Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Kunst- und Bildgeschichte Wintersemester 2009/2010 HS: Fragment und Ausschnitt Dozentin: Prof. Bettina Uppenkamp Autorin: Franziska Roeder Matrikelnr.: 135972
Begriff und Prinzip der Collage/Montage
in der bildenden Kunst 6
Peter Bürgers Montage-Begriff und dessen Kritisierung und Erweiterung durch Annegret Jürgens-Kirchhoff
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Inhalt
1. Ursprung, Begriff und Prinzip der Collage/Montage S. 20
a. Umbruch des Bildbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhundert S. 20
b. Begriffsklärung S. 30
i. Collage S. 40
ii. Montage S. 60
c. Ursprung der Montage im Kubismus S. 80
i. Beispiel: George Braque: „Glas, Karaffe, Zeitung“ S. 90
d. Vorläufer der Montage: Carl Spitzwegs Kochrezept-Collagen S. 10
2. Peter Bürgers Montage-Begriff S. 12
a. Der Begriff des nicht-organischen Kunstwerks S. 12
b. Papier collés als Verkörperung des avantgardistischen Montagetyps S. 14
c. „Negation der Synthesis“ als Montageprinzip S. 14
d. Ausschluss der Fotomontage aus Bürgers Montage-Begriff S. 15
3. Annegret Jürgens-Kirchhoffs Kritik an Bürgers Montage-Begriff S. 16
a. Bürgers Montage-Begriff berücksichtigt nur formale Ebene S. 16
b. John Heartfields Fotomontage „Adolf – der Übermensch“ S. 17
c. Erweiterung des formalen Montage-Begriffs Bürgers
um die inhaltliche Ebene S. 18
4. Schlussbetrachtung S. 19
5. Literatur S. 20
6. Abbildungsverzeichnis S. 21
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1. Ursprung, Begriff und Prinzip der Collage/Montage
Diese Arbeit untersucht das Prinzip der Collage/Montage in der bildenden Kunst mit ihrem
Ursprung Anfang des 20. Jahrhunderts und differenziert dieses Prinzip begrifflich. Über die
Frage, welche Formen der Montage als Montagen im Sinne der künstlerischen Avantgarde-
Bewegung zu jener Zeit betrachtet werden können, herrscht keine Einigkeit. Ausgangspunkt
ist Peter Bürgers Werk „Theorie der Avantgarde“1, in dem er Begriffe zur genaueren
Beschreibung des avantgardistischen Kunstwerks identifiziert. Die papiers collés George
Braques und Pablo Picassos dienen ihm als Paradigma für das avantgardistische Montage-
Prinzip. Die Fotomontage im Stile John Heartfields schließt er jedoch aus. Annegret Jürgens-
Kirchhoffs nimmt diesen Ausschluss zum Anlass, einen erweiterten Montage-Begriff zu
entwickeln und, so ihre Kritik an Bürger, die Montage nicht nur nach ihrer formalen, sondern
auch ihrer inhaltlichen Aussage zu bewerten. So gelingt es ihr, die Fotomontage Heartfields
mit einem modifizierten Montage-Begriff im Sinne der Avantgarde zu fassen, hier gezeigt am
Beispiel der Arbeit „Adolf – der Übermensch“ aus dem Jahre 1932.
Zu Beginn der Arbeit soll den Ursprüngen des Collage/Montage-Prinzips auf den Grund
gegangen werden. Dazu gehört die etymologische und historische Differenzierung beider
Begriffe sowie die genauere Beleuchtung einer der ersten kubistischen Collagen, am Beispiel
von George Braques „Glas, Karaffe, Zeitung“ aus dem Jahre 1913. Dass die Collage nicht erst
mit der Moderne Einzug hielt, sondern es wie so oft auch hier Vorläufer gibt, soll das Beispiel
einer Rezeptseite aus Carl Spitzwegs mit Collagen verzierten Kochbuch zeigen.
a. Umbruch des Bildbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Mit dem Collage/Montage-Verfahren reagieren Künstler auf die zunehmende Uneinsehbarkeit
der Lebenszusammenhänge des 19. Jahrhunderts. Die immer schneller voranschreitende
Industrialisierung, die Flut von Werbebildern und eine Umwelt, die sich immer mehr aus
scheinbar zusammenhangslosen Bruchstücken, neuen Fabriken, Beutestücken aus
Kolonialgebieten zusammensetzt, erzeugen ein zunehmend montiertes Bild der Realität. Die
Collage „Metropolis“ (Abb. 1) von Paul Citroen aus dem Jahre 1923 zeigt eine Vielzahl von
Bruchstücken architektonischer Fotografien, Drucke und Postkarten. Sie illustriert das
Ausmaß der neuen industrialisierten Welt des 19. Jahrhunderts in ihrer Unüberschaubarkeit
und Fragmenthaftigkeit. 1 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde (1974). Zweite Auflage, Frankfurt/M., 1992.
3
„Die gegenwärtige Welt scheint als anschauliche Totalität nicht mehr darstellbar. Die
überkommenen mimetischen Verfahren erscheinen angesichts dieser Realität obsolet.
Mit der Montage wird – bewusst oder unbewusst – versucht, dem Rechnung zu
tragen.“2
Angesichts der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche, gerät der Begriff
der Mimesis in die Krise. Die Avantgarde-Bewegung richtet sich zunehmend gegen den
mimetischen Bildbegriff und die akademischen Traditionen. Mittels der Collage/Montage
bricht sie mit einem Werkverständnis, das das Kunstwerk als abgeschlossen und einheitlich
sah. Dieser Traditionsbruch inkorporiert sich regelrecht in der neuen Collage/Montage-
Technik:
„In der Technik der Collage, in jenem Schneiden und Kleben von vorgefundenen
Material auf und in das traditionelle Ölgemälde, vollziehen sich praktisch die Begriffe
der Umschreibung von Revolution, das Aufbrechen […] konventioneller Gestaltung,
der Übergang zu einem neuen, zusammengesetzten Ganzen […] und die Zersetzung
und Auflösung alter Strukturen […]. In einer Zeit politischer und wissenschaftlicher
Revolutionen visualisiert die Collage zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Umbruch,
die Aufhebung der bisher ausgeübten Praxis malerischer Repräsentation.“3
Um sich dem Prinzip von Collage und Montage zu nähern, sollen zunächst beide Begriffe
näher beleuchtet werden.
b. Begriffsklärung
Die Collage/Montage bezeichnet im Allgemeinen die Technik und die Produkte in der
Malerei, Fotografie, dem Film, der Literatur und Musik, deren gemeinsames Merkmal die
Integration oder Kombination heterogener Alltags- und Kunstmaterialien ist.4 Über die
2 Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Essay. (1978), Zweite Auflage, Gießen, 1984. S. 8 3 Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso bis Richard Prince. München 2007. S. 13 4 Vgl.: Kaiser, Gerhard: Collage/Montage, in: Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Stuttgart, 2006, S. 69-70.
4
theoretische Unterscheidung der Begriffe Collage und Montage herrscht in der
Kunstwissenschaft keine Einigkeit. Das Metzler-Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie
ordnet die Montage vor allem dem Bereich der performativen Kunst, der Fotografie, dem
Film und dem Theater zu und die Collage, zusammen mit der Assemblage, der Malerei und
der bildenden Kunst.5 Viktor Žmegač geht dagegen von der Montage als Oberbegriff aus,
innerhalb derer die Collage eine besondere Spielart darstellt.6 In der Kunstwissenschaft
werden die Begriffe Collage und Montage aber auch häufig synonym verwendet, weshalb sie
nicht scharf voneinander getrennt werden können. Gleichwohl lassen sich beide Begriffe
historisch und etymologisch herleiten.
i. Collage
Der Begriff Collage leitet sich von dem französischen Verb coller für Kleben, Einfügen und
Zusammenfügen ab. Die Collage hat ihren Ursprung in den papiers collés von George Braque
(1882-1963) und Pablo Picasso (1881-1973), bei deren Herstellung die beiden kubistischen
Maler Anfang des 20. Jahrhunderts vorgefundene Materialien wie Zeitungsausschnitte oder
Tapetenbruchstücke in die Leinwandmalerei integrierten. „Die spezifischere Bezeichnung
papier collés weist darauf hin, womit das Collagieren begann: mit geklebtem Papier und
betrifft ausschließlich die Papiercollage.“7 Petrus Schaesberg verweist auf weitere
Bedeutungen des Verbes coller, das in der französischen Umgangssprache auch eine
verbotene Liebesaffäre bezeichnet. Als Partizip Perfekt collé bezieht es sich auf etwas
Imitiertes, Gefälschtes oder Vorgetäuschtes und verweist auf den bewussten Bruch Picassos
und Braques mit Konventionen in der Malerei.
„Die Semantik des Begriffs schlägt einen Spannungsbogen zwischen Illusion,
Wirklichkeit und Tabubruch und erfasst das pietätlose Einfügen von gewöhnlichstem
Material in den hehren Bildraum eines Ölgemäldes, was der konspiratorischen
Haltung von Picasso und Braque gelegen gekommen sein muss.“8
5 Vgl.: Voigts-Virchow, Eckart: Montage/Collage, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, 2004, S. 472-473. 6 Vgl.: Žmegač, Viktor: Montage/Collage, in: Ders. und Borchmeyer, Dieter: Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2. Auflage, Tübingen, 1994. S. 286-291. S. 286 7 Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso bis Richard Prince. München 2007. S. 25 8 Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso bis Richard Prince. München 2007. S. 25
5
Die Collage- Montagetechniken werden in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich
behandelt. So setzt sich, angelehnt an die papier collés, in Frankreich der Begriff Collage
durch, wogegen in Deutschland meist von Montage gesprochen wird.
„In Frankreich entwickelt sich die Montage als kubistische Collage im traditionellen
Medium der Malerei. Der Begriff Collage nimmt dort in der Folge den Stellenwert
ein, den in Deutschland der dominierende Begriff Montage hat.“9
Gleichwohl verweben sich beide Begriffe miteinander, wenn sie ein und dieselbe Technik
beschreiben. In einer Aufzählung weiterer Collage-Techniken erwähnt Schaesberg auch die
Fotomontage und die Assemblage, d.h. er ordnet diese Methoden dem Überbegriff Collage
gewissermaßen unter.
„Weitere Bezeichnungen benennen unterschiedliche Methoden und Techniken im
Zusammenhang mit Collagen wie Découpage (geschnittenes Material), Déchirage
(gerissenes Material), Brûlage (angebranntes Material), Décollage (herausschälen von
Materialschichten), Froissage (geknülltes Material), Frottage (Durchreiben eines
Reliefs auf Material), Fumage (Strukturen auf Material durch Rauch), Grattage
(gekratztes, geschabtes Material), Rollage (seriell rekomponierte Schnittmontage einer
einzigen Vorlage), Photomontage (Collage mit Photovorlagen) und Assemblage
(plastisches Montieren von Objekten).“10
Die Assemblage, die Schaesberg im Zusammenhang der Collage nennt, ist durch die
Kombination vom Malerei mit dreidimensionalen Objekten gekennzeichnet Der Begriff der
Assemblage wurde von Jean Dubuffet geprägt und leitet sich vom französischen Verb
assembler, also Zusammenfügen oder -bauen ab. Robert Rauschenbergs Combine Painting
„Bed/ Bett“ aus dem Jahre 1955 (Abb. 4), kann als Beispiel für eine Assemblage gelten. Es
zeigt mit Öl und Bleistift bemalte Kopfkissen, Bettdecke und Laken, die auf einer
Holzunterlage befestigt wurden.
9 Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München, 2000. S. 17 10 Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso bis Richard Prince. München 2007. S. 25
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Die Fotomontage, von Schaesberg ebenfalls als Form der Collage aufgeführt, sorgte Anfang
des 20. Jahrhunderts dafür, dass sich in Deutschland der Montage-Begriff als Oberbegriff
einbürgerte.
ii. Montage
In dem aus dem Französischen übernommenen Wort Montage steckt das Verb monter,
welches Zusammensetzen oder Zusammenbauen bedeutet. Jedoch dient der Begriff im
Französischen zunächst nicht zur Bezeichnung einer künstlerischen Technik.
„Die erstmalige Bezeichnung eines künstlerischen Verfahrens als Montage
(Fotomontage) ist somit keine Übernahme aus der französischen Kunstterminologie,
wie man es angesichts des ursprünglich französischen Wortes montage erwarten
könnte. Der Begriff existierte dort noch nicht.“11
Im Deutschen findet der Begriff anfangs in der Militärsprache Verwendung, wo er das
Ausrüsten und Bekleiden eines Soldaten bezeichnet. „Sie sogen. Montur eines Soldaten
kommt aus diesem älteren Sprachgebrauch. Auch dieses Wort ist aus dem Französischen,
letztlich aus dem Lateinischen übernommen worden.“12 Im 18. Jahrhundert verlagert sich die
Bedeutung des Montage-Begriffs in den Bereich des Handwerks und der Industrie. Die
Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert aus dem Jahre 1765 definiert die Montage als
einen „Vorgang, bei dem man die Bestandteile eines Mechanismus, einer Vorrichtung, eines
mehr oder minder komplexen Objekts zusammenführt, um es in einen gebrauchsfähigen
Zustand zu versetzen.“13 Die Montage war den Artes mechanicae, der Mechanik, zugeordnet,
ein Bereich, der schon seit der Antike von den Artes liberales, den (zweck-)freien, hohen
Künsten, scharf getrennt wurde. Eine Übertragung des zweckgebundenen Montage-Begriffs
auf die explizit zweckfreien Künste war undenkbar. Zwar drangen infolge großer
Entdeckungen und Erfindungen seit 1550 auch rationalistische Formen und mechanistische
Modelle des Menschen in die Künste ein. Jedoch wurde im 18. Jahrhundert im Verlaufe
zunehmender Verbürgerlichung der europäischen Gesellschaften wieder „die Freiheit und mit
11 Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München, 2000. S. 17 12 Ebd.: S. 16 13 Zitiert nach: Ebd.: S. 16
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ihr auch die Freiheit der Künste von zweckhaften Einbindungen betont.“14 In diesem Kontext
lässt sich die provokative Wirkung des Montage-Begriffs, der ganz bewusst Kunst und
(zweckgebundenes) Handwerk zusammen bringt, besser verstehen.
„In Deutschland waren es die beiden Fotomonteure John Heartfield und George Grosz,
die sich als erste schon während des 1. Weltkriegs (ca. 1916) als Monteure
bezeichneten und auch gelegentlich demonstrativ in der typischen, blauen
Arbeitskleidung auftraten. Beide standen im Zusammenhang der künstlerischen Dada-
Revolte, die aus dem Protest gegen den Krieg entstanden war.“15
Heartfield (1891-1968) und Grosz (1893-1959) übernahmen den technischen Montage-
Begriff aus der Industrie, was nahe liegt, da die Fotomontage das neue technische Medium
Fotografie einbezieht. Oder andersherum betrachtet:
„Wenn Künstler diese Bezeichnung [i.e. Montage, Anm. F.R.] auf ein Verfahren
ästhetischer Produktion übertragen, so nehmen sie damit über die immanent
entwickelten künstlerischen Techniken hinaus alle neuen technischen Möglichkeiten
ihrer Zeit für sich in Anspruch.“16
Der Aspekt des Technischen und des Aufbaus einer aus Einzelteilen bestehenden Maschine,
erhält mit dem Montage-Begriff besonderes Gewicht.
„Die Bezeichnung Montage selbst verweist […] wie keine andere direkt auf die
technische Seite der künstlerischen Sache; sie meint in Analogie zur materiellen
Produktion Konstruktion auf der Grundlage der Maschine, d.h. eine Technik, deren
innere Funktionsweise sich von den handwerklichen Bewegungsformen abgelöst hat,
meint das künstlich-künstlerische Zusammenfügen von einzelnen, vorgegebenen
Elementen, die Verbindung von relativ selbständigen, aber erst im Ganzen
funktionstüchtigen und wirkungsvollen Einzel- oder ‚Fertigteilen’, meint die Arbeit
mit ‚Realitätsfragmenten’.“17
14 Zitiert nach: Ebd.: S. 16 15 Ebd.: S. 17 16 Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Essay. (1978), Zweite Auflage, Gießen, 1984. S. 7 17 Ebd.: S. 25
8
Der Dadaismus, der Surrealismus, der Abstrakte Expressionismus, die Fotomontage und die
PopArt variierten die Montage auf unterschiedliche Weise und auch in der Objektkunst und
der Installation ist dieses Prinzip von Bedeutung. Im Film ist die Montage von Bildern
einerseits als grundlegende Technik vom Medium vorgegeben, denn erst die
Aneinanderreihung fotografischer Bilder, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit, 24
Bilder pro Sekunde, am Auge vorbeiziehen, erzeugt den Eindruck Bewegung. Andererseits
werden mittels Filmschnitt verschiedene Bilderfolgen je nach dramaturgischer Intention
aneinander montiert und somit wird die Montage auch im Film zur spezifisch künstlerischen
Technik.
Nach dieser einführenden Begriffsklärung soll nun der Ursprung der Collage/Montage im
Kubismus näher beleuchtet werden.
c. Ursprung der Collage/Montage im Kubismus
Die kubistischen Collagen Braques und Picassos um 1910 legten den Grundstein für das
Prinzip der Collage/Montage in der Malerei. Das Prinzip des analytischen Kubismus bestand
darin, die Gegenstände auf ihre Grundelemente zurückzuführen und in gleichzeitigern
Ansichten der verschiedenen Seiten zu zeigen. Motive wie Buchstaben oder Zeitungen
wurden gemalt. In der Phase des synthetischen Kubismus integrierten Braque und Picasso
Buchstaben und Fremdmaterialien aus nichtkünstlerischen Breichen in die sogenannten
papiers collés. „Der entscheidende Bruch entstand […] erst, als diese Motive nicht mehr
gemalt, sondern als Fremdmaterialien eingeklebt wurden.“18 Die Künstler wenden sich damit
von den tradierten mimetischen Techniken ab und gelangen zu einer eigenständigeren Form
der Bildgestaltung. Dabei ist zu bedenken, dass das neue Medium der Fotografie ohnehin
dabei war, der mimetischen Malerei den Rang abzulaufen.
„Die Innovationen von Picasso und Braque entstanden vor dem Horizont einer
inhaltlosen naturalistischen Malerei und der Photographie, welche Voraussetzungen
der mimetischen Technik technisch vorteilhafter umsetzte.“19
18 Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München, 2000. 19 Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso bis Richard Prince. München 2007. S. 27
9
Gleichwohl versuchen die Kubisten in ihren Collagen neue Sehweisen zum Ausdruck zu
bringen. So fragt sich Picasso 1926 in einem Rückblick auf den Kubismus, „ob man nicht die
Dinge eher so malen müsse, wie man sie kennt, als wie man sie sieht.“20 Die Kubisten lösen
das Problem der Darstellbarkeit von Realität, indem sie vermeintlich wertlose, vorgefundene
Materialien in das Bild integrieren und zu dem restlichen Bild in Beziehung setzen.
„Die Collage ist nicht mehr abgeschlossen, sondern nimmt ein Material auf, das nicht
vollständig integrierbar ist. Die Realitätspartikel bleiben erkennbar ein fremdes
Material; im Rahmen des Bildes wird es kunstfähig und zum Bestandteil der Kunst
geadelt. Die gegenseitige Relativierung ist nur möglich, weil die Alltagspartikel nicht
voll im Bild aufgehen, sondern zugleich auch Alltagspartikel bleiben.“21
Die Verwendung von Fremdmaterialien sagt auch etwas über die veränderte Individualität des
Malers aus. Der Maler fügt jetzt bereits vorgefertigte Materialien, die nicht Produkt seiner
künstlerischen Subjektivität sind, in sein Werk ein.
„Mit der Einfügung von Fremdmaterial verzichten die Maler auf einen Teil ihrer
bisherigen Verfügungsgewalt. Motive werden nicht mehr selbst gemalt. Das fremde
Material ist bereits vorhanden und im gesellschaftlichen Verkehr frei zugänglich. Die
künstlerische Tätigkeit nimmt sich auf die Auswahl und die Juxtaposition, die
Anordnung der fremden Materialien im Nebeneinander zurück.“22
Als Beispiel soll nun kurz George Braques Montage „Glas, Karaffe und Zeitung“ (Abb. 2) aus
den Jahren 1913/14 betrachtet werden.
i. George Braques: „Glas, Karaffe und Zeitung“
Die einzigen gemalten Bestandteile des Bildes „Glas, Karaffe und Zeitung“ sind, wie im Titel
angekündigt, im Bild aber nur schwach zu erkennen, das Glas und die Karaffe. Alle weiteren
Elemente sind eingeklebt: schwarzes und grünes Papier, Zeitungsausschnitte von
20 Zitiert nach: Hess, Walter: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Hamburg, 1995. S. 80 21 Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München, 2000. S. 142 22 Ebd.: S. 143
10
willkürlichem Zuschnitt und ein Stück Holz imitierende Tapete. Die Schriftzeichen des
Zeitungsfragments in der linken oberen Ecke könnten noch auf die gemalte Karaffe (Carafe)
und den Titel verweisen, sie könnten aber auch etwas anderes bedeuten. Die eingeklebten
Elemente bleiben als Wirklichkeitsfragmente erkennbar und verweisen auf den Kontext, dem
sie entrissen worden sind, wie Hanno Möbius insbesondere anhand der Zeitungsausschnitte
feststellt.
„Die Zeitungsausschnitte sprengen die Geschlossenheit des Werks noch mehr auf als
die anderen eingeklebten Partikel. Sie verweisen nicht nur auf die Zeitungswelt und
auf die Außenwelt schlechthin; sie sind weiterhin Zeitungsausschnitte, die als solche
von Interesse sind.“23
Die Verweise auf die Außenwelt aktivieren den Rezipienten, der das Arrangement der
Einzelteile sinnvoll zu deuten versucht.
„Am Beispiel der Zeitung ist das besonders deutlich. Im Bild von Braque wird diese
Dimension noch nicht voll entwickelt, aber immerhin ist sie auch dort schon angelegt.
Wenn Wörter oder Sätze abrupt durch den Schnitt unterbrochen werden,
rekonstruieren die Betrachter auf der Suche nach dem Sinn die fehlenden
Buchstaben.“24
Das Einfügen fremden Materials, das nicht vom Künstler hergestellt wurde, bewirkt ein
Spannungsverhältnis, in dem diese Realitätsfragmente zum Gemalten stehen. Gleichzeitig
führen die Realien den Betrachter in seiner Suche nach einem Zusammenhang über das Bild
hinaus in andere Wirklichkeitsbereiche.
d. Vorläufer der Montage: Carl Spitzwegs Kochrezept-Collagen
Natürlich ist die Montage keine Technik, die erst seit der Avantgarde Anwendung findet. Es
gibt wie so häufig diverse Vorläufer, von denen hier in aller Kürze ein Beispiel
herausgegriffen werden soll. Vermutlich zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
schenkte der Maler Carl Spitzweg (1808-1885) seiner Nichte Lina ein von ihm illustriertes 23 Ebd.: S. 140f. 24 Ebd.: S. 143
11
Rezeptbuch. Es enthält 31 mit Zeichnungen und Collagen verzierte Kochrezepte und befindet
sich heute im Privatbesitz. Siegfried Wichmann gab im Jahre 1962 diese Rezeptsammlung
unter dem Titel „Spitzwegs Leibgerichte. Die Leibgerichte des weiland Apothekers und
Malerpoeten Carl Spitzweg von ihm eigenhändig aufgeschrieben und illustriert“25 als
Nachdruck heraus. Die mündlich überlieferten und teilweise aus Kochbüchern
übernommenen Rezepte illustrierte Spitzweg mit Collagen, die sich aus
Holzstichillustrationen, Stahlstichen, Strammbuchbildern, Vorsatzpapieren und Schriftzeilen
zusammensetzen. Spitzweg überarbeitete und überklebte die Bildfragmente und höhte sie mit
Feder und Pinsel in Aquarell- und Mischtechnik. Die Texte schrieb er auf teilweise getöntem,
handgeschöpftem Papier mit violetter Schreibtinte.
„Holzschnitte entnahm er den ‚Fliegenden Blättern’ und Tageszeitungen, um sie mit
eigenen Zeichnungen zusammenzufügen. Auf diese Weise entstand eine Vielzahl lustiger
Sinnverdrehungen und Wortspiele oder ‚Bildspiele’, die kultur- und kunstgeschichtlich
von höchstem Interesse sind, denn die Freunde der Malerei haben nunmehr in Carl
Spitzweg den ‚Vater der Collagen’ gefunden.“26
Die Gestaltung für die Kirsch- und Erdbeermarmeladenrezepte (Abb. 3, Rezept für
Kirschmarmelade) verdeutlichen, wie Spitzweg den Sinn von Wort und Bild verdreht:
„Vor imitierte Texturen naturalistisch nachgebildete Dinge zu setzen, versucht der Maler
auf den Abbildungen ‚Marmelade aus Kirschen’ und ‚Marmelade aus Erdbeeren’. Bild
und Wort treten auch hier ‚dinghaft’ in Erscheinung. Das marmorierte Papier imitiert
wirklichkeitsnahe die Struktur des Marmor oder Marmelstein, der wiederum mit
Marmelade ins Wortspiel gesetzt wird.“27
Mit der Kombination scheinbar wesensfremder Elemente, hier des imitierten Marmors
beziehungsweise Marmelsteins, mit der Zeichnung von Kirsch- und Erdbeerfrüchten,
überträgt Spitzweg Wortspiele ins Bildliche und erfüllt sie mit poetischem Witz.
Obwohl Spitzwegs Rezeptbuch-Collagen nicht zur offiziellen Kunstgeschichte gehören – der
Künstler sah sie nur für private Zwecke vor – können sie sich mit den avantgardistischen
25 Wichmann, Siegfried (Hg.): Spitzwegs Leibgerichte. Die Leibgerichte des weiland Apothekers und Malerpoeten Carl Spitzweg von ihm eigenhändig aufgeschrieben und illustriert. (1962) 7. Auflage, München, 2003. 26 Ebd. 27 Ebd.
12
Montagen durchaus messen. Sie leben von einem eigenen Reiz, der sich nicht zuletzt aus
Spitzwegs humorvollem Spiel mit Wort und Bild ergibt.
Nach dieser grundlegenden Einführung soll nun die Aufmerksamkeit auf Peter Bürgers
Montage-Begriff gelenkt werden.
2. Peter Bürgers Montage-Begriff
Die revolutionären Neuerungen, die Strömungen wie der Kubismus, der Futurismus und der
Dadaismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vollbrachten, werden unter dem Begriff der
künstlerischen Avantgarde gefasst. Wie der Montage-Begriff (siehe Erläuterung Abschnitt
1.b.ii.) entstammt auch der französische Avantgarde-Begriff ursprünglich einem militärischen
Kontext: er bezeichnet die Vorhut, also die Abteilung, die einer marschierenden Kampftruppe
vorangeht, um das Gelände zu erkunden und etwaige Angriffe auf den Haupttrupp
aufzuhalten.28 Die Nähe zur militärischen Sphäre verstärkt auch hier die Bedeutung des
Revolutionären, Kämpferischen und des Umbruchs.
In seinem Werk „Theorie der Avantgarde“29 (1974) identifiziert Peter Bürger Begriffe zur
genaueren Beschreibung des avantgardistischen Kunstwerks. Die Avantgarde brach mit dem
Autonomieverständnis von Kunst und ihren Institutionen und zielte stattdessen auf die
Zusammenführung von Kunst und Leben. Die Norm des ganzheitlichen, geschlossenen
Kunstwerks, Bürger spricht vom „organischen“ Werk, wurde kritisiert und ihr ein neuer
Werkbegriff, gegenübergestellt.
a. Der Begriff des nicht-organischen Kunstwerks
In der Avantgarde wird die Norm des ganzheitlichen, geschlossenen Kunstwerks, Bürger
spricht vom „organischen“ Werk, kritisiert und ihr ein neuer Werkbegriff, nämlich der des
„nicht-organischen“, gegenübergestellt. Die Montage dient Bürger als Paradigma diese neuen
Werkbegriffs, welchem er sich über Walter Benjamins Allegorie-Begriff30 nähert. Zwei
28 Vgl.: Avantgarde. Zeno.org: Meyers Großes Konversations-Lexikon, S. 13005 (Vgl. Meyer Bd. 2, S. 195) 29 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde (1974). Zweite Auflage, Frankfurt/M., 1992. 30 Vgl.: Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hrsg. Von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M., 1990.
13
produktionsästhetische Aspekte dieses Begriffs lassen sich auch auf das Montage-Prinzip
anwenden:
„1. Der Allegoriker reißt ein Element aus der Totalität des Lebenszusammenhangs
heraus. Er isoliert es, beraubt es seiner Funktion. Die Allegorie ist daher wesenhaft
Bruchstück […].“31
Die Beschreibung des Herausbrechens von Elementen aus einem Kontext deckt sich mit der
Materialbehandlung des montierenden Künstlers, der die Bildfragmente aus einem Kontext
entreißt, zum Beispiel einer Zeitung, und sie ihrer Funktion entbindet.
„2. Der Allegoriker fügt die so isolierten Realitätsfragmente zusammen und stiftet
dadurch Sinn. Dieser ist gesetzter Sinn, er ergibt sich nicht aus dem ursprünglichen
Kontext der Fragmente.“32
Die Beschreibung der Werkkonstitution, das heißt der Zusammenfügung der Fragmente und
die Sinnsetzung, deckt sich ebenfalls mit der Produktionsästhetik der Montage. Das
Revolutionäre darin besteht in der Erhebung der Herstellungsweise zum Inhalt des
Kunstwerks. Das organische Kunstwerk war noch bestrebt, die Tatsache seines
Produziertseins unkenntlich zu machen. Das gilt nicht mehr für das avantgardistische
Kunstwerk. Sie gibt sich als künstliches Gebilde zu erkennen und zerstört ganz bewusst das
Werkganze. Somit kann die Montage, laut Bürger, als Grundprinzip avantgardistischer Kunst
gelten.
„Das ‚montierte’ Werk weist darauf hin, dass es aus Realitätsfragmenten
zusammengesetzt ist; es durchbricht den Schein von Totalität. Die avantgardistische
Intention der Zerstörung der Institution Kunst wird so paradoxerweise im Kunstwerk
selbst realisiert. Aus der beabsichtigten Revolutionierung des Lebens durch
Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis wird eine Revolutionierung der Kunst.“33
Das organische Werk zielt auf einen ganzheitlichen Eindruck ab, seine Einzelmomente
verweisen immer auf den Sinn des Werkganzen und konstituieren die Totalität, von der
31 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde (1974). Zweite Auflage, Frankfurt/M., 1992. S. 93f. 32 Ebd.: S. 94 33 Ebd.: S. 97f.
14
Bürger spricht. In der Montage haben die Einzelmomente dagegen einen viel höheren Grad an
Selbständigkeit und können auch einzeln oder in Gruppen gelesen werden, ohne dass das
Werkganze erfasst werden müsste.
b. Papier collés als Verkörperung des avantgardistischen Montagetyps
Die bewusste Zerstörung des Werkganzen und damit auch eines Darstellungssystems, das seit
der Renaissance Geltung hatte, hat ihren Ursprung, wie schon in Punkt 1.c. erläutert, im
Kubismus mit den papiers collés Braques und Picassos. Diese Form der Montage verkörpert
für Bürger den avantgardistischen Montagetyp, denn sie bricht mit den bisherigen
Maltechniken indem sie Materialien, die nicht vom Künstler hergestellt worden sind, einem
anderen Kontext eintreisst und unbehandelt in das Bild einfügt. Die Einheit des Bildes, als
eines in allen Teilen von der Subjektivität des Künstlers geprägten Ganzen, wird zerstört.
„Nicht nur verzichtet der Künstler auf die Gestaltung des Bildganzen; das Bild erhält
auch einen anderen Status, denn Teile des Bildes stehen zur Wirklichkeit nicht mehr in
dem für das organische Kunstwerk charakteristischen Verhältnis: Sie verweisen nicht
mehr als Zeichen auf die Wirklichkeit, sie sind Wirklichkeit.“34
Mit der Einlassung der Bruchstücke, die als solche erkennbar bleiben, geht die Verweigerung
der Gestaltung eines Bildganzen einher. Bürger greift hier auf Theodor Adorno zurück, der in
der „Negation der Synthesis“35 das Gestaltungsprinzip der Montage erkennt.
c. „Negation der Synthesis“ als Montageprinzip
Laut Adorno verweigert sich die Montage der Gestaltung eines synthetischen Bildganzen und
damit der Erzeugung des Scheins von Totalität.
„Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser
versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der
34 Ebd.: S. 105 35 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (1970). 13. Auflage, Frankfurt/M., 1993. S. 232
15
Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung
umfunktioniert. Kunst will ihre Ohnmacht gegenüber der spätkapitalistischen Totalität
eingestehen und deren Abschaffung inaugurieren. Montage ist die innerästhetische
Kapitulation der Kunst vor dem ihr Heterogenen. Negation der Synthesis wird zum
Gestaltungsprinzip.“36
Die Montage erzeugt keinen Gesamteindruck mehr und auch die einzelnen Fragmente
verweisen nicht auf eine wie auch immer geartete Intention. Stattdessen bewirkt sie einen
neuen Typus der Rezeption, bei dem auf die Sinndeutung verzichtet und stattdessen die
Aufmerksamkeit auf das Konstruktionsprinzip gelenkt werden soll.
„Statt weiter nach dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels aus dem Zusammenhang
von Werkganzem und Teilen einen Sinn erfassen zu wollen, wird er die Sinnsuche
suspendieren und seine Aufmerksamkeit auf die die Werkkonstitution bestimmenden
Konstruktionsprinzipien richten, um in ihnen einen Schlüssel zu finden für die
Rätselhaftigkeit des Gebildes.“37
Trotz allem versteht Bürger das provokatorische Moment dieser Art von Montage als
gebrochen, denn die Realitätsfragmente bleiben weitgehend einer ästhetischen Komposition
unterworfen. Es ginge in ihnen nicht um die Infragestellung von Kunst überhaupt, sondern
vielmehr um die Herstellung eines ästhetischen Objekts, welches sich den traditionellen
Regeln der Beurteilung entziehe.
d. Ausschluss der Fotomontage aus Bürgers Montage-Begriff
Die Fotomontage will Bürger im Rahmen einer Theorie der Avantgarde nicht zum
Ausgangspunkt nehmen, da aus seiner Sicht diese Technik, er zeigt das anhand einer
Fotomontage John Heartfields, die Tatsache des Montierens zum Verschwinden gebracht
würde. Aber gerade dieser Umstand, d.h. das Nicht-Verdecken des Gemacht-Seins eines
Werkes, qualifiziere es ja zu einem avantgardistischen.
36 Ebd.: S. 232 37 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde (1974). Zweite Auflage, Frankfurt/M., 1992, S. 109
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„Im gewissen Sinne steht die Fotomontage dem Film nahe – nicht nur deshalb, weil in
beiden Fällen das Faktum der Montage unkenntlich oder zumindest schwer erkennbar
gemacht wird. Hierdurch unterscheidet sich die Fotomontage grundsätzlich von der
Montage der Kubisten […].“38
Die Film-Montage sei durch das Medium vorgegeben. Darin stecke laut Bürger noch keine
spezifisch künstlerische Technik und damit sei die Filmmontage auch in diesem
Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Bürger rückt die Fotomontage in die Nähe der
Filmmontage, weshalb er sie nicht zum Ausgangspunkt seine Betrachtungen machen kann.
Stattdessen hat „[e]ine Theorie der Avantgarde […] von dem Begriff der Montage
auszugehen, wie er von den frühen kubistischen Collagen nahegelegt wird.“39
3. Annegret Jürgens-Kirchhoffs Kritik an Bürgers Montage-Begriff
a. Bürgers Montage-Begriff berücksichtigt nur formale Ebene
In ihrem Essay „Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20.
Jahrhunderts“ (1978) legt Annegret Jürgens-Kirchhoff dar, warum Bürgers Begründung für
den Unterschied zwischen Fotomontage und avantgardistischer Montage nicht haltbar ist.
Bürger verbleibt bei seiner Kritik auf rein formaler Ebene und berücksichtigt die inhaltliche
Bedeutung der Bruchstücke und die des Werk-Ensembles nicht.
„Bürger liest das ‚Faktum’ der Montage den Schnittkanten, Übergängen und
Kontrasten der montierten heterogenen Materialien und Gegenstände ab, statt es auch
inhaltlich aus dem montierten Bild oder Objekt zu erschließen. Das heißt, wo der
Übergang von einem Fotoausschnitt zum anderen nicht mehr an der Schnittkante
festzumachen ist, wird das Faktum der Montage nicht mehr wahrgenommen, obwohl
die Goldstücke in Hitlers Schlund z.B. […] von jedem Betrachter als Resultat einer
Montage zu identifizieren sind.“40
38 Ebd.: S. 104 39 Ebd.: S. 104 40 Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Essay. (1978), Zweite Auflage, Gießen, 1984. S. 17
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Am Beispiel von Heartfields Fotomontage „Adolf – der Übermensch“ zeigt Jürgens-
Kirchhoff, dass sich diese Form der Montage sehr wohl zu ihren Bruchkanten bekennt – man
kann sie aber eben nur auf inhaltlicher, nicht auf formaler Ebene ablesen.
b. John Heartfields Fotomontage „Adolf – der Übermensch“
Die Fotocollage „Adolf – Der Übermensch“ (Abb. 5), erschien das erste Mal am 17.7.1932 in
der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Sie stellt ein Halbporträt Hitlers mit geöffnetem
Mund in Rednerpose dar. Die Röntgenansicht seines Brustkorbes entblößt Goldstücke, die
sich in seinem Innern bis zum Hals türmen. An der Stelle des Herzens befindet sich ein
Hakenkreuz. Die Bildunterschrift verdeutlicht die unsichtbare Transformation der
geschluckten Goldstücke während der Rede Hitlers: sie werden zu Blech. „Blech reden“ ist
eine Metapher für „Unsinn reden“. Die Goldmünzen bilden das Rückgrat der Figur. Sie stehen
symbolisch für das Kapital, das die innere Stütze der Figur ist und das aus dieser Figur
spricht.
Heartfield nimmt die ursprüngliche Bedeutung der Teile auf und bringt sie mit anderen
Realitätsfragmenten in einen neuen Kontext, der ihrer ursprünglichen Bedeutung widerspricht
und sie umdeutet. Durch den inhaltlichen Widerspruch zwischen den verschiedenen
Gegenständen wird Hitler als Agent des Kapitals entblößt und der Lächerlichkeit
preisgegeben. Heartfields Fotocollagen spielen mit der schockartigen Fiktion fotografischer
Realitätstreue. Seine Fotocollagen sind aber keine Fotografien, sondern vielmehr demontierte,
fragmentarische Bilder. Sie ergeben zusammengesetzt ein neues Bild, das nur über die
Reflektion des Inhalts begriffen werden kann. „Obwohl Heartfields Montagen den Eindruck
formaler Geschlossenheit vermitteln und von der Intention der Sinnsetzung bestimmt sind,
stellen sie keine organischen Werke dar.“41 Rein formal betrachtet kann Heartfields
Fotomontage als organisches Werk, im Sinne Bürgers, missverstanden werden, gleichwohl
funktioniert sie anders. Ein Hauptcharakeristikum für das organische Werk, wie Bürger es
beschreibt, ist die Übereinstimmung zwischen dem Sinn der Einzelteile und dem Sinn des
Ganzen. Dies trifft auf Heartfields Fotocollagen nicht zu:
„Im Gegenteil, der Sinn des Ganzen widerspricht dem Sinn der Teile. Indem
Heartfield die ursprüngliche Bedeutung der Teile, bestimmter Fotofragmente,
41 Ebd.: S. 20
18
aufnimmt und sie durch die Konfrontation mit anderen ‚Realitätsfragmenten’ in einen
Kontext bringt, der ihrer ursprünglichen Bedeutung widerspricht, sie aufhebt oder
umdeutet, verhilft er allerdings nicht einem abstrakten Konstruktionsprinzip zur
Geltung; er stellt vielmehr einen Sinnzusammenhang her, in dem sich das einzelne,
isolierte Teil als selbständiges aber auch selbstverantwortliches zu erkennen geben
muss.“42
Wie auch im nicht-organischen Werk, das Bürger beschreibt, emanzipieren sich hier die Teile
von einem übergeordneten Ganzen. In diesem Fall von einem faschistischen Ganzen, welches
ihnen bisher Bedeutung und Sinn verlieh. Die Einzelfragmente werden aber nicht aufgewertet,
sondern der Kritik zugänglich gemacht und ermöglichen ein politische Aussage. Die
einzelnen Bildfragmente arbeiten an der Sinnkonstitution des Werkganzen mit, aber nicht in
dessen Überstimmung, sondern im Widerspruch mit diesem.
„Durch die Montage als einer Technik der Verfremdung und des Widerspruchs werden
hier die ‚Realitätsfragmente’ nicht rätselhaft und resistent gegen den Versuch, ihnen
Sinn abzugewinnen; sie offenbaren vielmehr auf diese Weise einen verborgenen, aber
einsehbaren Sinn, der das Teil tatsächlich in einem neuen, der Anschauung, der Kritik
und der Erkenntnis zugänglichen Bezug zur Wirklichkeit zeigt.“43
c. Erweiterung des formalen Montage-Begriffs Bürgers um die inhaltliche
Ebene
Jürgens-Kirchhoff leitet aus ihren Erkenntnissen einen modifizierten Montage-Begriff ab. Sie
will den mit den Arbeiten Heartfields gegebene Begriff der Montage nicht jenseits der
Avantgarde reflektieren, sondern als Begriff, der im Widerspruch zu einer bürgerlich
identifizierten Avantgarde steht und der mit dem Anspruch einer kritisch und realistisch
abbildenden Avantgarde auftritt.
„Eine kritische Theorie der Avantgarde hätte also den ‚Bedeutungsumfang’ des
Begriffs Montage zu berücksichtigen, ohne einen bestimmten Begriff von Montage
42 Ebd.: S. 21 43 Ebd.: S. 21
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und eine entsprechende realistische Kunst im Hinblick auf Avantgarde vorschnell als
irrelevant auszusondern.“44
Dieser beschreibe zum einen ein ästhetisches Strukturprinzip, d.h. die formale Organisation
unterschiedlicher Materialien und Gegenstände, die sich aus der Realität ableiten. Zum
anderen beschreibe dieser Montage-Begriff ein abbildendes Prinzip, das auch inhaltlich an der
Realität orientiert sei. Es bezieht seine Realitätsfragmente im kritischen Widerspruch so
aufeinander, dass ihr verborgener als nur versteckter Sinn anschaubar und einsehbar wird.
4. Schlussbetrachtung
Die Montage ist aus dem Problem der Darstellbarkeit von Realität heute entstanden.
Fotomontagen, wie die John Heartfields, reagieren auf dieses Problem mit einem kritischen
und realistisch abbildenden Verfahren, ohne einfach Realität wiederzugeben. Statt sich der
Sinnsetzung zu entziehen, geht es ihnen um eine klare politische Aussage. Sie spiegeln einen
Montage-Typus wieder, der im Widerspruch zu Bürgers Montage-Begriff steht. Bürger
konzentriert sich auf die formalen Eigenschaften der Montage und die Versagung von Sinn
durch die Montage. Darin läge das revolutionäre Moment, denn der Betrachter würde statt
einem Sinn nachzugehen, auf das Konstruktionsprinzip der Montage geleitet. Die einzelnen
Fragmente bleiben auf diese Art jedoch vereinzelt, isoliert und dem Ganzen entfremdet.
44 Ebd.: S. 28
20
5. Literatur
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (1970). 13. Auflage, Frankfurt/M., 1993.
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde (1974). Zweite Auflage, Frankfurt/M., 1992.
Hirdina, Karin: Avantgarde, in: Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Stuttgart,
2006, S. 57-60.
Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des
20. Jahrhunderts. Ein Essay. (1978), Zweite Auflage, Gießen, 1984.
Kaiser, Gerhard: Collage/Montage, in: Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik.
Stuttgart, 2006, S. 69-70.
Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik,
Theater bis 1933. München, 2000.
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, 2004.
Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo Picasso
bis Richard Prince. München 2007.
Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Stuttgart, 2006.
Voigts-Virchow, Eckart: Montage/Collage, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon
Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, 2004, S. 472-473.
Wichmann, Siegfried (Hg.): Spitzwegs Leibgerichte. Die Leibgerichte des weiland
Apothekers und Malerpoeten Carl Spitzweg von ihm eigenhändig aufgeschrieben und
illustriert. (1962) 7. Auflage, München, 2003.
Žmegač, Viktor: Montage/Collage, in: Ders. und Borchmeyer, Dieter: Moderne Literatur in
Grundbegriffen. 2. Auflage, Tübingen, 1994. S. 286-291.
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6. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Paul Citroën, „Metropolis“, Collage, 1923, Standort: Leyde, Rÿksuniversiteit.
Abb. 2: Georges Braque, „Verre, Carafe et Journal/ Glas, Karaffe und Zeitung“, 1913,
Collage aus Papier, Zeitungsausschnitten, Tapetenbruchstück und Kohlezeichnung, Abmaße:
62,5 cm x 28,5 cm, Standort: Basel, Privatsammlung.
Abb. 3: Carl Spitzweg, Rezept für Kirschmarmelade, Collage, Mitte 19. Jh., Abmaße: 22 x
15,5 cm, Nachdruck in: Wichmann, Siegfried (Hg.): Spitzwegs Leibgerichte. Die Leibgerichte
des weiland Apothekers und Malerpoeten Carl Spitzweg von ihm eigenhändig aufgeschrieben
und illustriert. (1962) 7. Auflage, München, 2003.
Abb. 4: Robert Rauschenberg, „Bed/ Bett“, 1955, Öl und Bleistift auf Kopfkissen, Bettdecke
und Laken auf Holzunterlage, Abmaße: 191,1 x 80 x 20,3 cm.
Abb. 5: John Heartfield: „Adolf – Der Übermensch“, Fotomontage. Das erste Mal am
17.7.1932 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) erschienen.