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Sorgen gemacht», erinnert sichNicole (13), «aber inzwischen fin-den es alle gut. Es ist völlig normalgeworden, dass das Handy nunauch zur Schule gehört.»

Herzstück des Projekts ist einVertrag. Diesen haben die Kinderselbst erarbeitet und unterschrie-ben. Und siemüssen sich strikt anihn halten: Er regelt den Umgangmit demHandy in der Schule, aufdem Schulweg und auch zu Hau-se. Die Kinder versprechen darinunter anderem, dass dieHandys injeder Pause im Zimmer bleiben,auf dem Schulweg in der Taschesind und dass sie während derSchulzeit keine SMS schreibenoder telefonieren. Und sie besu-chen keine pornografischen odergewaltverherrlichenden Seiten.

Verbotene Seiten werden abernicht gesperrt; das ist Teil desKonzepts, das den Kindern denverantwortungsvollen Umgangmit den neuenMedien beibringenwill. Für das Überprüfen dieserVereinbarung sind die Schülerselbst verantwortlich. Jonas (12)zeigt, wie das geht: Am Schrankhängt ein Zettel mit einem Code,den er mit seinem Handy ein-scannt. Sowird sichergestellt, dasser keine Verläufe löscht, um denBesuch unerlaubter Seitenzu vertuschen. Diese Kont-

Das iPhone alsFranzlehrerBerge versetzen — für Goldau ein leidiges Thema. Lange war derSchwyzer Ort vor allem für den Bergsturz von 1806 berühmt. Nunversetzt er mit einem europaweit einzigartigen Schulprojekt Berge:Eine Primarschulklasse lebt und lernt mit dem iPhone. Eine Bilanz.

Was ist eigentlich der Unter-schied zwischen Kulturund Kult? Die Sechstkläss-

ler starren kurz Löcher in die Luft.Dannmachen sie sich eifrig hinterden Duden. Seitenrascheln hörtman allerdings keines, denn dieKlasse von Christian Neff darf,was anderen Schülern striktverboten ist: im iPhone nach-schauen. Sie macht mit bei einemForschungsprojekt, das unter-sucht, ob und wie das iPhone siebei Unterricht und Hausaufgabenunterstützen kann.

Wie kommt ein Lehrer dazu,einer ganzen Klasse iPhones indie Hand zu drücken? Und das ineiner Zeit, in der viele Schulengenerelle Handyverbote erlassen?«Schon als ich vor 18 Jahrenanfing zu unterrichten, war ichsicher: Die modernen MedienkönnendenUnterricht optimal un-terstützen», sagt der unterdessen38-Jährige.Mit dem erstenGehaltkaufte er damals einen altenRech-ner für sein Schulzimmer. Seitherhat Christian Neff viel Zeit, Enga-gement und eigenes Geld in dieseÜberzeugung investiert.

Als der Primarlehrer Anfang2007 zum erstenMal vom iPhonehörte, war ihm sofort klar: Daskönnte das optimale Werkzeugsein, um den Unterricht und das

Lernen daheim noch vielfältigerund individueller zu gestalten. Estraf sich, dass sich zur selben Zeitein Zweiter mit ähnlichen Über-legungen in Goldau einfand: DerETH-Informatiker Beat DöbeliHonegger (41) trat in Schwyzseine Stelle als Professor an derPädagogischen Hochschule Zent-ralschweiz an und übernahm diewissenschaftliche Leitung der Pro-jektschule Goldau (PSG), die Teilder Primarschule Goldau ist. DiePSG entwickelt und testet neueModelle für zukunftsgerichtetenUnterricht. Neff und Döbeli Hon-egger beschlossen, gemeinsam einForschungsprojekt aufzugleisen,das sich mit dem Nutzen voniPhone für den Unterricht befasst.

Die Kinder halten sich an dieselber formulierten RegelnNach eingehenden Vorbereitun-gen und Einbezug der Behördenluden sie zu einem Elternabend– und staunten, wie aufgeschlos-sen die Eltern auf ihr Vorhabenreagierten. Das lag auch daran,dass die Initianten deren Beden-ken ernst nahmen und Punkt fürPunkt erörterten. Sie sichertenzu, dass der Versuch jederzeit aufWunsch der Eltern abgebrochenwerden kann. «Meine Eltern ha-ben sich am Anfang schon etwas

Der 12-jährige Jonas liest und hört einen Text auf Französisch. So bleibt dieser gleich zweifach hängen.

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Baumbestimmung mal ganz anders: Mit der iForest-App.

rolle führt jedes Kind ein-mal in der Woche selbstän-

dig durch. In den anderthalb Jah-ren, die das Projekt mittlerweiledauert, hat Klassenlehrer Chris-tian Neff noch keine grobe Über-tretung festgestellt – eine Bestä-tigung dass die Schüler ihreneigenen Vertrag ernst nehmen.

Kritik aus der Öffentlichkeitgibt es trotz Vertrags vor allemnach Medienberichten: Ausge-rechnet das Ding, das mit schuldsein soll daran, dass Kids nichtmehr richtig schreiben könnten,weniger direkten Kontakt hättenmiteinander, gefährlichen Strah-len ausgesetzt seien und sich zuwenig bewegten, soll im Unter-richt eingesetzt werden? «Ja»,sagen die Initianten. Beat DöbeliHonegger: «Wir bringen nichtsins Leben der Kinder, was nichtohnehin schon da wäre, aber wirlehren die Kinder, damit vernünf-tig umzugehen.» Etwa, indem sieden strahlenarmen Umgang mitdemHandy lernen und damit vie-len Erwachsenen voraus sind.

Ähnlich verhält es sichmit denKosten. Sie werden zwar von derSwisscom übernommen, die dasProjekt mit Geräten und Verbin-dungen unterstützt. Jedes Kindbekommt jedoch eine detaillierteAbrechnung, die Christian Neffmit ihm bespricht. So wissen dieSchüler sehr genau, was wie vielkostet und wie sie günstiger mitdem Handy umgehen – vor allemin der Freizeit, wenn sie es auchfür Spiele, Surfen und SMS benut-zen dürfen. «Einmal hatte ich eineRechnung von dreissig Franken.Aber meistens bin ich bei etwazehn. Ich habe gelernt, wie manda aufpasst», sagt Tamara (12).

Hilfreich bei Kopfrechnenund FremdsprachenDen Umgang mit dem Handy be-herrschen die Kinder im Schlaf.Dochwie sieht es ausmit den Vor-teilen beim Lernen und imUnter-richt? «Ammeisten bringtmir dasiPhone beim Kopfrechnen», sagtDajana (12), und ihre Sitznachba-rin Dzenisa (12) nickt eifrig. Jonas(12) ist vor allem begeistert, dassdass iPhone teilweise Bücherersetzt und er nicht mehr so vieledavon schleppenmuss.Wichtig istaber, dass das iPhone für die Gold-

auer Projektklasse nicht Konkur-renz zu herkömmlichen Lehrmit-teln, sondern eine Ergänzung ist.So kommt es gerade mal bei rundzehnbis 15 Prozent desUnterrichtszum Einsatz. In der übrigen Zeitarbeiten die Schülermit Büchern,Papier, Stift und Malkasten.

Besonders beliebt ist das iPhonebeimErlernenvonFremdsprachen.Mit «Remme», einer Karteikar-ten-App, können die Schüler beimPauken von Vokabeln gleich dieAussprache hören. So bleiben dieWörter viel besser haften, alswennsie sie nur lesen.

Orientierungslauf mitGPS-UnterstützungUm genau zu dokumentieren, wodas Handy mit welchem Erfolgeingesetzt wurde, führt ChristanNeff ausführliche Statistiken überden individuellen Gebrauch. Siezeigen unter anderem, dass jedeSchülerin und jeder Schüler mitt-lerweile im Schnitt 12600 Kopf-rechnungen und Zahlenreihenmit dem Handy geübt hat – weitmehr, als ohne iPhone-Unterstüt-zung möglich gewesen wären.

Der Primarlehrer sucht nachimmer neuen Möglichkeiten, dasiPhone imUnterricht einzusetzen.So haben die Schüler im Turneneinen Orientierungslauf mit GPSdurchgeführt, imZeichnengelernt,Perspektiven zu erkennen und siezu Papier zu bringen, und im FachMensch&Umwelt werden sie die-sen Frühling losziehen undmit derApp iForest Bäume bestimmen.

Letzteres funktioniert übri-gens genau gleich wie schon vorhundert Jahren: Blattformen,Ränder und Rinde müssen mitAbbildungen verglichen werden.Der gewichtige Unterschied be-steht lediglich darin, dass dieSchüler dafür keineBestimmungs-bücher mehr in denWaldmitbrin-gen, sondern nur ihre Handys. Be-sonders vielfältig zumEinsatz kamdasHandy imKlassenlager:Dawares zugleichMenü- und Budgetpla-ner, Fahrplan, Kommunikations-mittel und Kamera.

«Schade, ist das alles schonbald vorbei», findet Leah (12) undspricht damit für die ganze Klasse.Nach den Sommerferien kommenalle in die Oberstufe, und dasHan-dy bleibt dann wie bei anderen

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Beat Döbeli Honegger (41) ist Dozent mit Forschungsauftrag am Institut für Medien und Schulean der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in Schwyz. Er leitet das Projekt in Goldau.

Die erste Phase des For-schungsprojekts in Goldauist in ein paar Monatenbeendet. Sind Sie zufrieden?Ja, sehr. Und zwar zusammenmit Eltern, Behörden, Klassen-lehrer als auch Schülerinnenund Schülern. Wir konntenaufzeigen, dass nicht zwingenddas Chaos ausbricht, wennKinder in der Schule die privatsowieso vorhandenen Gerätenutzen dürfen. Im Gegenteil, dieKinder haben gelernt, die Geräteauch als Lerninstrument zunutzen. Der Klassenlehrer unddie Schulkinder haben viele guteEinsatzszenarien entwickelt.

Wo lagen die grössten Wider-stände gegen das Projekt?In der Entweder-oder-Wahrneh-mung. Oft wird fälschlicherweisedavon ausgegangen, die Schülerwürden entweder herkömmlichunterrichtet oder mit dem

Smartphone. Das ist falsch.Das Handy im Unterricht ersetztweder Methoden noch Material,sondern ergänzt diese.

Warum ausgerechnetiPhones?Zurzeit der Projektplanung wardas iPhone das geeignetsteSmartphone, um das Internet undzusätzliche (Lern-)Softwarenutzen zu können. Mittlerweilegibt es auch gute Alternativen.

Wie verändern Handys dieKinder heutzutage?Dauernde Erreichbarkeit — egal,wo — ist heute für Heranwach-sende eine Selbstverständlich-keit. Das verändert beispiels-weise die Wahrnehmung vonOrt und Zeit. Eine Nachricht vongeografisch weit entferntenFreunden erscheint ihnen unterUmständen wichtiger als dasaktuelle Geschehen vor Ort. Das

mag Eltern stören. Umgekehrthaben heutige Eltern ihre Kinderimmer nur einen Telefonanrufentfernt, selbst auf Weltreise.Das wiederum verändert dieBeziehung und den Ablöseprozesszwischen Eltern und Kindern.

Wie wird es weitergehen?Die technische Entwicklung undder zunehmende Gerätebesitzvon Kindern führt dazu, dassimmer jüngere Kinder privat überComputer und (mobiles) Internetverfügen. Die Schule spürtbereits jetzt einen gewissenDruck, diese persönlicheInfrastruktur auch im Unterrichtaktiv zu nutzen oder mindestenszu erlauben. Schulklassen mitpersönlichen Geräten — Smart-phones, Tablets oder Netbooks— werden bald alltäglich sein. Bises so weit ist, erproben wir an derProjektschule Goldau weiterhinsinnvolle Unterrichtsszenarien.

«Smartphones in der Schule sind bald der Normalfall»

Christian Neffzeigt auf derLeinwand,worauf beider Pflanzen-bestimmungzu achten ist.

Individuell:Gebrauch undGestaltung deriPhonesbestimmen dieSchüler weit-gehend selbst.

Individuell: Kindern auch daheim oder imRucksack. Klassenlehrer ChristianNeff wird voraussichtlichmit einerneuen Klasse weiterentwickelnkönnen, was seine Pioniere mitviel Enthusiasmus angefangenhaben. Er und Beat Döbeli Hon-egger, der wissenschaftliche Leiterder PSG, hoffen, dass ihr Beispielandernorts Schule macht. Vorallemmit den stetig günstigerwer-denden Smartphones könnte dasbald in greifbare Nähe rücken.

Der Unterschied zwischenKultur und Kult, das haben dieSchüler ihrem iPhone entlockt, ist

übrigens derjenige zwischen derGesamtheit dessen,wasMenscheneiner Gesellschaft erschaffen undgestaltet haben und religiöserAnbetung. Hier liegt vielleichteine der zentralen Errungenschaf-ten des Projekts: Für die Schülerist dasHandy kein Kultgegenstandmehr, sondern ein alltäglichesKulturgut.

Texte Andrea Fischer SchulthessBilder Vera Hartmann

Mehr zum Projekt undder Blogg der Klasse unter:www.projektschule-goldau.ch

www.migrosmagazin.ch

Inhalte, Lernhilfe, Probleme: WasSmartphones Kindern bringenund worauf Eltern achten sollten.


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