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Anthropologische Grundlagen und
Menschenbilder in der Intensivpflege
Charlotte Uzarewicz & Michael Uzarewicz
Riverastr. 5
85570 Ottenhofen
Software Version: Windows XP
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Inhaltsübersicht
1. Einleitung: Was sind Menschenbilder und wozu brauchen wir sie?
2. Klassische Anthropologie und ihre Menschenbilder
3. Mensch und Technik
4. Grenzen der dualistischen Konzeption vom Menschen
5. Spezifika der Menschen (in) der Intensivpflege
6. Leibphänomenologie
6.1 Leib und Körper
6.2 Bettlägerigkeit und Angst
6.3 Der Schmerz
6.4 Veränderte „Bewusstseins“-Zustände oder eigenleibliches Spüren?
7. Theoretische Zusammenfassung: Das Alphabet der Leiblichkeit
8. Konsequenzen für das pflegerische Handeln: Leibliche Kommunikation
9. Resumèe
10. Literatur
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1. Einleitung: Was sind Menschenbilder und wozu brauchen wir sie?
Menschenbilder sind nicht eigentlich Bilder, sondern abstrakte kognitive Modelle, Konzepte
und Schemata, die sich aus reflexivem Denken speisen; was nicht heißt, dass sie nicht kli-
scheehaft verbildlicht werden könnten. In gewisser Hinsicht handelt es sich um manifeste
Metaphern (vgl. Carveth 1993, 15), die die Lebensweise, den Lebensstil, die Erscheinung auf
ein spezifisches Handlungs- und Verhaltensmuster reduzieren und von diesem ausgehend
einen Menschentypus kreieren. Nicht nur der dem jeweiligen Typus zugeordnete konkrete
Mensch wird dabei in seinen individuellen und subjektiven Eigenarten verkannt, auch aus
dem breiten Panorama der Handlungs- und Verhaltensmuster wird häufig nur das holzschnitt-
artigste verwendet, um nicht zu sagen: konstruiert. Neben dem so genannten „mechanisti-
schen“ Menschenbild ist das populärste sicher das des „homo oeconomicus“. Damit wird eine
ökonomistische Perspektive konstruiert, die mit Ökonomie herzlich wenig zu tun hat. Es gibt
schließlich nicht nur eine ökonomische Theorie und Praxis, sondern viele. In der schlichten
Form, in der der homo oeconomicus kritisiert wird, kommt er in der Wirklichkeit nicht vor.
Aber um Differenzierungen geht es bei Menschenbildern auch gar nicht; vielmehr stellen sie
Idealtypen dar, die in bestimmten Kontexten zu Stereotypen werden. Das gilt für alle Men-
schenbilder und die Konsequenzen daraus sind weit reichend. Interessanterweise verstehen
sich die Kritikerinnen solcher reduktionistischer Menschenbilder als Humanistinnen. Als an-
tihumanistisch gilt ihnen nicht nur im weitesten Sinne alles, was Ökonomie heißt, sondern
auch Technik. Im Gesundheitswesen steht dafür die Kritik am mechanistischen Menschen-
bild. Besonders die Intensivpflege und –medizin sehen sich immer wieder im Kreuzfeuer der
Polemik. Sicherlich ist vieles berechtigt, was in deren Namen vorgebracht wird. Dennoch
muss man lange suchen, um einen hartgesottenen Mechanisten unter den Medizinern und
Pflegenden zu finden, der sich ein mechanistisches „Bild“ von seinem Gegenüber macht und
dieses auch so behandelt.
Menschenbilder sind das Ergebnis der Versuche, Antworten auf anthropologische Grundfra-
gen zu geben. In diesem Artikel werden wir zunächst die Menschenbilder vorstellen, die
durch verschiedene klassische Anthropologien entstanden sind. Um darzulegen, welche Men-
schenbilder in der Intensivpflege und –medizin virulent sind, erläutern wir in einem nächsten
Schritt die Spezifika (in) der Intensivpflege. Abgerundet wird der Artikel mit der Vorstellung
der Leibphänomenologie, die eine Wahrnehmung vom Menschen zugrunde legt, welche dies-
seits des klassischen Dualismus von Körper und Geist zu finden ist. Dabei lassen wir uns von
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der Hypothese leiten, dass die Intensivmedizin die Orientierung an den dualistischen Men-
schenbildern braucht, um handlungsfähig zu bleiben; die Intensivpflege aber mit dem monisti-
schen Menschenbild, in dem der Leib die unhintergehbar Einheit des Menschseins bezeichnet,
als komplementäre Disziplin hier ihre eigene explizite Handlungsgrundlage hat.
2. Klassische Anthropologie und ihre Menschenbilder
Die zentralen Fragen jeder Anthropologie sind: Was ist ein Mensch? Wer ist ein Mensch?
Wann ist ein Mensch (noch oder schon) ein Mensch? Jede Menschenwissenschaft muss sich
irgendwann ihrer anthropologischen Grundlegungen vergewissern und mit diesen Fragen aus-
einandersetzen. Die biologischen Anthropologien untersuchen den Einfluss der menschlichen
Biologie auf Handeln und Verhalten von Menschen. Dazu gehörten Disziplinen wie z.B. Ras-
senkunde, Kraniologie/Kraniometrie, Erb- und Abstammungslehre, die versuchten, `biologi-
sche Sozialtypen` zu identifizieren; diese Disziplinen haben sich historisch überlebt. Heute
erforschen Evolutionsbiologie, Genetik, Soziobiologie und Ethologie biologische Dispositio-
nen von menschlichem Verhalten und Handeln; vor allem relativ konstante menschliche Phä-
nomene (z.B. Organisation von Herrschaft als menschliche Universalie) sind hier von beson-
derem Interesse. Zu den Kultur- und/oder Sozialanthropologien werden die in den USA und
Großbritannien entwickelten Wissenschaften gezählt, die in Deutschland eher als Ethnologie,
Völkerkunde, Volkskunde und empirische Kulturwissenschaften bekannt sind. Es gibt zahl-
reiche wissenschaftliche Disziplinen, die der Frage nach dem formenden Einfluss von Kultur
und Gesellschaft auf den Menschen und sein Verhalten nachgehen, wobei sich die britische,
die französische, die us-amerikanische Sozial- und Kulturanthropologie in ihren theoretischen
Ansätzen und Schulen ausdifferenziert haben.1 Allgemein lässt sich eine Schwerpunktverlage-
rung im Erkenntnisgewinnungsprozess erkennen: Statt der Orientierung an historisch orien-
tierter Sammlung und Archivierung menschlicher Artefakte, hat man sich vermehrt dem na-
turwissenschaftlich geprägten empirischen Forschen zugewandt. In neuerer Zeit beleuchten
hermeneutische Ansätze bei ihren Untersuchungen immer auch die eigenen (kulturellen) Hin-
tergründe und Ausgangspunkte. Die philosophische Anthropologie schließlich kann als ein
Bindeglied zwischen diesen beiden komplementären Anthropologien betrachtet werden. Sie
stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Natur und Kultur und damit auch die Frage
nach der Position des Menschen in der Welt. Diese Disziplin hat sich im Kontext des abend-
ländisch geprägten Rationalismus erst spät entwickeln können, mit dem Ziel, „dem Menschen
1 Zu weiteren Spielarten, wie psychologische Anthropologie, historische Anthropologie etc. vgl. Dressel 1996.
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wieder seine Sonderstellung (als Krone der göttlichen Schöpfung, d.V.) zurückzugeben, ihn
abzugrenzen von der Natur bzw. vom Tierreich“ (Dressel 1996, 38).
Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg, auch und vor allem aus Gründen, die mit diesem (Ver-
nichtungs-) Krieg zu tun haben, üblich geworden, eine äußerst kritische Position gegenüber
jeglicher Anthropologie einzunehmen. Mit dem Bade der sog. „Rassenkunde“ bzw. biologi-
schen Anthropologie, wurde auch gleich das Kind, die philosophische Anthropologie, ausge-
schüttet. Sie musste sich – nicht immer zu Unrecht – den Vorwurf gefallen lassen, dass sie
nach einem Wesen des Menschen suche, das es nicht gäbe und nicht geben könne, da der
Mensch, mit den Worten Nietzsches, das „nichtfestgestellte Tier“ sei. Nur deshalb, weil ihn
kein Begriff erschöpfend definieren kann, heißt das nun aber nicht, dass wir nicht ziemlich
genau wüssten, wann wir es mit einem Menschen zu tun haben und wann nicht. Vergessen
wird auch allzu leicht, dass man ohne solche Bezeichnungen, ohne Vorstellungen oder „Bil-
der“ davon, was ein Mensch, was der Mensch ist, nicht auskommen kann. Denn wenn es kei-
ne Kriterien gibt, dann kann man Menschen nicht von anderen Entitäten (Tieren, Pflanzen,
Dingen usw.) abgrenzen, dann könnte man überhaupt nicht mehr von Menschen und vom
Menschsein sprechen. Gerne werden Beispiele so genannter „Wildmenschen“ oder „Wildkin-
der“, die unter Wölfen oder Affen aufgewachsen seien, herangezogen. Aber auch der nicht
unter Menschen herangewachsene, der nicht von ihnen aufgezogene Mensch ist ein Mensch;
ebenso wie der inhumane, der asoziale, der unvernünftige, der wahnsinnige, der stumme, der
blinde, der einbeinige, der demente, der komatöse oder der debile Mensch. Der Mensch ist,
was er ist. Es fällt schwer zu bestimmen, was der Mensch ist, was ihn z.B. vom Tier unter-
scheidet. Die Mehrzahl anthropologischer Erwägungen beißt sich an diesem Thema fest.
Leichter scheint es, ihn über das zu definieren, was er geschaffen hat: Man hypostasiert einen
spezifischen Sachverhalt zu einem Bild, z. B.:
• Der Mensch als Werkzeugmacher: homo faber;
• der Mensch als spielendes und spielerisches Lebewesen: homo ludens;
• der Mensch als Symbole generierendes Wesen: homo symbolicus;
• der Mensch als Rollenspieler ist ein soziales Wesen: homo sociologicus bzw. zoon polit-
ikon.
In all diesen unterschiedlichen „Bildern“ werden die Versuche deutlich, den Menschen von
anderen (Lebe)Wesen abzugrenzen. Manche Tiere haben vielleicht eine Sprache, aber sie ha-
ben, soweit wir das wissen können, keine Gedichte gemacht; einige haben Werkzeuge herge-
stellt, wie Primaten oder Ameisen, aber keine Chemiefabriken oder Atomkraftwerke gebaut.
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Andere Tiere machen Musik, haben aber keine Symphonien komponiert. Weitere sind sozial
und pflegen ihre „Lieben“, haben aber keine Krankenhäuser oder Pflegeheime, so dass man
fast formulieren möchte: An ihren Werken könnt ihr sie erkennen.
Aber auch schon lange bevor es Chemiefabriken oder Atomkraftwerke gab, waren Menschen
schon Menschen. Immer und überall begegnen wir dem Menschen als Menschen2. Menschen
haben immer auch (noch) etwas Tierisches an sich und viele Tiere (schon) etwas Menschli-
ches (das gilt nicht erst für die großen Menschenaffen, wie dem Orang Utan, dem „Waldmen-
schen“). Die Grenzen scheinen fließend und sind doch ganz deutlich. Es besteht in der durch-
schnittlichen Lebenserfahrung kein Zweifel, dass es sich um Mensch oder Tier handelt. Was
ist es also, was den Menschen zum Menschen macht?
Ein wichtiges Kriterium ist sicher die Vielfalt der Individuen. Diese unendliche Pluralität der
Individuen und die Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums hat manche (negative)
Anthropologen dazu hinreißen zu lassen zu behaupten, es gäbe kein Wesen des Menschen und
damit auch kein Kriterium, das ihn definieren könnte. Aber selbst dann könnte man noch als
Paradoxie formulieren: Das Wesen des Menschen ist es, keines zu haben. Ein anderes Kriteri-
um ist seine Offenheit für ganz unterschiedliche Anforderungen. Der Mensch ist ein Genera-
list, aber gleichzeitig hat er das Potential für vielseitige Spezialisierungen. Es ließe sich ein
großer Katalog von Kriterien, die zumindest in ihrer Komplexität und Perfektion unerreicht
sind, erstellen; aber welches Kriterium darf nicht fehlen, um vom Menschen zu sprechen? Ein
sehr deutliches, dass einen Menschen auf den ersten Blick als solchen Erkennen lässt, ist
schlicht und einfach seine Erscheinung, seine Gestalt, sein Aussehen: Kein Mensch sieht aus
wie ein Tier und kein Tier sieht aus wie ein Mensch3. Andererseits: Solange jemand glaubt,
einen Menschen als Menschen nur anhand von (einzelnen) Körpermerkmalen4 oder seinen
kognitiven Fähigkeiten sowie personalen Kompetenzen identifizieren zu können, dem werden
einige wichtige, vor allem leibliche Merkmale entgehen. Ob etwas eine Maschine, ein Tier
oder ein Mensch ist, das erfasst man (noch) mit einem Schlag; man spürt, was das Gegenüber
ist. Täuschungen sind auch hier keineswegs ausgeschlossen. Reine Körperlichkeit reicht für
die Wahrnehmung also niemals aus, wie uns die neueste Generation von Robotern, den sog.
2 Von dem grundsätzlichen Problem des Solipsismus, also ob das Begegnende überhaupt ein Lebewesen mit Bewusstsein (das sog. „Fremdseelische“), so wie ich, ist, sehen wir hier ab. Der Solipsismus ist unwiderlegbar. Es kann niemals einen Beweis dafür geben, dass das mir begegnende Andere ein Bewußtsein hat. Allerdings spricht auch nichts dagegen, so dass es vernünftig erscheint so zu tun „als ob“. 3 Hier kann es offensichtlich auf den ersten Blick einige wenige, insgesamt sehr seltene Ausnahmen geben – aber auch hier erkennt man spätestens auf den zweiten Blick Menschen als Menschen. 4 So etwas suggerieren manche Körpersoziologen, die die Prothetik beschreiben und kritisieren (vgl. Schneider in Schroer 2005, 391ff.).
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Androiden, die den Menschen immer ähnlicher werden und die zu Gestik und Mimik fähig
sind, ja sogar Stimmungen von Menschen „errechnen“ können, eindrücklich zeigt.
3. Mensch und Technik
Damit ist also nicht nur die Abgrenzungsproblematik zwischen Tier (Naturwesen) und
Mensch (Kulturwesen) eines der zentralen Themen in diesen Anthropologien. Ein allgemein
bekanntes Menschenbild ist – wie oben schon gesagt – das mechanistische Menschenbild: der
Mensch als Maschine. Es ist jedoch völlig falsch zu glauben, dass die Menschen nach dem
Modell von Maschinen gedacht werden. Es ist genau umgekehrt, die Menschen schaffen sich
Maschinen „nach ihrem eigenen Bilde“. Der Motor z.B. ist offensichtlich dem Verdauungs-
apparat, die Pumpe dem Herzen, der Filter der Niere (und Leber) und die ganze Maschine der
Gestalt des Menschen5, seinen Extremitäten oder einzelnen Wahrnehmungsorganen nachge-
bildet. Das mechanistische Denken ist so besehen der Versuch, künstliche Organismen zu
bauen und das mechanistische Menschenbild nur eine Rückprojektion6.
Menschsein lässt sich also auch über die Technik definieren: „Die Technik ist so alt wie der
Mensch“ (Gehlen 1957, 7). Unsere Kenntnisse der frühen Menschen können wir einzig von
den Resten ihrer selbst und ihren hinterlassenen Artefakten ableiten. Der Mensch als instinkt-
armes Wesen ist in seine Umwelten „hineingeworfen“ (Ortega y Gasset 1996, 13) bzw. er hat
sie aufgesucht. Das bedeutet, dass der Mensch anders als die unterschiedlich spezialisierten
Tiere, sich seine Umwelt, in der er leben kann und will erst (er)schaffen muss; dieser Weltof-
fenheit begegnet er mittels der Technik. Eine seiner frühen Fertigkeiten war die Handhabung
des Feuers, die es erlaubte, in Regionen vorzustoßen, die ihm ansonsten versperrt geblieben
wären. Seitdem bedeutet Menschsein vor allem auch Techniker zu sein (homo faber): „Ein
Mensch ohne Technik, das heißt, ohne die Fähigkeit auf seine Umwelt zu antworten, ist kein
Mensch“ (Ortega y Gasset 1996, 16). Für die Intensivpflege und –medizin ist diese Aussage
über das Verhältnis von Technik und Mensch sehr bedeutsam: Die einen Menschen, die Pati-
entinnen, die vollkommen abhängig sind und selbst keine Technik einsetzen können, um auf
ihre Umwelt adäquat zu reagieren, haben diese Seite des Menschseins `abgegeben` und an die
anderen Menschen delegiert, nämlich die Pflegenden, die mit einem Übermaß an Technik – so
erscheint es zumindest Außenstehenden – ausgerüstet sind, um Kompensationsarbeit über-
haupt leisten zu können.
5 Wobei in der Regel die Beine durch Räder, eine der genialsten und wirkungsmächtigsten Erfindungen des Menschen, ersetzt werden. 6 Vgl. auch die Bionik, die sich genau diesen Weg zum Programm gemacht hat: Von den Tieren bzw. der Natur für die technologische Entwicklung lernen.
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Die Versuche, den Menschen zu bestimmen, beziehen sich also – sofern der Mensch als Kul-
tur schaffendes Wesen definiert wird – einerseits auf Natur, andererseits auf Technik. Eine
Intensivstation ist ein hochtechnisches Artefakt. Nirgendwo sonst geht der Mensch eine derar-
tig intensive Symbiose mit der Technik ein wie hier. Gleichzeitig ist er aber nirgendwo für
sein Überleben so abhängig von ihr. Unmittelbar werden hier seine Vitalfunktionen durch
Apparate aufrechterhalten. Ohne diese Apparatur würde der Mensch sterben. Doch niemand
käme deshalb auf die Idee, dass es sich bei ihm um eine Maschine und nicht um einen Men-
schen handeln würde. Je weiter jedoch die technischen Möglichkeiten voranschreiten, die
Vitalfunktionen nicht nur zu unterstützen und aufrecht zu erhalten, sondern sogar zu substitu-
ieren, wie etwa bei der künstlichen Beatmung, desto prekärer wird der Status des Menschen
als Intensivpatienten. Die traditionellen Definitionen greifen nicht mehr. Was bleibt noch vom
Menschen, wenn alles, was ihn – gerade auch in seiner Vielfalt – auszeichnet, zur Disposition
steht und substituiert werden kann?
4. Grenzen der dualistischen Konzeption vom Menschen
Die Versuche im Rahmen der klassischen Anthropologien, den Menschen als Menschen zu
definieren, haben eine cartesianische Grundlage. Die seit dem 16. Jahrhundert gültige Auftei-
lung des Menschen in eine denkende (res cogitans) und eine ausgedehnte (res extensa) Sache
hat im Laufe der Zeit zu einer immer stärker werdenden Priorisierung des Geistes vor dem
Körper geführt: Ich denke, also bin ich! Dieser Dualismus, der Körper und Geist in ein hierar-
chisches Verhältnis setzt, spiegelt sich in den verschiedenen philosophischen Anthropologien
wider und fundiert den Menschen im Gefüge der Lebewesen als Macher: homo activans -
dank seines Geistes!7 Die Versuche seitens der medizinischen Anthropologie und in ihrer
Nachfolge der Psychosomatik, diese beiden Entitäten wieder miteinander zu verbinden, waren
nicht wirklich erfolgreich (vgl. Uzarewicz/Uzarewicz 2005, 25-30). Auch die Philosophie, die
letztlich doch Bewusstseinsphilosophie geblieben ist, kommt von der Dominanz des Geistes,
der in Gestalt von Vernunft, Verstand etc. erscheint, nicht los. Deutlich wird das in ihrem Per-
sonenkonzept, welches bemüht wird, um die Frage „Wer ist ein Mensch?“ oder „Wann ist ein
Mensch ein Mensch?“ zu beantworten. Den meisten Definitionen, wer als Mensch zu gelten
hat, haftet der Dünkel derjenigen an, die definieren. Menschen gelten als Subjekte mit Be-
wusstsein und als (subjektiv sinnvoll) handelnde Lebewesen. Das Konzept der Personalität ist
eng an diese Kompetenzen gebunden. Person ist in der modernen westlichen Gesellschaft ein 7 In Abschnitt 6 und 7 werden wir sehen, dass die andere Dimension des Menschseins, nämlich die des homo patiens, genauso wichtig und gültig ist; im intensivpflegerischen Kontext vielleicht sogar entscheidend.
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Mensch mit bestimmten „geistigen“ Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten, die das Wesen(tliche)
des Menschen ausmachen (sollen), werden in jüngster Zeit wieder sehr stark an die Materie,
an das Stoffliche rückgebunden: Der stoffliche Träger des Bewusstseins ist das Gehirn (vgl.
Uzarewicz/Uzarewicz 2005, 145ff.); auf dieses wird Menschsein reduziert. Der Mensch wird
somit zum Gehirnwesen: homo cerebralis. Ist das Gehirn tot, ist der Mensch tot. Das Hirntod-
Kriterium ist aber ein „sozio-technisches Konstrukt“ (Lindemann 2002) und als solches
höchst prekär und paradox. „Menschliches Leben wäre dann nicht einfach an Lebendigkeit,
sondern an bewusste Lebendigkeit gekoppelt“ (Lindemann 2002, 23). Auch dieser Versuch
der Überwindung des Dualismus mündet also in einer weiteren Reduktion des Menschseins,
wie es das Hirntodkriterium drastisch veranschaulicht.
5. Spezifika der Menschen (in) der Intensivpflege
Intensivpflege und –medizin sind in einer besonderen Situation: Es steht hier nicht so sehr in
Frage, was ein Mensch ist. Die Humanmedizin hat es per definitionem mit Menschen zu tun.
Das Problem, welches sich auf einer Intensivstation stellt, ist der Status dieses – der Morpho-
logie nach – Menschen. Ist er ein Subjekt mit Bewusstsein (ein Bewussthaber), eine Person
(Rechtssubjekt), ein sozialer Akteur (Interaktionssubjekt), ein lebendes Ding (Zelle, Zellhau-
fen, Fetus, als eingeschränktes Rechtssubjekt: Säugling), ein totes Ding (Leiche8)? Unterstellt,
es handelt sich um ein bewusstseinsfähiges Individuum: Auf welcher Stufe existiert es? Spä-
testens hier holt uns die ursprüngliche Frage – „Was ist ein Mensch?“ – wieder ein, denn der
Status ist unmittelbar daran gebunden, was wir unter einem „richtigen“ Menschen verstehen.
Auf der Intensivstation haben wir es immer mit Menschen in einer speziellen Situation, in
einer existenziellen Krise zu tun. Zumeist existieren sie auf einer Stufe, der das fehlt, was in
der Konzeption der dualistischen Menschenbilder gewöhnlich als besondere Auszeichnung
des Menschen gilt: Bewusstsein bzw. die Fähigkeit zum selbständigen und autonomen Han-
deln. Die Menschen, die hier als Patienten aufgenommen werden, befinden sich in einer sonst
nirgends zu findenden Abhängigkeit. Der Mensch ist völlig passiv: homo patiens. Nicht vom
ihm, sondern nur von seinem Körper wird erwartet, dass er „Lebenszeichen“ gibt. Ganz ent-
scheidend für den Status des Patienten ist die Prognose: Besteht Aussicht auf Genesung oder
liegt er im Sterben? Bei günstiger Prognose, d.h. vor allem eine wahrscheinliche Wiederher-
stellung oder Aufrechterhaltung somatischer und cerebraler Funktionen und Fähigkeiten (die
Fähigkeit selbständig atmen zu können inbegriffen), stellen sich keine weiteren Fragen und
Probleme. Erst auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, die zum Alltag von Intensivstatio-
8 Auch Leichen haben noch gewisse Rechte, wenngleich es schwer fällt, von „Subjekten“ zu sprechen.
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nen gehört, wird die Frage nach dem anthropologischen (und sozialen) Status aktuell. Hier
wird das Problem, inwiefern es sich bei der Patientin (noch) um ein Subjekt, eine Person, eine
soziale Akteurin handelt oder (schon) um ein (bloß noch) lebendiges oder ein totes Ding han-
delt, virulent.
Man wird schnell einsehen, dass der jeweilige Status nicht nur in rechtlicher oder ethischer
Hinsicht relevant ist, sondern auch in anthropologischer, nämlich für den Grad der Abhängig-
keit des Patienten. Je geringer die „Eigenleistungen“, die Ausdrucksmöglichkeiten der Patien-
tin sind, desto größer ist die Abhängigkeit vom Personal und der technischen Apparatur der
Intensivstation. „Das Entsetzlichste im Zustand des Koma ist das völlige Ausgeliefert-Sein, ist
der Umstand, gänzlich wehrlos dem Gutdünken der Menschen ausgesetzt zu sein, die die Ent-
scheidungsgewalt darüber haben, einen am Leben zu erhalten oder nicht. … man wird völlig
entmündigt, weil man sich in diesem Zustand nicht verbal dazu äußern kann, was man will,
wessen man dringend bedarf und was man nicht ertragen kann, weil es zu grauenhaft für ei-
nen ist.“ (Rafael 2006, 94)
Je abhängiger der Patient ist, je umfangreicher er mit einer Apparatur „verkabelt“ ist, desto
mehr wird er zur „bio-technischen Gestalt“ (Lindemann 2002, 148; 149). Das bedeutet aber
auch, dass es nicht mehr der Patient „selbst“ ist, der dann noch Lebenszeichen von „sich“
gibt, sondern „es werden ununterbrochen Zeichen produziert“ von Apparaturen, die sozusa-
gen für ihn „seinen Zustand ausdrücken“ (ebd.: 148), weil er selbst vielleicht9 nicht mehr dazu
in der Lage ist. Dabei wird er jedoch keineswegs auf seine einzelnen Organe reduziert. Viel-
mehr muss die biotechnische Gestalt, in ihrer Zerlegbarkeit in vielfältige Funktionen und
Messwerte immer bezogen bleiben auf die Einheit des Patienten, weil die ganzen Messwerte
ohne diesen Bezug auf die konkrete Person, nur für Statistik, nicht aber für eine (intensiv-)
pflegerische, therapeutische oder medizinische Behandlung brauchbar wären. „Je arbeitsteili-
ger die Medizin vorgeht, je mehr sie den Patienten in Laborwerte auflöst, in Maßverhältnisse,
die den Druck im Kopf, den Blutdruck, den zentralen Venendruck als Zahl darstellen und je
mehr sie bildhafte Darstellungen der bioelektrischen Aktivitäten des Gehirns im EEG, sowie
des Herzens im EKG produziert, desto mehr braucht sie den Patienten als übergestalthafte
Einheit“ (Lindemann 2002, 177). Der Patient ist daher nie mit seiner Gestalt, seinen Werten,
Kurven und Bildern identisch; zwischen ihm und seinen Daten besteht vielmehr ein Verwei-
sungszusammenhang. Dieser ist einer zwischen Körper, Technik und Leiblichkeit. Die Hu-
manmedizin behandelt ein Lebewesen nur, weil es eine Person ist; sie kann es als Naturwis-
senschaft aber nicht als Person behandeln. Daraus kann man ihr keinen Vorwurf machen. 9 Das zeigt sich erst dann, wenn er von der Apparatur „abgehängt“, z.B. von der Herz-Lungen-Maschine ge-nommen wird.
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Den jeweiligen Grad der Abhängigkeit des Patienten reduziert das natürlich nicht, aber es
schützt ihn davor, wie eine beliebige Sache behandelt zu werden. Damit ist das Prekäre der
Situation für ihn jedoch nicht aufgehoben, denn je geringer seine Möglichkeiten sind, sich
expressiv zu verhalten, umso stärker ist er in seiner Angst, seinem Schmerz, seiner Sorge,
sofern er überhaupt noch etwas bewusst hat (d.h. in traditioneller Sprechweise: rudimentäres
Bewusstsein hat), auf sich selbst zurück geworfen. In völlig fremder Umgebung, vielfältigen,
kaum deutbaren Reizen ausgesetzt, ist die Bewegungs- und Handlungsfreiheit radikal einge-
schränkt, spürt aber sein Involviertsein in der Situation „Intensivstation“.
Hier kommt das besondere Dilemma der Intensivpflege zum Tragen. Pflegende und Thera-
peuten können nicht auf die gleiche Weise wie die Intensivmediziner die Beziehung zu den
Patienten unterkomplex gestalten, d.h. ihn nicht nur in der Manier des dualistischen Men-
schenbildes als entweder körperliches Wesen (physische Funktionen) oder geistiges Wesen
(Bewusstseinszustände) betrachten. Vielmehr kommt hier eine andere Dimension zu Vor-
schein: Da Pflegende und Therapeutinnen häufiger, dauerhafter und mit einer größeren Er-
wartungshaltung der Patientinnen als Personen und ihrer Expressivität (die sich auch als Pas-
sivität äußern kann) konfrontiert sind, sind sie zu intensiverer Kommunikation gezwungen –
und zwar in umfassender leiblicher Hinsicht10. Während die Medizin, insbesondere die Inten-
siv-Medizin, mehr einem künstlerisch-handwerklichen und naturwissenschaftlichen Gewerbe
nachgeht, geht die Pflege einem umfassend humanwissenschaftlichem Gewerbe nach, in dem
Produktion und Konsumtion zusammen fallen. Beide Perspektiven sind gleichermaßen wich-
tig, um zum Wohl und zur Genesung eines Menschen beizutragen. Was aber heißt das nun
konkret und worin unterscheiden sich dualistisch fundierte Menschenbilder von einem mo-
nistisch fundiertem Menschenbild, welches den Leib als nichtteilbare Einheit voraussetzt, in
der Praxis der Intensivpflege?
6. Leibphänomenologie
Neben den oben beschriebenen klassischen Anthropologien gibt es seit längerem eine weitere,
in der Pflege bislang nur wenig beachtete Strömung, die ernsthafte Versuche unternommen
hat, den Köper-Geist-Dualismus zu überwinden und den Menschen grundsätzlich anders zu
denken. Schon für Nietzsche ist der Leib die Totalrepräsentation des Individuums und Geis-
tigkeit eine abgeleitete physiologische Tatsache (Uzarewicz/Uzarewicz 2005, 24). Der Leib
ist in der abendländischen Geschichte seit Demokrit – mindestens seit Platon11 – das Fremde
und Verfemte par excellence: er existiert in Philosophie und Wissenschaften erst seit kurzem. 10 Das gilt gerade auch mit Personen mit eingeschränktem Bewusstsein. Dazu unten mehr. 11 Zur „Geschichte der Verdeckung und Entdeckung des Leibes“ vgl. Schmitz 1998b, 365-601
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Das europäische dominante Körperschema ist jedoch, wie die außereuropäischen Modelle,
etwa Chinas, Ägyptens oder Indonesiens, aber auch noch das archaische Griechenland Ho-
mers (vgl. hierzu Rappe 1995) zeigen, nur eines von vielen kulturspezifischen Leibschemata.
Diese Modelle sind gar nicht auf die Idee verfallen, den Leib ausschließlich als stoffliche
Vergegenständlichung, als festen Körper zu verstehen. Das Leibschema „ … umfasst sowohl
die Symbolisation des ganzen Leibes als auch die jeweiligen Orientierungen und Aufteilungen
des Leibes in Zentren und Bereiche. Im Rahmen eines bestimmten kulturspezifischen Kontex-
tes von Wissen stehend, dient es als wesentlicher Bestandteil der Weltanschauung zur allge-
meinen Orientierung“ (Rappe 1995, 34).
Die frühe Phänomenologie beschreibt den Leib in einer Doppelrealität und verweist damit auf
das Vermittlungsfeld zwischen Körper und Geist (bzw. Seele). Die Leibphänomenologie Mer-
leau-Pontys (1966) zeigt den Leib als Wahrnehmbares und Wahrnehmendes und damit als
Medium des Welterlebens, als Verankerung in der Welt und als das Zur-Welt-sein. Er hat das
Problem der dualistischen Tradition ernsthaft angegangen. Trotzdem konnte er sich offen-
sichtlich der abendländischen Seelenmetaphysik ebenso wenig entziehen (vgl. Merleau-Ponty
1966, 109) wie er auch den „tiefen Graben des Unterschieds zwischen Leib und Körper“
(Schmitz 2003, 403) ignoriert hat.
Die Neue Phänomenologie befasst sich explizit mit dem Leib bzw. der Leiblichkeit und setzt
bei der unwillkürlichen Lebenserfahrung an. Das ist alles, was einer konstruierenden Willkür
nicht verfügbar ist; alles, was nicht bloß Ausgeburt reger Phantasie ist; also all das, was wir
am eigenen Leibe spüren, unabhängig zunächst von deren Expressivität. So berichtet Rafael
(2006) aus ihrem Koma von unerträglichem Durst, von Angst, Eiseskälte und Dunkelheit. Sie
spürt dies am eigenen Leibe. Dank des Leibgedächtnisses spürt sie auch das Fehlen ihres
Körpers: „Wo ist mein Körper geblieben? Spüre sein Gewicht nicht, spüre ihn überhaupt nicht
mehr. Bin körperlos…“ (Rafael 2006, 17). Diese unwillkürlichen Lebenserfahrungen, das
eigenleibliche Spüren sind subjektive Tatsachen: Ich spüre! Ob andere Menschen mit ihren
Sinnen dies als objektive Tatsachen12 erfassen können, ist eine ganz andere Frage. Die Mutter
der Patientin erlebt die beschriebene Situation wie folgt: „Während der ersten drei Wochen ist
keinerlei Reaktion sichtbar. Susanne liegt mit geschlossenen Augen ganz ruhig im Bett, wirkt
geradezu entspannt, als ob sie schlafe. Wir kommen zweimal am Tag, morgens und abends,
bleiben jeweils über eine Stunde lang und erzählen von den Ereignissen zuhause, bestellen
12 Subjektive Tatsachen sind solche, die nur einer, nur ich im eigenen Namen aussprechen kann; z.B. ich habe Hunger! Es ist mein Hunger. Objektive Tatsachen sind solche, die jedermann in jedermanns Namen aussagen kann; z.B. Frau Rafael hat Hunger; unbeschadet, ob es zutrifft oder nicht.
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Grüße von Freunden, …. Sie aber liegt nur ganz ruhig da, wie Dornröschen; der Eindruck ist,
sie nimmt nichts von alledem wahr. Auch Berührungen wie Streicheln, Händedruck, Küsse,
scheinen sie nicht zu erreichen.“ (Ernestine H. in Rafael 2006, 106)
Das eigenleibliche Spüren ist ein Gegenstandsbereich, der von der klassischen Phänomenolo-
gie, aber auch von den Wissenschaften und der philosophischen Anthropologie nicht beachtet
worden ist.
6.1 Leib und Körper
Den Körper kennen wir über die Sinne: Wir sehen, riechen, schmecken, tasten und hören ihn.
Es gibt lebendige und tote Körper, Gegenstände unter anderen Gegenständen in Relation von
Lage und Abstandsbeziehungen erfassbar und unterscheidbar (Schmitz 1999a, 199). Der Leib
hingegen ist nicht stofflich. Er ist eine dynamische Struktur (vgl. Soentgen 1998, 16), die mit-
tels des Spürens, genauer gesagt, des eigenleiblichen Spürens erfasst werden kann. Die Gren-
ze des (naturwissenschaftlich) anerkannten Körpers ist die Haut, sie konturiert ihn, er ist der
sinnliche Körper, die Grenze des Leibes hingegen ist das Spürbare. Der Leib reicht weiter und
tiefer als die Sinne, obwohl er keine Konturen hat. Die Sinne können uns täuschen, die leibli-
chen Regungen nie. Ohne eigenleibliches Spüren könnten wir unseren Körper nicht als eige-
nen wahrnehmen, weil da nichts wäre, was man sinnvoll `wir` und `uns` nennen könnte, und
weil wir nicht wissen könnten, um wessen Körper es sich handelt. Allerdings gilt es hier zu
unterscheiden zwischen dem Körper, wie ihn die Naturwissenschaften kennen und dem sinn-
lichen Körper, wie ihn (fast) jeder Mensch durchschnittlich jeden Tag erlebt. Der Körper der
Naturwissenschaften ist eine Menge von Daten, die unter Mitwirkung von Instrumenten kon-
struiert werden. Die Daten (und Teile) dieses Körpers lassen sich in ein Koordinatensystem
(z.B. in einem Anatomieatlas) eintragen. Der sinnliche Körper unseres gewöhnlichen Erlebens
hingegen ist Medium dieses subjektiven Erlebens. Der naturwissenschaftlich verobjektivierte
Körper steht daher auch dem perzeptiven Körperschema, also der optischen Vorstellung (ei-
gener und fremder) Körper nahe, während der sinnliche Körper sich am motorischen Körper-
schema, d.h. der sinnlich erlebbaren Eigenbewegung im Raum, orientiert.
Um im Folgenden die leibliche `Betrachtungs`weise des Menschen zu verdeutlichen, haben
wir drei Beispiele ausgewählt: Phänomene, die in der Pflege gut bekannt sind, für die es auch
reichlich wissenschaftliche und erfahrungsorientierte Erklärungsansätze gibt. An Hand dieser
Beispiele möchten wir die Spezifik bzw. das Charakteristische einer leibphänomenologischen
Betrachtung heraus arbeiten und somit das andere, leibliche Menschen`bild` darlegen.
14
6.2 Bettlägerigkeit13 und Angst
Im Bett zu liegen ist in unseren Breitengraden ein allgemein bekanntes Phänomen. Das eigene
Bett ist uns zum Inbegriff der Privatheit und Intimität geworden (vgl. Jansen 1997). Wir ken-
nen das wohlige Gefühl, wenn wir uns nach einem anstrengenden Arbeitstag abends zurück-
ziehen und in einem kuscheligen Bett `alle Viere` von uns strecken und dann langsam weg-
dämmern. Gerade weil wir Menschen in der Vertikalen leben (aufrechter Gang), ist die Hori-
zontale eine willkommene Erleichterung. Was aber ist Bettlägerigkeit? Wenn wir die Alterna-
tive des Wechsels zwischen senkrecht und waagerecht nicht (mehr) haben? Wenn wir – aus
welchen Gründen auch immer – `ans Bett gefesselt` sind! Diese Metapher drückt sehr deutlich
aus, was mit uns auf der leiblichen Ebene passiert14. Ans Bett gefesselt zu sein heißt, nicht
mehr aufstehen können und macht hilflos15. Infusionsschläuche und diverse Kabel, mit denen
ein Mensch an Überwachungsgeräte angeschlossen ist, können das Gefühl der Hilflosigkeit
noch verstärken; ganz zu schweigen von den tatsächlichen Fixierungen an Hand- und/oder
Fußgelenken. Sich dann nicht mehr wehren können bedeutet, Unbilden und Widerfahrnissen
ausgesetzt zu sein. Das kann z. B. das Erfahren einer Diagnose einer ernsthaften Krankheit
sein, von der man befallen worden ist und von der man nur weiß, dass sie einen nicht mehr
loslassen wird, wobei Verlauf und Ausgang im Ungewissen liegen (z. B. bei MS, Rheuma,
Krebs). Aber auch das Angewiesensein auf Andere und deren guten Willen (zumindest für
eine bestimmte Zeit) ist damit gemeint. Im Vergleich zu dem Spielraum, den ein Mensch vor
der Bettlägerigkeit kennen gelernt hat, ist diese Situation nun eine eingeengte, beengende.
Diese Enge hat Auswirkungen auf die Leiblichkeit: Sie macht Angst16 und früher oder später
will man weg! Mit dem Drang `Weg!` ist nicht unbedingt ein Ortswechsel gemeint, sondern
man will grundsätzlich aus der „Umklammerung der Enge“ ausbrechen (Schmitz 1998a, 194);
man will nur raus aus der bedrückenden Situation. Dieses Wegwollen und nicht Wegkönnen
treibt die Angst weiter an (Schmitz 1998a, 180). Das eingangs beschriebene Gefühl des woh-
ligen Geborgenseins, des Sich-fallen-lassen-Könnens in der Privatsphäre des eigenen Bettes
kehrt sich nun in sein krasses Gegenteil. Dabei gibt es kein Entrinnen, keinen Spielraum, wo-
13 Welch immens großes Forschungsdesiderat dieses Phänomen birgt, hat Abt-Zegelin (2004, 193-217) deutlich heraus gearbeitet. 14 Spätestens an dieser Stelle soll deutlich werden, dass der Aspekt des homo patiens genauso zum Menschsein gehört, wie der des homo activans. Leider wird er in den normativen Diskursen als unerwünschter Zustand oder gar als „Stigma“ (Abt-Zegelin 2004, 195) vorschnell verurteilt, dem man mit allen Mitteln der aktivierenden Pflege zu Leibe rücken möchte, noch bevor man begriffen hat, was in diesem „Zustand“ alles geschieht. 15 „Der bettlägerige Patient wird als der hilfsbedürftigste gesehen, der zu allen Verrichtungen des täglichen Le-bens fremder Hilfe bedarf.“ (Gößling 1978, 254 zit. in: Abt-Zegelin, 2004, 194) 16 Etymologisch hängen die Begriffe Enge und Angst zusammen (vgl. hierzu das Geschehen bei einem angina pectoris-Anfall).
15
hin sich der in die Enge Getriebene, der sich Ängstigende flüchten könnte17. Man kann einer
Bedrohung eventuell entfliehen, aber nicht seiner Angst.
Es macht daher auch keinen Sinn, die Anklammerung eines Patienten (z.B. beim Betten oder
Lagern) lösen zu wollen oder gar selbst in Hysterie zu verfallen, etwa weil man nicht weiß,
was zu tun ist. Beides kann den Drang zum Klammern seitens des Patienten noch verstärken.
Denn die Anklammerung, das Sich-steif-Machen ist physischer Ausdruck des eigenleiblichen
Spürens der Enge. Da helfen auch keine rationalen Erklärungen. Sinnvoller erscheint es z.B.
als Pflegender dem Betroffenen `Asyl` zu gewähren und eine Atmosphäre im Raum zu schaf-
fen, die aus der Enge hinausführt und dem Drang des `Weg!` entgegen kommt: durch eine
beruhigende Stimme (Stimmung), durch langsamere Bewegungen oder andere ihn unterstüt-
zende Handlungen, wie etwa den (leiblichen) Raum zu öffnen und zu erweitern und alles zu
vermeiden, was ihn beengen könnte. Das häufig beobachtete Sich-dicht-ans-Bett-Stellen sei-
tens der Pflegepersonals und dem Patienten sagen, er könne nicht hinausfallen, weil man ja
davor stehe und ihn halte, wirkt u.U. eher noch beengender, verstärkt die Klammerung seitens
des Patienten nur noch mehr. Ähnlich verheerende Wirkung für die leibliche Ökonomie kön-
nen Bettgitter haben, die als vermeintlicher Schutz und zur Sicherheit angebracht werden.
Aber nicht nur im Falle der Bettlägerigkeit spielen die Phänomene der Angst und der Enge
eine entscheidende Rolle, sondern überall da, wo der gewöhnliche, der gewohnte Radius ein-
geschränkt wird. Kontexte, Raum und Zeit werden umso bedeutungsloser, je größer die Angst
wird. Enge erzeugt auf Dauer Angst und Angst ist Regression, für die es kein früher oder spä-
ter gibt. Die Zeit der Angst ist ein dauerhaftes Jetzt und Hier. Sie ist insofern zeitlos, als das
sie sich unendlich auszudehnen scheint. In der Angst stehen wir nicht neben uns; in ihr gibt es
keine „exzentrische Position“ (Plessner), kein Reflektieren über das eigene Verhalten.
Das Bett ist ein besonderer Gefühlsraum, ein Aufenthaltsort, in dem wir wohnen (Flusser
1993). „Für pflegebedürftige Menschen kann das Bett tatsächlich zur Wohnung, zum Le-
bensmittelpunkt werden – sie schlafen nicht nur dort, sie verbringen auch tagsüber die Zeit im
Bett, sie lesen, essen, telefonieren, empfangen Besuch oder sehen fern und manche arbeiten
vielleicht auch im Liegen.“ (Abt-Zegelin 2004, 211) Im semiöffentlichen Raum von Pflege-
einrichtungen ist die Distanz vor allem für die Bewohner z.T. aufgehoben. In dem – nur ver-
meintlich – umfriedeten Raum kann Personal jederzeit „in regellosen Intervallen eindringen
und zusehen“ (Schmitz 1995, 224). Das existentielle Verlangen nach Wohnung ist damit ge-
stört. Wird Bewohnerinnen derartiger Einrichtungen ein solcher Rückzugsraum vorenthalten,
ist das eine gewalttätige Maßnahme, weil somit in den leiblichen Raum übergegriffen wird. 17 Auch wer eingesperrt ist, wird mit der Angst konfrontiert. Vielleicht sind die modernen Freiheitsstrafen u.a. auch der (unreflektierten) Intention geschuldet, den Straftäter in Angst zu versetzen.
16
Wer keine Möglichkeit mehr hat, sich in sein Refugium zurück zu ziehen, ist Anderen ausge-
liefert. In einem Krankenzimmer, und noch stärker auf einer Intensivstation, ist die Grenze
zwischen `privat` und `öffentlich` aufgehoben. Die dort Liegenden sind den Blicken und Be-
handlungen Fremder ausgesetzt. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Aber „zur
Selbstbehauptung des Menschen gehört (...) die Leistung, sich mit den Gefühlen zu arragieren
und (...) so einzurichten, daß er ihnen nicht hilflos ausgeliefert ist. Von größter Bedeutung für
diesen Erfolg ist die Fähigkeit, Grenzen im Raum zu ziehen und dadurch eine Umfriedung für
das Wohnen zu schaffen. Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, (...)“
(Schmitz 1997, 139), den es im Krankenzimmer, geschweige denn auf einer Intensivstation,
gewöhnlich nicht gibt. „Die Umfriedung ist die kritischste Zone der Wohnung“ (Schmitz
1997, 141); fällt sie gänzlich weg, ist der Betroffene allen ergreifenden Mächten, Widerfahr-
nissen, allem Fremden schutzlos ausgeliefert. Die `spanischen Wände` oder Vorhänge, die auf
Intensivstationen zur Abschirmung und `Wahrung der Privat- und Intimsphäre des Patienten`
angebracht sind, haben unter dieser Perspektive einen sehr ambivalenten Charakter; denn sie
bieten auf der physischen Ebene nur visuellen, jedoch keinen akustischen oder olfaktorischen
Schutz. Eine Situation, in der man nicht sieht, was geschieht, wohl aber tausend unbekannte
Geräusche hört, kann sehr wohl zur Angststeigerung beitragen (die sich u.U. auch in Desori-
entierung, vermehrter Unruhe oder Somnolenz verlieren kann), weil draußen, in diesem Fall
hinter dem Paravent, das Unbekannte, das Unvertraute und Abgründige lauert, welches nicht
nur die Sinne irritiert (vgl. hierzu Besendorfer 2004, 96ff.), sondern die Leiblichkeit affiziert.
Besser wäre es sicher für die Betroffenen, sie würden sehen können, aber nicht gesehen wer-
den. Eine für Blicke undurchlässige Abschirmung kann die Beengung, und damit die Angst,
durchaus steigern.
6.3 Der Schmerz
Es gibt die unterschiedlichsten Arten von Schmerzen: Sie können stechen, beißen, pochen,
bohren, reißen, ziehen, drücken, klopfen, hämmern und sich auf sehr verschiedene Weise in
den Vordergrund drängen: leise schleichend, permanent, heftig, plötzlich, chronisch-
dauerhaft, kommen und gehen, wann sie wollen. Der Schmerz gehört zum Leben und den-
noch will ihn keiner haben. Was ist das eigentümliche des Schmerzes (trotz oder wegen seiner
vielfältigen Ausprägungen)? Der Schmerz ist eine ganz eigenartige leibliche Regung. Je nach
seiner Art spürt man Spannung, Schwellung, in unterschiedlichen Intensitäten und in einem
dem Schmerz eigenen Rhythmus, der uns aus der Bahn werfen kann. Wir haben uns dann
nicht mehr unter Kontrolle. So ist z.B. der Zusammenhang von Schmerz und Angst bekannt –
17
zwei Phänomene, die sich gegenseitig aufschaukeln können. Auch wenn der Schmerz vorbei
ist, ist er nie mehr ganz weg; er hinterlässt seine Spuren. Wir sprechen gemeinhin von
Schmerzgedächtnis und meinen das Leibgedächtnis, in dem sich die Spuren des Schmerzes
(und anderer leiblicher Regungen) eingegraben haben.
Der Schmerz ist a-sozial, weil er alle gesellschaftlichen Anbindungen zerstört und den Betrof-
fenen in Einsamkeit und Isolation stürzt. „Nirgendwo ist der Mensch mehr Kreatur als im
Zustand unerträglicher Schmerzen“ (Sofsky 1996, 74), der dem „Ansturm“ wohl sehr nahe
kommt. Er affiziert die ganze Person, den ganzen Menschen, aber – zunächst – eben nur den
einen, der Schmerzen hat. Der Schmerz gilt daher auch als principium individuationis, weil er
den Menschen ganz auf sich selbst zurück wirft. Ist der Schmerz als Phänomen asozial, so ist
der Schmerzensschrei (als Ausdruck des Phänomens) dies nicht; er ist in zweifacher Hinsicht
gerichtet: Zum einen ist er selbst ein Impuls des `Weg!` vom Schmerz. Seinen Schmerz hi-
nauszuschreien oder sich im rhythmischen Jammern oder Stöhnen zu ergehen, bringt selbst
schon Linderung. Zum anderen ist er ein an andere gerichteter Hilfeschrei mit einer irgendwie
gearteten Botschaft. Diese anderen, an die der Schrei (das Stöhnen, das Jammern oder
Schluchzen) gerichtet ist, sind davon unangenehm berührt (vgl. Daudet 2004, 14; 87; 88).
Auch wenn sie dem Schmerzgeplagten glauben oder mit fühlen, nervt sie sein Gejammer,
seine leidende Miene oder gar sein Schreien. Sie erleben ein Individuum, das aus der Spur,
aus dem Rhythmus ist. Sie wollen von den Schmerzen der Anderen möglichst nichts mitbe-
kommen und empfinden es als eine Zumutung und Aufdringlichkeit, weil der Andere nicht
still leidet, die Kontrolle über sich verloren hat und andere mit hineinzuziehen versucht in
seinen Schmerz.
Der Schmerzensschrei, das Schluchzen oder das Stöhnen ist eine Anmutung und Aufforde-
rung einer leiblichen Regung, die der Betroffene nicht kontrolliert. Starke Schmerzensschreie
oder vor Schmerz verzerrte Gesichter empfinden wir als Haltlosigkeit, was sie tatsächlich
auch sind, weil der Gepeinigte keinen Halt mehr findet. Der Schmerzausdruck erscheint
schnell als exhibitionistisch: Jeder quält sich mit seinem Schmerz allein, aber jeder will die
Anderen in diese Intimität mit hineinziehen, Mitleid erheischen, Händchen halten, körperliche
Berührung, beruhigendes Zureden. Geteiltes Leid ist halbes Leid: Der Andere soll unser
Schmerzasyl, unser Ausweg aus dem Schmerz sein. Und tatsächlich können andere Menschen
und selbst Tiere ein derartiges Asyl sein. „Es ist bekannt, daß Schmerz geringer wird, wenn
vertraute Menschen den Leidenden unterstützen. Schon Freiherr von Knigge leitete den dies-
bezüglichen Abschnitt in seinem Klassiker `Über den Umgang mit Menschen` mit den Wor-
ten ein: `Wer je empfunden hat, welch ein Labsal bei Krankheiten und Schmerzen eine gute,
18
sorgsame, stille und teilnehmende Pflege gewährt, der wird den Gegenstand nicht unwichtig
finden.`““ (Soentgen 1998, 36)
6.4 Veränderte „Bewusstseins“-Zustände oder eigenleibliches Spüren?
Es gibt Erfahrungsberichte von Patientinnen, die einen Aufenthalt auf Intensivstationen hinter
sich haben, in denen deutlich wird, dass ihr Erleben von Situationen während der Zeit ihres
Aufenthaltes dort sehr stark von den Wahrnehmungen der Pflegenden abweicht. „Patienten
berichteten, dass sie die ganze Nacht nicht schlafen konnten, obwohl die Pflegenden des
Nachtdienstes den Eindruck hatten, die Patienten hätten geschlafen.“ (Besendorfer 2004, 95)
Das von außen Wahrnehmbare weicht also eklatant von dem Erleben der Patienten ab, was
nicht nur mit der Wirkung von sedierenden Medikamenten oder veränderten Bewusstseinszu-
ständen erklärt werden kann. Die subjektiven Tatsachen stimmen mit den objektiven Tatsa-
chen nicht überein. Diese Diskrepanzen als „unwirkliche Erlebnisse“ (Besendorfer 2004, 98)
zu kategoriesieren, zeugt von der Missachtung der leiblichen Dimension des Menschsein so-
wie der Anerkennung der subjektiven Tatsachen, was sich auch in dem problematischen Ver-
hältnis zwischen Pflegenden und zu Pflegenden widerspiegelt: „In diesen Fällen waren die
Pflegenden ein Teil der unrealen Welt (sic!), und die Patienten hatten das Gefühl, sich gegen-
über den Pflegenden verteidigen zu müssen. Manchmal wollten die Patienten die Pflegenden
schlagen, weil sie etwas „Dummes“ sagten oder in ihren „personal space“ eintraten. Einige
Pflegende wurden bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben: `angry eyes or being
grudging or mean`“18 (Besendorfer 2004, 98) Wenn Pflegende jedoch in den personal space
eindringen, ist die Leiblichkeit unmittelbar bedroht. Dieses Eindringen geschieht – wie wir
noch sehen werden – über die leibliche Kommunikation (vgl. Abschnitt 7). So tut ein Blick
(ob sanft oder ärgerlich) ebenso seine (leibliche) Wirkung, wie die unwirsche Gestik (dabei
muss diese Gestik gar nicht unwirsch intendiert sein; es reicht schon aus, wenn sie z.B. eine
etwas eckige Gestalt hat) oder eine gemeine Mimik (auch hier geht es nicht um den gemeinen
Blick – keine Pflegende würde wissentlich und willentlich einen Intensivpatienten gemein
anblicken. Es genügt manchmal, wenn Pflegende müde, angestrengt, stark konzentriert sind,
dann verändert sich die Mimik entsprechend, dass sie auf die einen eben konzentriert, auf die
anderen ernst, arrogant oder aber auch gemein wirken kann). Ebenso wie die Patienten spü-
ren: `da ist ein Eindringling, ich muss mich verteidigen`, so spüren sie auch, wenn es jemand
gut mit ihnen meint: Da war „`irgendetwas Besonderes` mit den Pflegenden …: etwas Persön-
18 Übesetzung: ärgerlicher Blick, unwirsch, gemein
19
liches…. Diese Pflegenden trugen dazzu bei, die Gefühle und Gedanken der Patienten zu klä-
ren und ihnen in ihrer Situation Orientierung zu geben.“ (Besendorfer 2004, 97)
Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen19, die zu bestimmten somati-
schen Erscheinungen führen. Darüber hinaus gibt es die leibliche Ebene, die immer auch be-
troffen ist und eine ganz eigene Realität darstellt. Nimmt man diese subjektiven Tatsachen
ernst, so findet man andere Zugänge im Umgang und in der Kommunikation mit Patienten.
Ein alkoholkranker Patient, der sich in der akuten Phase des Entzugs befand, fing eines
Nachts an zu `randalieren`: Er wollte aufstehen und flüchten, riss sich dabei fast die Infusi-
onsschläuche und Überwachungskabel sowie Dauerkatheter ab und wurde so laut, dass die
anderen Patienten davon wach und irritiert ängstlich wurden. Auf die Frage der Pflegenden,
was denn los sei, warum er so aufgeregt sei, antwortete er: Es seien Schlagen im Bett und sie
würden ihn angreifen. Daraufhin fragte sie: „Wo sind sie, wo genau sind die Schlangen?“ und
der Patient deutete mit dem Finger auf den Beinbereich des Bettes. Daraufhin nahm die Pfle-
gende eine Nackenrolle und wischte damit in nicht zu hektischen aber sehr bestimmten Be-
wegungen die Schlangen aus dem Bett, hob die Decke etwas an, um nachzusehen, ob sich
noch irgendwo eine Schlange versteckt habe. Sie fragte den Patienten: „Sehen Sie noch eine,
oder sind sie jetzt alle weg?“ Der Patient beruhigte sich sichtlich, sagte, dass er keine mehr
sehe, bedankte sich bei der „Helferin“ und legte sich wieder ruhig hin.
Die Halluzination im Delirium hat in diesem Beispiel das Schlangenbild produziert. Es hätten
genauso gut andere Wesen oder Attacken sein können. Interessant ist die leibliche Ebene: es
entstand plötzlich Enge verbunden mit einer enormen Spannung. Das Begegnen sieht hier
ebenso aus, wie bei der Bettlägerigkeit: Raum schaffen, die aus der Enge hinausführt und dem
Drang des `Weg!` entgegen kommt, für Ent-Spannung sorgen.
Auch (Wach-) Komatöse oder andere Patienten, von denen man annehmen kann, dass sie Be-
wussthaber sind, deren (Bewusstseins-) Status aber nicht eindeutig zu klären ist, sind auf ihre
Leiblichkeit regrediert. Man kann sagen, dass sie sich ständig auf einem Niveau zwischen
personaler Regression und personaler Emanzipation befinden. Nur weil sie jedoch nicht dazu
in der Lage sind, ihre Expressivität willkürlich zu steuern oder auch nur zu beeinflussen, sind
sie nicht schon völlig bewusstlos und unempfindlich. Ausdrücken können sie sich wie alle
Menschen nur über und mit ihrem Körper; aber in dem sind sie gefangen und auf die subjek-
tiven Tatsachen der eigenleiblichen Regungen und dem affektiven Betroffensein von Gefüh-
19 Vgl. hierzu exemplarisch Mindell 1999; Lindemann 2002.
20
len zurück geworfen20. Von dieser Leiblichkeit können sie sich nicht durch Verobjektivierung
„emanzipieren“. Inzwischen gibt es einige Berichte21 von Menschen, die im „Koma-Land“
(Rafael 2006: 18) gewesen sind. Rafael beschreibt ihr eigenleibliches Spüren in dieser Phase
als das Fallen in ein Nichts, in ein dunkles Loch, ohne Anhaltspunkte oder Orientierung: „Da
ist vorerst nichts, ein großes dunkles Loch, ein ganz und gar `Weg-Sein`. … Und dann das
Gefühl, `irgendwo´ zu sein, … umgeben von totaler Finsternis, … in absoluter Stille … nur
ein vages Wissen um die eigene Existenz. … Ich bin, aber ich bin namenlos, ich bin `je-
mand`.“ (Rafael 2006, 16). „Ich bin ganz allein. Angst, Angst, Angst. Es ist sehr anstrengend.
Ich muss etwas festhalten, ganz verzweifelt und bin doch schon so müde. Es ist sehr kalt und
nichts und niemand da, um mich zu wärmen. Ich bin gefesselt, gebunden, festgemacht an dem
Ort, an dem ich liege, den ich nicht kenne und wo ich mich nicht zurechtfinden kann. Alles,
wonach ich mich sehne, ist unerreichbar. Ich bleibe Trost-los: Niemand steht mir bei. … Ich,
ein Ich ohne Namen, ohne Geschlecht und Alter. Mit Augen, die nichts sehen, auch wenn ich
meine, sie weit zu öffnen. …. Oft großer Durst. In den Welten, die sich mir nun auftun, ist
dieser ungestillte Durst immer wieder meine leidvolle Erfahrung. … (ebd. 19)
„Un-erhört mein Rufen nach Hilfe, meine Bitten – nichts scheint nach außen, ins Draußen
durchzudringen. Möchte Trost finden, aber wie? Sage mir: Es gibt nichts mehr außer dir
selbst. Hilfe rufen nützt nichts. Ich muss den Ausweg allein finden. Ich kann nicht flüchten,
ich muss es finden. Muss das Wesentliche finden, von dem alles abhängt. Ganz schnell, sonst
ist es zu spät…“ (Rafael 2006, 19)
Sie spürt Angst und Kälte, ohne Zweifel engende Erfahrungen. Gefesselt, gebunden, festge-
macht in einem Nirgendwo ist sie an jedem `Weg von hier!` gehindert. Es gibt keinen Aus-
weg – überhaupt keinen Weg. Der Durst als ganz besonders intensives Erleben verschärft
diese Situation ins Unerträgliche und zieht sie nach innen und unten.
7. Theoretische Zusammenfassung: Das Alphabet der Leiblichkeit
Die oben genannten Beispiele haben deutlich gemacht, dass die Betrachtung der Menschen
von der Leibperspektive her, andere Zugänge und Erkenntniswege öffnen kann. Wie aber
kann man nun das Gesagte systematisieren und verallgemeinern? Um die Struktur des eigen-
leiblichen Spürens, die Leiblichkeit zu erschließen, hat Schmitz ein „Alphabet der Leiblich-
keit“ entwickelt, welches im Folgenden dargestellt wird. Die Ökonomie der Leiblichkeit, die
man als antagonistische Konkurrenzen bezeichnen kann, ist durch mehrere Polaritäten ge-
20 Die besondere Pointe dieses Zusammenhangs wird dann offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass „subjectum“ heißt: unterworfen, Unterworfener. 21 Vgl. hierzu exemplarisch Steins 2000, Hoffmann-Kunz 2002, Pantke 2002
21
kennzeichnet: Enge, Weite und Richtung, Spannung und Schwellung, Intensität und Rhythmus
sowie epikritische und protopathische Tendenz. Mit Hilfe dieser Begriffe können leibliche
Regungen erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das wichtigste Kategorien-
paar ist dabei das von Enge und Weite (Schmitz 1992, 45), die zusammen mit der Richtung
den „Grundstock aller leiblichen Regungen“ (Schmitz 1998b, 9) und damit auch den „vitalen
Antrieb“ (Schmitz 2003, 26) bilden. Engung und Weitung sind aneinander gebundene, dialo-
gisch konkurrierende Tendenzen (vgl. Schmitz 1992, 45). „Enge kennt man aus der Angst, der
Beklemmung, dem Schreck22, wenn man plötzlich die Luft anhält; alles zieht sich zusammen,
konzentriert sich auf einen Punkt. Die Weite dagegen spürt man im Rausch, in der Euphorie,
aber auch, wenn man aus einem engen Raum z.B. morgens aus dem Haus und ins Freie tritt,
die frische Luft einatmend. Die Enge des eigenen Leibes hebt sich stets ab vor dem Hinter-
grund der Weite. (...) Die Weite, die man außen sieht, und die Weite, die man spürt, sind nach
Schmitz identisch.“ (Soentgen 1998, 21). Die Enge ist strukturell dominant, weil der Leib
selbst eng ist und durch diese Enge eine, wenn auch labile, Einheit bildet (vgl. Schmitz 1998b,
73f.), wobei deutlich wird, dass eine leibliche Grundtendenz das Streben in die Weite ist. Das
Verhältnis dieser leiblichen Grunddynamik lässt die beschriebenen Phänomene der Bettläge-
rigkeit, des Schmerzes, des Deliriums vergleichbar werden. Überall da, wo ein Übermaß an
Enge entsteht, entsteht gleichzeitig auch der Drang in die Weite bzw. weg aus der Enge23.
Die Phänomene von Spannung und Schwellung sind an folgendem Beispiel nachvollziehbar:
Ein motorisch unruhiger Patient, der sich eventuell in einer postoperativen Phase oder aus
anderen Gründen in einem Verwirrtheitszustand befindet, will aus seinem Bett aufstehen und
nach Hause oder sonst wohin gehen. Die verordnete Bettruhe steht dem jedoch entgegen. Die
Pflegende erkennt die `Gefahr` und erklärt dem Patienten, dass er liegen bleiben muss; dabei
rückt sie die Bettdecke wieder zurecht, damit er `richtig` zugedeckt ist. Der Patient spürt aber:
er wird `zugeredet`; eventuell mit hektischer Stimme und gereiztem Tonfall. Die Botschaft
22 Der Schreck ist ein besonders krasses Phänomen der Engung. Jeder und jede wird mit dem Zusammenschre-cken, dem Sich-erschrecken, vertraut sein. Schmitz vergleicht den Schreck mit der Angst: jemanden in Angst und Schrecken zu versetzen ist gerade zu ein Gemeinplatz, ein gängiger Topos. Was unterscheidet nun aber Angst und Schrecken voneinander? Beide sind Phänomene „übermäßiger Spannung“ und „Weisen des gehinder-ten Impulses `Weg!`“ (Schmitz 1998b, 174). Es gibt keinen Ausweg, man sitzt in der Klemme; die Lage ist aus-sichtslos. Der Schrecken bezieht sich wohl auf diese `Erkenntnis`, während die Angst das Kommende antizipiert. In der Angst ist der Faden der Leiblichkeit noch nicht gerissen, weil Angst „der Konflikt zwischen dem Impuls `Weg!` und dem Festgebanntsein“ (Schmitz 1998a, 172) ist. Im Schreck jedoch ist man wie gebannt, geradezu betäubt. Er ist „wirkliches Wegsein“. Das kennt man auch von Schockzuständen. Der Schrecken lässt uns keine Vorbereitungszeit. Er überfällt uns plötzlich; er schlägt zu, wie `aus heiterem Himmel`, er kriecht nicht wie das Entsetzen, das einem langsam den Hals zuschnürt. Der Schrecken rührt daher, dass wir dazu fähig sind, Situatio-nen unmittelbar, ad hoc, ohne Reaktionszeit wahrzunehmen. Wer sich – nach den gängigen Theorien der Wahr-nehmung – erst die Situation synthetisch aus Einzelteilen zusammensetzen müsste, dem könnte das Entsetzen langsam in die Glieder kriechen, aber er wäre völlig unfähig zum Erschrecken. 23 Man könnte daher die Hypothese aufstellen, dass Krankheitsgeschehen immer leibliche Aspekte der Engung beinhalten, woraus sich ein leiborientierter Therapieaspekt ableiten ließe: Weg von der Enge, in die Weite!
22
lautet: Bleib Liegen! Dadurch, dass sich sein motorischer Überschuss nicht entfalten und ihm
damit Erleichterung verschaffen kann, wird der Patient am `Weg!` gehindert und in die Enge
getrieben. Das Zudecken hat eine seine Not noch verstärkende Wirkung. Dabei hat er selbst es
doch eilig, er muss unbedingt weg! Die Spannung steigert sich ins Unerträgliche. U.U.
bäumt24 sich der Patient gegen den Widerstand auf, bis zu dem Punkt, wo entweder der Wi-
derstand zusammen- und der Patient in die Weite durchbricht oder er sich kapitulierend zu-
rückfallen lässt. Kapitulieren kann er auf mehrfache Weise: weinen; sich völlig passiv in sich
selbst zurückziehen und z.B. versteifen (halsstarrig!); den Durchbruch, der `nach außen` nicht
gelungen ist, nun aggressiv gegen sich selbst richten oder, allerdings immer schwächer wer-
dend, verzweifelt-resignierend gegen das Personal. In diesen Formen misslungenen Wider-
stands und Durchbruchs in die Weite ist die Erschöpfung nicht mit einem (angenehmen) Ver-
strömen der Spannung bzw. Schwellung verbunden.
Intensität ist das Ergebnis des Ineinanders von Spannung und Schwellung. Die antagonisti-
sche Konkurrenz vollzieht sich simultan (vgl. Schmitz 1998b, 111). Wenn man z.B. tief ein-
atmet und die Luft anhält, spürt man dieses Ineinander sehr intensiv. Jede Entspannung, die
auch immer simultan Entschwellung ist, senkt die Intensität, wie z.B. langsam beim Einschla-
fen und Dösen, und lockert das Band der leiblichen Ökonomie (vgl. Schmitz 1998b, 121). Die
intensivsten Regungen leiblicher Spannung und Enge hingegen sind Angst und Schrecken.
Rhythmus ist für Schmitz das Pulsieren, das sukzessive Auf und Ab von Spannung und
Schwellung (vgl. Schmitz 1998b, 121). Das Leben selbst ist rhythmisch und von unterschied-
lichsten Intensitäten. Herzschlag, Atmung, jede Zelle, jedes Organ hat einen eigenen Rhyth-
mus, die im Normalfall miteinander und mit den Rhythmen der Außenwelt synchronisiert
sind25. Tages- und Nachzeiten, Jahreszeiten, Arbeits- und Ruhephasen – all diese Rhythmen
sind Teil unserer Leiblichkeit, die wir mehr oder weniger intensiv spüren. Rhythmus ist eine
leibliche „Bewegungsanmutung“ (Fuchs 2000, 77) und überhaupt nur als solche wahrnehm-
bar, „weil der Rhythmus die innerleibliche Dynamik in Resonanz versetzt“ (Fuchs 2000, 79).
Aus der Musik sind Resonanzerscheinungen bekannt; das heißt z.B., dass unser Herzschlag
sich mit einem ähnlichen externen Rhythmus synchronisiert; auch die Gehirnströme verän-
dern sich entsprechend. Bewegungen richten sich nach den Rhythmen: Man kann z.B. zu
Technomusik keinen Walzer und zu Walzermusik keinen Freestyle tanzen. Der Leib, und
24 Das Aufbäumen erscheint hier als körperlicher Ausdruck des leiblich gespürten Geschwelltseins. 25 „Rhythmus heißt Struktur unseres Lebens. Wenn wir betrachten, wo Schwingungen und rhythmische Struktu-ren auftreten, dann sind wir mittendrin in der Betrachtung unserer Umwelt. Wir können erkennen, dass sie in rhythmischen Strukturen organisiert ist, sei es im Großen – die Umläufe der Gestirne oder die Zyklen der Gala-xien -, sei es im ganz Kleinen – die regelmäßigen Schwingungen der Atome, Moleküle und unserer eigenen körperlichen Strukturen.“ (Silber 2003, 15-16).
23
nicht der Körper, wird vom Rhythmus ergriffen. In therapeutischen Kontexten ist das längst
bekannt und bewährte Heilmethode (vgl. Silber 2003). Auch ist bereits erforscht worden, dass
durch Einsatz von Musik „in Vorbereitungen zu Operationen eine drastische Reduktion der
beruhigenden Medikamente oder auf Intensivstationen eine kürzere Verweildauer erreicht
werden konnte“ (Silber 2003, 75). Rhythmus und Intensität sind in leiblicher Hinsicht so sehr
miteinander verbunden, dass Schmitz sie unter den Begriff der „leiblichen Ökonomie“ fasst,
weil sie über ihre Regulierungsfunktion und –möglichkeit „für Ökonomie im Haushalt des
Leibes sorgen“ (Schmitz 1998b, 125). Daher verwundert es auch nicht, dass Musik als Thera-
peutikum eingesetzt wird, wie z.B. Steinhkohl von einer Palliativstation berichtet, wo eine
Harfenistin den Patienten Musik vorspielt. Sie sprechen kaum miteinander und doch `weiß`
die Harfenistin, was sie spielen soll: „ich spüre, was sie an diesem Tag mögen“. „Ton ist
Schwingung (...) das verändert den Raum“ (Steinkohl 2004, 41); sie schafft Atmosphäre und
greift somit in die leibliche Ökonomie der Patienten ein. Dabei hält sie während des Spiels
permanent Blickkontakt mit den Patienten. Sie benutzt also die beiden Kanäle Blick und
Stimme (bzw. Ton), um leiblich zu kommunizieren (Steinkohl 2004, 41; vgl. auch Abschnitt
8). Für den pflegerischen Bereich ist hier entscheidend, dass man mit Menschen kommunizie-
ren kann, auch wenn sie auf der kognitiven Ebene nicht mehr ansprechbar sind. Ebenso hat
sich Musik- bzw. Klangtherapie bei Menschen mit Wachkoma bewährt. Musik und Klang ist
leiblicher Ausdruck des Lebens auf der Schwingungsebene. Es gibt keine historische Epoche
und auch kein Volk auf der Erde ohne Musik. Hoffman-Kunz (2002, 50ff.) beschreibt ein-
drücklich, wie unterschiedliche Instrumente beim Zustand des Wachkoma Wirkungen entfal-
ten und die „Wachheit“ und damit auch das Reaktionsvermögen der Menschen fördern kön-
nen.
Das letzte Begriffspaar liegt quer zu den anderen Dimensionen und ergänzt und konkretisiert
die leiblichen Tendenzen. Epikritisch meint spitzes, scharfes und abgegrenztes, helles, proto-
pathisch hingegen dumpfes, dunkles, diffuses, amorphes Spüren. Protopathisch ist jedoch mit
Weitung so wenig identisch wie epikritisch mit Engung, wenngleich sie miteinander verwandt
sind. Epikritisch sind z.B. die stechenden Schmerzen, vor allem auch durch Verbrennungen,
die hohen und hellen, insbesondere die schrillen Töne, die Spitzen von Gegenständen, grelles
Licht, der scharfe Geschmack usw. Protopathisch sind die dumpfen Schmerzen durch Schläge
mit stumpfen Gegenständen, tiefe Töne, wie etwa Brummen, Gegenstände ohne scharfe Kan-
ten und Spitzen, also etwa alles Runde, diffuses Licht, breiige Konsistenz usw. Zugespitzt
lässt sich sagen: „Epikritisch ist die ortsfindende, protopathisch die der Ortsfindung entgegen-
wirkende leibliche Tendenz“ (Schmitz 1998b, 143), weil Epikritisches auf scharf Umrissenes
24
und zugespitzt Punktuelles hin und Protopathisches zum nicht klar und eindeutig Umrissenen,
diffus Strahlenden tendiert. Die Müdigkeit, das sich wohlige und behagliche Ausstrecken und
das sich der Weichheit des Bettes Überlassen haben eine solch eindeutige protopathische
Tendenz, wie wohl alles Gemütliche.
Für die leiblichen Regungen gibt es keine Organe. Wenn mir etwas `ans Herz` geht, sind da-
mit keine Herzschmerzen gemeint, und wenn mir etwas `an die Nieren` geht, keine Nieren-
schmerzen. Auch wenn mir eine `Laus über die Leber` läuft, empfindet die Leber dabei gar
nichts. Hier handelt es sich lediglich um Metaphern, die etwas aus dem Bereich leiblicher
Regungen auf Anatomie und Physiologie übertragen. „Leiblich sein heißt, zwischen reiner
Enge und reiner Weite irgendwo in der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weite
ganz loszukommen, solange das bewusste Erleben dauert“ (Schmitz 1998b, 17). Das leibliche
Spüren bewegt sich permanent in diesem Kontinuum zwischen Enge und Weite.
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Die Aufgabe bzw. das Programm der leiblichen Ökonomie ist es, das menschliche Leben
in einem – wenn auch immer nur labilen – Gleichgewicht zu halten. So kann man für das
Wohlsein im Hinblick auf Pflege formulieren: Gesundsein heißt, irgendwo in der Mitte
zwischen Enge und Weite mit einer Tendenz zur Weite zu sein. Dementsprechend bedeutet
Kranksein, dieses Gleichgewicht verlassen zu haben und in Richtung Weite oder in Rich-
tung Enge zu tendieren. Gesundsein und Kranksein sind unmittelbar mit dem Leiblichsein
verbunden.
eibliche Regungen sind unwillkürliche Regungen, die kaum zu steuern sind26, wir sind ihnen
usgesetzt (Soentgen 1998, 17). „Leibliches regt sich“ (Schmitz 1998b, 70) von selbst. Damit
egründet sich das Menschenbild des homo patiens. Um die leiblichen Regungen, die Rafael
m Koma erlebt hat, leibphänomenologisch noch genauer zu analysieren, greifen wir zum
chluss das Phänomen des Durstes auf, eine – wie sie in ihrem Buch schreibt – der intensivs-
en und qualvollsten Erfahrungen in dieser Zeit – und in der Pflege immer noch ein viel zu
ehr missachtetes Phänomen.
unger und Durst unterscheiden sich gravierend voneinander. Schmitz bestimmt den Hunger
ls „höchst energische Engung, die an der Grenze zwischen Spannung und privativer Weitung
6 Auf diesen Aspekt zielen jedoch sämtliche Entspannungstechniken im therapeutischen Sinn: die willkürlichen egungen, wenn nicht willentlich, aber doch „irgendwie“ zu steuern (z.B. autogenes Training, Progressive Mus-elentspannung nach Jacobson, Meditation).
25
steht.“ 27 (Schmitz 1998b, 231) Er ist dem Schmerz darin ähnlich, als das er beißt und weh tut.
Er ist nicht auf den Magen beschränkt, stimmt vielmehr den ganzen Leib um, exponiert die
Magengegend aber in besonderer Weise. Die hungrige Magengegend ist eine Leibesinsel,
insofern sie sich durch relative Lagebeziehungen zu anderen Organen örtlich bestimmen lässt.
Im Gegensatz zum Hunger, der eher schleichend kommt, den man aber auch viel länger ertra-
gen kann, ist der Durst „eine weit zentralere (und unmittelbarere, d. V.) Gefährdung der Leib-
lichkeit“ (Schmitz 1998b, 237). Der Durst drängt die „drei Grundformen der Leiblichkeit“,
Enge, Weite und Richtung, „auf das Innigste zusammen“ (Schmitz 1998b, 237). Engung und
Weitung haben im Durst kein Verhältnis mehr zueinander. Sie entfernen sich jedoch nicht
voneinander, so dass der Faden der Leiblichkeit reißen würde, sie sind vielmehr eins gewor-
den. Der Durst macht hilflos, der Hunger aggressiv. Der Durst drückt uns zu Boden. Im durs-
tigen Schmachten triumphiert der Leib in solcher Intensität, dass er sich selbst verbrennt. Weil
das Feuer als der intensivste Reiz gilt, „gewinnen Verdursten und Verbrennen eine leiblich
spürbare Verwandtschaft“ (Schmitz 1998b, 238). Jedem ist unmittelbar eingängig, was es
bedeutet, wenn einem `die Kehle brennt`. Durst und Feuer löscht man mit Wasser. Durch die-
se Intensität ist der Durst die „Urform aller Süchtigkeit“ (Schmitz 1998b, 238). Der Dürsten-
de, erst recht der Verdurstende lechzt nach Wasser. Durch nichts kann er davon abgebracht
oder abgelenkt werden. Durst kann man nicht kompensieren oder sublimieren, er lässt keinen
Ausweg. Alles Wollen ist auf das Löschen des Durstes gerichtet, wie alles Wollen des
Rauschgiftsüchtigen auf den `Stoff` fixiert ist. Während der Hunger noch in seiner extremsten
Form zu genießen ist, man sich selbst sozusagen im Hunger genießen kann (das zeigen z.B.
die Mystiker, Asketen aber auch Magersüchtige), so ist nicht der Durst genussfähig, sondern
nur sein Löschen. Nur im Trinken wird der „Selbstgenuss der leiblichen Intensität“ (Schmitz
1998b, 239) vollkommen. Der Durst zersetzt den Leib und hat eine Richtung, eine Intention;
er ist auf etwas aus. Der Durst muss unmittelbar befriedigt, d.h. sein Feuer gelöscht werden.
Wer also andere ohne Not dürsten lässt, der tut ihnen Gewalt an.
8. Konsequenzen für das pflegerische Handeln: Leibliche Kommunikation
Leibliche Kommunikation ist nicht bloß eine weitere Form neben der verbalen und der non-
verbalen Kommunikation, sondern die Grundlage aller Kontakte (nicht nur) zwischen Men-
schen. Daraus erklärt sich ihre Bedeutung für die Intensivpflege, denn hier hat man oft mit
Menschen zu tun, die nicht (mehr) sprechen oder sich über Gestik und Mimik verständigen
27 Privative Weitung ist ausschließlich Weitung (wie z.B. bei Bewusstlosigkeit oder Schlaf), die sich von ihrem Antagonisten Engung gelöst hat. Das Band der leiblichen Ökonomie ist bei privativer Weitung oder privater Engung ausgeleiert bzw. ausgehakt.
26
können. Leibliche Kommunikation funktioniert über spezifische „Kanäle“. Dass Menschen
über diese Kanäle täglich miteinander in Kontakt treten, ist evident. Jeder kennt die Situation,
dass man sofort mitgähnen muss, wenn man einen gähnenden Menschen ansieht (oder auch
nur vom Gähnen liest). Oder in einer Gruppe von lachenden Menschen, nicht mitzulachen, ist
fast unmöglich.
Wir können an der Leiblichkeit Anderer teilhaben. Wie die Leiblichkeit der Anderen `funkti-
oniert`, das wissen wir aus unserer eigenen. Noch vor der eigentlichen leiblichen Kommuni-
kation, erst recht vor der Symbole generierenden Sprache, liegt die Möglichkeit, die Nötigung
der Verständigung. Verständigung darf man jedoch nicht auf Kooperation reduziert missver-
stehen. Wir wissen und verstehen per se auch, wie wir den Anderen quälen, wie wir ihm
Schmerzen zufügen, wie wir ihn ängstigen, erschrecken, ermüden oder erfreuen können, wie
wir die – z. B. krankheitsbedingten – Mängel leiblicher Befindlichkeit und affektiver Betrof-
fenheit abstellen oder eventuell lindern können. Aus unserem leiblichen Wissen, aus unserem
Wissen um die Leiblichkeit heraus kennen wir die Möglichkeiten der Folter, der Pflege, des
Heilens, der Zuneigung, der Abneigung. Wir wissen, wie es ist, wenn man Hunger oder Durst
hat, wie dumpfe oder stechende Schmerzen sind, was Müdigkeit oder Frische sind, weil wir
selbst hungrig und durstig, freudig erregt, müde oder frisch sind. Trotz der großen histori-
schen und kulturellen Relativität und Variabilität gibt es ein ganz entschiedenes gegenseitiges
Verständnis, jenseits symbolischer Vermittlungen, das aus der anthropologischen Grunddis-
position – resultiert28.
Leiblichkeit ist Kommunikation. „Von leiblicher Kommunikation im Allgemeinen will ich
immer dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so
betroffen und heimgesucht wird, daß er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindes-
tens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein Befinden
und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben läßt.“ (Schmitz 1989, 31f.)
Der Blick, die Stimme, der Händedruck sind Anschlüsse für leibliche Kommunikation (vgl.
Soentgen 1998, 38), d.h. Medien für Mitteilungen auf leiblicher Ebene. Wir stehen z.B. an
einer Bushaltestelle und spüren, dass uns jemand ansieht. Wir drehen uns um und unser Seh-
sinn bestätigt uns das, was wir vorher schon gespürt haben. „Blicke scheinen mindestens so-
viel zu können, wie eine bewaffnete Armee.“ (Soentgen 1998, 37) Z.B. kann ein Blick jeman-
den überwältigen, bannen, fesseln, fast umbringen oder zum schweigen bringen, aber auch in
einen anderen eindringen, jemanden beruhigen, auffordern oder das Gegenüber entwaffnen. 28 Dass wir jenseits sozio-kulturellen (Ein-) Verständnisses keinen Zugang zu den anderen Menschen hätten, ist ein konstruktivistisches (Selbst-)Missverständnis und zu sehr auf Sprache fixiert.
27
„Blicke, die ineinander tauchen, sind wie Speere im Turnier. Sie greifen tief ins leibliche Be-
finden beider Partner ein (...).“ (Schmitz 1992, 54). Angry eyes (vgl. Abschnitt 6.4) haben
also ihre Wirkung! Der warme Blick ist dazu in der Lage ängstliche Patienten, die den Blick
der Pflegenden suchen, zu beruhigen z.B. auf den Weg in den Operationssaal, oder unruhige
Patienten mit einem ruhigen und gelassenen Blick merklich zu entspannen. Eine verbale Er-
läuterung über den bevorstehenden Eingriff im Sinne einer gut gemeinten Aufklärung wäre
hier u.U. kontraproduktiv, der Einsatz der Stimme, wenn sie denn auch noch im eher alltags-
hektischen Geschehen tendenziell epikritisch ist, würde den Aufgeregten vielleicht sogar
tiefer in seiner verfahrenen Situation befestigen. `Blicke sagen mehr als tausend Worte` - die-
ses alte Sprichtwort ist für die leibliche Kommunikation durchaus wörtlich zu nehmen.
Neben dem Blick ist es die Stimme, die in einem solchen Fall ebenfalls als Anschlussstelle für
leibliche Kommunikation genannt werden kann. Es kommt dabei nicht auf den Inhalt des Ge-
sagten29 an, sondern eben auf die Stimme, um jemanden zu beruhigen, aus der Fassung zu
bringen, oder aufzureizen. Besonders deutlich wird das, wenn man sich vorstellt, wie Väter
oder Mütter ihren Kindern Schlaflieder vorsingen oder Gutenachtgeschichten vorlesen (wobei
der Inhalt für die Kinder oft sekundär ist; es ist viel wichtiger, dass Mama oder Papa noch da
sind, das Kind sich ihrer gewiss ist). So wird nachvollziehbar, warum Patienten sich beruhi-
gen, wenn sie die vertraute Stimme der Ehepartner hören (vgl. Besendorfer 2004, 102). Aber
auch, wenn man in angstbesetzten Situationen alleine mit sich ist, fangen Menschen an zu
singen oder zu sprechen. Eine (vertraute, angenehme) Stimme, die das Gefühl vermittelt,
nicht alleine und verloren auf der Welt zu sein, tut ihre Wirkung. Zur Stimme gehört auch der
Atem. Die phänomenale Wirkung des gemeinsamen Atmens ist sowohl in der Geburtshilfe,
als auch allgemein im therapeutischen Kontext bekannt.
Als dritter Kanal sei noch der Händedruck erwähnt. Die Handinnenfläche zählt zu den inti-
men Regionen des menschlichen Körpers; es gibt viele Geschichten, die sich um die Hand,
den Händedruck ranken. Nicht nur bei der Begrüßung, sondern grundsätzlich, wenn Men-
schen (und Dinge) sich begegnen, geschieht leibliche Kommunikation. Patienten spüren den
Unterschied zwischen wohlgemeinten oder verrichtungsorientierten Berührungen der Pfle-
genden, ebenso wie die Differenz von Berührung von ihren Partnern und von Pflegenden. Es
ist Berührung auf leiblichem Niveau – eben leibliche Kommunikation. Da bei jeglicher
Kommunikation Missverständnisse möglich sind, so auch bei Berührung. Wenn ich als
frischoperierte Patientin nach einem schweren Eingriff und noch `benebelt` von der Narkose,
gerade dabei bin, wieder `zu mir zu finden` und eine Pflegende mich im Rahmen der mor- 29 Die Bedeutung der Sprache für die leibliche Kommunikation wäre gesondert zu behandeln; man denke nur an (ergreifende) Gedichte oder bestimmte Formen der Bibliotherapie.
28
gendlichen Toilette mobilisieren will (und muss), so hängt der Verlauf des restlichen Tages
entscheidend davon ab, wie sie mich anfasst: Ob ich den Tag guten Mutes – zwar geschwächt,
aber mit Zuversicht – angehe oder ob ich nach der Morgenwäsche mich ins Bett zurück und
die Bettdecke über den Kopf ziehe und eher weinerlich, passiv der Welt abgewandt den Tag
verbringen werde. Wenn man jemanden berührt, berührt man immer auch gleichzeitig etwas
in ihm.
Auch die gesamte Atmosphäre im Raum ist Medium der Kommunikation auf leiblicher Ebe-
ne. Ein Schichtwechsel kann dazu beitragen „dass die Unsicherheit von Patienten zu- bzw.
abnimmt, abhängig davon, ob Pflegende das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermit-
teln konnten.“ (Besendorfer 2004, 103).
Nach Schmitz (1989: 95ff.) gibt es mehrere Arten leiblicher Kommunikation, die Einleibung
ist dabei die wichtigste. „Einleibung bedeutet, dass Gegenstände, die nicht zum eigenen Leib
gehören, in sein Befinden eingreifen.“ (Soentgen 1989, 39) Einleibung entsteht dadurch, dass
eine oder mehrere Personen in ein „sich bildendes übergreifendes leibliches Gefüge“ (Schmitz
1989, 95) eingebettet sind und zwar durch Bezug auf die Enge des Leibes. Einleibung ent-
steht:
• durch einen gemeinsamen Rhythmus (z.B. durch Singen, Klatschen, Rufen, Sprechen, At-
men);
• durch eine gemeinsame leibliche Richtung (z.B. bei Demonstrationen, Märschen, Wan-
dergruppen);
• durch die Herstellung einer für eine Masse von Menschen gemeinsamen Enge, wobei die
Enge auch von einem Redner hergestellt werden kann (z.B. bei demagogischen Volksre-
den).
Einleibung findet sich in allen Lebensbereichen und kann sich auf einzelne oder mehrere
Menschen und Dinge, aber auch auf Menschenmassen beziehen und einseitig, wechselseitig,
d.h. antagonistisch oder von solidarischer Art sein. Suggestion ist ein Beispiel einseitiger
Einleibung30. Wechselseitig-antagonistische Einleibung geschieht z.B., wenn zwei Boxer ge-
geneinander antreten, oder der Torrero den Stier und der Stier den Torrero bekämpft. In jedem 30 Der Suggestor (ob Mensch oder Ding) übernimmt die Rolle der Enge des übergreifenden Leibes. Ein ein-drückliches Beispiel hierfür ist der Abgrund, der einen, wenn man zu lange hinunter sieht, auch hinunter ziehen kann. Bei Suggestion wiederum werden diverse Formen unterschieden. Wesentlich ist dabei, dass diese auf leib-licher Neubildung beruht und die Enge des Leibes übertragen wird. „Suggestion beruht auf der fesselnden Wir-kung eines Schlüsselreizes, der die Rolle der Enge des Leibes an sich zieht und eben deshalb zum Schlüssel für das leibliche und vom leiblichen her bestimmbare Verhalten der von Suggestion Betroffenen wird.“ (Schmitz 1989, 84) Bei der Eigensuggestion wird dieser Reiz absichtlich hervorgerufen und nicht nur erlitten.
29
Wettkampf wird das Gegeneinander im Zusammenspiel betont. Im Gegensatz dazu wird bei
der wechselseitig-solidarischen Einleibung das Miteinander hervorgehoben. Beispiele hierfür
sind das Gespräch, das Autofahren, das Musizieren oder (u.U. mehrstimmige) Singen im Chor
sowie das Tanzen (vgl. Schmitz 1992, 54 ff.).
Besonders relevant wird diese Form der Einleibung im Kontext professioneller Könnerschaft
der Pflegenden: Z. B. das gut eingespielte Operationsteam, insbesondere die operierende Chi-
rurgin und die `Instrumentenschwester`. Auch das Hand-in-Hand-Arbeiten des Pflegeperso-
nals beim Betten und Lagern eines bettlägerigen Menschen erfordert solches einspielte Kön-
nen ebenso wie z.B. das Waschen, die Körperpflege oder das Essen eingeben. „Die größte
Hilfe auf der Intensivstation war für mich professionelle Pflege – die mir über leibliche Kon-
takte Orientierung und Sicherheit gegeben hat. Ohne die ständigen Ganzkörperwaschungen
wäre ich, so mein Gefühl, innerlich verbrannt. Von meiner Frau weiß ich, dass die Ärzte mich
in einem kritischen Moment eigentlich reintubieren wollten. Eine kluge Pflegerin hat das her-
ausgezögert und, für alle etwas überraschend, begonnen, mir die Haare zu waschen. Danach
waren die Werte wesentlich besser und mein subjektives Befinden auch.“ (zit. in: Friesacher
2001, 165-166). In allen diesen Fällen handelt es sich um solidarische Einleibung, sofern der
Patient `mitspielt`. Im anderen Fall, wenn das Personal (aus juristischen, ethischen oder tech-
nischen Gründen) zu bestimmten Handlungen genötigt ist und sich, auch gegen den Protest
und Widerstand des Patienten durchsetzt, muss man hingegen von antagonistischer Einlei-
bung sprechen. Schon das Streitgespräch mit ihm, sofern es stattfindet, und selbst die angry
eyes der Pflegerin oder des Pflegers (siehe oben) sind antagonistische Einleibung.
9. Resumèe
Im vorliegenden Artikel haben wir versucht, verschiedene Menschenbilder und ihre anthropo-
logischen Grundlagen aufzuzeigen. Bei aller Vielfalt, die sich um dualisitische und monisti-
sche Konzeptionen rankt, geht es jedoch um ein zentrales Bedeutungsfeld: Die Unterschei-
dung von subjektiv und objektiv, von Subjekt und Subjektivität, nicht die von Subjekt und
Objekt, ist von erstrangiger Bedeutung für eine Anthropologie (in) der Intensivpflege und –
medizin (vgl. Fußnote 13). Objektive Tatsachen sind nur „blutleere“ abgeblasste subjektive
Tatsachen, weil objektive Tatsachen niemandem so nahe gehen wie die nur ihn betreffenden
subjektiven. Damit objektive Tatsachen uns nahe – „zu Herzen“ – gehen und betreffen, müs-
sen sie zu subjektiven Tatsachen, zu unserer Sache werden. Die Bedeutung subjektiver Tatsa-
chen und deren Rehabilitierung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. „Subjektive Tat-
sachen sind sozusagen in höherem Maß als objektive Tatsachen tatsächlich; sie haben die Le-
30
bendigkeit des blutvoll und dringlich Wirklichen, während die bloß objektive, allein durch
objektive Tatsachen konstituierte Welt so etwas wie ein Präparat ist, abgeblaßt und zurecht-
gemacht für Erzählungen in der dritten grammatischen Person, (…)“ (Schmitz 1995b, 7). Hier
findet sich die Antwort für die am Ende des dritten Abschnitts gestellte Frage: Was bleibt –
aus einer anthropologischen Perspektive – noch vom Menschen, wenn alles, was ihn aus-
zeichnet, zur Disposition steht und substituiert werden kann? Es sind eben diese subjektiven
Tatsachen, die sich im eigenleiblichen Spüren manifestieren, die niemals substituiert werden
können!
Die moderne Wissenschaft, im Gefolge der christlichen Theologie (vgl. Schmitz 2003, 62),
hält sich auf ihr Ideal der Objektivität einiges zugute (Schmitz 2002, 33-43). In der Tat kann
sie auf nicht geringe Erfolge verweisen. Allerdings geht dabei vieles verloren, was für die
durchschnittliche Lebenserfahrung von immenser Bedeutung ist; die subjektiven Tatsachen
gehören dazu. Was sich nicht messen, d.h. an Strichen auf einer Skala ablesen lässt, verbannt
(insbesondere) die (Natur-)Wissenschaft, als welche sich die Medizin verstehen will, die Pfle-
ge aber nicht (kann), in den Bereich des „nur“ Subjektiven und entledigt sich damit der Sorge
um sie. Moderne Wissenschaft und Philosophie machen den Fehler, Subjektivität mit Be-
wusstsein und (rational-reflexivem) Denken zu identifizieren: „Subjektivität [ist] also der
Begriff dessen, was `im Geist` ist“ (Davidson 1993, 92). Subjektivität ist aber die Vorausset-
zung für Bewusstsein; es gibt daher auch schon Subjektivität ohne Subjekt, etwa bei Säuglin-
gen und Tieren31, die selbstverständlich Schmerzen und Angst, Hunger und Durst haben und
sich erschrecken können, ohne dass sie das bewusst haben. „Subjektive Tatsachen können
nicht in bloß registrierender Einstellung hingenommen werden, sondern gewinnen ihre Tat-
sächlichkeit (…) erst aus dem Engagement im affektiven Betroffensein. Bloß durch sie
kommt es zu Bewußthabern (= Subjekten); ohne affektives Betroffensein gäbe es keine Be-
wußthaber, daher auch kein Bewussthaben und niemanden, der Bewusstsein von etwas hät-
te…“ (Schmitz 1995b, 7).
Selbstredend ist die Verdrängung der subjektiven Tatsachen zugunsten der objektiven nicht
nur ein Nachteil und Verlust. Die arbeitsteilige Vorgehensweise in der Intensivmedizin und –
pflege – aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen – ist in mancherlei Hinsicht auch
ein Segen. Ohne reduktionistische Menschenbilder wären die spektakulären Fortschritte, ge-
rade in der Intensivmedizin, sicher nicht möglich gewesen. Sowenig sich die Intensivmedizin
31 Die Unterscheidung ist keine akademische Spitzfindigkeit. Lange ist in Europa ignoriert worden, dass Tiere und Säuglinge (vgl. Stern 2003) etwas spüren können (z.B. Schmerz). Von den Tieren glaubte man seit Des-cartes, sie seien Maschinen und ihre Schreie bei ihnen zugefügten Schmerzen, seien so etwas wie das Quietschen einer Tür.
31
der Personen als Personen annehmen kann, sowenig kann sie sich um die Leiblichkeit küm-
mern. Ihr Gegenstandsgebiet sind der menschliche Körper und seine Funktionen (einschließ-
lich des Gehirns und der als solcher definierter Bewusstseinszustände). Daraus muss also kein
Problem folgen, sofern immer der Rückbezug auf die menschliche Person gewährleistet ist
und deutlich bleibt, dass es sich nicht um ein beliebiges Ding handelt. Auf welche Weise soll-
te die Medizin auch z.B. bei einer Operation Rücksicht nehmen können auf Leib und Person?
Die größere Distanz, die die Intensivmedizin gegenüber ihren Patientinnen hat, ist in deren
Interesse von Vorteil. Eine dauerhafte und intensive Nähe, wie sie etwa die Beziehung von
Patienten und Intensivpflegepersonal auszeichnet, könnte deshalb ein Nachteil sein, weil eine
derartig involvierte Medizinerin u.U. zu sehr affektiv betroffen wäre. Wer etwa versucht sich
emphatisch in eine zu operierende Patientin hineinzuversetzen, wird dann vielleicht nur noch
stark befangen dazu in der Lage sein, ein Skalpell anzusetzen32.
Was die Intensivmedizin nicht leisten kann, muss die Intensivpflege ausgleichen, denn ihr
originäres Gebiet sind Leib und Person. Beide Menschenbilder (dualistische und monistische)
haben im Kontext der Arbeitsteilung zwischen Medizin und Pflege ihre Berechtigung: Es sind
keine Gegensätze, sondern aufeinander bezogene Komplementäre.
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32 Das ist sicherlich der wichtigste Grund dafür, dass es verpönt ist, Menschen zu operieren, die einem nahe stehen.
32
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