennst sie gut – und es ist nicht das erste Mal, dass sie dich besiegt hat: Nicole Duval! Ich sehe in deinen Augen den Hass, den dieser Name in dir weckt. Gut so – die Gewissheit soll dich hart treffen.«

Stygia kam nicht einmal auf die Idee, sich wehren zu wollen. Der Schatten ließ ihr auch nicht den geringsten Spielraum dazu.

»Sie hat mich rechtzeitig gerettet, sie, die mir oft mit Skepsis begegnet ist. Sie steht unter meinem persönlichen Schutz, denn anders kann ich ihr das nie danken. Vergiss das niemals, Stygia! Du wirst Zamorra und seine Freunde niemals besiegen. Hast du den kleinen Stich gespürt? Ich denke schon.« Laertes' Gesicht kam Stygia noch ein wenig näher, und sie spürte den Todeshauch, der von ihm ausging. »Verrotte, Fürstin – zu mehr taugst du nicht.«

Wie er gekommen war, so verschwand der Schatten. Für Momente wagte Stygia nicht einmal zu atmen. Er lebt! Verdammt … wie oft würden ihre Vasallen noch versagen? Wieder eine Niederlage! Immer und immer wieder zog sie gegen diesen Zamorra den Kürzeren! Der Name Nicole Duval alleine reichte aus, um Stygia an den Rand der Tobsucht zu bringen!

Dann erst nahm sie diesen merkwürdigen Geruch wahr. Was stank hier plötzlich so entsetzlich? Hatte das etwas mit dem zu tun, was dieser verfluchte Vampir in ihren Arm gestochen hatte?

Stygia beendete die Dunkelheit um sich herum mit einer Handbewegung.

Dann sah sie es …Und ein Schrei des Entsetzens platzte aus ihr hervor.Ihr Arm … ihr rechter Arm … er war von den Fingerkuppen

bis hinauf zum Ellbogen vollkommen verfault! Gift – er hatte sich gerächt. Laertes hatte sie vergiftet.

Der Schrei der Fürstin drang hinaus in die Schwefelklüfte.

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Er schien nicht enden zu wollen.Doch da war kaum jemand, der sich für die Pein Stygias

interessierte.

Laertes huschte unbemerkt an den Leibwachen vorbei, die durch Stygias Gebrüll aufgescheucht worden waren. Selbst die so aufmerksamen Amazonen registrierten ihn nicht. Zu gut war seine Tarnung.

Dalius Laertes war zufrieden.Es würde eine ganze Zeit dauern, bis Stygia realisiert

hatte, dass sie auf eine magische Illusion hereingefallen war, die so perfekt ausfiel, wie sie wohl nur von Uskugen-Magie erzeugt werden konnte.

Natürlich hatte Laertes sie nicht vergiftet.Das lag nicht in seiner Natur.In der Natur eines Uskugen …

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Nachwort – nur ganz kurz

Band 13: »Überleben verboten«Band 16: »Laertes«Band 20: »Altera – Spiel um das Leben«

Drei Bücher, die man schon als eine kleine Serie innerhalb der Buchreihe sehen kann.

Eine Serie innerhalb einer Reihe, die abgeschlossene Einzelromane beinhalten soll?

Ja, so kann man das wohl sehen, doch es war auf keinen Fall so von mir geplant:

In Buch 13 habe ich eine Bemerkung gemacht, die den guten Laertes und seine ein wenig eigentümliche Magie ins Spiel brachte. Ich empfand das als interessante Verknüpfung, auf die man unter Umständen in der Heftroman-Serie noch einmal eingehen konnte – hatte Dalius Laertes denn tatsächlich etwas mit dieser Station zu tun, die Zamorra am Boden des Tonga-Grabens entdeckt hatte?

Die Reaktion der Leser war eine andere:»Da kann man ja gespannt sein, wie das im nächsten Buch

weitergeht …«Äh … im nächsten Buch also?Na, warum eigentlich nicht, habe ich mir gedacht.Gedacht – gemacht – geschrieben: Band 16 trug den

Namen, der eigentlich alles über den zu erwartenden Inhalt aussagte: »Laertes«.

Und jede Menge Laertes war ja dann auch darin. Als ich die letzten Zeilen schrieb, da habe ich mir plötzlich gedacht: Sag einmal, Krämer … was hast du denn nun angerichtet?

Die Geschichte hatte mich irgendwie überrollt – Ende offen … – oder wie man bei uns sagen würde: Nix Genaues

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weiß man nicht …Die Reaktion der Leser? Bitte sehr:»Da kann man ja gespannt sein, wie das im nächsten Buch

weitergeht …« Ach ja …Gut, ich habe versprochen, es kurz zu machen – also: Hier

habt Ihr das Ende nun. Ich hoffe, es sagt Euch/Ihnen zu, auch wenn so mancher überrascht sein dürfte.

In den kommenden Büchern werden sich meine Kollegen sicher wieder den abgeschlossenen Einzelbüchern widmen … nehme ich doch zumindest an. Oder?

Vielleicht bis bald wieder einmal!Beste Grüße – Euer und Ihr

Volker KrämerGelsenkirchen, im Oktober 2006

ENDE

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Vorschau

Dämonenfalle Vatikanvon Christian Schwarz

Man schreibt das Jahr 1585.Die venezianische Hexe Antonella Rosmini muss

ohnmächtig zusehen, wie ihre drei Töchter auf den Scheiterhaufen der Inquisition sterben. Die Hexe schwört Rache. Doch sie ist nicht vorsichtig genug …

Über vierhundert Jahre später sprechen zwei hohe katholische Würdenträger auf Château Montagne vor und berichten von unheimlichen Vorkommnissen innerhalb des Vatikans. Bereits zwei Kardinäle, ein Pater und eine Nonne kamen unter rätselhaften Umständen ums Leben …


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