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Das Spiel… - Schule · 2015. 5. 16. · das Spiel seines Lebens, setzt Regeln und Verlauf selbst fest. „Das Spiel ist niemals aus. Wir leben in unseren Handlungen weiter.“ Wir

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Das Spiel ist ausvon Jean-Paul SartreAnmerkungen zum Spielder Klasse 12b1

Ein Drama der Unfreiheit?„Mein erster Film, Das Spiel ist aus,

wird nicht existentialistisch sein. Ganz imGegenteil: der Existentialismus lässt kei-neswegs zu, dass das Spiel jemals aus ist.Noch nach unserem Tod setzen sich unsereHandlungen fort. Wir leben in ihnen weiter,selbst wenn sie sich oft ganz entgegenge-setzt in Richtungen entwickeln, die wirnicht gewollt haben. Das ist eine histori-sche Evidenz.

Mein Szenario ist ganz vom Determi-nismus geprägt, weil ich der Meinung war,dass es mir schließlich auch einmal erlaubtsein müsste zu spielen. Meine Legendeendet im Grunde schlecht. Der Existentia-

lismus dagegen ist eine optimistische Leh-re. Man glaube nicht, dass das Problem desTodes mich interessiert: es ist das Problemdes Lebens von der Seite des Todes ausgesehen. Man stirbt immer zu früh oder zuspät: zu früh in Perioden der Unruhen undKriege, die übrige Zeit zu spät.“2

Diese etwas widersprüchliche AussageSartres zu seinem Drama weckt sogleichdie Frage: ein „deterministisches Theater-stück“ für ein Klassenspiel der 12. Klasse?Das würde heißen, menschliches Handelnsei vorbestimmt, der „freie Wille“ nichtvorhanden. Auf den ersten Blick erschienden Schülerinnen und Schülern zudemSartres Drama „Das Spiel ist aus“ nichteinmal so aussagekräftig und spannend,dass es in die erste Wahl der möglichenFavoriten genommen worden wäre. Auchdie Form – das Drama liegt uns nur alsDrehbuch vor – weckte zunächst wenigBegeisterung. Ein zweiter Anlauf währendder Behandlung im Unterricht machte aberrasch deutlich, worin der Reiz und die Eig-nung dieses Theaterstücks für die 12. Klas-se liegen. Es kristallisierte sich rasch her-aus, dass „Determinismus“ höchstens einen

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Aspekt der Geschichte trifft – die andereSeite sticht als die deutlich wichtigere her-aus: es ist die Frage nach der Möglichkeitzur freien Entscheidung, zur Möglichkeitselbstbestimmten Handelns und der eige-nen Verantwortung, die im Drama durch-gespielt wird. Steht uns Menschen die freieEntscheidung offen, oder ist es doch eherso, wie die Hauptperson Eve am Schlusszugibt: „Das Spiel ist aus, sehen Sie. Mankann den Lauf der Kugel nicht aufhalten.“

Doch wer bringt die Kugel zum Lau-fen? Wer gibt ihr die Richtung vor? Ver-mutlich ist das Ganze eben doch eher einexistentialistisches Drama!?…

Sartres Philosophie des Existentialis-mus gründlich vorzustellen, würde Bändefüllen. So beschränke ich mich an dieserStelle auf das Nötigste, auf die Gesichts-punkte, die zeigen können, inwiefern mitdem Theaterstück „Das Spiel ist aus“, einDrama vorliegt, das für die 12. Klasse pä-dagogisch wertvoll ist.

Pädagogische Gesichtspunkte:„Individuelle Urteilskraft“ – mit diesem

Arbeitsbegriff bezeichnen wir in der Wal-dorfpädagogik die Fähigkeit, die den 17-bis 19-Jährigen in dieser Klassenstufe zu-kommt: sich eigenverantwortlich, aufgrundeigenständiger Auseinandersetzung mit derWelt und mit dem eigenen Inneren zu Ent-scheidungen durchzuringen, sie zu vertre-ten, sie als zugehörig zum eigenen Ich zuerleben, sich ein eigenes, individuelles Bildvon den Mitmenschen, der Umwelt, deneigenen Lebenszielen erwerben zu können.Individuelles Urteilen, freies Handeln kön-nen jetzt gesucht und ergriffen werden.Angesichts dieser erwachenden und wach-senden Fähigkeit klingt Sartres berühmterSatz „Der Mensch ist verurteilt zur Frei-heit“3 wie eine Provokation, gegen die sichzunächst die eigene Vernunft sträubt – dieAussage ist ja völlig paradox formuliert.

Damit sind wir im Kern von Sartres exis-tentialistischer Philosophie.

Gesichtspunkte zu SartresPhilosophie

In dem 1945 veröffentlichten Essay„Der Existentialismus ist ein Humanismus“finden sich zentrale Aussagen Sartres zumWesen des Menschen und seiner „Exis-tenz“: „Der atheistische Existentialismus,für den ich stehe, ist zusammenhängender.Er erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert,es mindestens ein Wesen gibt, das existiert,bevor es durch irgendeinen Begriff defi-niert werden kann, und dass dieses Wesender Mensch … ist. Es bedeutet, dass derMensch zuerst existiert, sich begegnet, inder Welt auftaucht und sich danach defi-niert.“

Der Mensch ist in eine Welt geworfen,die keinen tieferen Grund in sich trägt. Erwird durch keine Moral, durch keine Reli-gion oder Weltanschauung in seinem Han-

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deln festgelegt, beurteilt oder bestimmt,sondern ist genau das, was er selbst aussich macht. Damit ist er gezwungen, sichselbst zu entwerfen, „verurteilt, frei zusein“. Weiter heißt es im Essay: „…So istder Mensch verantwortlich für das, was erist… Und wenn wir sagen, dass derMensch für sich selber verantwortlich ist,so wollen wir nicht sagen, dass der Menschgerade nur für seine Individualität verant-wortlich ist, sondern dass er verantwortlichist für alle Menschen.“

Existentialismus im Spielder 12. Klasse

Da das Drama 1944 entstanden ist, liegtes nahe, Sartres Äußerungen von 1945 zurInterpretation heranzuziehen. Es würdeheißen: Was die Personen im Drama unter-nehmen, worin sie ihre Moral, ihre Werte,ihre zwischenmenschlichen Beziehungenbegründen, liegt allein bei ihnen – es gibtkeine höhere Instanz, die etwas vorgäbe,

die Halt, Orientierung, Sicherheit, religiöseZuflucht böte. Damit entsprechen Eve undPierre, die Hauptakteure des „Spiels“, bei-spielhaft dem Bild des modernen Men-schen, der die Beweggründe seines Han-delns in sich selbst finden, die Maßstäbezur Bewertung seines Denkens und Tunseigenständig entwickeln muss, da er sichnicht mehr auf Autoritäten oder Dogmenberufen kann, die ihm Halt und Orientie-rung gäben. Sartres Existentialismus siehtden Menschen als auf sich allein gestellt.Er selbst zeichnet mit seinem Tun „seinGesicht“, entwirft seine Ethik selbst. Ein-schränkend muss gesagt werden, dass Sart-re in den 50er und 60er Jahren diese abso-lute Freiheit in gewisser Hinsicht in Fragegestellt hat und stärker betonte, dass dasmenschliche Handeln nachhaltig gesell-schaftlich geprägt sei. Dennoch: nichtskann den Menschen von seiner Verant-wortlichkeit freisprechen.

Die Tatsache, dass Autoritäten keineGeltung mehr haben, dass eigene Maßstäbedes Urteilens und Handelns gefunden wer-den müssen, wenn man sich als Individuumauthentisch und überzeugend in die Weltstellen möchte, betrifft die jugendlichenZwölftklässler existentiell. Es ist geradedas, was sie im Erwachsenwerden fordern,üben, verstehen lernen. So ist die Frage:kann man sein Leben selbst(verantwortlich)gestalten, kann man es frei in die Handnehmen, oder wird es von Dingen, Kräften,die außer uns liegen, bestimmt, maßgeblichfür das Jugendalter.

Gibt es die „zweite Chance?Besonders faszinierend ist es, sich die

Frage zu stellen, ob man ein „verpfuschtesLeben“ (Spiel, S.46) in Ordnung bringenkann, ob es die berühmte „zweite Chance“gibt. Pierre, männliche Hauptperson, fragt:„Das ist wohl noch nie vorgekommen, dassjemand auf die Erde zurückgekehrt ist, um

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seine Angelegenheiten in Ordnung zu brin-gen?“ Pierre, Arbeiter und Widerstands-kämpfer gegen ein faschistisches Regime,wurde von einem Verräter getötet und be-findet sich in einem skurrilen „Totenreich“,wo er tatsächlich diese Chance erhält. Erhat nämlich im „Jenseits“ eine schöne,liebenswerte junge Frau getroffen, die wieer ermordet wurde. Beide entwickeln einetiefe Liebe zueinander. Sie erhalten von der„Verwaltung“ des Totenreichs die Mittei-lung, sie seien auf Erden füreinander be-

stimmt gewesen – lediglich ein Fehler der„Verwaltung“ habe ihr Zusammenkommenverhindert.

Ihre Chance besteht nun darin, währendder Rückkehr ins irdische Leben innerhalbvon 24 Stunden ihre bedingungslose Liebesowie uneingeschränktes Vertrauen zuein-ander zu beweisen. Dann soll ihnen einneues Leben geschenkt werden. Gemein-sam hätten sie eine zweite Chance, jetztaber dazu, selbst bestimmt miteinander zuleben.

Wie zu erwarten, gelingt es ihnen nicht,ihr „Leben neu anzufangen“ (Spiel, S.138).Als Pierre erfährt, dass seine geliebte Evedie ehemalige Gattin seines größten politi-schen Feindes ist, zur korrupten „höheren

Gesellschaft“ gehörte und politisch völligunbedarft ist (Eve hasst zwar alle Gewalt,hat aber nie gegen die Gewalttätigkeit ihresGatten oder des „Regenten“ protestiert),entfernt ihn phasenweise ein inneres Miss-trauen von ihr, obwohl sie sich völlig vonihrer früheren Gesellschaftsklasse distan-ziert und bereit ist, sich ganz auf Pierreeinzulassen.

Allerdings: sie möchte aus ihrem frühe-ren Leben noch etwas in Ordnung bringen:ihre jüngere Schwester vor den Nachstel-

lungen ihres skrupellosen,geldgierigen Ex-Mannes retten.

Auch Pierre hat sein frühe-res Leben nicht völlig losgelas-sen. Verzweifelt versucht er,seine Genossen von ihremaussichtslosen, für den nächs-ten Tag geplanten Aufstandabzubringen. Der noch vonihm selbst organisierte Auf-stand ist, wie Pierre im Toten-reich entsetzt erfahren musste,verraten. Pierre setzt allesdaran, das Blutbad zu verhin-dern. So ist er im entscheiden-den Augenblick nicht bei Eve,sondern verharrt bis zuletzt in

der Illusion, die Freunde, die ihn jetzt füreinen Verräter halten und mit dem Todbedrohen, retten zu können.

Damit wird die „zweite Chance“ ver-spielt, Eve und Pierre müssen ins Toten-reich zurück.

Mauvaise foisDiese verspielte Chance eines eigen-

ständigen freien Lebens ist für Sartre eineFolge der „mauvaise fois“, des „verdrehtenBewusstseins“. Dieses zeigt sich immer,wenn ein urteilender Mensch behauptet,unter Sachzwängen zu stehen, die ihn zueiner bestimmten Entscheidung, zu einembestimmten Handeln zwingen würden.

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Im Drama ist es Pierre, der bis zuletztan die Möglichkeit glaubt, seine Genossenretten zu müssen, statt sich um seine Be-ziehung zu Eve zu bemühen. So entfernt ersich im entscheidenden Moment von Eve,die sich gleichzeitig dem aussichtslosenBemühen hingibt, ihre uneinsichtigeSchwester zu retten.

Sind es nur Sachzwänge, die die beidendie falsche Entscheidung treffen lassen, diesie in der Situation, in der sich ihre Zukunftentscheidet, scheitern lassen? Ist es einübergroßes Verantwortungs-bewusstsein oder Blindheit fürdie Lebenswirklichkeit und fürihre eigentliche Aufgabe? Inder Diskussion der Klasse überdie Botschaft des Dramas blie-ben Fragen offen.

Sartre trifft jedenfalls dieeindeutige Aussage, jederMensch könne in jeder Situati-on frei wählen. „ObjektiveZwänge“ seien lediglich vomeigenen „verdrehten Bewusst-sein“ hervorgebracht, da manoft die Konsequenzen scheue,die die freie Entscheidung nachsich ziehen würde. So lege mansich mit einer halb oder ganz unbewusstenRaffinesse Situationen zurecht, die solcheSachzwänge nahe legten.4

Dieses Verhalten ist aber eine Unauf-richtigkeit oder Selbstlüge. Hier erklärt sichauch das Bild von der Kugel, die, einmalins Rollen gebracht, nicht mehr aufgehaltenwerden kann. Der vermeintliche Sach-zwang – hier die Rettung der Freunde oderder Schwester – verhindert es, dass dieKugel dahin gelenkt werden kann, wo sieder selbst gewählten Lebensaufgabe denWeg weisen könnte. –

Gerade in unserer Zeit sehen sich vieleMenschen (besonders anschauliche Bei-spiele bietet die Welt der Politik) an derar-tige Sachzwänge gebunden, auf die sie sich

in Entscheidungssituationen berufen. Damitentledigen sie sich selbst ihrer Möglichkeitzur freien Entscheidung, verstricken sich inUnwahres, Nebensächliches und unterwer-fen sich der selbst gewählten Unfreiheit.

Diese Thematik trifft bei Schülern imJugendalter auf enormes Interesse, denn inder Diskussion darüber lassen sich Ant-worten auf die Frage erarbeiten, wer dieKugel anstößt, wer das Spiel des Lebensgestaltet und steuert. Laut Sartres Philoso-phie des Existentialismus kann es nur der

individuelle Mensch selbst sein. Er beginntdas Spiel seines Lebens, setzt Regeln undVerlauf selbst fest. „Das Spiel ist niemalsaus. Wir leben in unseren Handlungenweiter.“ Wir sehen, die Verantwortungbleibt bei jedem einzelnen Menschen, nie-mand nimmt sie ihm ab.

Um auf das Bild des Roulette Bezug zunehmen, das sich ja im Titel des Dramasausspricht und als Leitmotiv das Ganzedurchzieht: Wenn das Spiel gemacht ist,läuft die Kugel. Aber vorher heißt es: faitesvos jeux (machen Sie Ihr Spiel). Am Be-ginn des Spiels setzt jeder selbst. Dannkommt: les jeux sont faits (das Spiel istgemacht). Und dann: rien ne vas plus(nichts geht mehr). Das ist der spannendste

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Augenblick: wo wird die Kugel anhalten?Worauf hat man gesetzt? Trägt diese Ent-scheidung zum Gewinn oder zum Verlustbei?

Das Bild vom Roulette ist ein ergiebigerPool, um Fragen und Antworten nach derAngemessenheit des eigenen Handelns zuformulieren und zu diskutieren. Warumz.B. versagen Eve und Pierre darin, ihrSpiel um das Glück zum Gelingen zu füh-ren? Und wie ist es mit den anderen? DasLeben: ein Glücksspiel oder eine Heraus-forderung zum freien Handeln?

Am Ende des Dramas, als Eve und Pi-erre, wiederum in die Totenwelt versetzt,ihr Versagen reflektieren und bedauern,kommt ein anderes junges Paar, das meint,füreinander bestimmt zu sein, und fragt diebeiden: „Kann man wirklich versuchen,sein Leben neu anzufangen?“ Die Antwort

lautet: „Versuchen Sie‘s. Versuchen sie esruhig einmal.“ (Spiel, S.138). Das ist keineeindeutige Aussage, das Spiel geht weiter,ein neuer Einsatz ist möglich.

Diese Unbestimmtheit des Schlusses hatihren Reiz, trotz Scheitern der Hauptdar-steller hat jeder einzelne, der das Wagnisauf sich nimmt, die Chance zum Neube-ginn. „Faites vos jeux“.

Vera Lipecki-Ruppert (L)

1 Nach dem Drehbuch zum Film „Les jeux sontfaits“2 Jean Paul Sartre: Das Spiel ist aus. Hamburg1952. 71. Auflage 2012. S.138.3 J.P.Sartre: Der Existentialismus ist ein Huma-nismus, Essay, 19454 Vgl. Hans-Martin Schönherr-Mann: Sartre.Philosophie als Lebensform, München 2005,S.78f.