PIERRE TEILHARD DE CHARDIN
DIE SCHAU IN DIE
VERGANGENHEIT
LA VISION DU PASSÉ
Die Vergangenheit hat uns den Aufbau der Zukunft offenbart.
Wahrscheinlich haben sich für den Blick de Naturforschers und des
Physikers die die Arten und die Gesellschaften erhellenden Ereignisse nicht
ehemals in den Anfängen des Universums vollzogen, sondern sie bereiten
sich nach vornhin auf seiten der in Bildung begriffenen Zukunft vor:
nämlich die großen Anfänge.
«Die Schau in die Vergangenheit» ist unter dem Originaltitel «La Vision du Passé» als Band III
der Œuvres de Pierre Teilhard de Chardin in den Éditions du Seuil erschienen.
© Éditions du Seuil, Paris, 1957
Die vom französischen Herausgeberkomitee veranlasste und gutgeheißene Übersetzung
besorgten Joseph Bader, Helmuth Stechl und Karl Schmitz-Moormann.
MCMLXV
© Walter-Verlag AG Olten, 1965
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INHALT
Wie stellt sich heute die Frage des Transformismus? ........................................................................ 5
A. Wachsende Komplizierung des von der Wissenschaft der biologischen Evolution zuerkannten Ablaufs ............................................................................................................................................... 6 B. Zunehmende Bestätigung eines gewissen Transformismus durch die Tatsachen .................. 9 C. Das Wesen des Transformismus ................................................................................................................ 13
Das Antlitz der Erde ..................................................................................................................................... 17
I. Die Gebirge ........................................................................................................................................................... 18
A. Geologische Natur der Gebirge ......................................................................................................... 18 B. Geographische Verteilung der Gebirgsketten ............................................................................. 20 C. Periodizität der Gebirgsketten .......................................................................................................... 23
II. Die Kontinente ................................................................................................................................................... 25 III. Die Ozeane ......................................................................................................................................................... 27
Über das Gesetz der Irreversibilität in der Evolution ..................................................................... 33 Die Hominisation .......................................................................................................................................... 33
I. Die beobachtbaren Eigenschaften der Menschheit ............................................................................. 35
A. Die schwache Differenzierung des menschlichen Körpers ................................................... 35 B. Die menschliche Invasion .................................................................................................................... 36 C. Die werkzeugliche Phase des Lebens ............................................................................................. 37 D. Die organische Einheit der Menschheit ......................................................................................... 38
II. Die systematische Stellung der Menschheit: Die menschliche Sphäre oder die Noosphäre ....................................................................................................................................................................................... 40
A. Die Geburt und die Struktur der menschlichen Schicht: die Hominisation .................... 42 B. Der Mensch, Schlüssel der Evolution .............................................................................................. 43
1. Die biologische Evolution, erfaßt im gegenwärtigen Gang der Menschheit .............. 44 2. Das psychische Wesen der Evolution ........................................................................................ 46
Das Transformistische Paradoxon ......................................................................................................... 52
A. Was das transformistische Paradoxon nicht bedroht ............................................................. 55 Der ‹natürliche Ort› der Lebewesen .................................................................................................... 55 B. Versuch einer Interpretation des transformistischen Paradoxons ................................... 58 Schlussfolgerung .......................................................................................................................................... 64
Die Naturgeschichte der Welt ................................................................................................................... 67
A. Die wahre Natur der heutigen Systematik: eine verallgemeinerte Anatomie und Physiologie ............................................................................................................................................................... 67 B. Ein von der Systematik neu erschlossener Bereich: die Biosphäre ............................................ 70 C. Die Systematik, spekulativer Zielpunkt aller Wissenschaft ............................................................ 72
Über das notwendig diskontinuierliche Erscheinungsbild jeder evolutiven Reihe ............. 74 Die Grundlagen und der Kern des Evolutionsgedankens............................................................... 75
A. Die Struktur der lebendigen Welt und das grundlegende evolutionistische Erfordernis.. 75 B. Der Transformismus, ein Sonderfall der Universalgeschichte ...................................................... 80 C. Die Entdeckung der organischen Zeit oder der Kern des Transformismus ............................. 82 D. Die sittlichen Konsequenzen des Transformismus ............................................................................ 85
1. Der Transformismus, mögliche Schule eines besseren Spiritualismus ....................... 86 2. Der Transformismus, mögliche Schule hoher Sittlichkeit ................................................. 88
Die Bewegungen des Lebens ..................................................................................................................... 92
A. Die Mannigfaltigkeit der Bewegungen des Lebens ............................................................................ 93 B. Die Fülle der Bewegungen des Lebens .................................................................................................... 95
Was soll man vom Transformismus halten? ....................................................................................... 97
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Prinzip I: Beim Transformismus nicht verwechseln, was [gefestigte] Grundanschauung ist und was [gebrechliche] sekundäre Erklärungen sind. ............... 98 Prinzip II: Beim Transformismus nicht die wissenschaftliche Ebene [der erfahrbaren Abfolge in der Zeit] und die philosophische Ebene [der tiefen Kausalität] verwechseln. ............................................................................................................................................. 99 Prinzip III: Die noch bestehende Schwierigkeit, die wissenschaftliche Darstellung und die katholische Darstellung der menschlichen Ursprünge derzeit miteinander zu versöhnen, genau lokalisieren. ....................................................................................................... 100 Prinzip IV: Unter Benutzung der Anschauungen des wissenschaftlichen Transformismus einen spiritualistischen Evolutionismus aufbauen, der wahrscheinlicher und verlockender als der materialistische Evolutionismus ist. ... 102
Das menschliche Phänomen ................................................................................................................... 103
A. Die Charakteristika des menschlichen Phänomens ........................................................................ 105
1. Macht des menschlichen Phänomens ..................................................................................... 105 2. Tiefe und zentrale Ursprünge des menschlichen Phänomens ..................................... 106 3. Kritischer Charakter des menschlichen Phänomens........................................................ 107
B. Die Interpretation des menschlichen Phänomens........................................................................... 108 C. Die Anwendungen der Kenntnis des menschlichen Phänomens ............................................... 110
Der Ort des Menschen in der Natur ...................................................................................................... 112
A. Die verwirklichten Fortschritte ............................................................................................................... 113 B. Die erhofften Fortschritte .......................................................................................................................... 115
Die Entdeckung der Vergangenheit ...................................................................................................... 118
A. Die Expansion des Bewußtseins ............................................................................................................. 118 B. Der Zauber der Vergangenheit ................................................................................................................ 119 C. Das Auftreten der Zukunft ......................................................................................................................... 120 D. Die verschwindende Fata Morgana ....................................................................................................... 120 E. Die verbleibende Aufgabe der Geschichte ........................................................................................... 121 F. Frühling .............................................................................................................................................................. 122
Die natürlichen menschlichen Einheiten ........................................................................................... 124
Einführung – Das Erwachen der Rassen ................................................................................................... 124 I. Die Verzweigungen des Lebens ................................................................................................................ 125 II. Die Verzweigungen der Menschheit ...................................................................................................... 127
A. Die Existenz ............................................................................................................................................ 127 B. Natur ......................................................................................................................................................... 128
1. Prädominanz des Psychischen über das Somatische in den menschlichen Gruppen ..................................................................................................................................................................... 129 2. Unbegrenzte, wechselseitige Fruchtbarkeit der menschlichen Zweige ................... 130
C. Komplexität ............................................................................................................................................ 131
III. Das Verwachsen der Menschlichen Zweige ...................................................................................... 132 IV. Die gegenwärtige Situation und die gegenseitige Verpflichtung der Rassen ..................... 135
A. Durch den Zwist zur Vereinigung ................................................................................................. 135 B. Die Grundlagen einer Moral der Rassen .................................................................................... 136
Der Ort des Menschen im Universum .................................................................................................. 139
A. Das unendlich Große und das unendlich Kleine oder das sich unsichtbar machende Leben .................................................................................................................................................................................... 140
1. Korpuskularstruktur der Welt ................................................................................................... 140 2. Existenz dreier Größenordnungen oder –bereiche innerhalb der Welt .................. 141 3. Ungeheurer Unterschied der Dimensionen zwischen den diesen drei Bereichen angehörenden Korpuskeln ............................................................................................................... 141 4. Doch [und hier ist ein vierter Punkt, von dem Pascal nichts ahnen konnte] diese beiden Abgründe bilden nicht nur als zwei Extreme der Welt an Größe und an
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Kleinheit quantitativ untereinander Gegensätze, sondern auch qualitativ in dem Sinne, daß die grundlegendsten Eigenschaften des Universums im Unermeßlichen und im Winzigen anders werden, als sie uns im mittleren Bereich erscheinen ........ 142
B. Das unendlich Komplexe oder das Wiederauftreten des Lebens .............................................. 143 C. Das Universum mit drei Unendlichen oder der hervor-ragende Mensch .............................. 147
Zoologische Evolution und Erfindung ................................................................................................. 152 Die Schau in die Vergangenheit ............................................................................................................. 153
A. Das Sichtbarwerden der langsamen Bewegungen .......................................................................... 154
1. Orthogenese und Vermannigfaltigung ................................................................................... 154 2. Schwingungen und Triften .......................................................................................................... 155
B. Die Unterdrückung der Ursprünge ........................................................................................................ 156
Evolution des Evolutionsgedanken ...................................................................................................... 158 Aufzeichnung über die aktuelle Wirklichkeit und die evolutive Bedeutung einer menschlichen Orthogenese ..................................................................................................................... 160
A. Vorausgeschickte Definitionen, Artbildung, Phyletisation und Orthogenese ...................... 160
1. Artbildung .......................................................................................................................................... 160 2. Phyletisation...................................................................................................................................... 161
B. Fortbestehen und Beschleunigung einer Komplexitäts-Orthogenese in der heutigen Menschheit ............................................................................................................................................................ 162 C. Menschliche Orthogenese und Evolutionskräfte .............................................................................. 163
Hominisation und Speziation ................................................................................................................. 165
Einführung – Das gegenwärtige Unbehagen der Anthropologie .................................................... 165 A. Die tierische Speziation – Allgemeinheit des Prozesses und Funktionsweise ..................... 166 B. Die Speziation beim Menschen – Fortbestand des Grundmechanismus und Besonderheiten ................................................................................................................................................... 167
1. Der Durchstoß in das Reflektierte ............................................................................................ 168 2. Speziation und Kultur .................................................................................................................... 169 3. Der Mensch: eine Art, die konvergiert .................................................................................... 170
C. Das menschliche Erwachen des Sinns für die Art ............................................................................ 171
Eine Verteidigung der Orthogenese im Zusammenhang mit den Speziationsfiguren ....... 173
A. Genetik und Phyletik .................................................................................................................................... 173 B. Phyletische Phänomene der Vermannigfaltigung............................................................................ 174 C. Phyletische Phänomene der Intensivierung....................................................................................... 174
1. Formen-Orthogenese. Oder: Über die morphologische Akzentuierung der tierischen Arten .................................................................................................................................... 175 2. Grund-Orthogenese. Oder: die kosmische Komplexitäts-Bewußtseins-Trift ........ 176
5
I
WIE STELLT SICH HEUTE DIE FRAGE DES
TRANSFORMISMUS?
Die neuen Wahrheiten liegen in der Luft, bevor sie zur Aussage kommen können; und wenn sie
zum erstenmal zur Aussage gelangen, geschieht es unweigerlich in unzulänglicher Weise. In
ihrer Entstehung dem Aufleuchten eines Schimmers in der Nacht ähnlich, ziehen sie uns an.
Doch wissen wir zunächst nicht genau, in welcher bestimmten Richtung oder auf welcher Ebene
sich die Lichtquelle befindet. Und dann tasten wir lange weiter, wir stoßen uns an vielen
dunklen Dingen, wir lassen uns von manchem Widerschein täuschen, bevor wir die Helle
erreichen, deren Strahlen uns leiten.
Um die transformistischen Theorien gerecht zu beurteilen, muß man sich daran erinnern, daß
sie sich diesem Gesetz fortschreitender Eroberung nicht entziehen konnten, das das Werden
jeder neuen Idee beherrscht. Wenn es heute unbestreitbar ist, daß im letzten Jahrhundert
Lamarck, Darwin und ihre unzähligen Schüler vor sich ein wirkliches Licht haben leuchten
sehen, so ist es um nichts weniger evident für uns, daß unter den von ihnen gemachten
Versuchen, es zu erfassen, viele Bemühungen ihr Ziel verfehlt haben. Die ersten Generationen
der Transformisten haben es nicht verstanden, mit Exaktheit zu definieren, was in den
unvermuteten Beziehungen, die sie im Schoße der Natur entdeckten, wesentlich neu, aber auch
streng biologisch war. In ihre häufig genialen Einsichten haben sie einen großen Teil hinfälliger
Erklärungen und falscher Philosophie hineingemengt.
Ist es uns im Laufe der letzten Jahre gelungen, uns ein wenig der Wahrheit zu nähern, die sich im
Grunde des Lamarckismus und des Darwinismus verbirgt? Können wir heute besser, als unsere
Vorläufer es vermochten, das, was in der (15) Idee einer biologischen Evolution den Geist mit
Recht fesselt, von dem trennen, was ihn zu einer trügerischen Helle hinzuführen droht? In
welchen Termini stellt sich uns heute das transformistische Problem? Die Frage ist sowohl für
die Vertreter des Transformismus [die vor sich selbst die Gründe ihrer intellektuellen
Neigungen nicht immer hinreichend klar auszusagen vermögen] als auch für die
Antievolutionisten interessant [die häufig fortfahren, ihr Feuer auf aufgegebene Positionen zu
konzentrieren].
Diese Seiten haben das Ziel, Elemente zur Antwort beizutragen, die geeignet sind, die Gegner
aufzuklären und die Freunde zu bestärken.
Ich stelle mich hier auf einen vor allem paläontologischen Standpunkt und werde versuchen,
begreiflich zu machen, unter welchem Aspekt sich in den Augen fast aller heutigen
Naturwissenschaftler die Verkettung der organisierten Lebewesen offenbart. Und alles, was ich
sagen werde, läßt sich in den drei folgenden Punkten zusammenfassen: «Im Vergleich zu dem,
was die Begründer der transformistischen Theorie vertraten, enthüllen unsere heutigen
Ansichten über die Natur eine biologische Evolution: 1. die viel komplizierter in ihrem Ablauf ist,
als man zuerst glaubte; 2. deren Existenz aber zugleich immer gewisser ist; 3. vorausgesetzt, daß
sie als eine sehr allgemeine Beziehung physischer Abhängigkeit und Kontinuität zwischen
organischen Formen begriffen wird.»
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A. WACHSENDE KOMPLIZIERUNG DES VON DER
WISSENSCHAFT DER BIOLOGISCHEN EVOLUTION
ZUERKANNTEN ABLAUFS
Wie alle wissenschaftlichen Theorien in ihren Anfängen hat der biologische Evolutionismus
damit begonnen, in (16) seinen Erklärungen äußerst simplistisch zu sein. Er hat sein Goldenes
Zeitalter erlebt, in dem man glaubte, man könne sich bei der Interpretation der Verteilung der
lebenden Formen mit geradlinigen, relativ wenig zahlreichen zoologischen Reihen von
selbständiger, fortlaufender und rascher Variierung zufriedengeben.
Alle heutigen fossilen Tiere müßten, so glaubte man damals, sich auf einer kleinen Zahl von
Reihen anordnen lassen, in denen immer kompliziertere Typen einander im Laufe der Zeit
vollständig ersetzten, – und zwar so, daß alle Vertreter der Form N die Form N+1 annahmen. Da
die Transformation der Organismen in jeder Reihe keinen Stillstand erfuhr und die Gesamtheit
aller Reihen ein verhältnismäßig einfaches Bündel bildete, war es leicht, die leeren Stellen mit
Genauigkeit ausfindig zu machen, das heißt, die fehlenden Glieder in jeder lebendigen Kette zu
zählen.
Dieser ganze Fächer von Formen divergierte und entwickelte sich übrigens mit bestimmbaren
Winkeln und abschätzbarer Geschwindigkeit, sodaß man sich schmeichelte, den ersten Ursprung
und den gegenwärtigen Fortbestand der Bewegung des Lebens leicht erfassen zu können.
Einerseits mußten nämlich die verschiedenen Tierstämme, wenn man sie in die Vergangenheit
zurückverfolgte, im wesentlichen in ein und demselben Punkt morphologischer Zerstreuung
zusammentreffen, der in der Gegend des Kambriums angesetzt wurde. Andererseits konnte ein
einigermaßen umsichtiges Experimentieren nicht verfehlen, die Plastizität der organisch
belebten Materie offensichtlich zu machen. Nicht nur die Tatsache, sondern sogar der
Mechanismus der Evolution erschienen klar: um die Metamorphosen des Leben zu erklären,
genügte es, sich auf die Anpassung oder die natürliche Auslese und auf die Vererbung zu
berufen. – Das ist, etwas (17) schematisiert, das Gesicht des Transformismus von Lamarck bis
Haeckel.
Die Beobachtung neuer Tatsachen und ein Bemühen vor allem um die Wahrheit [das, was man
auch manchmal sagen mag, die bei den Männern der Wissenschaft vorherrschende Haltung ist]
haben seit etwa dreißig Jahren eine einzigartige Korrektur dieser allzu ungefähren
Vorstellungen erzwungen.
Man bemerkte zunächst, daß viele als genealogisch [phyletisch] angesehene Lebensreihen nur
morphologisch waren, das heißt entsprechend der Variation eines besonderen Organs
aufgestellt worden waren. Von einem bestimmten Tier, das man zunächst als den Vorfahren
eines anderen angesehen hatte, erkannte man später, daß es mit letzterem zur selben Zeit gelebt
hatte; oder aber man bemerkte bei ihm neben ‹adaptiven› Charakteristika, auf Grund deren man
die genealogischen Beziehungen aufgestellt hatte, dieses oder jenes Anzeichen positiver
Divergenz, das verbot, die eine Form als die Weiterführung der anderen aufzufassen, wenn man
nicht mehr nur die Füße oder Zähne oder den Schädel für sich, sondern alle diese Teile
gleichzeitig in Betracht zog. Der Fall des Hipparions, das zunächst auf Grund seiner dreizehigen
Füße als der Vorläufer des Pferdes angesehen wurde, das aber in Wirklichkeit auf Grund der
Bildung seiner Zähne viel komplizierter ist als letzteres – der Fall der Akeratherien, die
primitiver als das Rhinozeros im Hinblick auf das Fehlen des Nasenhornes sind und doch mit
letzterem gleichzeitig gelebt haben, sind wohlbekannt. Die Beispiele dieser Fehlgriffe der ersten
Stunde, die berichtigt werden mußten, ließen sich leicht vermehren. Unter dem Druck eines
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genaueren Studiums der fossilen Reste und der Stratigraphie haben sich die von den ersten
Transformisten so elegant aufgereihten Arten in der letzten Zeit häufig gegeneinander (18)
verschoben; und anstatt wie früher eine gleichmäßige Kurve zu beschreiben, ordnen sie sich
häufig auf der einen oder anderen Seite dieser etwas ideal gewordenen Achse an, wie die
divergenten Fahnen einer Feder entlang des sie tragenden Kiels. Zur selben Zeit, da durch die
Analyse der Laboratoriumsforscher die alten, vom Transformismus skizzierten Linien auf diese
Weise auseinanderfielen, ließen neue Forschungen in den geologischen Schichten massenhaft
die Spuren absolut neuer Tiere sichtbar werden, die dazu zwangen, die zoologischen Familien
und Ordnungen zu vervielfachen, die, mit anderen Worten, das von den ersten Paläontologen
entwickelte Schema maßlos überluden. Die Blätter begannen die Zweige zu verdecken, und die
allzu zahlreichen Zweige verbargen immer mehr die Äste. Das Leben begann auf diese Weise für
die Systematiker, auf Grund des Reichtums seiner Formen, erdrückend zu werden. Man mußte
sich sehr bald eingestehen, daß es in seinen Entwicklungen schrecklich launisch und maßlos alt
war.
Zunächst mußte man die Idee einer gleichmäßigen, stetigen, totalen Evolution aufgeben. Die
Terebratulae unserer Küsten, die Lingulae und die Limuli des Pazifiks, die Trigonae Australiens,
die Schaben, die Skorpione und so weiter sind unheilbar fixierte Lebewesen, wirkliche lebende
Fossilien, die sich durch kein einziges wichtiges Merkmal von dem Typus entfernt haben, den sie
im Mesozoikum, im Karbon oder sogar schon im Kambrium gehabt hatten. Während bestimmte
Gebiete der Tierwelt sich vollständig erneuerten, sind andere also streng stationär geblieben.
Das ist eigenartig. Noch verwirrender aber ist: die immobilisierten Typen, die wir in der Natur
vorfinden, sind nicht nur äußerste Punkte der Zweige in einer Art morphologischer Sackgasse
festgefahrener Arten. Der Nautilus des Indischen Ozeans oder der Klippschliefer Syriens oder
der (19) Tarsius des Malaiischen Archipels oder der Cryptoproctus und die Halbaffen
Madagaskars könnten, wären sie ausschließlich in fossilem Zustand bekannt, ohne große
Schwierigkeiten die Rolle genealogischer Zwischenglieder spielen. Doch die einen wie die
andern halten sich um uns herum seit unermeßlichen Zeiträumen unverändert am Leben. Die
Vielfalt ein und derselben Periode des Lebens zugehöriger tierischer Formen ist also nicht die
einzige Schwierigkeit, denen die Konstrukteure der Genealogie bei ihrer Arbeit begegnen. Die
Verflechtung aller im selben Frühling entstandenen Triebe wird durch den Fortbestand
zahlreicher archaischer Typen kompliziert, deren monotone Pfeile von allen Seiten das neue
Grün durchstoßen.
Wie weit müßte man in die geologischen Schichten hinuntersteigen, um bis zum Ursprung dieser
vereinzelten Stiele zu gelangen? Vor sechzig Jahren konnte man, als man die Trilobiten
beschrieb, von ‹Urfauna› sprechen. Dank den berühmten Entdeckungen des amerikanischen
Paläontologen Walcott in Britisch-Kolumbien wissen wir heute, daß die ältesten Schiefer der
Welt [Algonkium] bereits sehr differenzierte Krustazeen enthalten; und mitten im Kambrium
können wir nicht nur allen heutigen großen Ordnungen zugehörige Krustazeen, sondern auch
den heutigen gleiche Anneliden und Sipunculi und äußerst spezialisierte Holothurien bis in die
Einzelheiten ihrer Weichteile studieren. Diese «tremendous discovery», wie sie ihr Autor
bezeichnet hat, bedeutet, daß wir, würden wir auf wunderbare Weise an das Ufer eines
primären Ozeans versetzt, auf einem unseren Meeresufern ähnlichen Sand- und Felsenstrand
Tiere kriechen und laufen sähen, die in etwa den Bewohnern unserer Küsten glichen. Nur das
Fehlen von Vögeln über dem Meer und vielleicht von Fischen im Wasser, – sonst nur noch die
aufmerksamere Beobachtung der unter den Steinblöcken oder in den Wasserlachen
verborgenen (20) Krustazeen könnten uns den erschreckenden Sturz unserer Erfahrung in die
Vergangenheit bemerken lassen. In einem großen Teil der Fauna würde uns die lebende Welt
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ebenso alt erscheinen wie jetzt. Nachdem wir Millionen von Jahren zurückgegangen wären,
hätten wir nicht den Eindruck, daß wir uns den Ursprüngen des Lebens wesentlich genähert
hätten.
Im Gegensatz zu dem, was die ersten Transformisten erhoffen konnten, entzieht sich uns also
das Zentrum der Zerstreuung der lebendigen Formen. Es weicht immer mehr zurück; und diese
Rückzugsbewegung überträgt sich auf alle Einzelheiten des evolutionistischen Gebäudes. Wir
kennen heute Säugetiere im Trias, Fledermäuse und Zahnarme im älteren Eozän, echte Affen im
Oligozän und so weiter. In der Welt des Lebens ist alles älter, als wir glaubten. Und alles ist auch
viel beständiger…
Wenn wir das Leben zum erstenmal im Lichte der Transformations- und Adaptationsgesetze
betrachten, nimmt es die Gestalt eines beweglichen und flüssigen Stromes an, der fähig ist, sich
allen Ufern anzupassen und in alle Spalten einzudringen. Wir brauchen scheinbar nur die Hand
an es zu legen, um es zwischen unseren Fingern fließen zu spüren. Doch seit einem halben
Jahrhundert haben sich Legionen von Forschern bemüht, diese anscheinend so plastische
Materie allen Arten innerer und äußerer Modifikationen zu unterwerfen: Kreuzungen,
Verletzungen, mannigfaltige Injektionen, alles hat man schon mit ihr versucht. Wir fragen uns
immer noch, ob sie in einem einzigen Falle wirklich begonnen hat nachzugeben. Ähnlich den
manchmal so sanft gewellten Felsen, die seine Überreste enthalten, ist das in seiner Gesamtheit
und in seinen Ergebnissen betrachtete Leben ein Bild einfacher und leichter Variation. Man
versuche daran zu rühren: es zerbricht, ohne sich zu biegen. (21)
Komplexität, Unregelmäßigkeit, Alter, anscheinende heutige Stabilisierung der biologischen
Evolution, all diese den ersten Konzeptionen der Transformisten durch die Fakten aufgenötigten
Einschränkungen sind von den Fixisten als ebenso viele von der Natur ihren Gegnern
beigebrachte Niederlagen angesehen worden. Dieser Triumph ist nicht gerechtfertigt. Der
Transformismus bedurfte zweifellos der Überarbeitung. Er mußte durch zusätzliche Termini
seine allzu einfachen Formeln verbessern. Doch diese Transformationen, darin täusche man sich
nicht, haben ihn durchaus sich selbst bleiben lassen. Und in der gegenwärtigen Stunde kann man
sagen, daß er eine sehr befriedigende Lösung zur Interpretation der Tatsachen beibringt.
Heute haben die Naturforscher sich von der Vorstellung einer allzu einfachen und allzu
gleichmäßigen Entwicklung des Lebens losgesagt. Sie räumen ein, daß sich das Leben uns als
bereits sehr alt zeigt; und diese Tatsache erklärt sich ihnen mehr als hinreichend durch die
wohlbewiesene Umkristallisation der ersten Sedimentschichten in gewaltigen Ausmaßen. Sie
erkennen jetzt, daß das Leben, hierin einem großen Baum oder einem großen Volk ähnlich, sich
regional und stoßweise transformiert – hier während langer Zeiträume völlig erstarrt, dort
plötzlich erweckt und zu neuem Wachstum ansetzend, an wieder anderer Stelle immer frisch,
immer aufsteigend. Sie wissen auch, daß innerhalb ein und derselben zoologischen Gruppe
bestimmte Individuen allein beginnen können, sich zu wandeln, während die anderen
unbeweglich bleiben, so daß neben den neuen Typen noch lange Zeit die alten Formen
fortbestehen. Sie verzweifeln daran, genau Sproß um Sproß die Stammbäume
zusammenzusetzen, derart zahlreich sind die Arten, und so selten sind die Fossilien, doch geben
sie sich mit einer ungefähren Aufreihung zufrieden, die allein mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Elementen möglich (22) ist. Es würde sie schließlich nicht verwirren, wenn neue
Mißerfolge in Richtung des Nachweises gingen, daß das Leben sich auf der Erde nicht mehr
wandeln kann, sei es, weil die Zeit des Wachsens vorbei ist, sei es, weil es sich so langsam, so
spontan oder in so weit auseinanderliegenden Zeiträumen wandelt, daß wir die Hoffnung
aufgeben müssen, seine Bewegung wahrzunehmen und a fortiori diese zu modifizieren.
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Dieser neue, gereifte, klüger gewordene Transformismus steht im vollkommenen Einklang mit
den Forderungen der Erfahrung. Im übrigen findet er im biologischen Bereich nur die
Kontingenz und die Diskontinuität wieder, die überall um uns herum in der Entwicklung der
Individuen und der Zivilisationen zu beobachten sind. Er stellt sich uns also mit allem Anschein
einer guten Erklärung des Wirklichen dar. Doch, so möchte man vielleicht einwenden, wird er
nicht, da er all diese Zugeständnisse macht, die ihn retten, gleichzeitig damit unüberprüfbar?
Wenn die Welt des Lebens in ihren Ursprüngen so dunkel, in ihrer Struktur so kompliziert ist,
hat man dann nicht die Freiheit, in ihrer launischen Gestalt all das zu sehen, was man will:
Transformismus, gewiß, aber auch vieles andere?
Auf diesen Einwand muß man ohne Zögern antworten: Nein. Nein, selbst die durch zahlreiche
Einschränkungen korrigierte, abgeschwächte transformistische Interpretation der Dinge [wenn
man sie auf ein wesentliches Element beschränkt, das weiter unten definiert wird] hört nicht
auf, eine Lösung zu sein, die sich aufzuzwingen scheint. Im Gegenteil, immer deutlicher
[vorausgesetzt, daß man sich auf die Ebene der Erfahrung, die geschichtliche Ebene des
Universums stellt] erscheint sie als die einzig mögliche Erklärung der morphologischen,
zeitlichen und geographischen Verteilung der Lebewesen. (23)
B. ZUNEHMENDE BESTÄTIGUNG EINES GEWISSEN
TRANSFORMISMUS DURCH DIE TATSACHEN
Die Gegner der biologischen Evolution bilden sich häufig ein, zur Beurteilung des explikativen
Wertes des Transformismus genüge es, den Blick auf beliebige Weise und an beliebiger Stelle auf
die Natur zu richten. Das ist ein elementarer methodischer Fehler. Hätten die Geologen nicht das
Schauspiel es Jura oder der Alpen, um sie zu leiten, würden sie große Mühe haben, die Struktur
der Bretagne oder der Gegend von Bray zu deuten. Um den transformistischen Standpunkt in
voller Deutlichkeit, in seiner ganzen Überzeugungskraft zu Gesicht zu bekommen, darf man
seinen Blick nicht unmittelbar auf irgendeine Gegend der organisch belebten Welt richten. Wenn
man so vorgeht, läuft man Gefahr, nur von den Stoßwellen und den Lücken des in Bewegung
befindlichen Lebens beeindruckt zu werden, das heißt, nur Unordnung wahrzunehmen. Wenn
jemand die Gestalt des Lebens begreifen will, muß er, bevor er die Natur in ihrer Totalität oder
in ihren ältesten Schichten betrachtet, seinen Blick nach und nach erziehen, sein Auge an
begrenzten und charakteristischen Gegenständen schärfen. Und zu diesem Zweck ist es
unentbehrlich, seine Aufmerksamkeit auf irgendeine tierische Gruppe besonders jungen
Auftretens und junger Verbreitung zu konzentrieren, bei der die Zusammenhänge zwischen den
Formen noch leicht zu entziffern sind.
Die Plazentalier1, deren große Blütezeit nicht weiter als bis in die [übrigens recht
geheimnisvollen] Zeiten zurückzureichen scheint, die das Sekundär vom Tertiär trennen, (24)
stellen par excellence eine dieser jungen Gruppen dar, an denen wir lernen können, wie an
einem klaren und authentischen Text die Lektionen des Lebens zu lesen sind. Was lehrt uns ihre
Beobachtung?
Es ist eine von der Paläontologie der Säugetiere endgültig anerkannte, grundlegende Tatsache,
daß es heute möglich ist, in der so vielfältigen Menge ausgestorbener Arten gewisse
unbezweifelbare Entwicklungslinien zu erkennen. Wir haben weiter oben die Schwierigkeiten
erwähnt, denen die ‹Phylogenisten› bei ihrem Bemühen begegneten, wirkliche Genealogien zu
1 (FN 1) Dieser Terminus bezeichnet alle heute lebenden Säugetiere unserer Länder im Gegensatz zu den aplazentalischen Säugetieren oder Beuteltieren, wie zum Beispiel den Känguruhs, die heute fast gänzlich auf Australien beschränkt sind.
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rekonstruieren, das heißt Reihen lebender Formen, die in der Zeit gemäß der schrittweisen
Evolution aufeinander folgten, und zwar nicht anhand eines einzeln für sich genommenen
Charakteristikums, sondern aller ihrer Charakteristika zugleich. Die Aufgabe hat sich als
schwieriger erwiesen, als man zunächst annahm. Dennoch hielten die wesentlichen Teile der
früheren Arbeit den Prüfungen einer anspruchsvolleren Kritik und neuer Entdeckungen stand.
Die Genealogie der Pferde, der Kamele, der Elefanten, der Rhinozerosse, der Tapire2, der Hunde
und so weiter ist heute in großen Zügen aufgestellt, und sie erlaubt uns, Schritt für Schritt von
den gegenwärtig lebenden Tieren bis zu den kleinen Tieren zurückzugehen, bei denen ein
ungeübtes Auge vergeblich sucht, was an die Typen erinnern könnte, die wir heute kennen.
Diese wenigen fest gesicherten Reihen haben in der Zoologie dieselbe Bedeutung wie die
Messung einer Grundlinie in der Geodäsie oder die Feststellung eines Gitters in der
Kristallographie. Sie liefern uns nämlich Achsen und ein Gesetz der Periodizität, entsprechend
deren wir fortschreitend die ungeordnete (25) Herde aller anderen Lebewesen ordnen können.
An passend gewählten Gruppen von Huftieren und Fleischfressern [unter anderen] sehen wir
ein, ohne daß ein Zweifel möglich wäre: es gibt genaue, einfache und beständige Regeln, die die
schrittweise und ‹gerichtete› Komplizierung der Organismen beherrschen. In der Zeit führen die
Formen einander ein, in der Weise von Zweigen, entlang deren gewisse Charakteristika [Größe,
Komplizierung oder Vereinfachung der Zähne, Modifizierung der Glieder oder der
Schädelform…] regemäßig stärker hervortreten. Jeder dieser Zweige bildet ein Ganzes, das eine
Art Individualität, eine Art Schicksal hat: es entsteht, es entwickelt sich, es fixiert sich und stirbt
dann aus. Wir können somit in vielen Fällen auf Grund der Feststellung der Charakteristika eines
vereinzelten Knochens behaupten, ohne befürchten zu müssen, uns zu täuschen, durch welche
Zwischenstufen dieses Charakteristikum hindurchgegangen ist, bevor es herausgebildet wurde.
Ein Fuß mit einer oder mit zwei Zehen zum Beispiel setzt absolut irgendwo das vorherige
Vorhandensein eines Fußes mit fünf Zehen voraus. Der Stoßzahn der Elefanten ist zoologisch
unbegreiflich ohne die vorhergehende Existenz eines Zustandes, in dem der zweite obere
Schneidezahn klein war und das Gebiß vollständig und so weiter.
Da die Paläontologie durch die Untersuchung einiger besser bekannter Gruppen in den Besitz
des wertvollen Begriffes der ‹gerichteten Variation› gelangt ist, hat sie nunmehr das Rüstzeug,
um das Studium weniger gut vertretener Tierformen anzugehen. Selbst dort, wo sie erst
unvollständige oder dünn gesäte Proben besitzt, ist sie nunmehr in der Lage, Skizzen von ‹Phyla›
oder genealogischen Reiehen zu zeichnen; und die Ergänzungen über manchmal recht große
Zwischenräume sind legitim. Selbst wenn wir nur einen einzigen Katzenschädel kennen würden,
könnten (26) wir ohne zu zögern auf Grund anderer bekannter Beispiele behaupten, daß dieses
heute in seinem Unterkiefer mit einem einzigen schneidenden Backenzahn ausgerüstete Tier
Fleischfresser mit drei spitzen Backenzähnen voraussetzt [was durch die Beobachtung bestätigt
wird], das heißt, daß es in gewisser Weise auf Tiere folgt, die überhaupt nicht mehr Katzen
gleichen. Diese als einziges Stück in unseren Sammlungen angenommene Katze würde für sich
allein eine sehr sichere Reihe von aufeinanderfolgenden Typen vertreten.
Unermüdlich hat die Paläontologie der Säugetiere ihre geduldige Arbeit der Zusammenstellung
der Merkmale fortgesetzt und setzt sie noch weiter fort. In wachsender Zahl überträgt sie in
langen Linien oder in kurzen Bruchstücken die Phyla oder Fragmente der Phyla auf die Karte des
Lebens. Betrachten wir das durch diese Methode erhaltene Gesamtbild. So unvollständig es sein
mag, seine Bedeutung ist vollkommen eindeutig, sie springt in die Augen: die Verteilung der
2 (FN 2) Wenn wir die Genealogie der Huftiere besonders gut kennen, so deshalb, weil diese in großen Herden auf den Ebenen lebenden Tiere jene sind, deren Reste man am häufigsten auffindet. Die Huftiere stellen mindestens vier Fünftel der Säugetierfossilien dar, die wir besitzen.
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lebenden Formen ist ein Phänomen der Bewegung und der Zerstreuung. Die Linien sind
zahlreicher, sie überschneiden sich weniger häufig und weniger nahe bei uns, als wir glaubten.
Das mag sein. Doch sie sind da, und nach unten konvergieren sie.
Die allgemeinen Gesetze der organischen Entwicklung sind an begrenzten Gruppen entdeckt
worden. Doch es zeigt sich jetzt: sie lassen sich mühelos auf Einheiten wachsender Größe
anwenden. Nicht nur Familien und Ordnungen, sondern ganze Faunen mit allen ihnen
zugehörigen zoologischen Elementen haben sich als Ganzes bewegt wie einfache Arten.
Wenn wir nicht überlegen, stellen wir uns gerne vor, daß alle Säugetiere, die je existiert haben,
von der Art unserer Pferde, unserer Hund und unserer Elefanten sind… (27)
In Wirklichkeit stellt diese vertraute Tiergruppe der alten Welt nur einen geringen Teil dessen
dar, was das Leben auf der Linie der Säugetiere verwirklicht hat. Während des Tertiärs lebten in
Patagonien eine Menge seltsamer Tiere. Diese phantastischen Wesen [Zahnlose, Notoungulata
usw.] schließen sich an dieselben Grundformen an wie unsere nördlichen Säugetiere; sie haben
denselben Ursprung, das kann man beweisen; nur sind diese vom Ende der Kreidezeit an
geographisch isoliert worden und haben dann ihre vollständig eigene Geschichte gehabt. In
gleicher Weise stellt in Australien und in Neuseeland die manngifaltige Herde der Beuteltiere
ohne jeden Zweifel das Ergebnis von Entwicklungen dar, denen eine sehr früh [vielleicht seit
dem Jura] von der großen Masse der Plazentalier getrennte Tiergruppe abseits für sich
unterworfen war.
Nun, und das ist bemerkenswert, diese der südlichen Hemisphäre eigenen seltsamen Tiere
bilden keineswegs irgendeine ungeordnete Zusammenstellung; vielmehr hat ganz im Gegenteil
jede der beiden, sei es Südamerika, sei es Australien, eigenen Gruppen ihre besondere Struktur,
die der der Fauna Europas, Nordamerikas und Asiens parallel läuft. Jede umfaßt in ihrem
besonderen Stil dieselben morphologischen Grundtypen. Das Patagonien des Miozäns hatte
seine Einhufer, seine mit Stoßzähnen bewaffneten Dickhäuter, seine Pseudohasen, seine
Rüsseltiere. Das heutige Australien bietet uns das außerordentlich lehrreiche Schauspiel der
Beuteltiere, unter denen die einen den Platz der Wölfe, die anderen den der Huftiere und wieder
andere den der Spitzmäuse, der Ameisenbären, der Maulwürfe und so weiter einnehmen. Man
möchte meine, jede Fauna müsse, um ausgeglichen zu sein, – wie mit Organen – mit
Fleischfressern, Insektenfressern und Pflanzenfressern und so weiter ausgestattet werden. All
das verweist auf die Bewegung, das Wachstum, die Differenzierung. Die ganze (28) Gruppe der
Säugetiere gehorcht, als eine einzige Masse begriffen, offensichtlich einem inneren Gesetz der
Entfaltung und Ausstrahlung. Doch, so groß auch ihre Proportionen erscheinen mögen, sie ist
selbst, das bemerken wir bald, nur ein Strahl einer anderen Ausstrahlung, ein verlorener Zweig
in einem viel umfassenderen Astwerk.
Die ersten Säugetiere sind zu alt, zu wenig zahlreich und zu klein, als daß wir die Bedingungen
ihres Auftretens präzisieren könnten [die Geologie und die Paläontologie, das kann man gar
nicht oft genug wiederholen, stellen nur eine Folge von Maxima in den Bewegungen der
Erdrinde und des Lebens fest]. Andererseits aber wird ihre Masse, bevor sie unseren Augen in
die Tiefen der Zeit vollkommen entschwindet, in unserer Sicht von einer neuen und mächtigen
Phalanx von Wirbeltieren, jener der Reptilien, abgelöst.
Im Sekundär – das ist keinem Schüler mehr unbekannt – haben die Reptilien die Erde bewohnt.
Mangels Fundmaterialien entziehen sich uns noch die Einzelheiten ihrer Entwicklung. Doch die
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Hauptphasen ihres Wachsens führen ins Riesige und Extravagante; aber in vielleicht noch
stärkerem Maße bieten die mannigfaltigen Anpassungen ihres Grundtyps an das Leben auf der
Erde, im Wasser und in der Luft, Anpassungen, die ihre Verwirklichung in einer unglaublich
mannigfaltigen Blüte schwimmender, fliegender, pflanzenfressender, fleischfressender Formen
fanden, ein erstaunliches Schauspiel der Beweglichkeit und Plastizität. Allein die Dinosaurier, die
früher als außergewöhnliche und seltene Wesen betrachtet wurden, scheinen ein ebenso
mächtiges, ebenso nuanciertes Ganzes gebildet zu haben wie alle Säugetiere zusammen. Und
doch sind auch sie nur ein Zweig unter vielen anderen. Weit unterhalb ihrer Schicht beginnen
jüngste Forschungen in ihrer ganzen Fülle eine andere, noch ältere Expansion des Lebens (29) zu
entdecken, die der Theromorphen, dieses eigenartigen Kompromisses zwischen den Amphibien,
den Reptilien und den Säugetieren. Während des unermeßlichen kontinentalen Zeitraumes, der
auf das Auftauchen der Karbonketten folgte, hat eine eigenartige Bevölkerung die Erde bedeckt:
Salamander, die auf vier gewichtigen Füßen standen, ähnlich kleinen Flußpferden, Reptilien mit
dem Kopf und den Reißzähnen des Hundes oder den Schneidezähnen der Nagetiere oder einem
mit Hörnern besetzten Schädel wie dem vieler Pflanzenfresser. All das hat die Zeit gehabt, zu
entstehen und zu vergehen. Und wir sind immer noch sehr weit vom Ursprung der Wirbeltiere
entfernt. Vor den Theromorphen hat es die Amphibien gegeben; und vor den Amphibien sicher
noch etwas, das gewissen Fischen gleichen mußte, die wir heute noch leben sehen auf dem, was
von den Kontinenten dieser unsagbar fernen Zeiten übrig ist. Auf die Entfernung, in der sie uns,
zusammengepreßt in Schichten des Karbon und des Permo-Trias, sichtbar werden, scheinen die
Theromorphen und die Amphibien nur einen Augenblick gedauert zu haben. Jedoch die einen
wie die anderen haben ebenso lange leben müssen wie die Dinosaurier oder die Säugetiere. Die
beste Zeiteinheit in der Biologie ist vielleicht die zur Errichtung einer Bergkette oder zur
Durchsetzung einer universellen Fauna notwenige Dauer.
Soweit das Auge reicht, folgen so die lebendigen Schichten aufeinander, und in jeder von ihnen,
wie auch in allen zusammen, setzt sich die zuerst in einer beschränkten Gruppe der Pferde oder
Elefanten beobachtete Struktur unendlich weiter fort. Je mehr wir in die Vergangenheit
zurückgehen, um so mehr sind wir darauf beschränkt, nur noch Verbindungen höherer Ordnung
festhalten zu können. Doch wenn das Entwicklungsgesetz etwas die Gestalt und den Gegenstand
wechselt – wenn es, anstatt das einfache Auftreten (30) eines Charakteristikums auf der Linie
einer Art zu lenken, die Verteilung der Formen innerhalb ganzer Tierbevölkerungen beherrscht,
bleibt es im Grunde wesentlich dasselbe. In immer größeren Einheiten lösen die Lebewesen
einander ab, entwickeln sie sich, verzweigen sich, gemäß demselben Rhythmus. Und in dieser
Harmonie haben die Pausen selbst ihre präzise Bedeutung.
Man hat gegen den Transformismus Einwände in der Existenz der ungeheuren Klüfte suchen
wollen, die heute die Wirbeltiere von den Anneliden, den Mollusken, den Coelenteraten und
vielleicht noch mehr von den Arthropoden trennen. Genauer beobachtet, wären diese Lücken als
das erschienen, was sie in Wirklichkeit sind: ein neuer Beweis für das innere Gesetz, dem die
Entwicklung des Lebens unterworfen ist. Beobachten wir also, wie die Spalten verteilt sind, die
in der heutigen Natur und in unseren Kenntnissen der Vergangenheit den Block der Lebewesen
zerteilen. Sind sie zufällig verteilt? Keineswegs. Sie gehorchen im Gegenteil einem vollkommen
klaren Gesetz der Verteilung. Die Verzweigungen, die der vergleichenden Anatomie so viel Mühe
machen, um sie untereinander und mit den Wirbeltieren zu verbinden, sind, dafür haben wir
den Beweis, zoologische Bestände, deren Alter unsere Vorstellungskraft verwirrt. Noch bevor
sich die tiefsten unseren Forschungen zugänglichen geologischen Schichten ablagerten – das
haben wir bereits gesagt –, war die Entfaltung dieser wunderbar alten Formen seit langem schon
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vollendet. Ihre Gruppe muß uns also als besonders geklärt und stabil erscheinen. In ihrer
Anordnung können wir zweifellos noch ohne Schwierigkeit die Spur einer fortschreitenden
Expansion unterscheiden, ähnlich der, die die Geschichte der Reptilien oder der Säugetiere
gekennzeichnet hat. Hier und dort nehmen wir sogar auf ihren (31) verhärteten Stielen noch ein
plötzliches Blühen wahr, das die Lebenskraft dieser alten Bevölkerungen verrät. Seit den Zeiten
des Primärs haben die Krustazeen die Dekapoden und die Brachyuren hervorgebracht. Die
Spinnen haben ihre Segmente verloren. Aus den Kephalopoden ist die eindrucksvolle Legion der
Ammoniten hervorgegangen. Selbst die Lamellibranchier haben in der Kreidezeit plötzlich die
bizarre Familie der Rudisten hervorgebracht, diese äußerlich Polypenstöcken ähnlichen
Zweischaler und so weiter. Trotz allem sind die zoologischen Zweige, die sich vor unseren Augen
zeigen, wenn wir über die Wirbeltiere hinaussehen, von einem absolut anderen Alter als der
Zweig, der uns trägt. Wir sind die Zuletztgekommenen, sie die Erstgeborenen in der Natur. Wie
sollte diesem abrupten Sprung über die Generationen nicht eine proportionale Lücke in unseren
Kenntnissen entsprechen? Lücken gibt es also. Aber gerade weil sie den natürlichen Weg des
Lebens abstecken und skandieren, hindern sie uns nicht zu sehen. Vielmehr helfen sie uns, mit
größerer Deutlichkeit und größerem Nachdruck die Verkettung der organisch belebten Wesen
zu erfassen. Die Säugetiere bilden einen so dichten Busch benachbarter Arten, daß wir uns etwas
schwer tun, bei ihnen die großen Linien der Evolution zu unterscheiden. Unterhalb ihrer, dort,
wo die Prüfung der Zeit das Astwerk gelichtet hat, vereinfacht sich die Zeichnung, und wir sehen
umfassender. Zunächst zeichnen sich die Hauptäste ab. Sie folgen, immer mehr bloßgelegt,
aufeinander in die Tiefe. Und zu einem gegebenen Augenblick unterscheiden wir nur mehr
vereinzelte Pfeile, die fast ohne feststellbare Zusammenhänge aus einer absolut
verschwundenen Welt emergieren. Dieses Ganze taucht dann in die unzugänglichen Tiefen, die
uns für immer das Geheimnis der Ursprünge verbergen werden. Bedauern wir dieses Dunkel
nicht zu sehr! Es trägt in sich eine unvergleichliche (32) Majestät; und was es uns freigibt, genügt,
um uns zu gestatten, nicht mehr über die Natur des Gesetzes im Zweifel zu sein, das historisch
über das geschichtliche Wachsen des Stammes Gewalt hat, auf dem wir geboren sind.
Wahrlich es ist unmöglich, mit einem noch so wenig geschulten Blick die Zusammenstellung der
zoologischen Formen zu betrachten, wie sie uns die Paläontologie enthüllt, ohne gezwungen zu
sein anzuerkennen, daß dieses umfassende Gebäude kein Mosaik von künstlich gruppierten
Elementen, sondern daß vielmehr die Verteilung seiner Teile die Wirkung eines natürlichen
Prozesses ist. Und wäre er heute starr wie Stein, der große Leib der tierischen Arten, der uns
umgibt, nimmt unbezwinglich in unseren Augen die Gestalt einer Bewegung an3. Vom kleinsten
Detail bis zum umfassendsten Ganzen hat unser lebendiges Universum [wie auch unser
materielles Universum] eine Struktur, und diese Struktur kann nur auf ein
Wachstumsphänomen zurückgehen. Das ist der große Beweis für den Transformismus und das
Maß dessen, was diese Theorie endgültig gesichert hat.
C. DAS WESEN DES TRANSFORMISMUS
Wenn unser Geist einmal in seiner Umgebung ein Bruchstück Ordnung in den Dingen erfaßt hat,
entschließt er sich nicht leicht, ihre Vollendung aufzugeben; vielmehr (33) strebt er hartnäckig
dahin, diesem Gesetz, das ihm in einem kurzen Zeitraum erschienen ist, Verlängerungen und
eine Erklärung zu geben. Diese Tendenz, zu ergänzen und zu interpretieren, bekundet sich
3 (FN 3) «Je weiter das Nachdenken darüber geht, desto klarer wird es, daß nur die Idee einer fortschreitenden Entwicklung der lebenden Welt auf dem Wege der Evolution in der Lage ist, uns das Werk des Schöpfers einsichtig zu machen.» Chanoine V. Grégoire, Professor für Botanik an der Universität Löwen, Revue des Questions Scientifiques, Band XXIX, Brüssel 1921, Seite 400.
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energisch in der transformistischen Frage. Kaum haben die Naturwissenschaften uns die
Existenz einer Strömung im Leben aufgedeckt, wollen wir schon wissen, woher dieser Strom
kommt und wohin er geht, welche Kohäsionskraft seine unzähligen Tropfen zusammenhält und
welcher geheimnisvolle Abhang seine Fluten mitreißt…
Unter welcher Gestalt müssen wir uns die ursprüngliche Form des Lebens auf der Erde
vorstellen? Ist es ähnlich einer einzigen Spore aufgetreten, aus der der große Baum der Arten
ganz hervorgegangen wäre? Oder aber hat es sich nicht vielmehr wie ein großer Tau
kondensiert, der plötzlich unseren Planeten mit einer Myriade von Urkeimen bedeckt hat, in
denen bereits die kommende Pluralität der lebenden Formen vorgebildet war?
Ist es möglich, durch die verschiedenen zoologischen Schichten hindurch, die sich nacheinander
in der Welt ausgebreitet haben, um anschließend zu zerfallen und von einer jüngeren Fauna
abgelöst zu werden, das hartnäckige und kontinuierliche Wachsen einer Grundeigenschaft zu
verfolgen? Gibt es eine einzige Richtung der biologischen Evolution, oder aber zeigt uns eine
objektive Schau der Dinge nur ein unregelmäßiges Wuchern von Zweigen, die zufällig wachsen?
Unter vielen Gesichtspunkten ist eine Radiolarie, eine Holothurie, ein Trilobit, ein Dinosaurier
ebenso differenziert, ebenso kompliziert wie ein Primate. Andererseits ist ihr Nervensystem
weit weniger vollkommen. Muß man nicht in dieser Richtung das verborgene Gesetz der
Entwicklung suchen? Muß man nicht sagen, der Hauptstamm des zoologischen Baumes ist
beständig in die Richtung des größeren Gehirns aufgestiegen? (34)
Und jetzt, da mit dem Auftreten der menschlichen Intelligenz das ‹Bewußtsein› auf der Erde ein
Maximum erreicht hat, das zu übertreffen uns unmöglich scheint, was sollen wir da von der
Zukunft der Evolution denken? Kann das Leben bei uns noch auf irgendeinem neuen Gebiet
voranschreiten, oder aber sollten wir in die Jahreszeit gelangt sein, in der die Früchte reif sind
und die Blätter anfangen zu fallen?...
Was hat denn letzten Endes die Welt auf die Wege des Lebens getrieben? Durch das
Zusammenspiel welcher Kräfte sind wir, für unsere Erfahrung, hervorgebracht worden? Genügt
es, um den gegenwärtigen biologischen Zustand des Universums zu erklären, zwischen dem
Milieu, das uns umgibt, und den Organismen Beziehungen der Anpassung und Auslese,
Phänomene mechanischer Harmonisation und funktioneller Reize festzustellen? Oder aber
müssen wir nicht die wirkliche Dynamik der Evolution bis in ein psychologisches Zentrum
vitaler Expansion versetzen und als ein positives Drängen zum Licht begreifen?
Alle diese Fragen drängen sich auf unsere Lippen, wenn wir beginnen, das Gesicht des Lebens in
seiner Gesamtheit zu erfassen. Sie sind berechtigt und packend. Deshalb ist es nicht weniger
wahr, daß die von ihnen aufgeworfenen Probleme logisch an zweiter Stelle kommen und daß die
Lösungen, die man für sie vorbringt, die eigentliche Frage des Transformismus unversehrt
lassen. Das ist der Punkt, der richtig begriffen werden muß.
Was den Transformisten ausmacht, und das merke man sich sehr genau, ist nicht, daß er
Darwinist oder Lamarckist, Mechanist oder Vitalist, Mono- oder Polyphyletist ist. Es ist nicht
einmal der Glaube [so paradox diese Behauptung auch erscheinen mag], daß die Lebewesen
durch Zeugung im eigentlichen Sinne voneinander abstammen. Die Männer, die die Natur
kennen, sind von ihrer Macht und ihren (35) Geheimnissen hinreichend überzeugt, um
einzuräumen, daß besondere organische Phänomene – früher die Entstehung zoologischer
Typen und die Vermehrung der Arten beherrscht haben können. Diese Hypothese ist nicht sehr
wahrscheinlich, aber sie bleibt immerhin möglich. Auf jeden Fall kann sie nicht die
Transformisten schrecken. Woran sie im tiefsten Grunde festhalten – auf was sie sich wie auf
15
eine unerschütterliche Überzeugung festlegen, eine Überzeugung, die unter Diskussionen der
Oberfläche nie aufgehört hat zu wachsen, ist das Faktum eines physischen Zusammenhangs
zwischen den Lebewesen. «Die Lebewesen passen biologisch zusammen. Sie bestimmen sich
organisch in ihrem aufeinanderfolgenden Auftreten derart, daß weder Mensch noch das Pferd
noch die erste Zelle früher oder später auftreten konnten, als sie aufgetreten sind. Infolge dieses
feststellbaren Zusammenhanges zwischen lebenden Formen müssen wir eine sachliche
Grundlage, das heißt einen wissenschaftlichen Grund für ihre Verkettung suchen, und wir
können sie finden. Die aufeinanderfolgenden Wachstumsstufen des Lebens können der
Gegenstand einer Geschichte sein.» Das ist der zulängliche und notwendige ‹Glaube›, der
jemanden zum Transformisten macht. Alles übrige ist Streit zwischen Systemen oder gar nicht
hierher gehörenden Leidenschaften, die in ungebührlicher Weise mit einer Frage rein
wissenschaftlicher Ordnung vermengt werden.
Auf diesen letzten Wesensgehalt reduziert, als das einfache Glauben an die Existenz eines
erfahrbaren physischen Zusammenhangs zwischen den Lebewesen begriffen [ein
Zusammenhang noch nicht determinierter Natur], erscheint der Transformismus als äußerst
ungefährlich und als äußerst stark. Er vermöchte keinen Schatten auf irgendeine Philosophie zu
werfen, und im übrigen nimmt er eine Stellung (36) ein, die unangreifbar scheint. Das bleibt mir
noch zu zeigen.
Damit der Transformismus der Vernunft und dem Glauben gefährlich sei, müßte er den
Anspruch erheben, das Wirken des Schöpfers nutzlos zu machen, die Entwicklung des Lebens
auf einen rein immanenten Vorgang der Natur zu reduzieren und zu beweisen, daß ‹das Höhere
aus sich selbst aus dem Geringeren hervorgehen kann›. Allzu viele Evolutionisten haben
tatsächlich diesen schweren Irrtum begangen, ihre wissenschaftliche Erklärung des Lebens für
eine metaphysische Lösung der Welt zu halten. Wie der materialistische Biologe, der glaubt, die
Seele zu unterdrücken, indem er die physikochemischen Mechanismen der lebendigen Zelle
zerlegt, haben Zoologen sich vorgestellt, sie hätten die erste Ursache überflüssig gemacht, weil
sie die allgemeine Struktur ihres Werkes etwas besser entdeckten. Es ist an der Zeit, ein derart
schlecht gestelltes Problem endgültig beiseite zu lassen. Nein, der wissenschaftliche
Transformismus beweist, strenggenommen, nichts für oder gegen Gott. Er stellt einfach das
Faktum einer Verkettung im Wirklichen fest. Er stellt uns eine Anatomie des Lebens dar und
keineswegs seinen letzten Grund. Er sagt uns: «Etwas hat sich organisiert, etwas ist gewachsen.»
Doch ist er unfähig, die letzten Voraussetzungen dieses Wachsens zu unterscheiden. Die
Entscheidung ob die evolutive Bewegung in sich einsichtig ist oder ob sie seitens eines ersten
Bewegers eine fortschreitende und kontinuierliche Schöpfung verlangt, sie eine Frage, die in den
Bereich der Metaphysik gehört.
Der Transformismus, das muß man unaufhörlich wiederholen, zwingt keine Philosophie auf.
Heißt das, daß er auch keine nahelegt? Nein, zweifellos nicht. Doch hier ist es merkwürdig zu
beobachten, daß die Denksysteme, die sich am besten mit ihm vereinbaren lassen, gerade
diejenigen (37) sind, die sich am meisten bedroht glaubten. Das Christentum zum Beispiel ist
wesentlich auf diesen doppelten Glauben gegründet, daß der Mensch ein von der göttlichen
Kraft durch die Schöpfung hindurch besonders angestrebtes Ziel ist und daß Christus der
übernatürlich, aber physisch der Vollendung der Menschheit gesetzte Zielpunkt ist. Kann man
sich eine Erfahrungsschau der Dinge wünschen, die mit diesen Dogmen von der Einheit besser
übereinstimmt als diese, in der wir die Lebewesen nicht mehr zu einem bestreitbaren Zweck der
Nützlichkeit oder Annehmlichkeit künstlich nebeneinander gestellt entdecken, sondern auf
Grund physischer Gegebenheiten miteinander in der Wirklichkeit ein und desselben Strebens
nach Mehr-Sein verbunden?...
16
Was es mit diesen Harmonien und ihrem Reiz auch auf sich haben mag, eine härtere
Notwendigkeit zwingt uns, wohl oder übel den ‹verallgemeinerten› Transformismus, dessen
Wesen wir eben erläutert haben, in Betracht zu ziehen. Keine wissenschaftliche Erklärung der
Welt scheint in der Lage zu sein, den Platz einzunehmen, den er innehat.
Es ist recht leicht, den Transformismus zu kritisieren. Wie kommt es aber, daß man sich so
schwer tut, eine Lösung zu finden, die erlaubte, auf ihn zu verzichten? Das Problem der
Verteilung der Lebewesen in der Natur stellt sich jedoch für jedermann. Und damit muß jeder
eine Antwort suchen. Er muß es nicht aus einer verurteilenswerten Laune heraus oder um der
Freude an der Opposition willen tun, sondern aus dem Drang dessen, was das Heiligste im
Menschen ist: das Bedürfnis, zu wissen und sich zu orientieren.
Ein einziges logisches Mittel steht dem Nichttransformisten zur Verfügung, die Einheit und die
Verkettung des Lebens zu erklären: nämlich eine ideale Verbindung der Formen anzunehmen.
Damit würde behauptet, daß das Gesetz der (38) aufeinanderfolgenden Lebewesen als Ganzes in
einem schöpferischen Denken konzentriert sei, das in aufeinanderfolgenden Punkten, die
nacheinander gesetzt werden, den Plan entwickelte, den es in seiner Weisheit entworfen hat. Die
Formen des Lebendigen würden in dieser Hypothese einander einzig und allein kraft eines im
göttlichen Denken existierenden logischen Relais in die Existenz rufen. Sie wären ihrem
Ursprung nach kosmisch voneinander unabhängige Punkte, die aber harmonisch auf ein Bündel
fiktiver Kurven verteilt wären.
Es scheint nicht, daß diese Lösung von irgendeinem Naturforscher hingenommen werden
könnte; und zwar aus einem doppelten Grund:
Zunächst ist sie praktisch nicht anwendbar, sofern ihr Funktionieren die voneinander
unabhängigen Schöpfungen ins Unendliche vermehrt. Weshalb soll man nicht eine besondere
Schöpfung für diese beiden Arten von Wespen oder Ampfern annehmen, die Sie selbst, kraft
Ihrer Experimente, als vollständig fixiert erklären, wenn Sie doch eine für den Ursprung der
Nagetiere und der Unpaarhufer ansetzen wollen? Und wenn Sie sagen, geringe Variationen
hätten möglich sein können, wo setzen Sie dann die Grenze für den Umfang dieser über lange
Zeit angehäuften Variationen an?
Das ist aber noch nicht alles. Selbst wenn es den Fixisten gelingen sollte, in einer nicht
willkürlichen Weise die Zahl und den Ort der Schöpfungseinschnitte zu präzisieren [selbst wenn
sie nur einen einzigen Einschnitt verlangten!], würden sie sich an einer grundlegenden
Schwierigkeit stoßen: an der Unmöglichkeit, in der sich unser Geist befindet, sich in der Ordnung
der Phänomene einen absoluten Anfang vorzustellen. Versuchen Sie sich vorzustellen, was in
der Natur das intrusive Auftreten eines Wesens sein könnte, das nicht aus einer Gesamtheit
präexistenter physischer (39) Umstände ‹geboren› würde. Entweder haben Sie niemals einen
konkreten Gegenstand studiert, oder aber Sie werden auf einen Versuch verzichten, dessen
Vergeblichkeit Sie klar einsehen. In unserem Universum ist alles Sein auf Grund seiner
materiellen Organisation mit einer ganzen Vergangenheit solidarisch. Es ist wesentlich eine
Geschichte. Und durch diese Geschichte, durch diese Kette von Antezedenzien, die es vorbereitet
und eingeführt haben, gelangt es ohne Schnitt in das Milieu, in dem es uns erscheint. Die
geringste Ausnahme von dieser Regel würde das gesamte Gebäude unserer Erfahrung
umstoßen.
Man wiederholt immer wieder: «Der Transformismus ist eine Hypothese.» Dieses Wort stimmt,
wenn es sich um besondere Theorien eines Schülers Lamarcks oder Darwins handelt. Wenn man
aber damit sagen will, es stehe uns frei, die Lebewesen als eine Abfolge ‹in physischer Funktion›
17
voneinander aufgetretener Elemente zu betrachten oder nicht [welches im übrigen auch die
genaue Natur dieser Funktion sein mag], täuscht man sich. Auf seinen Wesensgehalt reduziert,
ist der Transformismus keine Hypothese. Er ist der auf den Fall des Lebens angewandte
besondere Ausdruck des Gesetzes, das unsere gesamte Erkenntnis des Wahrnehmbaren bedingt:
daß wir nämlich in dem Bereich der Materie nichts begreifen können, es sei denn in Form von
Reihen und Gesamtheiten.
In die Sprache des Kreationisten übersetzt, ist dieses Gesetz vollkommen einfach und orthodox.
Es bedeutet, daß die erste Ursache, wenn sie wirkt, sich nicht mitten zwischen die Elemente
dieser Welt einschaltet, sondern unmittelbar auf die Naturen derart einwirkt, daß, so könnte
man sagen, Gott die Dinge weniger ‹schafft›, als daß Er ‹sie sich schaffen läßt›.
Es muß also nicht erstaunlich erscheinen, daß die Gläubigen sich der im Grunde des
Transformismus verborgenen (40) Wahrheit anschließen. Erstaunlich ist vielmehr, daß sie nicht
leichter in der manchmal unannehmbaren Sprechweise der Evolutionisten die katholische und
traditionelle Tendenz erkennen, die Kraft der Zweit-Ursachen zu retten, der kürzlich noch ein
sehr gelehrter Theologe, der auch ein wahrer Wissenschaftler ist, den schönen Namen
‹christlicher Naturalismus›4 hat geben können.
Études, 5. Bis 20. Juni 1921.(41)
II
DAS ANTLITZ DER ERDE
Wenn man zu Beginn dieser Seiten den Titel des Buches findet, in dem der österreichische
Geologe Sueß das Bild festgehalten hat, das sich, aus einem wunderbaren Bemühen um
Synthese, für ihn vom allgemeinen Relief unseres Planeten ergeben hat, so deshalb, weil diese
Worte ‹das Antlitz der Erde› in bewundernswerter Weise das Ergebnis aussagen und
zusammenfassen, zu dem seit einem halben Jahrhundert die geologische Wissenschaft gelangt
ist.
Es gibt eine Physiognomie, ein Gesicht, ein Antlitz der Erde.
Lange Zeit haben die Menschen sich vorstellen können, der sie tragende Boden dehne sich um
sie herum, so weit das Auge reicht, horizontal aus, oder aber er ende plötzlich in wunderbaren,
elysischen oder höllischen Ländern. Für unsere Väter war die Welt so klar eine unendlich flache
Oberfläche, daß sie Jahrhunderte des Nachdenkens und gefährlicher Reisen brauchten, um den
Zauber des Augenscheins zu brechen und im Geiste die Erde zu umfahren. Heute ist ein neues
Bemühen um Verbesserung unserer Anschauungen dabei, zum Ziel zu kommen. Nachdem wir
den Umkreis unseres Universums geschlossen haben, beginnen wir nunmehr, seine Züge zu
entziffern. Geduldig zusammengesetzt, greifen die zahllosen Einzelheiten, die auf der Oberfläche
des Globus festgestellt wurden, nach und nach ineinander. Sie gewinnen für unsere Augen einen
4 (FN 4) «Der Geist des christlichen Naturalismus ist in der Kirche immer in Ehren gehalten worden, und nur in Zeiten des Niedergangs konnte man erleben, daß er in gewissem Maße verblaßte. Mit dem Namen ‹christlicher Naturalismus› will ich die Tendenz bezeichnen, dem natürlichen Wirken der Zweit-Ursachen all das zuzuschreiben, was die Natur und die positiven Gegebenheiten der beobachtenden Wissenschaften nicht verbieten ihnen zuzuschreiben, und auf ein besonderes Eingreifen Gottes im Unterschied zu den Akten seiner allgemeinen Weltlenkung nur im Falle absoluter Notwendigkeit zurückzugreifen.» Henri de Dorlodot, Professor für Geologie an der Universität Löwen, ehemaliger Professor der Theologie am Seminar von Namur, Le Darwinisme au point de vue de l’orthodoxie catholique, Löwen 1913, Seite 93; Neuausgabe Brüssel, Vromant, 1921, Seite 115.
18
Sinn. Bald wird es einem gebildeten Menschen ebensowenig erlaubt sein, nicht zu wissen, daß
die Erde einen Ausdruck, ein Gesicht hat, wie nicht zu wissen, daß sie rund ist und sich dreht.
Versuchen wir also, dieses edle und ehrwürdige Gesicht in seinen Hauptlinien zu erspähen. Und
zu diesem Zweck (43) wollen wir uns fragen, welchen Aspekt für die heutige Wissenschaft die
Gebirge, die Kontinente, die Ozeane gewonnen haben5.
I. DIE GEBIRGE
A. GEOLOGISCHE NATUR DER GEBIRGE
Jedermann hat in unseren Tagen Gebirge gesehen. Jedermann hat zumindest einmal in seinem
Leben das ihnen eigenen Pittoreske oder ihre Rauheit genießen wollen. Doch wie viele unter der
Menge derer, die in jedem Jahr die unebenen Gebiete unseres Landes besuchen, bringen von
ihren Ausflügen etwas anderes mit als die Erinnerung an schöne Wellungen und steile Grate,
eingehüllt in Tannen oder bedeckt mit Heideteppichen? Wie viele von denen, die die Vogesen,
die Alpen oder die Pyrenäen durchwanderten, haben das in diesen außergewöhnlichen Orten
eingeschlossene wirkliche Geheimnis erahnt? Für die Wissenden zeigen die gebirgigen Teile des
Globus einen sehr viel außergewöhnlicheren Aspekt. Sie nehmen eine ganz andere
Persönlichkeit an als für die einfachen Touristen. Für den Blick des Geologen ist nicht nur das
äußere Relief der Gebirge bewundernswert, sondern auch ihre Substanz, ihr Stoff selbst ist
eigentümlich, so eigentümlich, daß es häufig genügt, ihm ein kleines, weit entfernt aufgelesenes
Bruchstück zu zeigen, damit er, ohne zu zögern, unmittelbar (44) sagt: «Dieser Stein ist von einem
Gebirge losgelöst worden.»
Was charakterisiert denn nun die Materie, aus der die Gebirge gemacht sind?
Vier Dinge vor allem: die marine Natur der Sedimente, deren Erhärtung die Gesteinsschichten
gebildet hat; die erstaunliche Dicke dieser versteinerten Ablagerungen; die häufige
Transformation der ursprünglich schlammigen Masse in wirkliche, kristallisierte Felsen;
schließlich die Faltung und die oft unvorstellbare Zermalmung, die diese riesige Anhäufung von
Gestein nachträglich erlitten hat.
Diese vier Charakteristika der Gebirgsschichten sind nicht schwer zu erfassen. Ein einfaches
Beispiel wird helfen, sie zu verstehen und zu behalten.
Versetzen wir uns im Geist in einen dieser Steinbrüche, wo man in der Umgebung von Paris, zum
Beispiel in Argenteuil oder Romainville, Gipsstein gewinnt. In diesen Steinbrüchen beobachten
wir auf etwa fünfzig Meter Dicke eine Reihe von sich ablösenden, vollkommen horizontalen
Schichten aus hartem Gips und weichem grünem oder blauem Ton. Anhand der Fossilien, die
sich in den Gips- und Tonschichten finden, reihen die Geologen diese Schichten in die Formation
ein, die sie jüngeres Eozän nennen; und sie erkennen darin den kaum veränderten Grund einer
Salzlagune, an deren Ufer eine Bevölkerung von Pflanzenfressern lebte, die seit langem
verschwundenen zoologischen Formen angehörte. Nehmen wir jetzt an, wir entfernten uns von
Paris nach Südosten und wir könnten Schritt für Schritt die Schicht der auf Frankreich zur
gleichen Zeit wie der Gipsstein von Paris abgelagerten Sedimente bis zu den Alpen genau
verfolgen [durch indirekte Methoden ist man zu diesem Ergebnis gelangt]. Bei der Annäherung
5 (FN 1) Wenn Pater Teilhard diesen Artikel im Hinblick auf eine Veröffentlichung hätte durchsehen können, hätte er zweifellos in Anmerkungen auf die jüngsten Fortschritte hingewiesen, die die Geologen in ihren Forschungen über den Ursprung der Gebirge und der Kontinente gemacht haben. Da wir ihn nicht ersetzen können, haben wir uns darauf beschränkt, einige Hinweise zu geben. [Anmerkung der Herausgeber.]
19
an die Alpen würden wir eine einzigartige Veränderung im Aussehen dieser Ablagerungen (45)
feststellen. Zunächst werden die geologischen Schichten dicker, und sie ändern ihre Natur. Keine
Reste von landbewohnenden Säugetieren und von Süßwassermuscheln mehr: vielmehr nur
noch Überreste von Meeresmollusken und bald lediglich nur noch Gehäuse ganz kleiner
Foraminiferen, in einem Ozean erhärteten Schlammes verstreut. Dringen wir noch weiter in das
Zentralgebiet der Alpen ein: es wird äußerst schwierig, auch nur diese bescheidenen Fossilien zu
beobachten. Dort nämlich, wo die Dicke der Schichten das Maximum erreicht [Hunderte von
Metern], gewinnt der Fels eine andere Beschaffenheit: aus dem Tonigen geht sie nach und nach
ins Kristalline über, manchmal fast wie Granit. Und dann wird sie mit Falten überladen: die
Schichten werden gestreckt, geknittert, zerrieben. Die organischen Reste sind in diesem
Gesteinsorkan gewöhnlich vollkommen verschwunden. Trotz diesem Chaos im Detail ist die
allgemeine Struktur [das Gesamtverhalten] der Schichten nicht ungeordnet: Die Anfertigung
geologischer Karten hat in den Alpen die Existenz zahlreicher Falten aufgedeckt, die sich
übereinandergelegt haben, manchmal derart übereinandergelegt, daß sie, von ihrer Basis
abgelöst, auf eine Entfernung, die die Größenordnung von hundert Kilometern erreichen kann,
übereinandergleiten [übereinander geschoben werden] konnten6.
Nun, das Experiment, das wir uns zwischen Paris und den hohen Alpenketten verwirklicht
dachten, könnte für alle Regionen und für alle Gebirge wiederholt werden. Das Ergebnis dieser
wiederholten Beobachtungen wäre dasselbe. Immer wenn man von den Ebenen zu den Gebirgen
vorgeht, stellt man fest, daß die geologischen Ablagerungen (46) zunächst dicker werden und
dann ihre innere Struktur sich ändert, während sogleich ihre allgemeine Architektur
umgestoßen wird7. Ganz offensichtlich haben diese so besonderen Anordnungen ihren
Daseinsgrund. Man hat eine Erklärung für sie in der Hypothese der ‹Geosynklinalen› gesucht.
Eine Geosynklinale ist für die moderne Geologie eine Region der Erde, wo einmal der
Widerstand der Erdrinde [Lithosphäre] geringer ist als anderswo und wo ferner die
Sedimentablagerung mit besonderer Schnelligkeit vor sich geht. Stellen wir uns irgendwo eine
derartige Region vor. Unter dem Gewicht der unaufhörlich wachsenden Sedimente gibt die auf
Grund der Hypothese als verhältnismäßig geschmeidig angenommene Lithosphäre nach, bricht
ein und bildet eine Tasche. Der untere Teil der Tasche sinkt in Zonen ab, wo die Temperatur und
der Druck zunehmen und wo auch gewisse Lösestoffe sich besonders aktiv zeigen: sie erleidet
eine Umwandlung, eine Rekristallisation, einen ‹Metamorphismus› des schlammigen Materials,
das sie einschließt. Das ist die Geschichte einer Geosynklinale während der Füllungsphase, das
heißt während der Periode der Gebirgs-‹Schwangerschaft›. Jetzt kommt [wahrscheinlich unter
dem Einfluß der Zusammenziehung des Erdballs] ein seitlicher Druck, der [wahrscheinlich
gleichzeitig mit einer vertikalen, nach oben schiebenden Kraft] die Masse der langsam
aufgehäuften Ablagerungen zusammendrückt: die Tasche wird zusammengepreßt; ihr Inhalt
wird sich innerlich in alle Richtungen falten und dahin streben, in Gestalt eines Wulstes an die
Oberfläche emporzusteigen. Das Gebirge wird geboren. (47)
Wir beginnen bereits zu begreifen wie ungewöhnlich und kompliziert das als ‹Orogenese›
bezeichnete Phänomen ist. Ein Gebirge kann weder irgendwann noch irgendwo an der
Oberfläche der Erde emporsteigen. Ein Gebirge ist das Ergebnis eines Hundertausende von
Jahren langen Prozesses, zunächst der Sedimentbildung und dann der Exteriorisation. Es erhebt
sich nur an erwählten Orten nach einer endlosen Reifung.
6 (FN 2) Der Autor hätte diese Ziffer wahrscheinlich revidiert. [Anmerkung der Herausgeber.] 7 (FN 3) Das gilt vor allem für die Alpen, die Pyrenäen und den Jura. [Anmerkung der Herausgeber.]
20
B. GEOGRAPHISCHE VERTEILUNG DER GEBIRGSKETTEN
Da die ‹Gebiete mit Gebirgen› nicht gleichmäßig über unseren Globus verteilt sind, hat man
gedacht, es müsse interessant sein, ihre Verteilung über die heutigen Kontinente zu verfolgen
und zu begreifen. Wegen der unermeßlichen, von den Gebirgsgegenden bedeckten Strecken und
auch infolge der Notwendigkeit, Ketten verschiedenen Alters zu trennen, war diese Arbeit der
Bestandsaufnahme zugleich äußerst mühsam und äußerst heikel. Man hat sie jedoch zu einem
guten Ende gebracht; und das Ergebnis dieser zugleich geologischen und geographischen
Forschungen ist die Feststellung gewesen, daß die Geosynklinalen entsprechend einem
bestimmten Plan über unseren Planeten verteilt sind. So begannen die Züge des Antlitzes der
Erde für uns sichtbar zu werden.
Betrachten wir vor allen anderen die Gebirge, die uns am besten bekannt sind, weil sie sich
zuletzt gebildet haben: die Alpen und die mit den Alpen gleichaltrigen tertiären Ketten. Von den
geographischen Namen getäuscht, stellen wir uns manchmal vor, daß die Alpen sich nicht über
die Schweiz oder die der Schweiz benachbarten Länder hinaus ausdehnen. Die Geologie erkennt
den alpinen Formationen (48) eine sehr viel machtvollere Individualität zu. Sei es, daß man die
dynamische Einheit der Bewegung, die sie emporgehoben hat, ins Auge faßt, sei es, daß man die
stratigraphische Natur der sie zusammensetzenden Schichten analysiert, die ‹größeren Alpen›
umlaufen ohne Unterbrechung die ganze Erde8. Nach Westen bilden sie das Rückgrat der
italienischen Halbinsel, die nördlichen Kämme des Atlas, die Pyrenäen, dann sinken sie in die
Wasser des Atlantik ab, um in der Gegend der Antillen wieder aufzutauchen. Im Osten formen
ihre Falten die Karpaten, einen Teil des Balkans und den Kaukasus. Sie überbrücken Kleinasien
mit dem Taurus und Iran. Noch weiter weg heißen sie Himalaja. Endlich erreichen sie die
Sundainseln. Hier ändern sie plötzlich ihren Verlauf. Waren sie bisher stark gedrängt und in
einer, grob gesprochen, äquatorialen Gürtellinie angeordnet, so teilt sich nun ihr Bündel, und es
beschreibt um den ganzen Pazifik herum über Neuguinea und Neuseeland, über Japan und die
Aleuten, über die nord- und südamerikanischen Kordilleren einen großen, fast meridianen Kreis,
der auf der Höhe Mexikos mit dem Gebirgszug verschweißt ist, den wir in der Nähe der Antillen
verlassen hatten. Übertragen wir diese allgemeine Linienführung auf eine Weltkarte: die Alpen
führten uns rings um die Erde, einem Ring ähnlich erscheinend, der wie eine riesige
Edelsteinfassung die weiten Meeresflächen (49) des Pazifik einfaßte. Eine wichtige
Übereinstimmung: gerade eben entlang den Umrissen dieses geheimnisvollen Rings bebt heute
noch die Erde stärker und brennen noch heute die Vulkane zahlreicher.
8 (FN 4) Es handelt sich hier, wie die Anführungszeichen andeuten, um die Alpenkette im weitesten Sinne des Wortes, «denn was die eigentlichen Alpen betrifft, haben die echt alpinen Bewegungen mit dem Lias begonnen. In Amerika datieren die Bewegungen, die die andinen Kordilleren [Anden-Bewegungen] gefaltet haben, vom Ende des Jura, und sie haben eine alpine Höhepunktsphase gegen Ende der Kreidezeit gehabt. In den Pyrenäen schließlich datiert die erste Phase der Faltungen aus der mittleren Kreidezeit.» Précis de géologie, L. Moret [éd. Masson]. [Anmerkung der Herausgeber.]
21
Was bedeutet dieser Umriß der alpinen Ketten, wenn wir versuchen, so wie wir ihn
angenommen haben, den Begriff der ‹Geosynklinale› anzuwenden?
Er bedeutet in erster Linie, daß bis vor die Mitte der tertiären Zeiten ein langer und tiefer
Graben die Erde umgab. Dieser Graben lief zunächst parallel zum Äquator von den Antillen bis
zu den Sundainseln; dann beschrieb er senkrecht (50) zu diesem ersten ozeanischen Band [von
den Geologen Tethys oder Mesogäum – Mittelmeer - genannt] einen kreisförmigen Bogen [der
natürlich zirkumpazifische Geosynklinale heißt] um den Pazifik.
22
Anschließend sehen wir, wie in dem Augenblick, da dieser in zweifacher Weise kreisförmige
Abgrund sich aufzufüllen begann, mächtige Kräfte ins Spiel gekommen sind, die die gewaltigen
Vorräte an mehr oder weniger hartem Schlamm, die er enthielt, nach und nach
zusammengepreßt, gefaltet und schließlich ausgestoßen haben. Der erdumlaufende Graben wird
so in einen langen Wulst eng verbundener Falten verwandelt.
Diese Falten, so können wir beobachten, sind fast immer asymmetrisch, flach gelegt oder sogar
umgestürzt, bald nach Norden [z.B. in den eigentlichen Alpen], bald nach Süden [z.B. die
asiatischen Ketten]. Überdies sind sie in bezug zur Erdoberfläche doppelt, nämlich transversal
und tangential, gewellt. Tangential beschreiben sie eine Reihe (51) von Festons [besonders
sichtbar entlang des südlichen und östlichen Asiens], deren innerer Saum, und ganz besonders
die Biegestellen, von den Vulkanen begrenzt oder markiert sind. Transversal tauchen sie im
Wechsel auf oder sinken ab, indem sie sich bald zu hohen Graten aufrichten und bald dieselben
Schichten, die in einiger Entfernung von dort vom ewigen Schnee bedeckt sind, auf die Höhe der
Ebenen [oder sogar darunter] zurückführen.
Und wenn wir jetzt – vor allem mit Hilfe von Fossilien – versuchen, etwas Chronologie in diese
gewaltigen Ereignisse hineinzubringen, stehen wir verwirrt vor den endlosen Zeiträumen, die
ihr Ablauf uns enthüllt. – Einerseits nämlich nimmt allein die Auffüllung der alpinen
Geosynklinale [in ihren letzten Teilen] eine ganze geologische Ära, das Sekundär, ein.
Andererseits hat sich die Aufrichtung der weltumlaufenden Kette, die sie nährte, in einem nicht
viel geringeren Zeitraum verwirklicht. Das System der alpinen Falten hat sich nicht plötzlich
gebildet. Ähnlich den Falten, die wir sich langsam auf der Oberfläche einer in Verfestigung
befindlichen Flüssigkeit verbreiten sehen, ist es schrittweise in mehreren Phasen zutage
getreten. Mit dem Ende der Kreidezeit haben die Pyrenäen begonnen, endgültig emporzusteigen.
Dann kamen die Alpen an die Reihe. Der Himalaja ist merklich jünger. Gewisse Regionen von
Alaska und der Anden schließlich haben in der gegenwärtigen Stunde vielleicht noch nicht
aufgehört, sich zu falten und emporzusteigen. Alle diese Ketten bilden durchaus ein System. Sie
kennzeichnen die aufeinander folgenden Augenblicke ein und derselben Bewegung. Doch der
23
Rhythmus dieser Bewegung ist derart langsam [im Vergleich zu uns], da eine ihrer Sekunden in
etwa einer unserer geologischen Epochen entspricht. Das Ende [der Kopf] der Runzel ist noch
auf dem Wege des Aufsteigens, während seine ersten Ringe bereist in vollem Zerfall sind – (52)
stark angegriffen wie die Schweizer Alpen, oder wie die Pyrenäen vollkommen bloßgelegt durch
die Erosion. – Alles in allem machen die alpinen Ketten durch ihre Geschichte zwei Drittel
unserer bekannten Geologie aus. Als sie begannen, sich vorzubereiten, gab es noch keine Vögel,
noch Fische, noch Säugetiere wie die unsrigen. Die Reptilien waren noch sehr weit von ihrem
Höhepunkt entfernt. Unser Menschengeschlecht wird vielleicht verschwinden, bevor sie sich zu
Ende ausgebildet haben.
Diese Betrachtungen, nicht wahr, lassen uns ganz unglaubliche Zeiträume wahrnehmen. Und
doch sind die größten Alpen nur eine vereinzelte Woge in der Dünung der Gebirge, die die
Geologen seit eh und je schon über das Antlitz der Erde gehen sehen. Vor dieser letzten Welle,
die noch aufbrandet, hat es, dafür haben wir den Beweis, andere gegeben, und sogar viele
andere, die über die Lithosphäre wogten.
C. PERIODIZITÄT DER GEBIRGSKETTEN
Beschränken wir zunächst unseren Blick auf die Regionen der borealen Hemisphäre, die
nördlich dieses Grabens liegt, den wir Mesogäum genannt haben, und versetzen wir uns in die
fernen Zeiten zurück, da die ersten Ablagerungen der Sekundärzeit sich anzuhäufen begannen.
Was sehen wir? Nördlich des breiten transversalen Meeres, in dem noch unsere heutigen Alpen
schlafen, bilden dort, wo heute die sanften Schwingungen oder die eintönigen Ebenen der
Bretagne, Flanderns oder der Ardennen sich ausbreiten, andere Alpen am Horizont ein riesige
Barriere – genauso stolze Alpen wie die unsrigen, und sie sind um einige Breitengrade höher, in
etwa wie die unsrigen rings um die Erde verteilt: die Atlaiden, die herzynische Kette, (53) die
Karbonalpen9. – Ebenso, so sagten wir, wie das ganze Sekundär und das Tertiär, gleich einer
Schwangerschaft, mit der Vorbereitung und der Geburt der heutigen Alpen ausgefüllt sind,
stellen auch die beiden letzten geologischen Zeiträume des Primärs, das heißt das Devon und
das Anthrakolithikum [man bewundere hier die Verkürzung unserer Perspektiven], den zur
Bildung, Hervorbringung und, muß man hier hinzufügen, Zerstörung einer zirkumpolaren [und
wahrscheinlich auch zirkumpazifischen] Gebirgskette nötigen Zeitraum dar. Einer Kette, die
genauso bedeutend war wie die gegen Ende des Tertiärs aus den Tiefen des Mesogäums und der
zirkumpazifischen Geosynklinale emergierten Ketten.
Was ist heute noch von diesen prachtvollen Karbongebirgen übrig, die eh und je die Erde
umkreisten? Für den Touristen nichts. Für den Geologen Spuren, ‹Wurzeln›. Betrachten wir eine
geologische Karte der Bretagne und suchen wir, wie die Farbbänder verteilt sind, die die ältesten
Böden bezeichnen. Man möchte glauben, man sehe das, was von einem Wulst
verschiedenfarbiger, aufeinander gelegter Stoffe übrigbleibt, nachdem man sie mit einer Schere
glatt abgeschnitten hat. Das können wir bezüglich der herzynischen Kette in Frankreich am
deutlichsten beobachten. Dort verlief wirklich eine Gebirgskette: wir sind dessen sicher, auf
Grund der Falten und der Struktur des Steines. Es handelt sich durchaus um dieselbe Kette,
deren Spuren wir quer durch Europa, Asien und auf der anderen Seite des Atlantiks in
Nordamerika feststellen: sie ist an ihren besonderen Formationen, an den ihr eigenen Fossilien
und auch an der Tatsache zu erkennen, daß über den manchmal senkrechten Schnitten ihrer
verschobenen (54) Schichten relativ junge Sedimente in horizontalen Schichten lagern. Doch diese
9 (FN 5) Die verschiedenen Faltungsformen erscheinen heute weniger gleichartig. [Anmerkung der Herausgeber.]
24
Kette ist vollständig eingeebnet worden. – Seit wann? Untersuchen wir die waagrecht lagernden
Sedimente näher, die sie bedecken. Wir finden, daß sie gleichaltrig sind mit den Gesteinen, von
denen wir wissen, daß sie mitten in die tertiären Ketten selbst hineingenommen und dort
gefaltet worden sind. Unsere Alpen hatten also noch nicht begonnen, sich zu bewegen, und
schon bedeckte eine Ebene, der das Meer bald folgte10, den Platz der Karbongebirge! Fügen wir
also zu der ganzen, von dem Aufbau des alpinen Systems benötigten Dauer die Zeit hinzu, deren
es bedurfte, um diese herrlichen Gipfel [durch Erosion und kontinentale Senkungen] auf
Meereshöhe einzuebnen, und wir gewinnen eine Vorstellung, wie viele Jahrhunderte die zweite
und wohlgemerkt die kleinere, Hälfte des Primärs darstellt. Die Dauer dieses Zyklus verwirrt
unseren Geist. Wir müssen sie aber noch einmal um sich selbst vermehren, wenn wir noch
weiter in die Geschichte der Erde zurückgehen wollen.
… Als an der Stelle der vor dem Aufsteigen der Alpen abgetragenen Karbonkette sich noch ein
tiefes Meer ausbreitete, war bereits noch weiter nördlich am Rande dieses Meeres eine dritte
Gebirgskette, die im Vergleich zu den Karbonalpen ebenso alt11 war wie diese im Vergleich zu
unseren tertiären Alpen, am Ende ihres Zerfalls: die silurischen Alpen, die kaledonische Kette.
Wer könnte hier wagen, den Abgrund der verflossenen Zeiten mit Zahlen zu messen? – Auch hier
haben wir wieder zur Bezeichnung der ungeheuren, zum Aufbau und zur Zerstörung dieser (55)
Faltungen, deren Netz die ganze Erde umspannt haben muß, nötigen Zeit nur zwei kleine
geologische Perioden: das Kambrium und das Silur. Doch das ist hier, das spüren wir, eine
Wirkung der Ferne. Die Anfänge der primären Zeiten mit ihren tausenden von Metern
monotoner Sedimente stellen vielleicht ebenso viele Jahre dar, wie verflossen sind, seit wir sie
als abgeschlossen annehmen. In Folge ihres wunderbaren Alters ist die silurische Kette
schwieriger zu verfolgen als die herzynische. Wir erkennen sie jedoch ganz deutlich in einer
langen Zone, die über Neufundland, Schottland, Skandinavien, Spitzbergen und Nordgrönland
verläuft. In Norwegen scheinen ihre Gipfel mit denen viel jüngerer Gebirge zu wetteifern; doch
diese Höhe ist ihr fremd: sie verdankt sie einer späteren Erhöhung des Festlandsockels, in dem
sie einwurzelt.
Sind wir dieses mal zu Ende mit den Gesteinswogen, die sich unaufhörlich vor uns erheben,
jedesmal wenn wir versuchen, etwas höher in die Vergangenheit und nach Norden
voranzukommen. – Nein, noch nicht. Am nördlichen Rand des Meeres, wo im Kambrium die
kaledonischen Ketten vorbereitet wurden, gab es bereits Gebirge, von denen wir die wirklichen
erregenden spuren in Kanada, auf den Hebriden, im Westen Norwegens finden: die huronische
Kette, die präkambrischen Alpen. – Das Studium dieser Alpen ist äußerst schwierig, nicht nur
weil ihr Relief restlos verschwunden ist, sondern vor allem weil ihre Wurzeln fast bis zur Basis
abgetragen sind. Keine Fossilien, um ihre Schichten zu datieren, und eben gerade genügend
Anzeichen, daß wir sicher sein können, daß wir es mit gefalteten alten Sedimenten zu tun haben.
– Die huronische Kette ist tatsächlich die letzte, deren Umrisse aufzufinden die heutige Geologie
versuchen kann. Doch ist sie deshalb noch nicht die letzte, deren Existenz wir fassen können.
Wenn wir das Gesteinsmaterial, aus dem die präkambrischen (56) Gebirge gebildet sind, genau
untersuchen, stellen wir fest, daß dieser Stoff mehrfach gefaltet und abgetragen wurde, bevor er
verwandt wurde, um die letzten Gipfel zu bilden. Mehrmals hat es dort, wo die älteste Kette
verlief, die wir festlegen können, Geosynklinalen, und dann Berge, und dann wieder
Geosynklinalen gegeben! Wir unterscheiden im Laufe der geologischen Zeiten nur vier
10 (FN 6) Ausführlicher: vom Meer angegriffen, daß nach und nach ihre Oberfläche erobert. [Anmerkung der Herausgeber.] 11 (FN 7) Tatsächlich sogar noch älter. Die älteste, die durch Fossilien datiert werden kann; sie soll nach jüngsten Berechnungen mehr als 400 Millionen Jahre zählen. [Anmerkung der Herausgeber.]
25
Gebirgswellen, die vom Pol zum Äquator hinabsteigen. Wir sind aber sicher, daß vor dieser
Faltungsreihe, andere, nicht entzifferbare Beben, über das Gesicht der Erde gelaufen sind. Für
den Geologen, der in die Vergangenheit schaut, ist keine letzte Kette in Sicht…
Verlassen wir diese grenzenlosen, für unsere richtige Sicht des Wirklichen bedeutenden, der
Analyse unserer Wissenschaft aber derart entziehenden Perspektiven, und kehren wir zur
Beobachtung der vier großen Ketten zurück: der alpinen, herzynischen, kaledonischen und
huronischen, deren Schema uns annähernd bekannt ist. Wir haben ihre Physiognomie noch nicht
zu Ende durchgearbeitet. Um nämlich den Platz richtig zu begreifen, den ihre vier ungeheuren,
grobkonzentrischen Gürtel auf dem Antlitz unseres Globus einnehmen, muß man gesehen
haben, daß sie ebenso viele Zonen des Vordringens der verfestigten Erdrinde auf dem sich
bewegenden Streifen der Geosynklinalen darstellen. Und das führt uns zum Studium der
kontinentalen Regionen oder Bereiche.
II. DIE KONTINENTE
Bisher haben wir, da wir einzig mit dem Ursprung der Gebirge beschäftigt waren, unaufhörlich
unseren Blick auf die Meerestiefen gerichtet, aus denen die Falten der Erdrinde eine nach der
anderen auftauchten; und weil wir diese Bewegung (57) im Rückgang in die Vergangenheit
verfolgten, haben wir gesehen, wie das verhältnismäßig enge Mesogäum des Tertiärs in den
präkambrischen Zeiten maßlos breiter wird. Um die Entstehung der Kontinente [zumindest in
unserer Hemisphäre] zu erleben, wird es uns genügen, die Phänomene in umgekehrter Richtung
zu verfolgen, das heißt, zur Gegenwart zurückzukehren, indem wir dieses Mal nicht mehr die
südliche, die Seeseite der voranschreitenden Falten betrachten, sondern ihre Nordseite, die uns
verborgen geblieben war.
Fassen wir die Bewegung in ihren Anfängen [für uns]; anders gesagt, versetzen wir uns in die
Zeiten, da auf der mittleren Breite der Hebriden das große transversale Meer an die Ausläufer
der letzten präkambrischen Ketten schlug. Was hätten wir gefunden, wenn wir von diesem Ufer
weiter nach Norden gezogen wären? Eine weite, verfestigte Fläche. Hinter den huronischen
Gipfeln, dafür haben wir den Beweis, verbarg sich eine emergierte Region mit wahrscheinlich
tafelförmigem Relief, die über mehreren Stockwerken abgetragener Gebirge aufgebaut, die aber
endgültig unfähig war, sich selbst zu falten. Eine Art Felsenschild bedeckte den Norden Kanadas
und erstreckte sich quer über den heutigen Atlantik bis zu den Lofoten. Andere, ähnliche Schilde
nahmen den Platz Finnlands und Südsibiriens ein. Betrachten wir aufmerksam diese
Bruchstücke der Schildkrötenpanzer, die sich kaum über die Wasser erhoben. Wir wissen nicht,
welche Art von Leben – oder selbst, ob überhaupt Leben – ihren seit dem Primär von allen
möglichen Gletschern und Sintfluten gefegten Boden belebte. Wir wissen aber, ihre nach und
nach vereinigten und vergrößerten Oberflächen haben schließlich die gute, feste Erde
geschaffen, die unsere Zivilisation trägt und nährt.
Die ersten kontinentalen Ansätze, die wir wahrnehmen, (58) bildeten also nicht miteinander
zusammenhängende und fast ausschließlich nördlich gelegene Elemente. Es blieb den
aufeinanderfolgenden Faltungen der Erdrinde vorbehalten, diese Stücke zu verkitten und die
Ränder dieses engen Bereichs auszuweiten. Zunächst legten die Bildung und Zerstörung der
kaledonischen Kette vor die huronische Plattform ein breites Band eisenhaltigen Sandsteins.
Dann kam die herzynische Kette an die Reihe, die vor diesem roten Band die dicke schwarze
Aureole ihrer Steinkohleformation zeichnete. Als letzte stecken die alpinen Ketten, nachdem sie
das, was vom Mesogäum noch übrig war, weit zurückgeworfen haben, die letzten dem Wasser
entrissenen Zonen mit einem Kreis von Schnee ab.
26
So gewann im Ausgang von einigen ursprünglichen Kernen ein umfassendes nordatlantisches
Festland nach und nach Gestalt, das ebenso groß war wie Europa, Asien und Nordamerika
zusammengenommen – ein Festland, das häufig teilweise von oberflächlichen Meeren überflutet
wurde, ein Festland [wir werden das gleich näher sagen], das wohl brechen kann, das aber
unfähig ist, neue Gebirge hervorzubringen. – Ein Kontinent ist für die Geologie nicht in erster
Linie emergierter Boden. Er ist starr gewordener Boden, dem in Zukunft nur noch eine einzige
Bewegungsart gestattet ist, abgesehen vom Bruch: eine langsame Bewegung abwechselnden
Sichhebens und –senkens als Ganzes, – so als ob die Erde atmete, – wenn nicht die säkulären
Schwingungen der Gestade, die wir erstaunt feststellen, nur die Auswirkungen unsichtbarer
Störungen sind, die den unzugänglichen Grund der großen Wasser beunruhigen.
Zur gleichen Zeit jedoch, da der nördliche Kontinent schrittweise seine Ufer bis in die Breiten
unseres Mittelmeeres hinab verschob, scheint ein anderes großes Festland, ihm
entgegenkommend, heraufgestiegen zu sein, das aus den südlichen Tiefen hervorging.
Zumindest für die (59) sehr frühen Zeiten bleibt die Geschichte er südlich des Mesogäums
gelegenen Ketten noch sehr dunkel. Einige Anzeichen lassen jedoch vermuten, daß mehrere
Wellen der Lithosphäre symmetrisch zu den von Norden ausgehenden aufeinanderfolgend im
Süden aufgestiegen sind und jedesmal etwas mehr die kontinentalen Oberflächen vergrößerten
und um ebenso viel die Seegebiete verkleinerten. Man vermutet eine kaledonische Kette quer
durch die Sahara. Eine herzynische Kette spielt sicher im Gefüge des südlichen Atlas eine Rolle.
Die Alpen schließlich verlängern sich sichtbar entlang der algerischen Küste. In dem von diesen
verschiedenen verschachtelten Faltungen umschriebenen Raum, das heißt symmetrisch zum
nordatlantischen Kontinent, in bezug zum Mesogäum, gelegen, bestand lange ein wahrhaft
unermeßliches Festland, das Festland von Gondwana [wie Sueß es nennt], dessen
Tafelsandsteine und besondere Fossilien [die bis in unsere Tage in den Lungenfischen von
Queensland, Zentralafrika und Brasilien überlebt haben] sich über die ganze Oberfläche
Südamerikas, Afrikas, Madagaskars, Indiens und Australiens wiederfinden12. (60)
12 (FN 8) Am 8. November 1951 schrieb Pater Teilhard de Chardin aus Buenos Aires: «… Schließlich hat es mir viel genützt, über Argentinien zu fahren, nachdem ich gerade Afrika verlassen hatte, so daß ich plötzlich [both from the geological and anthropological point of view] die Analogien und Kontraste zwischen den beiden Kontinenten erfuhr. Man erhält einen Schock, wenn man hier einen permischen Gletscher und die Sandsteine des Devon findet, die jenen gleichen, die ich eben in Durban und am Kap zurückgelassen hatte [ein Punkt für Wegener…]; und was den Menschen betrifft, so bedeutet es einen anderen Schock, wenn man hier, nachdem man gerade den ‹Explosions›-Herd der paläolithischen Industrie [in Afrika] verlassen hat, die Welle am Ende ihres Verlaufes, das heißt an ihrem äußersten Entspannungspunkt zu fassen bekommt, nachdem sie Asien in seiner ganzen Breite und Amerika in ihrer ganzen Länge durchlaufen hat […].»
27
Muß man mit einigen großen Geologen annehmen, ein dritter großer Kontinent, der auch aus
aneinandergefügten, ringförmigen Ketten gebildet war, habe bis in verhältnismäßig jungen
Zeiten, die gewaltige vom Pazifik bedeckte Oberfläche eingenommen? … Wenn ja, wären es drei
Schilde, jeder ungefähr so groß wie ein Drittel der Erde, die gegen Ende des Tertiärs infolge der
Emersion der alpinen Geosynklinale miteinander in Berührung gekommen wären; das Meer
wäre verschwunden, wenn das vom Spiel der Faltungen bewirkte Anwachsen der Kontinente im
Laufe der Zeiten nicht von einem heftigen und beunruhigenden Phänomen aufgewogen [und
noch mehr] worden wäre, über das wir noch ein Wort sagen müssen: die Einbrüche, die die
Ozeane hervorbringen. (61)
III. DIE OZEANE
Obwohl auf den ersten Blick die Salzwasserflächen uns alle gleich erscheinen, stellen die
heutigen großen Ozeane in der Physiognomie der Erde ein besonderes Element dar, das seinem
Ursprung und seiner Geschichte nach gänzlich unterschieden ist von den untergetauchten
Bereichen, in denen wir die zur Bildung künftiger Gebirge bestimmten Materialien sich anhäufen
sahen. Ebenso wie es für die Geologie Land und Land gibt [aus kontinentaler Ablagerung oder
aus Faltung], so gibt es auch Meer und Meer. Die riesigen kreisförmigen Kanäle, die wir
Geosynklinalen genannt haben, umgaben die Kontinente mit Ringgräben, und es ist uns sichtbar
geworden, daß diese Gräben sich immer mehr auffüllten und zusammenzogen. Die Ozeane
ihrerseits bilden große Senkungsgebiete, in denen die Ablagerung praktisch gleich Null sein
kann; und seit den Anfängen der geologischen Zeiten scheint ihr Bereich ständig gewachsen zu
sein. Die Geosynklinalen sind Abgründe, die emergieren. Was dagegen die Ozeane gewonnen
haben, bewahren ihre Tiefen. Das macht ihre Natur so rätselhaft. Und das gibt auch dem
Geologen das Recht, ungewöhnlich nachdenklich zu verharren, wenn er, am Ufer des Meeres
28
stehend, die gewaltige und tiefe flüssige Masse den Boden umspülen sieht, der das Geschick des
Menschen trägt.
Verfolgen wir kurz die Aufrichtung der ozeanischen Herrschaft auf der Oberfläche der Erde.
Am Ende des Karbon scheint das Meer ganz in die beiden großen mediterranen und
zirkumpazifischen Rinnen konzentriert gewesen zu sein. Abgesehen vom Nordmeer [das schon
immer dagewesen zu sein scheint] und den Geosynklinalen sehen wir überall nur Land: das
pazifische Festland [vielleicht?]; mit Gewißheit den nordatlantischen (62) Kontinent, der sich von
China über Europa bis hin zu den Rocky Mountains erstreckte; und dann das unermeßliche
Festland Gondwana, welches die südliche Halbkugel ausfüllte. Beeilen wir uns, diese
majestätischen Weiten zu betrachten, wie sie unsere Erde wohl niemals mehr erleben wird. Sie
waren zu groß, um zu dauern. Und die Hälfte der Geologie seit dem Zeitalter des Sekundärs ist
lediglich die Geschichte ihres Zerfalls.
Der zerbrechlichste war der größte. Der südliche Kontinent spaltete sich als erster. Zunächst
trennte ein großer, noch im Kanal von Mozambique sichtbarer Spalt den indomadagassischen
Block von Afrika und Brasilien [die immer noch vereint waren]. Diesem Schritt, der so alt ist wie
das Ende des Trias, folgten im Laufe des Sekundärs mehrere andere: gegen Ende der Kreidezeit
wurde Indien von Madagaskar getrennt, und Australien wurde für immer von den anderen
Kontinenten abgeschnitten und nahm so auf seinem Gebiet eine in ihrer Art einzigartige Fauna
gefangen, in der die Wissenschaft eines der blendendsten, von der Natur zugunsten der
stufenweisen Veränderung des Lebens gegebenen Zeugnisse findet. So grub sich, was wir den
indischen Ozean nennen, mitten in kontinentale Gebiete hinein. Der atlantische Ozean scheint
merklich jünger zu sein. In seinen Anfängen [zu Beginn des Tertiärs] glauben wir ihn als einen
breiten Meeresarm wahrzunehmen, der langsam von Sünden herzwischen Afrika und Brasilien
vordringt. Aber das ist zunächst nur eine Vermutung, die sich vor allem auf zoologische
Überlegungen stützt. Bald aber ist kein Zweifel mehr gestattet. Die Wasser greifen weit nach
Norden. Sie überschreiten die Mittelmeerlinie, die die indischen Spalten auf der anderen Seite
Afrikas eingehalten hatten. Am Ende des Tertiärs wird, ohne daß wir genau wüßten wann oder
wie, die schöne nordatlantische Einheit endgültig zerbrochen; und (63) als Spuren ihrer alten
Einheit bleiben nur Stümpfe der herzynischen und alpinen Kette, die ähnlich den Balken einer
von den Wassern verschlungenen Brücke sich an den beiden Ufern in der alten und der neuen
Welt gegenüberstehen. Mit dem pazifischen Kontinent [wenn es ihn wirklich gegeben hat] ist es
wie mit jenen Schiffen, von deren Ende kein Wrackstück erzählt: im Meer versunken…
Wie gehen die Festländer unter, um die Ozeane entstehen zu lassen? Wir haben es bereits
begriffen: durch Bruch und Absinken.
Die Kontinente, so haben wir gesehen, sind starre Schilde, die unfähig sind, sich zu falten. Doch
sie können brechen wie die Schollen auf einem gefrierenden Teich. Und sie sind tatsächlich auch
so deutlich gebrochen, daß die verschiedenen Wirkungen ihres Bruches überall uns deutlich vor
Augen stehen, und sie sind regelmäßig von Vulkanen und Lavaausschüttungen begleitet. Bald ist
an der Oberfläche der Kontinente der Boden mit einem System von parallelen Spalten
durchzogen, die die Bildung länglicher Fächer bestimmen, die imstande sind, sich im Verhältnis
zueinander zu senken: zum Beispiel die Limagne d’Auvergne und der Rheingraben. Bald
schneiden sich die Bruchstellen und bilden ein Schachbrett, dessen von spitzen Winkeln
begrenzte Felder sich erhöhen können, so daß sie polygonale Molen [oder Horste] ergeben: zum
Beispiel die Vogesen oder das Plateau central. Und dann schließlich gibt es die nicht gradlinigen
Sprünge; vielmehr lösen sich gewisse von einer gefalteten Kette umkreiste Gebiete in
bestimmter Weise ab und sinken inmitten ihrer gebirgigen Einfassung ein. Die ungarische Ebene
29
inmitten der Karparten ist ein Beispiel dieser ‹mandelförmigen› Einbrüche. – Wenden wir
nunmehr unseren Blick den Ozeanen zu: Wir bemerken sogleich, sie sind von genau den selben
Bruchart begrenzt. Das vielleicht unermeßliche (64) rote Meer, das sich nach Süden in der Senke
fortsetzt, in der sich die großen afrikanischen Seen aufreihen, ist ein Graben. Grönland, die Krim,
der Sinai, Indien, Südafrika und so viele andere dreieckige Halbinseln sind Horste. Das
Mittelmeer ist nichts weiter als eine Reihe von abgesunkenen Kernen, die noch von Gebirgen
eingeschlossen sind. Und der ganze Pazifik selbst gleicht merkwürdig einer riesigen Mandel.
Wirklich, man möchte sagen, heute beginnt nach der Ära der Wellungen und Überschiebungen
für das Antlitz der Erde die Zeit der Einbrüche. Um uns herum scheinen die zerstörerischen
Bruchwirkungen der Kontinente bedeutsamer und frischer zu sein als die gebirgsbildenden
Wirkungen der Faltung. Wenn wir einen Augenblick lang an die totale Emersion des
Meeresgrundes haben glauben können, so sehen wir jetzt, daß eher ein Tag kommen wird, an
dem sich über das Antlitz der Erde das universelle Meer ausbreitet.
Damit sind wir an das Ende unserer Studie gelangt. Die Ozeane, die Kontinente, die Gebirge…
haben diese monotonen Erscheinungen auf unserem Globus, haben diese Schraffierungen und
diese braunen oder blauen Flächen, die wir seit Kindertagen gelangweilt auf unserem Atlas
betrachtet haben, nicht begonnen, in unseren Augen eine Art Leben, eine Art Gesicht zu
gewinnen? – Wie könnten wir zum Abschluß dem Ausdruck, den dieses Gesicht in unseren
Augen annimmt, Sprache verleihen.
Man kann nicht umhin, es zuzugeben: angesichts der Physiognomie unseres Planeten, wie sie
uns heute entziffert ist, sind wir nicht vollständig befriedigt. Zunächst gibt es Lücken. Über weite
Strecken [z. B. Zentralasien und Neuguinea] ist die Struktur der Erdrinde noch unbekannt. Und
diese weißen Flecken stören uns. Doch es gibt schlimmeres. (65) Die Beschreibung unserer Welt
befriedigt uns auch in dem nicht, was ihr eigentümlich ist. Wir möchten wissen, ob das System
aus Falten, Abschnitten, Brüchen, das die Geologie entwirrt hat, akzidentelle, ‹individuelle› Züge
der Erde darstellt oder ob es nicht im Gegenteil ein allgemeines Gesetz der Verfestigung, der
‹Kristallisation›13 aller Planeten verrät. Man hat häufig versucht, die von unserem Globus
angenommene geometrische Gestalt auf eine einfache Form [Tetraeder oder andere]
zurückzuführen: diese Versuche sind alle vergeblich gewesen. Wird es uns also niemals gelingen,
das Antlitz der Erde, ich sage, nicht nur unseren Augen klar, sondern auch unserm Geist
einsichtig zu machen?
Verzweifeln wir nicht! Die Geologie hat noch lange nicht ihr letztes Wort gesprochen. – Nicht nur
die rasch zunehmenden Reisemöglichkeiten werden die Erforschung der oberflächlichen
Schichten der Welt rasch vorantreiben, – vielmehr sind neue Forschungsmethoden im Werden,
die uns erlauben werden, bis in das Innere des uns tragenden Gestirns vorzudringen. Bereits die
Analyse der Schwingungen der Erde [die Erde schwingt nämlich wie ein Gong bei jedem Beben]
beginnt, uns eine Vorstellung von der Verteilung des Stoffes nach Dichte und Starre unterhalb
der von den Geologen sezierten Gesteinskruste zu geben. Bald, so hofft man, wird man mit Hilfe
eines engen Netzes geodätischer Punkte [das dank der augenblicklichen Zeitübertragung durch
Radiowellen mit absoluter Genauigkeit aufgebaut werden kann] die geometrische Form des
Erdballes in jedem Augenblick so genau festlegen können, daß es möglich sein wird, neben der
genauen Gestalt des irdischen (66) Geoiden auch die Veränderung dieser Gestalt zu erkennen:
13 (FN 9) Es ist klar, daß der Autor mit dieser Metapher die geologischen Phänomene nicht denen der Kristallisation gleichstellen wollte. [Anmerkung des Herausgebers.]
30
dann werden sich uns die Dehnungen, Zusammenziehungen, die Spasmen aller Art kundtun, die
aus vielfachen Ursachen wahrscheinlich den noch flüssigen Materietropfen befallen, dessen Lauf
uns mitreißt. Wenn wir in unseren Messungen zu dieser Vollkommenheit gelangt sind, werden
wir gewiß viel besser begreifen, unter dem Einfluß welcher Faktoren und unter der Herrschaft
welcher Gesetze sich nacheinander die Grundzüge des geographischen Reliefs gebildet und dann
wieder verwischt haben. Nachdem wir geduldig, Schritt für Schritt, die großen Linien der Welt
rekonstruiert haben, werden wir dann endlich in der Lage sein [das ist das Ideal aller
Wissenschaft], aus einigen einfachen Gegebenheiten die Gestalt der Erde abzuleiten.
Aber warum den, so könnte man sagen, diese Mühe? Weshalb eine solche Freude empfinden, da
wir die Physiognomie dieser gewaltigen und langweiligen Kugel besser sehen, deren Oberfläche
uns gefangen hält? Was beugt denn den Menschen unwiderstehlich über die nutzlose Aufgabe,
die Erde zu begreifen?
Die Antwort ist leicht.
Was vor allem seit einem Jahrhundert, das Bemühen tausender von Geologen und Forschern
trägt – was noch vor einem Monat den Major Shackleton unter dem Beifall eines Volkes in das
trostlose Packeis der Antarktis trieb, ist das heilige Verlangen nach Wissen.
Hartnäckig glaubt der Mensch, weil ein geheimer Instinkt ihn treibt und eine lange Erfahrung
ihn gelehrt hat, daß keine Partikel der Wahrheit unfruchtbar ist, daß vielmehr die geringste
wissenschaftliche Entdeckung ein unersetzliches Element ist, ohne das das volle Erwachen
seines Bewußtseins, das heißt die Fülle seiner Seele, nicht vollendet werden wird. Die Erde war
ihm verbunden als ein ungeheures (67) Problem. Er hat sich auf sie gestürzt. Wer wagte zu sagen,
er sei aus dieser Berührung mit dem Unbekannten nicht größer hervorgegangen?
– Es fertiggebracht zu haben, die gegenwärtige und vergangene Gestalt der Erde zu bewältigen,
so wie wir sie heute bewältigen, ist ein vierfacher und großartiger Sieg über diese erdrückenden
materialisierenden Wirklichkeiten, die Ausdehnung, Dauer, falsche Unveränderliche,
Zerstreuung der Dinge und Kräfte heißen.
– Zunächst Sieg über die Ausdehnung, weil es uns mikroskopischen, in einen Horizont von
einigen Kilometern eingegrenzten Wesen gelungen ist, die fast unendliche Ausweitung der
Materie zu überwinden, deren Nähe uns erdrückt, und in einem Punkt unseres Geistes die
endlosen Längen der Gebirge, die verzweifelnde Weite der Meere und Kontinente zu
synthetisieren.
– Dann Sieg über die Dauer, weil wir, die wir von Natur aus in einem fast augenblickshaften
Schnitt der Zeit gefangen sind, mit unserem Bemühen ans Ziel gelangt sind, die Ebenen der
Vergangenheit zu zerlegen und sie vor unserem Blick voneinander getrennt in einer
befriedigenden Perspektive zu halten… Erinnern wir uns an die in den Pyrenäen bereits
zerfallenen tertiären Ketten, die sich doch noch in den Anden oder in Alaska bewegen. Erinnern
wir uns an die unendlichen, aus den Tiefen der Vergangenheit aufsteigenden Steinwogen: die
Karbonalpen vor den tertiären Alpen; die silurischen Alpen vor den Karbonalpen; die
huronischen Alpen vor den silurischen Alpen; und schließlich vor den huronischen Alpen die
ganze Reihe anonymer Ketten, die so abgenutzt sind, daß jede von ihnen sozusagen nur noch
eine geologische Schicht im Sockel der ältesten Kontinente bildet…
– Und auch ein Sieg über die falschen Unveränderlichen, das heißt über die Naivität, die uns
glauben lässt, alle Dinge (68) seien immer so gewesen, wie wir sie seit Menschengedenken sehen.
Denken wir an die Kontinente, die sich eines Tages von Sibirien nach Kanada, von Australien
nach Brasilien quer durch den Atlantik erstreckten… Denken wir an die tiefe Flut an der Stelle
31
der Alpen und des Himalaya… Öffnet sich unser Geist beim Gedanken an diese Dinge für viele
andere Veränderungen?...
– Schließlich ein Sieg über die Zerstreuung. Und dieser letzte Triumph faßt alle anderen
zusammen, weil er eine Art Schöpfung ist. Ebenso wie in einem arbeitsamen und bewußten
Menschenleben die ursprünglich zusammenhanglosen Elemente ererbter Leidenschaften und
erworbener Eigenschaften sich schließlich zu einer eigenständigen Persönlichkeit verbunden
haben, die der wirkliche Mensch ist, so haben auch die unverbundenen Züge der irdischen
Topographie durch unser Bemühen eine Art Gestalt angenommen. Wo der erste Blick unserer
Augen nur zusammenhanglose Verteilung von Höhen, Festländer und Wasser erfaßte, ist es uns
gelungen, ein haltbares Netz wirklicher Beziehungen zu knüpfen. Wir haben die Erde beseelt,
indem wir ihr etwas von unserer Einheit mitteilten.
Und jetzt will in befruchtendem Neu-Hervorbrechen dieses Leben, das unsere Intelligenz der
größten Materiemasse, die zu berühren uns gegeben ist, eingeflößt hat, in uns in neuer Form
aufsteigen. Nachdem wir in unserer Schau der Erde aus Eisen und Stein ihre ‹Persönlichkeit›
gegeben haben, widerfährt es uns, daß wir ein ansteckendes Verlangen spüren, unsererseits
selbst mit der Summe unserer Seelen ein ebenso umfassendes geistiges Gebäude aufzurichten
wie jenes, das wir aus der Arbeit der geogenen Ursachen hervorgegangen sehen. Sueß, an dessen
Namen wir zu Beginn erinnerten, bemerkt, daß sich um die ganze Gesteinssphäre, deren
physische Wechselfälle er so meisterhaft (69) beschrieben hatte, eine wirkliche Schicht belebter
Materie breitet, die Schicht der Lebewesen und der Menschen, die Biosphäre. Der große
erzieherische Wert der Geologie ist dieser: da sie uns eine wahrhaft eine Erde, nämlich eine Erde
zeigt, die nur einen Leib bildet; da sie ein Gesicht hat, erinnert sie uns an die Möglichkeiten
immer höherer Organisation, die in der Zone des Denkens angelegt sind, die die Welt umhüllt.
Wahrlich, es ist nicht möglich, wie gewohnt die Augen auf die großen, von der Wissenschaft
aufgedeckten Horizonte zu richten, ohne daß ein dunkles Verlangen aufsteigt, zu erleben, daß
sich ein wachsendes Kennenlernen und eine wachsende Zuneigung unter den Menschen
anknüpfe, bis er schließlich unter der Einwirkung irgendeiner göttlichen Anziehung nur noch
ein Herz und eine Seele auf dem Antlitz der Erde gebe.
Études, 5.-20. Dezember 1921.
Die folgenden, Briefen Pater Teilhard de Chardins an den bedeutenden Geologen T. Termier
entnommenen Stellen zeigen die jüngsten Ansichten des Autors dieses Artikels:
25. Januar 1953: «[…] Grundsätzlich beschränken Sie sich auf die Vorstellung geologischer
Bewegungen rein repetitiver – und nicht additiver Art. Mit anderen Worten, Sie vertreten die
Ansicht, daß außerhalb des Lebens, das sich additiv entwickelt, im oszillierenden Spiel der
Sedimentation alles übrige konstant, ‹aktuell› bleibt.
Doch, ist das so sicher?…
Was mich betrifft, so kann ich mich der Evidenz [oder zumindest dem Verdacht] nicht
verschließen, daß unter dem pulsierenden Rhythmus der Transgressionen und Regressionen
eine gewisse Zahl von Grund-‹Wogen› oder Strömungen weitergeht. Vielleicht langsame und
fortwährende (70) Evolution in der Zusammensetzung der Atmosphäre und der Hydrosphäre?
Vor allem aber schrittweise und irreversible Ausdehnung und Anhebung der Kontinente [durch
Granitisierung der Lithosphäre?].
32
Unter diesem Gesichtspunkt wäre das geologische Studium der Biosphäre nicht mehr nur
einfach die Analyse der tierischen und pflanzlichen Artenbildung in Beziehung zu einer
monotonen Oszillation der geographischen Konturen der Erde. Das wirkliche Problem wäre
vielmehr dieses: Wie soll man die Beziehungen [oder Nicht-Beziehungen] zwischen zwei
Evolutionen aufdecken und definieren, die gleichzeitig im Laufe der geologischen Zeiten
weitergehen?
‹Evolution der Kontinente› und ‹Biogenese› oder, was auf dasselbe herauskommt, nur etwas
genauer: ‹Kontinentalisation› und ‹Speziation› [oder ‹Zerebration›].»
17. März 1954: «[…] Es wäre für Sie als Gesteinskundler interessant, zu entdecken, daß sich
unter den aufeinanderfolgenden Wogen der Ereignisse eine Flut [Trift] verbirgt, in der [trotz der
Phänomene bei den Magmen, in mehreren Millionen Jahren Abstand neu zu beginnen]
irgendeine kontinuierliche chemische Veränderung in der Lithosphäre zum Ausdruck kommt.
Durch Verdickung der Kontinente werden die Ausbrüche des ‹Plutonischen› zweifellos seltener
oder weniger ergiebig. Doch sollte es nicht überdies mit der Zeit irgendeine schrittweise
Veränderung des Plutonischen selbst geben?
Zur Frage der Megatektonik […] möchte ich Ihnen nur sagen: 1. daß ich nicht sehr an die
Senkung der Kontinente glaube; 2. und daß ich ein gewisses Mißtrauen der den Geosynklinalen
verliehenen Bedeutung gegenüber hege. Nicht daß ich ihr Vorhandensein leugne, – vielmehr
frage ich mich, ob man ihnen nicht eine Art absoluten Wert und endgültige Lokalisierung
beimißt, die sie vielleicht nicht (71) haben. Instinktiv [auf Grund dessen, was ich habe sehen
können] sind die ‹Geosynklinalen› einfach Bindeglieder [aller Größenordnungen], die sich
entweder zwischen Kontinenten oder auch zwischen Kontinentbruchstücken bilden [und
‹felsträchtig› werden]. Instinktiv würde ich also der Geologie der marinen Transgressionen und
der Geologie der Geosynklinalen [die beide dem großen Haug, der uns alle geprägt hat, so teuer
sind] eine Geologie vorziehen, die sich auf die Genese der Kontinente gründet und ausrichtet.»
11. November 1954: «Ich habe Ihr Buch [‹Formation des Continents et Progression de la Vie›]
vor mir liegen […]. Am meisten gefällt mir an Ihrem Versuch der Synthese diese grundlegende
These, daß es eine schrittweise Genese des Sial gibt – und daß die Kontinente nichts anderes
sind als die Summe der verschiedenen Kerne [die peripherisch gewachsen und nach und nach
miteinander verschweißt sind] dieser fortschreitenden Silifikation der Lithosphäre. […] Ich frage
mich immer mehr, ob nicht die quartäre Eiszeit in der Geschichte der Erde zumindest durch ihre
Intensität gerade eben ein Phänomen absolut neuer Art sei: ein Phänomen, das gerade an einen
kritischen Wert gebunden ist, der am Ende des Tertiärs durch die planetare Kontinentalisation
erreicht war… Unter diesem Gesichtspunkt müßten die permo-karbonischen ‹gondwanischen›
und präkambrischen Vergletscherungen als Folgen der ‹Vorläufer›-Stöße in der
Kontinentalisation verstanden werden; doch sie hätten bei weitem nicht die Intensität [noch den
Charakter ‹endgültiger Herrschaft›] der quartären Vergletscherungen gehabt. Und es hätte
wirklich keine Eiszeitperioden zwischen dem Perm und dem Quartär gegeben.
[Selbstverständlich kann ich, da ich nicht an die Trift, sondern an die Ausdehnung der
Kontinente glaube, die Vorstellung der Wanderung der Eiskappen (72) nicht ernst nehmen, die
früher von Grabau vertreten wurde – und kürzlich noch, so glaube ich, von K. M. Creer aus
Cambridge, der sich auf den Restmagnetismus der Gesteine stützt.]
Diese etwas ‹wilden›, wie man hier sagt, Überlegungen werden Ihnen beweisen, wie sehr mich
Ihre Seiten angeregt haben.
33
Fahren Sie fort, die Geologen daran zu erinnern, daß vernünftigerweise nach so vielen Analysen
der Augenblick der Synthese vielleicht gekommen ist. Da wir zu sehr die Wellen zählten, waren
wir dabei, die Flut zu vergessen… Darauf machen Sie uns aufmerksam. Und Sie haben recht.» (73)
III
ÜBER DAS GESETZ DER IRREVERSIBILITÄT IN DER
EVOLUTION
Dieses Gesetz ist nicht der Paläontologie eigentümlich, vielmehr wird es beständig in allen
Wissenschaften vorausgesetzt oder bewahrheitet, die sich mit physischen Wirklichkeiten
[Soziologie, Linguistik, Physik…] befassen. Es wird überall dort angewendet, wo es Vererbung
gibt. Sobald nämlich ein Wesen Spuren jeder Phase aufspeichert, durch die es hindurchgeht, ist
es auf Grund seines Baues unfähig, genau zu irgendeinem der Zustände zurückzukehren, durch
die es hindurchgegangen ist.
Theoretisch erscheint das Gesetz der Irreversibilität also in seiner Existenz nicht bestreitbar.
Praktisch ist seine Anwendung sehr schwierig, weil die Irreversion [die a priori sicher ist]
schwierig feststellbar sein kann, vor allem wenn es sich um einfache Formen oder Zustände
handelt, zwischen denen die Konvergenz leicht für eine Identität gehalten werden kann.
Viele Schwierigkeiten, denen man bei der paläontologischen Anwendung des Gesetzes der
Irreversibilität begegnet, scheinen darauf zurückzuführen zu sein, daß man Irreversibilität und
Orthogenese verwechselt. Die beiden Begriffe sind offensichtlich voneinander sehr verschieden.
Die Irreversibilität ist noch weit davon entfernt, sich immer durch eine Entwicklung in ein und
derselben Richtung [Orthogenese] zu bekunden. Sie erlaubt vielmehr in der Geschichte der
Formen, die ihr gehorchen, alle möglichen Rückbildungen und Umwege [z.B. kann ein Zahn mit
spitzen Erhebungen an Größe abnehmen und dann wieder sehr groß werden, indem er eine
Mahlform annimmt]. Weil man diese Anpassungsfähigkeit nicht begriffen hat, hat man geglaubt,
in dem Gesetz ‹von Dollo› Fehler zu finden, oder aber man hat sich verpflichtet geglaubt, (75) um
es zu retten, die genealogischen Stämme übertrieben zu vermehren.
Recht begriffen, scheint das Gesetz der Irreversibilität allen sachlichen Einwendungen zu
widerstehen, die man bisher dagegen vorbringen konnte. Es ‹bewährt› sich in seinen
Anwendungen. Und diese Bewährung ist für uns sehr erfreulich, denn wenn die Reversion
möglich wäre, hätten wir in der Paläontologie mit einem unmöglich zu entwirrenden Knäuel von
Formen zu kämpfen.
L’Anthropologie, Band XXXIII. Mitteilung Pierre Teilhard de Chardins
in der Sitzung der Anthropologischen Gesellschaft vom 21. März 1923. (76)
IV
DIE HOMINISATION
Einführung zu einem wissenschaftlichen Studium des menschlichen Phänomens
Die folgenden Seiten versuchen nicht, unmittelbar irgendeine Philosophie darzulegen; im
Gegenteil, sie wollen ihre Kraft aus dem Bemühen um Vermeidung jeder Zuflucht zur
Metaphysik schöpfen. Sie haben sich vorgenommen, eine so objektive und naive Schau wie
34
möglich von der [in ihrer Gesamtheit und in ihren Zusammenhängen mit dem Universum] als
ein Phänomen betrachteten Menschheit zu geben.
Welchen Eindruck würde die Menschheit auf uns machen, gelänge es uns, sie mit demselben
Blick wahrzunehmen, den wir auf die Trilobiten und die Dinosaurier werfen? – und umgekehrt,
wie würden uns zoologisch die Trilobiten und die Dinosaurier erscheinen, gelänge es uns, sie ein
für allemal in unseren Perspektiven in eine Reihe mit der Menschheit zu stellen? Diese Frage
wird in dieser Studie angegangen.
Diese Frage muß gestellt und gelöst werden. Eine Menge Gelehrter befaßt sich mit menschlicher
Anatomie, Physiologie, Psychologie und Soziologie. Eine Anzahl anderer erforscht die
Eigenschaften oder die Geschichte des Lebens und der infrahumanen Substanzen. Doch ist
bisher noch fast kein Bemühen wirklich versucht worden, um diese beiden Bereiche in Einklang
zu bringen. Wie eng in der Natur auch das Menschliche und das Nichtmenschliche verbunden
sein mögen, wir betrachten sie hartnäckig von zwei vollständig verschiedenen Standpunkten
aus: in der Praxis, wenn nicht in der Theorie, handeln die Forscher und Denker fast immer so, als
ob selbst vor der Wissenschaft [die sich doch nur mit Erscheinungen und Antezedenzien befaßt]
der Mensch ein bestimmtes Universum wäre und (77) alles das, was nicht der Mensch ist, ein
anderes Universum. Allein, oder fast allein, die Anatomie und die Morphologie haben versucht,
die Verbindung zu verwirklichen, das heißt, den Menschen entschlossen als ein Element ihrer
wissenschaftlichen Konstruktion zu betrachten. Doch, weil sie in einem engen Bereich oder mit
enggleisigen Methoden vorgegangen sind, haben sie den menschlichen Wert verstümmelt, das
menschliche Phänomen seiner spezifischen Eigenschaften entleert, und es ist ihnen meistens
nur gelungen, unsere Ansichten über die Ordnung des Menschen in der Natur zu verdunkeln.
Der Zeitpunkt ist gekommen, von neuem auf erweiterter Grundlage einen legitimen Versuch zu
machen.
Da es, das fühlen wir alle, nicht zulässig ist, zwei verschiedene Weisen beizubehalten, die Dinge,
je nachdem, ob sie sich innerhalb oder außerhalb der zoologischen Gruppe, in die wir gestellt
sind, abspielen, zu sehen und zu beurteilen, wollen wir versuchen, den Menschen als reine
Naturforscher zu betrachten, ohne ihm etwas hinzuzufügen, aber auch, ohne ihm etwas von dem
wegzunehmen, was wir bei irgendeiner bei uns oder auf einem anderen Planeten entdeckten
lebenden Art festhalten würden. Und das Ergebnis dieser ‹Apprehension› werden wir den
Fachleuten der Metaphysik zur Diskussion überlassen.
Das von uns vorgeschlagene Bemühen ist nicht leicht; wenn es schon für den Biologen und den
Physiker schwierig ist, in ihren Perspektiven die Welt der in ‹natürlicher Größe› gesehenen
Wesen mit der Welt der durch Berechnung entdeckten oder im Mikroskop wahrgenommenen,
unendlich kleinen Wesen wieder zu verbinden, – ist für unseren Geist die Mühe noch viel größer,
in eine erste, gänzlich von außen her erfaßte Welt [die Welt der Mineralien, der Pflanzen, der
Tiere…] eine zweite, fast gänzlich von innen her gesehene Welt [die menschliche Welt] zu
verlängern. (78) Es handelt sich für uns wirklich darum, aus unserer Sphäre zu emergieren und
uns mindestens einen Augenblick lang zu betrachten, als ob wir uns nicht kennten. Eine
derartige Umkehr oder, wenn man es vorzieht, eine derartige Entpersönlichung ist unseren
Gewohnheiten derart entgegengesetzt, daß wir eher eine Vorstellung von der Geste zu geben als
sie auszuführen hoffen können. Wir können aber versichern, hat man sie nur einfach versucht
und angedeutet, so wird man durch das mächtige dramatische Interesse belohnt, das dann die
von diesem Standpunkt aus wieder entdeckten menschlichen Alltäglichkeiten gewinnen.
35
Wer zu den Menschen mit entmenschlichten Augen [mit jenen Augen beispielsweise, die eine
lange Reise in die tiefen Bereiche der Materie und des Lebens verleiht] zurückkommt, nimmt
bestürzt wahr, daß die für unsere abgestumpften Blicke so wenig interessante Menschheit
tatsächlich in der Erfahrungswelt folgendes darstellt:
eine mit außerordentlichen Eigenschaften ausgestattete Region;
die im Universum eine unabhängige und neue Zone darstellt;
und die doch in irgendeiner Weise aus der Reifung der ganzen Erde hervorgegangen ist;
durch einen erst halb bewußten Prozeß;
in dem wir die Triebkraft und den Sinn der allgemeinen Evolution des Lebens entdecken
können.
Das möchten wir zumindest etwas spürbar machen. (79)
I. DIE BEOBACHTBAREN EIGENSCHAFTEN DER MENSCHHEIT
A. DIE SCHWACHE DIFFERENZIERUNG DES MENSCHLICHEN KÖRPERS
Das erste Charakteristikum des Menschen, wenn man ihn vom streng zoologischen Standpunkt
aus beobachtet, auf den wir uns gestellt haben, ist recht bestürzend, und es scheint kaum in
Einklang mit der Größe der Perspektive zu stehen, die wir angekündigt haben. Somatisch
unterscheidet sich der Mensch, in Anbetracht der Bedeutung, die er innerhalb der irdischen
lebenden Schicht [oder Biosphäre] gewonnen hat, erstaunlich wenig von den tierischen Formen,
inmitten deren er emergiert: er ist im höchsten Grad Primate, und als solcher bewahrt er mit
außergewöhnlicher Frische die den ältesten bekannten Säugetieren eigenen zoologischen Züge.
Reduktion des Gesichtes, Anwachsen des Gehirnteils des Schädels, zweifüßiger Stand, der mit
einer allgemeinen Umbildung des Gleichgewichtes des Körpers einhergeht, die aber keinerlei
tiefgreifende Umbildung der einzeln für sich genommenen Knochen mit sich bringt, das ist alles,
was die Osteologie uns aufzuzeigen hat, um den Menschen von den Anthropoiden zu trennen.
Die Form der Glieder, die Zahl der Finger, der Bau der Zähne, die so eigenartig ‹primitv› sind,
daß sie an ein Erdzeitalter erinnern, wo noch weder Fleischfresser noch Huftiere lebten, die
heute die Kontinente bevölkern: dieser Art sind die den Paläontologen beim Studium der
menschlichen Morphologie überraschenden Charakteristika. An den Merkmalen gemessen, die
man gewöhnlich nimmt, um die anderen Tierformen untereinander zu trennen und in Reihen
anzuordnen, unterscheidet sich der Mensch weniger von den Affen als der Vogel von den
Reptilien oder (80) Seehund von den übrigen Fleischfressern. Er verdient nicht, zoologisch mehr
als eine Familie oder eine Unterordnung zu bilden: die Hominiden oder die Homininen.
Diese erste Besonderheit des Menschen [nämlich seine geringe morphologische Differenzierung,
die in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu der Größe seines biologischen Einflusses steht]
ist keineswegs, wie immer es auch zunächst scheinen mag, ein restriktives oder negatives
Charakteristikum. Ganz im Gegenteil, in Verbindung mit den anderen Eigenschaften der Art
gewinnt sie [wie wir bald sehen werden] einen entscheidenden und positiven Sinn, der ihr unter
den für die Transzendenz des menschlichen Phänomens symptomatischsten Kennzeichen einen
Platz zuweist. Es muß jedoch klar erkannt werden: das Fehlen leicht und absolut
unterscheidender Züge in der äußeren Physiognomie unserer Rasse läßt die Systematiker leicht
dazu neigen, die wissenschaftliche Bedeutung unseres Auftretens zu unterschätzen. Es hat auf
jeden Fall gewiß dazu beigetragen, unter den Naturforschern den Eindruck zu verbreiten, der
Mensch sei für die Wissenschaft ein paradoxes Mischwesen, in das sich nicht mit Gewißheit die
für die anderen Tierkategorien errichteten Konstruktionen verlängern lassen. In seinen
individuellen Eigenschaften zoologisch betrachtet, läuft der Mensch Gefahr, unbemerkt,
36
verkannt inmitten der ihn umgebenden Lebewesen zu bleiben, oder aber er scheint im Gegenteil
unter ihnen entwurzelt ohne gemeinsames Maß. Um die Größe des menschlichen zoologischen
Faktums richtig herauszustellen, ohne über die gemeinsamen Erscheinungsformen rasch
hinwegzugleiten und ohne es aus seinem Erfahrungsrahmen zu lösen, müssen wir unseren Blick
der Betrachtung einer zweiten Eigenschaft der Menschheit zuwenden, die die erstaunliche
Eigenständigkeit unserer zoologischen Gruppe deutlicher, wenn auch immer noch im Bereich
der greifbaren Dinge (81) zu offenbaren beginnt: ich meine das wahrhaft einzigartige Vermögen
der Ausbreitung und Eroberung.
B. DIE MENSCHLICHE INVASION
Schon vom rein geographischen Standpunkt aus ist die Ausbreitung der menschlichen Art
außergewöhnlich, so außergewöhnlich, daß es die ganze durch die Gewohnheit auf die
Lebendigkeit unserer Eindrücke ausgeübte, unheilvolle Macht braucht, um uns zu hindern, zu
spüren, was das Schauspiel des menschlichen Aufstiegs durch das Leben hindurch, das
Schauspiel der die Erde überdeckenden menschlichen Flut Wunderbares an sich hat. Lassen wir
die gewaltigen Massen lebender Materie [Mikroben, Plankton oder anderes] beiseite, die den
fast amorphen Grund der Biosphäre bilden; ein berechtigtes Vorgehen, da in diesen niederen
Zonen bei der äußersten Kleinheit der Elemente noch ihre unorganisierte Anhäufung, ihre
globale Passivität und alle Arten von Analogien mit den azoischen Kreisen der Welt
vorherrschen. Beschränken wir also unsere Beobachtungen und unsere Vergleiche auf die
höheren Kategorien der Lebewesen, das heißt auf jene, bei denen eindeutig über die
osmotischen oder kapillaren Phänomene die spezifische Form des Organismus; über die
Bewegungen des Treibens oder des fast pflanzlichen Wucherns die spontane Anordnung der
Paare und der Individuen vorherrschen. Leisten wir überdies die heilsame Denkbemühung, die
darin besteht, zeitweilig aus unserer gegenwärtigen Erde auszuwandern, um mit der Geologie
und der Paläontologie das verschwundene Antlitz der früheren Zeitalter in den Blick zu
bekommen. Anschließend kehren wir zu uns selbst zurück: wir stehen sprachlos vor dem
zoologischen Triumph der Menschheit. (82)
Gewiß, zu bestimmten Zeiten sehen wir die Kontinente von verschiedenen Amphibien und
Reptilien bedeckt. Doch diese aufeinanderfolgenden Invasionen, die mit Recht unsere
Bewunderung erregen, sind von der menschlichen Invasion sehr verschieden. Amphibien oder
Reptilien, um nur von ihnen zu sprechen, stellen keine einfachen Gruppen des Lebens dar. Unter
diesen etwas künstlichen Namen, die eher Ausdruck für einen allgemeinen Typus des Lebens als
für ein streng zusammengehörendes Ganzes sind, vereinigen wir eine unermeßliche
Mannigfaltigkeit komplexer Dinge, fassen wir ein sehr weitmaschiges Netz auseinanderfallender
oder einander feindlicher Formen zusammen. Die Menschheit dagegen [und das ist, wie wir
sagten, ihr erstes Charakteristikum in den Augen der Naturforscher] bildet ein morphologisches
Ganzes von einer fast verwirrenden Einfachheit und Homogenität. Osteologisch gesprochen,
unterscheidet sie sich nur sehr wenig von den anderen Primaten. Einfache, häufig schwer
festzulegende Nuancen trennen zumindest in unseren Tagen die sie bildenden Rassen. Nun, in
dieser Einheit, die in gewisser Weise aus einem morphologischen Fast-Nichts gebildet ist [trotz
dieser Einheit], liefern die Menschen dem Zoologen das Beispiel eines vitalen Erfolges, mit dem
nichts verglichen werden kann. Wenn auf unsere als vollkommen fossil angenommene Erde
irgendein Paläontologe von einem anderen Planeten herabstiege, würde er aus der einfachen
Besichtigung unserer erkannten und eingeordneten Gebeine schließen, ohne auch nur die
Spuren der Bauwerke und der Verbindungen festzustellen, mit denen wir uns noch zu
beschäftigen haben werden, daß das irdische Quartär von einem biologischen Phänomen
37
gekennzeichnet gewesen ist, zu dem es nichts Gleichwertiges in irgendeiner anderen
zoologischen Epoche gibt. Mit wunderbarer Schnelligkeit [in Hinsicht auf den äußerst langsamen
(83) Rhythmus der allgemeinen Ereignisse des Lebens] erobert der Mensch die Erde. Wie ein
Feuer manchmal unheilvoll wird, weil es wirkt, assimiliert oder eliminiert er alles Leben, das
nicht von einer von der seinen allzu verschiedenen Größenordnung ist. Und wenn hier und dort
andere lebende Gruppen wider ihn mit kosmopolitischen Fähigkeiten zu ringen scheinen, so
häufig deshalb, weil er sie mit sich drängt und sie zu Nutznießern seines eigenartigen
Vermögens der Verbreitung und Eroberung macht. Ob man es bedauert oder nicht, der Mensch
ist dabei, in seinem Schatten die übrigen Tiere umzuformen oder aussterben zu lassen. Hat nicht
Professor Osborn kürzlich mit einer gewissen Besorgnis die Frage gestellt: «Können wir die
Säugetiere retten?»
Niemals hat ein höheres Lebewesen zu irgendeiner Zeit die Erde so extensiv besetzt wie der
Mensch. Das ist die harte greifbare Tatsache, die die Aufmerksamkeit der positivistischsten
Köpfe auf das menschliche Ereignis lenken und sie ein Geheimnis vermuten lassen muß. Treiben
wir die Analyse dieser Tatsache weiter voran und fragen wir uns jetzt, ob es keine Möglichkeit
gibt, qualitativ [wenn auch immer vom strengen Standpunkt der Erfahrung aus] die quantitativ
so bemerkenswerte Schicht der Menschheit zu charakterisieren. Es scheint durchaus möglich zu
sein. In der Geschichte des Lebens treten mit dem Menschen zwei absolut neue Eigenschaften
auf, die man wissenschaftlich nicht übersehen darf, ohne die Tatsache seiner Invasion in ihrem
Prozeß unerklärbar zu machen und ohne sie in ihrem Ziel zu entstellen. Es sind: die Entdeckung
des künstlichen Werkzeuges durch die Individuen; und die Verwirklichung einer organisch
verknüpften Einheit durch das Kollektiv. Untersuchen wir einen nach dem anderen diese beiden
Aspekte des menschlichen Phänomens näher. (84)
C. DIE WERKZEUGLICHE PHASE DES LEBENS
Vor dem Menschen und außerhalb des Menschen fehlt das Werkzeug nicht, ganz im Gegenteil;
doch außer ungewöhnlichen, fast abwegigen, auf jeden Fall streng begrenzten14 Fällen zeigt es
die Besonderheit, daß es mit dem Organismus verschmolzen ist, der es benutzt. Monsieur L.
Cuénot ist meines Wissens der erste, der klar die [sehr einfache, aber tiefe] Feststellung gemacht
hat, daß alles, was wir zoologisch Phyla nennen, nichts anderes darstellt als die Transformation
eines Gliedes oder des ganzen Körpers in ein Werkzeug. Der Maulwurf ist ein Grabwerkezug und
das Pferd ein Laufwerkzeug, der Tümmler ein Schwimmwerkzeug und der Vogel ein
Fliegwerkzeug. In diesen verschiedenen Fällen gibt es eine werkzeugliche Besonderheit für jede
Gattung, jede Familie oder zoologische Ordnung. Anderswo, zum Beispiel bei den sozialen
Insekten, sind ausgewählte Individuen allein mehr oder weniger vollständig zu Kriegs- oder
Fortpflanzungswerkzeugen umgebildet. Doch in allen Fällen verschmilzt das Werkzeug mit dem
Körper, das Lebewesen geht in seine Erfindung ein.
Mit dem Menschen ändert sich alles. Das Werkzeug wird dem Glied äußerlich, das es benutzt;
und diese ganz neue Handlungsweise bringt zwei Konsequenzen mit sich, die die Geschichte des
Lebens von der Menschheit an tiefgreifend beeinflussen: zunächst, das ist evident, einen
äußersten Machtzuwachs [an Mannigfaltigkeit und an Intensität], in dem man einen der
wichtigsten Erfahrungsfaktoren für den menschlichen Erfolg suchen darf; weiter, und das ist (85)
ein unerwartetes Faktum, ein plötzliches Nachlassen in der sichtbaren Fähigkeit der
Organismen, sich weiterzuentwickeln.
14 (FN 1) Zum Beispiel das Spinnennetz. Kürzlich wurde der recht eigenartige Fall gewisser Ameisen zitiert, die Blätter zusammennähen, indem sie sich ihrer Larven als Nadeln bedienen, die die Eigenschaft haben, eine Art Seide auszuscheiden.
38
Diese letzte Aussage mag etwas seltsam erscheinen. Wenn man sie bedenkt, bemerkt man, daß
sie durchaus einleuchtend ist, und zwar aus folgendem Grunde: wenn wirklich die somatischen
Differenzierungen, mit denen sich all Zoologen in erster Linie befassen, an die Transformation
von Organen in Werkzeuge gebunden sind, entgeht der Mensch, der fähig ist, Werkzeuge
herzustellen, ohne sich in sie zu inkarnieren, dem Zwang, sich zu verwandeln, um zu handeln. Er
kann also voranschreiten, ohne die Gestalt zu wandeln, in seinem Psychischen unendlich
variieren, ohne seinen zoologischen Typus zu modifizieren. Sollten wir hier nicht die teilweise
Lösung dieses Paradoxons einer Menschheit in Händen halten, in der die Charakteristika der
‹Klassifizierung› einen unbedeutenden Wert neben der Bedeutung haben, die die Gruppe in der
Biosphäre gewonnen hat? Die Menschheit erscheint uns biologisch viel mächtiger, als sie der
Systematik nach sein dürfte. Das liegt daran, daß wir gerade in der Weise, wie wir die Regel der
Systematik auf die Menschen ausdehnen, einen Fehler machen. Um den Menschen in seinem
wahren zoologischen Wert einzuschätzen, dürfte man nicht so absolut, wie wir es tun, in
unseren Perspektiven ‹natürlich› und ‹künstlich› voneinander scheiden, das heißt, das Schiff, das
Unterseeboot, das Flugzeug nicht ohne tiefgreifende Zusammenhänge mit den tierischen
Umformungen betrachten, die den Flügel oder die Flosse ergeben haben. Die Menschheit hätte in
dieser Sicht, die wir bald weiterführend wieder aufgreifen werden zumindest die Dimension,
den Wert einer zoologischen Ordnung [wie das ihrer gewaltigen Ausdehnung entspricht]; nur
bleiben für sie diese adaptativen ‹Strahlungen› in gewisser Weise exteriorisiert. (86) Dasselbe
Individuum kann abwechselnd Maulwurf, Vogel oder Fisch sein. Als einziges unter allen Tieren
hat der Mensch die Fähigkeit, Abwechslung in sein Wirken zu bringen, ohne endgültig sein
Sklave zu werden.
Dank ihrem wunderbaren werkzeuglichen Vermögen bedeckt die Menschheit die Kontinente mit
einer fast durchgehenden Hülle von Konstruktionen; sie modifiziert die Klimate und den Verlauf
der Erosion, sie bringt die Meere miteinander in Verbindung; sie gibt Ströme neuer Substanzen
in den natürlichen Kreislauf, sie wandelt das Antlitz der Erde in Ausmaßen, die uns darauf
aufmerksam machen müßten, daß ihr Auftreten für unseren Planeten die Anfänge einer neuen
Phase kennzeichnet. Doch diese große Neuordnung der Materialien, die sich in ihrer
geologischen Bedeutung mit den von den mächtigsten, innerhalb der lebendigen Formen
aufgetretenen Stämmen in der Erdrinde hinterlassenen Spuren messen können, ist noch absolut
nichts neben einer anderen, höchst bedeutsamen Tatsache, die sich uns bei der Musterung der
menschlichen Schicht offenbart. Die Menschheit bedient sich ihrer werkzeuglichen
Beherrschung der Erde nicht nur, um jede vitale Konkurrenz auszuschalten und sich eine Welt
zu bauen: sie verwendet sie, um durch sie selbst hindurch eine wirkliche organische Einheit
aufzubauen.
D. DIE ORGANISCHE EINHEIT DER MENSCHHEIT
Das ist nämlich das bewundernswerte Unterscheidungsmerkmal der von der Menschheit um
den Erdball gewobenen Hülle, daß diese Hülle nicht von grob nebeneinandergestellten oder
unregelmäßig verteilten Elementen gebildet wird, sondern dahin strebt, ein von einer
gemeinsamen Vitalität durchströmtes Netz zu bilden. (87)
Offensichtlich stellt diese bewußte Kohäsion, die wir als etwas der menschlichen Gruppe
Besonderes ansprechen, in der Welt kein vollkommen neues Phänomen dar. Die Menschheit
steht nicht außerhalb des Lebens, sondern in der Weiterführung des Lebens. Doch ebenso wie
die sogenannte physikalisch-chemische Materie uns außerhalb irgendeiner tiefen Einheit
unbegreiflich erscheint, die durch die korpuskulare Pluralität in einer gemeinsamen
Wirklichkeit gefunden wird, die wir bald Äther, bald Raum-Zeit nennen; ebenso wie die inmitten
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der ozeanischen Tiefen verlorenen Wassertropfen an allen möglichen chemischen, thermischen
oder kapillaren gemeinsamen Bindungen teilhaben, so ist auch auf einer höheren Stufe des
Wirklichen keine lebende Masse [handle es sich nun um die ganze Biosphäre oder um einen Teil
von ihr] für die Wissenschaft anders vorstellbar als von gewissen Kräften der Solidarität
durchflossen und belebt, die innerhalb des Ganzen die besonderen Formen ausgleichen und die
Gesamtströmungen bestimmen. Besonders bei den sozialen Insekten gewinnen diese kollektiven
Kräfte eine außergewöhnliche Individualität und Präzision. Tatsächlich stellt die Menschheit,
das erkennen wir, in ihrer Gesamtheit genommen, eine Einheit dieses Typs dar. Es ist sogar, wir
werden darauf noch zurückkommen müssen, dieselbe grundlegende Einheit. Doch mit welch
unerhörter Fülle und mit welch explizierter und gesteigerter Vollkommenheit.
Die Menschheit, so kann man sagen, ist ein Ameisenstaat. Doch von einem Ameisenstaat
unterscheidet sie sich, wie kann man das übersehen, durch zwei Grundzüge, die ihre Natur
tiefgreifend modifizieren. Zunächst ist sie universell, sie breitet sich über die ganze Erde aus;
und dieser Wert der Totalität scheint, wie wir sehen werden, eine besondere qualitative
Bedeutung zu haben. Dann, und hier ist (88) der Punkt, der unsere Aufmerksamkeit beanspruchen
muß, ist sie mit besonderen Verbindungsorganen ausgestattet, die nicht nur unter den
Elementen eine rasche Mitteilung sichern, sondern nach und nach auch ihr Aggregat in eine Art
Organismus verwandeln, den man fälschlich als rein metaphorisch ansehen würde.
Wahrlich, das muß ich noch einmal sagen: unser Blick auf das Leben ist durch den absoluten
Schnitt verdunkelt, unmöglich gemacht, den wir immer wieder zwischen dem Natürlichen und
dem Künstlichen machen. Weil wir als Prinzip gesetzt haben, daß das Künstliche nichts
Natürliches an sich habe [d.h., weil wir nicht gesehen haben, daß das Künstliche humanisiertes
Natürliches ist], so haben wir festgestellt, verkennen wir so klare vitale Analogien wie die des
Vogels und des Flugzeugs, des Fisches und des Unterseebootes. Unter dem Einfluß desselben
und unheilvollen Vorurteils sehen wir seit Jahren, ohne zu begreifen, wie sich vor unseren Augen
das erstaunliche System der Land-, See- und Luftwege, der Postverbindungen, Drähte, Kabel und
Ätherschwingungen bildet, die mit jedem Tag mehr das Angesicht der Erde umspannen. «Alles
nur geschäftliche oder unterhaltsame Mitteilungen», wiederholt man uns; «Herstellung von
Nutz- und Handelswegen…». Keineswegs, sagen wir; vielmehr, tiefer greifend als das, Schaffung
eines wirklichen Nervensystems der Menschheit; Erarbeitung eines gemeinsamen Bewußtseins,
Verkittung der menschlichen Menge [im psychologischen Bereich und selbstverständlich ohne
Unterdrückung der Individuen]. Während wir die Straßen, die Eisenbahnen und das Flugzeug,
die Presse, den Rundfunk entwickeln, glauben wir, uns nur zu unterhalten, nur unseren
Geschäften nachzugehen oder nur Ideen zu verbreiten… In Wirklichkeit, für einen Blick, der den
allgemeinen Plan der menschlichen Bewegungen und den der Bewegungen jedes physischen (89)
Organismus miteinander verbindet, setzen wir ganz einfach auf einer höheren Ebene und mit
anderen Mitteln die ununterbrochene Arbeit der biologischen Evolution fort.
Es wäre der Mühe wert, in einer langen, besonderen Untersuchung die verschiedenen, scheinbar
künstlichen, in Wirklichkeit natürlichen und tief wurzelnden Organe zu entdecken und zu
definieren, durch die sich das Eigenleben der menschlichen Schicht herausbildet und entwickelt.
Es würde sichtbar werde, daß so konventionelle Einrichtungen wie unsere Bibliotheken, und
unserem Leib so äußerliche Kräfte wie die Erziehung, nicht so weit davon entfernt sind, wie man
glauben möchte, für die Menschheit ein Gedächtnis und eine Vererbung zu bilden. Lassen wir
diese Überlegungen beiseite, bei denen es ebenso leicht ist, die Analogien zu übertreiben, wie
unberechtigt, sie zu unterschätzen, oder gefährlich, sie zu leugnen; und beschließen wir unsere
Bestandsaufnahme der erfahrbaren Eigenschaften der Menschheit mit der Bemerkung, daß sie
alle, die einen wie die anderen, sich aus zwei besonderen psychischen Faktoren ergeben, die
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wissenschaftlich ebenso feststellbar sind wie jede beliebige meßbare Energie: die Reflexion und
[nach der Terminologie von Édouard Le Roy] die ‹Konspiration›.
Die Reflexion, aus der die Entdeckung des künstlichen Werkzeuges und als Folge davon die
Eroberung der Welt durch die menschliche Art hervorgegangen sind: sie ist die Fähigkeit, die
jedes menschliche Bewußtsein besitzt, sich auf sich selbst zurückzuwenden, um die
Bedingungen und den Mechanismus seines Tuns zu erkennen.
Die ‹Konspiration›, aus der die ganz neue Form der Verbindung entstanden ist, die die
menschliche Schicht von allen anderen Bereichen des irdischen Lebens unterscheidet: sie ist die
Fähigkeit der verschiedenen, als Gruppe gefaßten Bewußtheiten, sich zusammenzuschließen
[durch (90) die Sprache und tausend andere, dunklere Bande], derart, daß sie ein einziges Ganzes
bildet, in dem in reflektierter Weise jedes Element sich seiner Angliederung an alle anderen
bewußt ist.
Reflexion, ‹Konspiration›: mit der Erkenntnis dieser beiden wesentlich menschlichen
Eigenschaften stoßen wir an die letzte Grenze, aber auch an die obere Grenze dessen, was uns
der Blick lehren konnte, den auf die Menschheit und auf das Leben als reine Naturforscher zu
werfen wir uns vorgenommen hatten. Ohne – so glauben wir – den Boden der Tatsachen
verlassen zu haben, halten wir in Händen, was am besten in uns die Wahrnehmung dessen
beleben kann, was es Besonderes und Einzigartiges am menschlichen Phänomen gibt. Es ist also
an der Zeit, die nächste Phase unserer Untersuchung anzugehen. Welchen systematischen
zoologischen Ort können wir in unseren Darstellungen von der Welt diesem erstaunlichen
biologischen Produkt, der Menschheit, zuweisen?
II. DIE SYSTEMATISCHE STELLUNG DER MENSCHHEIT: DIE
MENSCHLICHE SPHÄRE ODER DIE NOOSPHÄRE
Die systematische Stellung des Menschen in der zoologischen Reihe hat sich uns als ein erstes
Problem gezeigt, sobald wir begonnen haben, das offensichtliche Mißverhältnis zu ermessen, das
zwischen der geringfügigen morphologischen Variation, aus der das reflektierte Denken
hervorgegangen ist, und der gewaltigen Umwälzung besteht, die das Auftreten dieser neuen
Fähigkeit in der allgemeinen Verteilung des irdischen Lebens hervorgebracht hat. (91)
Zu diesem Problem haben wir den Anfang einer Lösung geleistet, als wir feststellten, daß die
morphologische Homogenität der menschlichen Rasse, so außerordentlich sie auch sein mag,
wenn man sie mit der inneren Vielgestaltigkeit vergleicht, zu der sich die anderen großen,
tierischen Gruppen entwickelt haben, nur scheinbar gegeben ist und auf die Erfindung
künstlicher Werkzeuge zurückzuführen ist. Die Menschheit, sagten wir, hat wie alle lebenden
Gruppen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt die Erde bedeckt haben, ihre inneren Phyla, ihre
Ausstrahlungen oder Quirle der Formen: doch, diese Phyla sind verborgen und zerstreut, denn
sie werden nicht durch Stämme von im Maße ihrer Spezialisierung differenzierten Wesen
dargestellt, sondern durch Werkzeugkategorien, deren sich ein und dasselbe Individuum
nacheinander bedienen kann. Damit erweist die menschliche Art sich etwas weniger paradox.
Trotz ihrer schwachen morphologischen Verschiebung im Vergleich zu den anderen Primaten
und trotz ihrer anscheinenden Armut an differenzierten Stämmen hat sie die Dimensionen, den
Wert, den Reichtum nicht nur einer ‹Ordnung›, sondern einer noch umfassenderen natürlichen
Gruppe. Zoologisch stellt sie für sich allein nicht nur die Fleischfresser oder die Nagetiere dar,
sondern ebensoviel wie alle Säugetiere zusammen. Damit wird eine erste Wahrheit sichtbar.
Doch müssen wir, weil die Menschheit einer Ordnung oder sogar einer Klasse an Wert
gleichkommt, deswegen aus ihr schon wirklich eine Ordnung oder eine Klasse machen? Das ist
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eine ganz andere Frage. Gewiß, diese neue Weise, die Stellung und den systematischen Wert des
Menschen zu begreifen, wäre objektiver, sie würde besser die Größe des menschlichen Faktums
berücksichtigen als jene, die darin besteht, unsere Gruppe als Unter-Ordnung oder Familie
inmitten der Affen untertauchen zu lassen. Auf der anderen Seite aber (92) hätte sie auch einen
großen Nachteil: nämlich die Harmonie unserer zoologischen Einteilungen zu verzerren, ohne
dafür den Wert und die spezifische Neuheit der menschlichen Art herauszustellen. Die
Menschheit zur Würde der Ordnung oder der Klasse erheben, hieße voraussetzen, daß sie ohne
Verstümmelung oder Entstellung sich in ein Klassifizierungssystem einfügt, das ausdrücklich für
eine Zone de Lebens geschaffen wurde, in der jede Änderung des Tuns in eine Änderung des
Organs übertragen wird. Von diesem Gesetz ist der Mensch aber nicht nur ausgenommen,
vielmehr ist er von ihm gerade durch das Wirken der psychischen Eigenschaften ausgenommen,
die die Ursache seiner erfahrbaren biologischen Bedeutung bilden.
Hier zeigt sich vollends der Ernst des Problems, das den Naturwissenschaften durch die Existenz
des Menschen gestellt ist. Man möge gut festhalten: wenn wir davon sprechen, den
systematischen Wert der menschlichen Gruppe zu steigern, geht es nicht darum, sie tendenziös
im Hinblick auf irgendeine spiritualistische These zu verherrlichen. Es geht einzig darum, die
Wissenschaft zu retten. Ist es möglich, zugleich sowohl den Wert der somatischen
Charakteristika, die von der Systematik gewählt wurden, um die Lebewesen hierarchisch zu
ordnen, und die höchste Originalität [zugleich mit der tiefen Einwurzelung in der
Erfahrungswelt] des Phänomens zu wahren? Das ist im Grunde die Frage.
Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, sehen wir nur eine Möglichkeit. Nämlich auf Grund der
Berücksichtigung einmaliger Kategorien auszusagen, der Mensch stelle, so gebunden er auch an
die allgemeine Entwicklung des Lebens sein mag, am Ende dieser Entwicklung eine absolut neue
Phase dar; sein Auftreten sei nicht nur mit der Isolierung einer Klasse oder sogar eines Reiches
innerhalb des Lebens, sondern mit etwas wie dem Aufbrechen des Lebens (93) innerhalb der
Materie gleichzusetzen. Wir beginnen zu begreifen, die natürlichste Einteilung, die es von den
Elementen der Erde gibt, muß in Zonen, in Kreisen, in Sphären erfolgen; und unter diesen
konzentrischen Einheiten muß die organisierte Materie selbst ihren Platz finden. Klarer als
andere hat der Geologe Sueß den tellurischen Wert der geheimnisvollen lebendigen Hülle
definiert, die in der Morgenröte der geologischen Zeiten rings um unsere stellare Einheit zu
entstehen begann. Nun, wir schlagen hier vor, trotz allem, was diese Anschauung auf den ersten
Blick an Maßlosem und Phantastischem an sich haben mag, die denkende Hülle der Biosphäre
als der gleichen zoologischen [oder, wenn man will, tellurischen] Größenordnung zugehörig zu
betrachten wie die Biosphäre selbst. Je mehr man sie bedenkt, erscheint diese extreme Lösung
als die einzige aufrichtige Lösung. Wenn wir nicht daran verzweifeln, den Menschen in die
allgemeine Geschichte der irdischen Einheit einzufügen, ohne ihn zu verstümmeln – und sie zu
desorganisieren, müssen wir ihn über sie stellen, ohne ihn aber deswegen aus ihr zu entwurzeln.
Und das läuft auf die eine oder andere Weise darauf hinaus, daß wir uns oberhalb der tierischen
Biosphäre eine menschliche Sphäre vorstellen, die Sphäre der Reflexion, der bewußten
Erfindung, der empfundenen Vereinigung der Seelen [die Noosphäre, wenn man so will], und als
Ursprung dieser neuen Entität ein Phänomen spezieller Transformation setzen, die das
präexistente Leben ergriff: die Hominisation. Das Menschsein kann nicht weniger sein als das,
ohne zu verlieren, was seine am besten gesicherten physischen Charakteristika ausmacht, oder
[was ebenso nachteilig wäre] ohne unter den anderen irdischen Gegenständen eine
wissenschaftlich unmöglich zu lokalisierende Realität zu werden. Entweder ist es ein Faktum
ohne Präzedens und ohne Maß: und dann würde es sich (94) nicht in unseren natürlichen Rahmen
einfügen, das heißt: unsere Wissenschaft ist eitel. Oder aber sie stellt eine neue Windung in der
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aufsteigenden Spirale der Dinge dar; und in diesem Falle sehen wir keine andere Windung, die
ihm unterhalb seiner entspricht, außer dem allersten Organisch-Werden der Materie. Dem
Erscheinen des reflektierten Bewußtseins kann nichts verglichen werden, es sei denn das
Auftreten des Bewußtseins selbst.
Damit sind wir an den Höhepunkt der vorliegenden Untersuchung gelangt. Viele werden sich
weigern, uns weiter zu folgen, und uns erklären, wir böten ihnen einen Traum an. Das hat seinen
Grund darin, daß sie die Augen noch nicht für die außerordentliche Einzigartigkeit des
menschlichen Ereignisses geöffnet haben. Doch räumen wir ein, es handle sich wirklich um
einen Traum: es gefällt uns, diesen Traum bis zu Ende zu verfolgen, um zu sehen, wieviel besser
die Unermeßlichkeit und die Tiefe der Welt sich in unserem Traum harmonisieren als in der
engen Wirklichkeit, in der man uns zurückhalten möchte. In unserer wissenschaftlichen
Darstellung der irdischen Welt einen natürlichen Einschnitt erster Ordnung an der Basis der
menschlichen Schicht ansetzen, heißt zunächst, die Haupteigenheiten dieser Schicht gewaltlos
erklären; und weiter den innersten Gang der biologischen Evolution in einer wahrscheinlichen
Sicht erhellen.
A. DIE GEBURT UND DIE STRUKTUR DER MENSCHLICHEN SCHICHT: DIE HOMINISATION
Diskontinuität heißt noch nicht Bruch. Die ganze Perspektive, deren Objektivität wir hier
verteidigen, ist an die klare Einsicht dieser elementaren Wahrheit gebunden, (95) über die uns zu
vergewissern uns tausend den physikalischen Zustandsänderungen der Körper und der
Entwicklungen geometrischer Figuren entlehnte Analogien gestatten.
Betrachten wir zum Beispiel einen Kegel und verfolgen wir in diesem Kegel die schrittweise
Verkleinerung der Querschnitte im Verlauf einer fortwährenden, von der Basis zur Spitze
gerichteten Verschiebung. Nichts ist von einem Punkt verschiedener als eine Fläche. Und doch
ergibt sich aus der von uns gewählten Bewegungsrichtung und den Eigenschaften des Kegels,
daß eine der Achse des Körpers folgende gegebene Progression, nachdem sie lange Zeit nur zum
Ergebnis hatte, den Inhalt der uns begegnenden Fläche zu verkleinern, ohne ihre Natur zu
verändern, in einem gegebenen Augenblick auf die Fläche den Punkt folgen läßt. Der Kegel hat
seine Spitze hervorgebracht. Eine neue Wirklichkeitsordnung enthüllt und verwirklicht sich
durch die Evolution.
Übertragen wir dieses Symbol auf die uns beschäftigende Frage: Die Schwierigkeit, das
Menschsein wissenschaftlich zu begreifen, so stellten wir fest, liegt in der verwirrenden
Mischung, die es an durchaus alten und absolut neuen Charakteristika zeigt. Angesichts dieser
Verbindung zaudern und scheiden sich die Geister. Die einen, die allzu einseitig Zoologen sind,
lassen uns in der niederen tierischen Masse versinken: sie sehen nur die Evolution. Die anderen,
in naiver Weise Spiritualisten, isolieren uns und machen aus unserer Gruppe eine Art auf den
großen Wassern der Welt wurzellos treibendes Wrack: sie sind nur für die Diskontinuität
empfänglich. Es handelt sich hier offensichtlich um zwei einander entgegengesetzte Auswüchse,
die ihre Wurzel in einer unvollständigen Untersuchung der Veränderungsarten und folglich der
Zahl der zoologischen Stufen haben, die im Universum möglich sind. Man versteift (96) sich
darauf, zur Erklärung der offensichtlichen Genese der Welt nur zwei Grenzfälle
gegeneinanderstellen zu wollen: vollständige Stabilität oder durchgehender Wandel.
Entschließen wir uns unter dem Druck der Tatsachen, in die Naturgeschichte den Begriff
einzigartiger Punkte oder von Zustandsänderungen einzuführen. Wir haben eben gerade den
gemeinsamen geometrischen Punkt betrachtet, der durch die langsame Konzentration einer
Oberfläche gebildet wird. Versuchen wir nunmehr, wissenschaftlich das Menschsein als aus
einer Bemühung totaler Zeugung und zugleich durch einen kritischen Punkt der ganzen Reifung
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des Lebens, das heißt der Erde selbst, hindurch entstehend zu betrachten. Schaffen wir also in
unseren Einteilungen des Wirklichen ein neues Abteil, das auf das des rein tierischen Lebens
folgt und ihm doch heterogen ist. Mit anderen Worten, erkennen wir an, daß es in der Struktur
der irdischen Welt nicht nur Klassen, Zweige, Reiche gibt, daß man vielmehr in ihr auch Sphären
sehen muß, deren Letztgekommene wir selbst sind. Und sogleich, das ist leicht zu sehen, mildert
sich die menschliche Antinomie, und die Unklarheit verschwindet aus unseren Perspektiven.
Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen: wenn man aufhört, eine absolute Schranke
zwischen das, was wir künstlich und natürlich nennen, zu setzen, wird sichtbar, wie die Struktur
der niederen zoologischen Gruppen sich deutlich durch die menschliche Schicht hindurch
fortsetzt. Nicht nur durch ihr individuelle Formen, Verhaltensweisen und Instinkte, sondern
auch durch die kollektiven Verbindungen und Verzweigungen ihres Tuns bilden die Menschen
ein faunistisches und zoologisches Ganzes. Hier verlängert sich der Kegel und sein kompliziertes
System von Erzeugenden in die punktförmige und unauflösliche Komplexität der Spitze. (97)
Andererseits aber unterscheidet sich das Künstliche, sosehr es auch mit dem Natürlichen
verknüpft werden kann, grundlegend von ihm. Das Künstliche ist ‹reflektiertes Natürliches›, das
von dieser geheimnisvollen Macht bewußter Kohäsion unter den Individuen begleitet ist, die
ihre Zusammenfassung zu einer einzigen, ihrer Bindung bewußten Schicht erlaubt. Alle niederen
Bekundungen des Lebens werden im Menschen erneuert und überbeseelt, erkennbar und
zugleich nicht mehr zu erkennen. Das ist die unvergleichliche Einfachheit der Spitze, die in ihrer
reichen Einheit den Pluralismus der Schicht umschmilzt, die sich in ihr einknospt.
Einmal soll die Geometrie uns gelehrt haben, das Leben besser zu begreifen, und mit ihrer Hilfe
haben wir den Finger auf das gelegt, was jenes von so viel unwissenden Zungen und
halbgelehrten Handbüchern so oft feilgebotene Wort an abscheulich Absurdem und grundlegend
Wahrem enthält: «der Mensch stammt vom Affen ab». Dieses Wort ist wahr, wenn man damit
sagen will, in der geologischen Perspektive sei der Mensch am Ende derselben Bewegung
aufgetreten, die die niederen Bereiche des Lebens bereitet und organisiert hat. Sie ist aber
absurd, wenn sie, wie es allzu häufig der Fall ist, aussagen will, der Mensch sei als Nebensache in
einem engen Abteil der Biosphäre geboren, und seine Ankunft sei nicht Ausdruck der
Freisetzung irgendeines neuen irdischen Vermögens.
Zoologisch betrachtet, bildet der Mensch einen neuen Absatz [vielleicht einen höchsten Absatz]
in der Reihe der Grundzustände, durch die das Leben und mithin die irdische Materie
hindurchgehen muß. Als solcher, und trotz der Lokalisierung des Punktes seiner Einfügung in
eine bestimmte Gegend des zoologischen Baumes, stellt er eine für das allgemeine Gleichgewicht
notwendige Zone dar. Das ist die wirkliche wissenschaftliche Konzeption, zu der wir (98) um den
Preis einer loyalen Prüfung aller seiner erfahrbaren Eigenschaften gelangt sind. Und das ist
überdies die Konzeption, die uns am besten den Mechanismus der allgemeinen Entwicklung des
Lebens sogar außerhalb des Menschseins begreifen lassen kann. Wenn einmal die
wissenschaftliche Wirklichkeit und die Spezifizität des Phänomens anerkannt sind, das wir
Hominisation genannt haben, hört der Mensch nicht nur auf, in der Welt ein paradoxer
Auswuchs zu sein, vielmehr wird er, wie es normal ist, zum eigentlichen Schlüssel unserer
Erklärungen des Universums. Das bleibt uns noch aufzuzeigen.
B. DER MENSCH, SCHLÜSSEL DER EVOLUTION
In der Wissenschaft neigen wir noch mehr als in der Philosophie dazu, auf seiten der Materie zu
schauen, das heißt auf das, was in der Welt unserem Denken am fernsten und fremdesten ist, um
dort ein Prinzip für das Begreifen der Dinge zu suchen. Diese instinktive Geste, die uns
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unaufhörlich die Hände nach dem Greifbarsten ausstrecken läßt, entspringt einer großen
Illusion. Die einfachste Überlegung müßte uns das begreifen lassen: Sosehr die Kenntnis der
materiellen Determinationen und die Analyse der korpuskularen Komplexe für unsere
Erforschung der kosmischen Energien und die Weiterführungen unserer Anschauungen über die
Strukturen des Universums unentbehrlich sind, so gering ist die Hilfe, die sie uns leisten können,
wenn es darum geht, die Natur und die Geschichte der Entwicklungen des Universums zu
durchdringen. Je mehr die Dinge uns ihrem Alter und ihrer Natur nach nah sind, desto mehr
hoffen wir, ihr Gefüge unversehrt vorzufinden, und desto wahrscheinlicher ist es, daß uns ihr
Verhalten vertraut, das heißt, erkennbar ist. In dieser doppelten Hinsicht (99) kennen wir im
Universum am besten das Leben; und innerhalb des Lebens die Bereiche, die am spätesten und
unserer zoologischen Gruppe am nächsten sich gebildet haben. Niemand bestreitet, daß man,
um die Existenz und die Methoden einer tierischen Evolution bestmöglich zu erkennen, den
Zweig der Wirbeltiere studieren muß und an diesem die letztgekommene der Verzweigungen,
die der Säugetiere.
Weshalb soll man diese Logik nicht zu Ende denken und vom Menschen selbst verlangen, uns die
Säugetiere zu erklären? Wenn die Menschheit ein absolut heterogenes, der Biosphäre künstlich
aufgepapptes Gebilde wäre, würde man begreifen, daß wir sie als ‹dunklere› behandelten, als
etwas, von dem wir keinerlei Klarheit für die Erhellung des übrigen Lebens erwarten dürfen.
Wenn aber die menschliche Schicht wirklich, wie wir zugestanden haben, trotz des tiefen und
kritischen Wandels, den ihr Auftreten kennzeichnet, von den niederen tierischen Zonen nicht
derart abgeschnitten ist, daß sie deren grundlegende Struktur nicht verlängerte, dann müssen
wir ohne jeden Zweifel, da sie die jüngste unter den Verlängerungen des Lebens und überdies
jene ist, deren Inneres uns am besten bekannt ist, sie zu Hilfe nehmen, um die Bewegung zu
rekonstruieren, aus der wir hervorgegangen sind.
Versuchen wir also, die Biosphäre mit Hilfe der Noosphäre zu begreifen. Bitten wir den
Vordergrund unserer Welt und nicht ihre fernsten Horizonte, vor unseren Augen die wahre
Perspektive der Dinge aufleuchten zu lassen; und wir werden überrascht sein, zu beobachten, in
welchem Maße der Weltplan, wenn man ihn nach dieser Methode entziffert, eine einfache und
wahrscheinliche Gestalt annimmt; und wir können nicht verfehlen, zu bemerken, in (100)
welchem Maße umgekehrt die wissenschaftliche Wirklichkeit einer Hominisation des Lebens
aus diesem gelungenen Versuch kraftvoll bestätigt hervorgeht.
In doppelter Hinsicht und unter der alleinigen Bedingung, daß man sie als organische [und nicht
nur ideelle] Verlängerung des tierischen Lebens ansieht, enthüllt die Menschheit uns die Welt:
zunächst als außerordentlich junge und fast noch im Entstehen begriffene zoologische Gruppe,
weil wir bei ihr die Hauptcharakteristika, die die älteren und fixierteren zoologischen Einheiten
kennzeichnen, noch in Bildung begriffen [und folglich ohne ihre evolutive Natur leugnen zu
können] erfassen; und dann als Gruppe, die die unsrige ist, weil wir in der Lage sind, die
verborgenen Triebkräfte der um uns herum [in eben der Bewegung, die die menschliche Art
mitreißt und vermannigfaltigt] als wahr erkannten Evolution in der Tiefe unseres Bewußtseins
zu erkennen.
1. Die biologische Evolution, erfaßt im gegenwärtigen Gang der Menschheit
Wenn wir nach einer mühsamen, durch das Labyrinth der lebenden und ausgestorbenen
Tierformen verfolgten Untersuchung uns anschicken, unseren Blick wieder auf die menschliche
45
Geschichte zurückzulenken, müssen wir uns doch auch eingestehen: wären unsere Augen von
Anfang an besser daran gewöhnt gewesen, das Relief und den Zusammenhang der Lebewesen zu
erfassen, wären wir nicht verpflichtet gewesen, die Entdeckung der Tatsache und der
Grundgesetze der Evolution in so großer Ferne zu suchen. Alles, was die Beobachtung der an
allen Enden des Raumes und der Zeit gesammelten zoologischen Typen uns in dem Gesetz, das
die Organismen auf der Oberfläche der Erde und durch die geologischen Schichten hindurch
verteilt (101) hat, an Harmonischem hat entdecken oder an Paradoxem hat einräumen lassen,
sehen wir sich in einer anderen Tönung, jedoch mit denselben Eigenheiten, in uns und um uns
wiederholen, ohne daß wir aus der Menschheit heraustreten müßten.
Der durch das Erfahrungswissen aufgebaute Transformismus drängt uns zu der Annahme, daß
die lebenden Gruppen in etwa wie Wellen auftreten, aufeinander folgen und interferieren. Jede
Gruppe, so scheint es, entsteht in einem begrenzten zoologischen und geographischen Bereich,
im Ausgang von recht wenig zahlreichen Individuen, die ein gleiches organisches Stadium
erreicht haben und in ähnliche Milieubedingungen gestellt sind; und von da aus breitet sie sich
mehr oder weniger erfolgreich über die Oberfläche der Erde aus. Während sie zunächst wegen
ihrer Winzigkeit nicht unterscheidbar ist, gewinnt sie nach und nach eine Bedeutung, die ihr
erlaubt, durch Fossilien unauslöschliche Spuren ihres Weges zurückzulassen; sie wächst,
gleichzeitig aber zerfällt sie und verhärtet sie sich. Da sie durch die Ausdehnung selbst ihrer
Schicht, die sie differenzieren muß, um den Notwendigkeiten ihres inneren Gleichgewichts
gerecht zu werden, auseinandergerissen ist, strahlt sie Quirle von den speziellen Tätigkeits- oder
Wohnmilieus angepaßten Formen aus; und jede dieser Formen erweist sich ähnlich einem
verholzten Stengel oder einem bereits zu sehr gezähnten Blatt bald infolge mangelnder
Anpassungsfähigkeit oder übertriebener Kompliziertheit jeder neuen morphologischen
Eroberung unfähig. So auseinandergerissen oder immobilisiert hört die Klasse, die Ordnung, die
Gattung oder die Art auf, sich auszubreiten; sie zerstückelt sich und verschwindet schließlich
inmitten jüngerer und kraftvoller lebender Schichten, unter denen ihre isolierten Trümmer fast
endlos wie Wracks dahintreiben können. (102)
Damit ist in den großen Zügen das Bild gezeichnet, das die Zoologen von den Entwicklungen des
Lebens zu rekonstruieren vermochten. Haben sie es wirklich außerhalb ihrer selbst entdeckt?
Oder haben sie dort nicht ganz einfach, ohne daß sie es bemerkten, sich selbst wiedererkannt
und ausgesagt? Eine Tatsache ist gewiß, daß sie nämlich, da sie diese Zeichnung entwarfen, Zug
um Zug das Antlitz der Menschheit wiedergegeben haben.
Der Mensch ist, soweit wir ihn wissenschaftlich begreifen können, sehr bescheiden in einem eng
begrenzten Bereich des Lebens und der Erde aufgetreten. Ihm, der tief inmitten der Primaten
verwurzelt ist und wahrscheinlich in einem sehr engen Winkel der alten Welt geboren wurde, ist
es gelungen, die ganze Erde fast ohne bemerkenswerte morphologische Änderungen zu erobern
und zu beherrschen. Wir fragen uns manchmal, nicht ohne eine gewisse Bestürzung, wie sich
wohl die Arten oder die Gattungen bilden können. Weshalb sollen wir uns nicht an einem uns
berührenden Beispiel unterrichten? Ist nicht der Mensch, den somatisch von den anderen Tieren
nicht viel mehr als die Spanne einer Mutation trennt, mächtiger und [wenn man zu sehen
versteht] differenzierter geworden als eine Ordnung oder gar eine Klasse? Betrachten wir, um
unsere angesichts der Konsequenzen des Transformismus fassungslose und allen ‹Anfängen›
gegenüber hilflose Vorstellungskraft zu lenken oder zu beruhigen, die Menschheit.
Viele können oder wollen diesen Blick nicht tun. So nah sie uns im Vergleich zu den anderen
Ursprüngen auch sein mag, die Geburt der Menschheit ist noch eine ferne oder heftig
umstrittene Tatsache. Lassen wir sie also; und um sicheres, unbestrittenes Material zu haben,
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wollen wir in noch größere Nähe zu uns zusehen. Die allgemeine Bewegung hat ihre Repliken.
Innerhalb der menschlichen Schicht selbst entstehen und begegnen sich die zoologischen (103)
Wellen weiterhin endlos und in immer elementareren Gruppen. Durch eine Unendlichkeit von
Reduktionen der Grundevolution der Art folgen innerhalb der Menschheit die Rassen, die
Zivilisationen aufeinander. Sie tauchen auf, sie breiten sich aus, sie kreuzen sich und sterben;
und wie der Strand nach einer Reihe abnehmender Fluten trägt jeder Kontinent die Aureolen
des Schaums und der Reste, die nacheinander von ihren Fluten liegen gelassen wurden.
Niemand wird versuchen zu leugnen, daß diese reduzierten Nebenschwingungen der großen
menschlichen Oszillation evolutiver Natur seien. Nun, was sehen wir dort, wenn nicht die
Wiederholung und also die Bestätigung oder Erhellung dessen, was uns die Beobachtung der
außermenschlichen Schichten des Lebens lehren kann?
In der Geschichte der Völker, die wachsen oder einander verdrängen, gelingt es uns manchmal,
den Stamm oder die Völkerschaft zu erkennen, deren Erfolg eine große Zivilisation
hervorgebracht hat. Häufiger aber stoßen wir auf das unerbittliche Gesetz, das uns, da es den
Blick auf die Anfänge verwehrt [die zu bescheiden sind, um wahrgenommen werden zu können],
die Bewegungen der Vergangenheit nur in Gestalt einer Reihe starrer Elemente,
vollausgebildeter Maxima, erreichter Erfolge schauen läßt. Und damit haben wir in genauer
Wiedergabe die fortlaufende Verteilung der Lebewesen, die der Paläontologie so vertraut ist.
Betrachten wir nunmehr in den Einzelheiten die wuchernden menschlichen Zweige; wir können
dort nach Belieben alle verschiedenen Arten von Schicksalen sammeln, die die Komplexität und
die Schwierigkeit der zoologischen Reihen ausmachen. Da ist zunächst die verarmte,
stagnierende Rasse, die sich seit vorgeschichtlicher Zeit nicht mehr ändert und die, bevor sie
sich ändert, eher untergehen zu müssen scheint; und gleich daneben zieht das kraftvolle,
erobernde, unaufhörlich wachsende Volk (104) allen Saft an sich, und es scheint nicht nur die
tätige Spitze eines sekundären Zweiges, sondern den Pfeil selbst der Menschheit darzustellen.
Hier nun einfache Gruppen, in denen alle Welt dasselbe tut, und hier die komplizierten,
erfinderischen Nationen, in denen sich die Individuen auf alle Arten spezialisierter Kategorien
verteilen. Oder auch die lagen Zeiten der Unbeweglichkeit, die Winter der Völker, während
deren nichts sich rührt, und dann die Phasen des Aufblühens, in deren Verlauf plötzlich
geheimnisvoll und an tausend verschiedenen Punkten der menschlichen Schicht gleichzeitig
dieselben Ideen, dieselben Bestrebungen, dieselben Erfindungen aufkeimen. Und auch die lange
Reihe der vitalen Verfallserscheinungen: die Erschöpfung und das Altern der Rassen, ihrer
Ermattung aus Überdruß, ihre Verkrustung unter zu vergoldeten und unfruchtbaren Käfigen
gewordenen sozialen Hüllen, ihre Verhärtung in der kollektiven und individuellen Routine; und
schließlich kommt über dieser sich ständig auf dem Wege der Bildung und des
Ausgestoßenwerdens befindlichen Neomaterie die unermeßliche und alte Materie wieder zum
Vorschein. Als ein ebenso unwägbarer Schleier wie der des Anorganischen bedecken und
nivellieren der Determinismus der großen Zahlen und die schmerzhafte Reibung der nicht
organisierten Gesamtheiten die zitternde innere Schicht der Noosphäre unter einer
empfindungslosen Maske statistischer Gesetze.
Wir reden uns immer ein, diese Analogien seine literarische Vergleiche. Wie kommt es, daß wir
nicht sehen, daß sie dasselbe sind? Und können wir da zögern, uns selbst zu befragen, um das
Leben wissenschaftlich zu begreifen? (105)
2. Das psychische Wesen der Evolution
Bereits zu Beginn dieser Seiten haben wir mit dem Hinweis auf das, was im Grunde das
menschlich Künstliche an Natürlichem an sich hat, im Keime die Erklärung des Lebens
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eingeführt, mit der wir die hier über die Hominisation entwickelten Ansichten abschließen
wollen.
Das Werkzeug, so haben wir gesagt und wiederholt, ist in der menschlichen Reihe das
Äquivalent des differenzierten Organs in der Tierreihe; – das Äquivalent, das heißt: das
wirkliche Homologon und nicht die oberflächliche, aus einer banalen Konvergenz entstandene
Nachahmung. Wenn aber bei den Ergebnissen eines Wirkens, das wir hier beim Menschen
geschickt und dort beim Tier organisch nennen, diese Gleichheit einmal eingeräumt ist, werden
wir zu der Annahme geführt, daß irgendeine Gleichheit und irgendeine Verwandtschaft im
Wirken selbst besteht: denn dem Erfundenen entspricht die Erfindung. Und sogleich sehen wir die
psychischen Energien wie durch eine aufgeschlagene Bresche den Bereich des Transformismus
innerlich überfluten.
Es handelt sich hier selbstverständlich nicht darum, anthropomorphisch in die niederen Sphären
des Lebens die Methoden und die Reflexion zu übertragen, die die Charakteristika der
Noosphäre sind. Und ebensowenig handelt es sich darum, träge zu der Erwägung vitaler Kräfte
zurückzukehren, die uns davon befreien würden, analytisch die elementaren Energien
aufzusuchen, die das Leben unbewußt bewegt hat, um darin seine Wahrnehmungs- und
Tätigkeitsbedürfnisse einzuhüllen. Wir wollen vielmehr sagen: da wir die Zusammenhänge
feststellen, die das künstliche Tun des Menschen mit dem natürlichen Tun des Lebens
verbinden, werden wir zu der Schlußfolgerung geführt, daß ersteres nur eine transformierte
Verlängerung, (106) ein höherer Ausdruck von letzterem ist. Unsere erfinderischen Bestrebungen
und Kräfte erweisen sich uns als die ‹hominisierte›, eigentliche, organogene Kraft des Lebens.
Und umgekehrt wird der ganze evolutive Prozeß der organischen Welt durch eine reduzierte
Analogie mit den Entwicklungen unserer menschlichen Welt begreiflich. Diese Perspektive, die
wir keineswegs als neu hinstellen, für die wir jedoch zum erstenmal hier einen Erfahrungswert
beanspruchen, hat offensichtlich als ersten Vorteil, mit dem in Einklang zu stehen, was wir von
außen bei der Geburt, der Entwicklung und dem Tode der zoologischen Stämme feststellen; alles
Phänomene, die, wie sich um uns herum im Bereich der Ideen, der Sprachen, der physischen
Entdeckungen und der sozialen Einrichtungen abspielt. Doch sie hat noch eine weitere
beachtenswerte Kraft: nämlich, uns darüber zu unterrichten, was die tiefe Triebkraft der
Lebensbewegung darstellt. Räumen wir ein [wie geschehen], daß das organische Leben unter
der Hülle der Determinismen, welche die biologische Wissenschaft zerlegt, wie unser bewußtes
Leben endloses Tasten und dauernde Entdeckung ist. Wir müssen noch einen Schritt weiter
gehen. Weshalb suchen und erfinden wir selbst? Um des Besserseins und vor allem um des
Mehrseins willen, um stärker und bewußter zu sein. Weshalb also regt sich das ganze übrige
Leben? Ohne jeden Zweifel auch, um mehr zu sein, um besser zu begreifen. Es muß so sein, denn
es erfindet!
Und das ist der Blitz, der die Biosphäre bis in ihre Tiefen in dem Augenblick erleuchtet, da man
den natürlichen Kontakt zwischen ihren tiefsten Schichten und ihrer menschlichen Hülle
wiederhergestellt hat. Mit Hilfe einer Methode, die sich kaum über die einfache Beobachtung
erhebt, haben wir so die Intuitionen erreicht, auf die sich die Metaphysik immer mehr
festzulegen neigt. Im Universum (107) existiert nichts wirklich, außer Myriaden mehr oder weniger
dunkler Spontaneitäten, deren gedrängter Schwarm nach und nach die Schranke durchbricht, die
ihn von der Freiheit trennt. Von oben bis unten in der Reihe der Lebewesen bewegt sich alles,
schwingt sich alles empor und organisiert sich alles in ein und derselben Richtung, nämlich der
des größeren Bewußtsens. Deshalb haben seit den Ursprüngen des Lebens die Nervensysteme in
allen Zweigen der Tierwelt sich immer vergrößert und vervollkommnet, und zwar so, daß
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niemals seit der Morgenröte der geologischen Zeiten die Masse zerebralisierter Materie
beträchtlicher gewesen ist.
Es ist festzuhalten: die Gelehrten haben tausendmal recht, die vom Leben in das lebendige
Fleisch eingeprägten oder von ihm in den fossilisierten Resten zurückgelassenen Spuren
herauszustellen. Doch müssen sie sich hüten, im Verlauf dieser Arbeit den Sinn für die Werte,
mit denen sie umgehen, zu verlieren oder sogar umzukehren. Nicht Gewebe, nicht Knochen habe
die Lebewesen gemacht. Knochen und Gewebe sind nur die Panzer, mit denen sich nacheinander
die psychischen Tendenzen umgeben haben, die aus demselben Grundstreben, zu erkennen und
zu wirken, hervorgegangen sind.
Und damit gelangen wir zu einem besseren Verständnis dieses einzigartigen kritischen Punktes,
dessen Erreichen für das irdische Leben das Auftreten der Menschheit bezeichnet. Kraft einer
für unsere Vernunft schwierig zu begreifenden Eigenschaft, deren Tatsächlichkeit uns aber
durch die Fakten aufgezwungen wird, stellen wir fest, daß die Einswerdung des tierischen
Psychismus15 nicht endlos (108) weitergehen konnte, ohne daß er zu einem Wandel seiner Natur
wie in die Enge getrieben wurde. Da sie sich zusammenziehen, muß auf die Querschnitte des
Kegels seine punktförmige Spitze folgen. In gleicher Weise hat das irdische Bewußtsein, kraft
der organischen Gesetze der es beseelenden Bewegung, eine neue Höhe erreicht. Seine bis dahin
unbestimmten Erzeugenden haben sich, da sie sich einander annäherten, in einem endgültigen
Zentrum verbunden, und mit einem Schlage hat es die drei Grundeigenschaften erworben, die
die Elemente der Noosphäre kennzeichnen: es hat durch Reflexion sich selbst gesehen; es hat
sich in der Lage gesehen, an seinen eigenen weiteren Fortschritten durch Erfindung
mitzuarbeiten; und schließlich ist es fähig geworden, durch geistige Beziehung und Sympathie
den auflösenden Effekt zu überwinden, der jede Individualisierung begleitet. Es hat sich als das
mögliche Element einer Art höheren Organismus gezeigt, der sich im Ausgang von allen durch
Konspiration bilden würde.
Wir sehen jetzt etwas deutlicher, weshalb der Mensch sich zugleich so sehr und so wenig von
der großen Menge der anderen Tiere unterscheidet. Da er sich in der Achse selbst des Lebens
spezialisierte, brauchte er [und das wäre eine unheilbare Schwäche für ihn gewesen] keine
besonderen Formen anzunehmen, die in den Augen der Zoologen das Kennzeichen und die
Bedeutung der anderen Tiergruppen ausmachen. In ihm vollzog sich der Fortschritt nicht durch
Erwerb besonderer Organe, sondern durch Entwicklung der Quellen des Tuns selbst. So hat er in
höchstem Maße seine Bewegungsfreiheit bewahrt. Inmitten des unglaublich mannigfaltigen
Dickichts der tierischen Formen ist er [auch vom rein zoologischen Standpunkt aus beurteilt]
das Wirbeltier, das Säugetier, das Lebewesen par excellence geblieben.
Sehr wahrscheinlich wird sich der äußere menschliche Typus (109) nicht mehr ändern. Das
irdische Leben, dessen reinster Saft in die Menschheit eingegangen ist, scheint keine andere
Form mehr bereitzuhalten, die jemals unsere Rasse in ihrem Aufstieg zum größeren Bewußtsein
ablösen könnte. Die Hominisation hat auf der Welt eine unermeßliche Kraft entfesselt: das ist
das materielle Faktum, das wir bisher untersucht haben. Gleichzeitig aber hat sie korrelativ dazu
in den Gang des Lebens furchtbare Risiken eingeführt, in denen die menschliche Wissenschaft
das Problem des Übels in seinem Ursprung entdeckt. Damit haben wir, kurz zusammengefaßt,
15 (FN 2) Getragen, das versteht sich von selbst, von irgendeiner tiefen, schöpferischen Kraft. Wenn wir von letzterer nicht ausdrücklicher sprechen, so deshalb, weil es, wir sagen das noch einmal, unsere Absicht ist, den offensichtlichen Verlauf der Kurve der Phänomene zu verfolgen, ohne die metaphysischen Bedingungen ihrer Existenz zu untersuchen.
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den Strich angegeben, mit dem wir unsere Skizze von den Größen und der Neuheit des
menschlichen Phänomens beenden wollen.
Bis zum Menschen arbeiteten die Lebewesen in Unkenntnis ihrer Kraft und ihrer Zukunft
unbewußt [und folglich getreu] am allgemeinen Fortschritt des Lebens. Sie gingen, von den
unmittelbaren Bedürfnissen angezogen oder von einem dunklen Instinkt getrieben, geradeaus
vorwärts, ohne es zu wissen. Das physische Übel spornte sie an, denn, im Innersten der Materie
verwurzelt, gibt es eine anfängliche Inkohärenz, die Quelle des Schmerzes und des Todes. Doch
die unendlichen Tastversuche des Lebens arbeiteten geduldig daran, diese Unordnung zu
reduzieren. Und wenn sich auch unter den Individuen bereits [als Vorzeichen der kommenden
Zeiten] die Tendenzen zur Trägheit oder zur Disziplinlosigkeit zeigten, erhob sich doch die
gewaltige Herde der in ihrer Masse auf das Mehr- oder Bessersein ausgerichteten Lebewesen in
ihrer Gesamtheit ohne Zögern zu den höheren Seinsregionen. In jenen Zeiten hatte das gegen die
äußeren Feinde nur mäßig gewappnete Leben noch nichts von sich selbst zu befürchten. Die
große Gefahr hat sich für es zugleich mit der großen Kraft gezeigt an dem Tage, da es sich seiner
selbst bewußt wurde, indem es die Menschheit gebar. (110)
Der Mensch ist mit der Freiheit, sich dem Bemühen hinzugeben oder zu verweigern, die
gefährliche Fähigkeit, das Leben zu messen oder zu kritisieren. Wenn der Mensch die Augen für
die Welt öffnet, bemerkt und vergleicht er ihre Mühsale und ihre Vorzüge. Die beiden eisernen
Gesetze, denen sich die Tiere, ohne zu begreifen [und folglich ohne zu leiden], unterwarfen,
nämlich die Notwendigkeit sich zu verleugnen, um zu wachsen, und die Notwendigkeit zu
sterben, stellt er heraus, und er empfindet [um so mehr, je mehr er Mensch ist], wie drückend
und hassenswert sie sind. Wenn er sich nun durch die Reflexion der universellen Wirklichkeit
wieder zukehrt, die ihn hervorgebracht hat, sieht er sich durch die Verpflichtung des Denkens
vor die Notwendigkeit gestellt, seine Mutter zu beurteilen. Unvermeidlich bekunden sich, kraft
eben der unkontrollierbaren Kräfte, die das bewußte Aufblühen der Welt bestimmen, zu einem
bestimmten Zeitpunkt im Universum die Versuchung zur Auflehnung und die Gefahren, die jene
für die Zukunft des Seins mit sich bringt. Ob angesichts der Mühsal des weiterzuführenden
Bemühens, angesichts der Prüfung des zu durchschreitenden Todes uns der Glaube oder der
Mut fehlt; ob wir uns in der Tiefe unseres Gefängnisses in eine wild entschlossene Isolierung
zurückziehen; oder ob wir uns, um unsere Angst einzuschläfern, im Vergnügen auflösen; und
sogleich verlangsamt sich hier der Schwung des Lebens, er zaudert, und er fällt zurück.
Diese Krise des menschlichen Tuns ist ihrer Natur nach ebenso alt wie der Mensch. Man darf sie
jedoch nicht, das ist allzu deutlich, auf einige kurze Augenblicke oder lediglich auf die Ursprünge
unserer Rasse begrenzen. Die mit der Intelligenz entstandene Versuchung zur Auflehnung muß
mit ihr beständig sich wandeln und wachsen. Und deshalb (111) hat sie sich niemals heftiger und
universeller bekundet als heute.
Die gegenwärtige zoologische Ära ist, so sagten wir eben, von einer außerordentlichen Neuheit
erfüllt. Sie erneuert positiv das Antlitz der Erde. Wenn wir das vor unseren Augen begonnene
sittliche Ringen in seinem richtigen Wert zu begreifen verstehen, müssen wir noch weiter gehen
und erklären, daß wir sogar innerhalb dieser menschlichen Ära gerade eben durch eine kritische
und einzigartige Epoche hindurchgehen. In jeder Epoche der Geschichte fanden sich die
Zuletztgekommenen unter den Menschen im Besitz eines vermehrten Erbes an Wissen und
Wissenschaft, das heißt, angesichts einer bewußteren Entscheidung zwischen der Treue und der
Untreue zum Leben, zwischen dem Guten und dem Bösen. Doch ebenso wie es in der Existenz
der Individuen gewisse Stunden des Erwachens gibt, aus denen wir durch eine plötzliche
Verwandlung erwachsen hervorgehen, so kommen auch in der allgemeinen Entwicklung des
50
menschlichen Bewußtseins Jahrhunderte, während deren das Drama der Einweihung in die Welt
und folglich das innere Ringen sich überstürzen. Wir leben in einem dieser Augenblicke.
Die Prähistoriker haben es längst bemerkt. Wenn man versucht, unsere zeitgenössische
Geschichte in den allgemeinen Grundriß der menschlichen Vergangenheit einzufügen [nach
derselben Methode, die wir zur Einordnung der menschlichen Vergangenheit in die allgemeine
Evolution der Erde benützt haben], legt sich der Gedanke nahe, daß wir in der gegenwärtigen
Stunde nicht nur in einer Jahrhundert- oder Zivilisationswende stehen, sondern in einer
Zeitenwende. Bis in die jüngste Zeit hatte nichts den in der prähistorischen menschlichen
Schicht durch das Aufkommen der Ackerbauervölker geschaffenen Zustand der Dinge
wesentlich modifiziert. Es war keine neue Energiequelle (112) entdeckt worden; der Mensch
bediente sich weiterhin desselben Feuers, das seine Väter, die Altsteinzeitmenschen, entzündet
hatten; und er blieb im großen und ganzen in seinen Perspektiven des Universums begrenzt,
inmitten der natürlichen Energien schwach und in seinem Bemühen zerstreut, die Vereinigung
zu verwirklichen. Und dann beginnt plötzlich, durch die Einführung der wissenschaftlichen und
experimentellen Methoden vorbereitet, ein großer Wandel. Der Mensch entdeckt die Gesetze der
chemischen Energie, er fängt die Kräfte des Äthers ein, er analysiert die atomaren und stellaren
Abgründe; er entdeckt unendliche Verlängerungen seiner Geschichte in die Vergangenheit,
unendliche Vergrößerungen seines Vermögens, auf die Materie einzuwirken, unendliche
Hoffnungen, die sich seinen geistigen Konstruktionen öffnen. Und das ist im eigentlichen Sinne
das Heraufkommen eines neuen Zyklus. Auf die Jungsteinzeit, die kaum erst zu Ende geht, folgt
in unserer Umgebung in diesem Augenblick das Zeitalter der Industrie, das Zeitalter der
Internationalen und gleichzeitig damit par excellence das Zeitalter der Revolutionen und das
Zeitalter des Streiks. Nicht nur durch die Menschheit im Leben, sondern durch unser
Jahrhundert in der Menschheit sind wir in eine großartig interessante Epoche der Geschichte
der Erde gestellt worden. Noch nie ihrer individuellen Kraft und ihrer kollektiven Kraft derart
bewußt, aber auch noch nie von dem Widerwillen gegen die ungerechtfertigten Kräfte und den
Abscheu vor dem Tod ohne Ausgleich derart durchdrungen, müssen die Menschen sich von
neuem entscheiden, bevor sie sich in den Dienst der Evolution stellen. «Verdient das Leben, das
uns zu dem gemacht hat, was wir sind, daß wir es weiterstoßen?» In diese schneidende sittliche
Form transponiert sich in der gegenwärtigen Stunde im Grund eines jeden von uns das große
Bemühen der Hominisation. (113) Wo werden wir in dieser tiefen und universellen Verwirrung
das Licht finden, um klar zu sehen, und die Kraft, um dem Licht zu folgen? Nirgends sonst als in
einer deutlicheren und realistischeren Sicht des großartigen Anliegens, wider die wir versucht
sein könnten, uns frei zu machen. Da sie eine Krise kosmischer Natur und Weite ist, kann die
soziale Gärung, die heute die menschlichen Schichten brodeln läßt, nur von einem klareren und
bewußteren Glauben an den höchsten Wert der Evolution beherrscht und gelenkt werden.
Man sagt immer wieder, die Evolution sei eine schlechte Lehre, gerade gut genug, das Vehikel
des Materialismus und der Ideen des universellen Kampfes zu sein. Um die Welt zu beruhigen
oder zu moralisieren, versucht man sie zu schmälern oder herabzusetzen. Eine verderbliche
Taktik, werden wir ausrufen, und geradezu dazu geschaffen, die Krise zu beschleunigen, die man
zu ersticken vorgibt. Ihr seid entsetzt über den Durst nach Unabhängigkeit und Vergnügen, der
sich wie ein Feuer über die Welt ausbreitet. Ihr sucht ein Mittel, den Individualismus in Zucht
und Ordnung zu bringen und die Niederträchtigkeit zu unterdrücken. Ihr werdet kein anderes
finden, als vor den Menschen die Größe des Ganzen zu preisen, das sie verkennen und dessen
Gelingen ihr Egoismus in Frage stellen würde. Solange nur ihr individueller Vorteil in dem
irdischen Abenteuer auf das Spiel gesetzt zu sein scheint und solange sie sich nur durch eine von
außen kommende Vorschrift an die Arbeit gebunden fühlen, werden die Menschen unserer Zeit
51
niemals ihren Geist und ihren Willen einem sie Übersteigenden unterwerfen, was immer es auch
sei. Enthüllt ihnen dagegen ohne Zögern die Majestät des Stromes, zu dem sie gehören. Laßt sie
das unermeßliche Gewicht der aufs Spiel gesetzten Anstrengungen spüren, für die sie die
Verantwortung tragen. Erreicht, daß sie sich als bewußte (114) Elemente der ganzen Masse der
Lebenden erkennen, als Erben einer Arbeit, die ebenso alt ist wie die Welt, und als beauftragt,
ihr vermehrtes Kapital all denen weiterzugeben, die kommen müssen; und dann werdet ihr
zugleich ihre Neigung zur Trägheit und zur Unordnung überwunden und ihnen das gezeigt
haben, was sie anbeteten, vielleicht ohne ihm einen Namen zu geben.
Denn darin liegt die höchste Bedeutung der gegenwärtigen menschlichen Phase der irdischen
Geschichte, daß die sittliche Krise, von der wir befallen sind, durch die Erneuerung und die
Steigerung irgendeines in der doppelten Gestalt einer Notwendigkeit und einer Anziehung von
einem Absoluten ausgehenden göttlichen Druckes auf unser Wesen ausgeglichen wird.
Um die undisziplinierte Menge der denkenden Monaden im Dienste der vitalen Arbeit zu halten,
gibt es, so sagten wir, nur ein Mittel: nämlich bei ihnen der Leidenschaft für das Ganze vor dem
elementaren Egoismus den Vorrang zu schaffen, was praktisch heißt, bei ihnen das Bewußtsein
der allgemeinen Evolution zu steigern, zu der sie gehören. Doch weshalb sollten sie sich dieser
Evolution unterwerfen, wenn sie nicht auf dem Wege zu irgend etwas sind, das für immer sein
soll? Immer deutlicher enthüllt sich dem geringsten der Arbeiter der Erde das Dilemma, in das
das menschliche Tun eingeschlossen ist:
– Entweder strebt das Leben keinem Ziel zu, das sein Werk aufnimmt und vollendet: und dann
ist die Welt absurd, selbstzerstörerisch, durch den ersten reflektierten Blick verurteilt, den sie
um den Preis eines unermeßlichen Bemühens hervorgebracht hat; und das bedeutet wiederum
Auflehnung, diesmal nicht mehr nur als eine Versuchung, sondern als eine Pflicht.
– Oder aber, es gibt Etwas [Jemanden], in dem jedes Element nach und nach in seiner
Vereinigung mit dem Ganzen (115) die Vollendung dessen findet, was in seiner Individualität an
Rettbarem aufgebaut wurde: und dann lohnt es die Mühe, sich der Mühsal zu beugen und sogar
sich ihr zu weihen; allerdings in einem Bemühen, das die Form einer Anbetung gewinnt.
So verlangt das innere Gleichgewicht der Noosphäre, wie wir sie genannt haben, die von
Individuen wahrgenommene Gegenwart eines höheren Pols oder Zentrums, das das ganze
Strahlenbündel unseres Bemühens lenkt, trägt und sammelt. Würden wir zu weit gehen und den
Erfahrungsbereich verlassen, wenn wir hier eine neue Feststellung einführten? Ist dieses von
der Natur der Dinge zu Legitimierung unseres Tuns geforderte Göttliche Zentrum nicht gerade
Jenes, dessen Einfluß für uns durch die Tendenz nach größerer Kohäsion und Gerechtigkeit und
Brüderlichkeit hindurch deutlich zu spüren ist, die seit einem Jahrhundert das ermutigendste
um uns herum beobachtbare Symptom in der inneren Entwicklung der Menschheit ist?
Ein Atem der Auflehnung durchweht unseren Geist, das ist richtig. Doch ein anderer, aus
denselben Ausweitungen des Bewußtseins entstandener Hauch geht durch die menschliche
Masse hindurch: ein Hauch, der uns alle durch eine Art lebendiger Affinität zu der herrlichen
Verwirklichung irgendeiner erahnten Einheit hinzieht. Häufig bestritten, verdächtigt, lächerlich
gemacht, entsteht das Einheitsstreben im Politischen, im Denken, im Mystischen überall um uns
herum; und weil es nicht zum Gegenstand hat, was materiell und plural ist, sondern das, was es
an Geistigem und allem Gemeinsamem in jedem von uns gibt, scheint keine Kraft der
Gewohnheit oder es Egoismus fähig zu sein, es aufzuhalten: unwiderstehlich durchdringt es alles
und löst nach und nach die alten Rahmen und die falschen Schranken auf.
52
Wir wollen in dieser höchsten Bekundung der uns umgebenden (116) biologischen Kräfte einen
letzten und unmittelbaren Grund dafür suchen, die eindeutige Existenz einer Noosphäre
einzuräumen und an ihre gesicherte Zukunft zu glauben. Die unfehlbare Anziehung, die, da sie
seit jeher die Launen des Zufalls, die Unordnung der Materie, die Trägheit des Fleisches und den
Stolz des Geistes überwand, den Menschen verwirklicht hat und weiterhin bewirkt, daß sich fast
spürbar durch unsere Seelen hindurch eine höhere Wirklichkeit knüpft – diese Anziehung, so
möchte ich sagen, resümiert und betätigt [in einer Tatsache und in einem Glauben] all das, was
uns im Laufe dieser Untersuchung die Analyse des menschlichen Phänomens offenbart hat.
Durch ihre Kontinuität beweist sie die Kohärenz der Grundbewegung, die von der Materie
ausgehend im Geist kulminiert. Durch die höhere Form, die sie in unseren Fähigkeiten der
Reflexion und des Liebens annimmt, kennzeichnet sie die Art der Vollendung, die das Erwachen
des menschlichen Denkens für das irdische Leben darstellt. Und schließlich bezeugt sie gerade
durch ihren Erfolg und durch ihre dauernde Erneuerung, daß jetzt schon eine vitale Verbindung
zwischen unserem Bemühen, das die Fortschritte der Hominisation vorantreibt, und dem sie
lenkenden höheren Ziel besteht.
Ineditum, Paris, 6. Mai 1925 (117)
V
DAS TRANSFORMISTISCHE PARADOXON
Zu der jüngsten Kritik des Transformismus von M. Vialleton
Im Laufe der letzten dreißig Jahre haben die paläontologischen Entdeckungen sich über alle
Erwartung vervielfacht. Die umfassenden, in Amerika, Asien und Afrika durchgeführten
Grabungen haben in unerhoffter Weise unsere Kenntnisse über das vergangene Leben vermehrt.
Die Primär-Reptilien der Karoo, Dinosaurier der Rocky Mountains und der Gobi, Rüsseltiere von
Fayum, große Affen der Siwalik-Hills, zahllose und bisher namenlose Huftiere des chinesischen
oder amerikanischen fernen Westens bilden alle neue, kaum erforschte Gruppen, in denen sich,
wie wir bestürzt sehen, die Unermeßlichkeit und die Fruchtbarkeit der lebendigen Natur
offenbart.
Durch dieses gewaltige Wuchern des irdischen Lebens findet die Paläontologie weiterhin ohne
Schwierigkeit ihren Weg. So umfassend und kompliziert die Biosphäre sich auch zeigt, die
großen Strömungen, die sie ehedem bewegten, fast ohne Spuren zu hinterlassen, und auch jene,
die heute noch vergehend oder entstehend um uns herum spürbar sind, werden immer
deutlicher erkennbar. Nicht nur die allgemeine Abfolge der großen tierischen Gruppen, sondern
auch die Entwicklung der einzelnen zoologischen Familien zeichnet sich mit wachsender
Deutlichkeit ab. Vor noch nicht allzu langer Zeit war die einzige große phyletische Reihe, die der
Transformismus vorlegen konnte, die [recht mühsam zusammengestellte] der Pferde. Jetzt
kennen wir in großen Zügen [um uns nur auf die Säugetiere zu beschränken] die Geschichte der
Kamele, der Primaten, der Rüsseltiere, der Rhinozerosse, der Titanotherien und zahlreicher
Fleischfresser. Man kann sagen, daß (119) es heute in der Gruppe der höheren Tiere keine einzige
absolut isolierte Form mehr gibt. Der vorherrschende Eindruck, den das Schauspiel des Lebens
hinterläßt, bleibt heute mehr denn je, was immer man auch sagen mag, der Eindruck einer
einzigen Entwicklung in Gestalt einer außerordentlichen Mannigfaltigkeit.
Unter diesen Voraussetzungen möchte es scheinen, die Wissenschaft von den verschwundenen
lebenden Formen brauche sich auf einem endgültig bekannten und gebahnten Boden nur
53
weitergleiten zu lassen, indem sie auf die neuen Fossilien in dem Maße, wie sie zutage treten,
mühelos die unveränderlichen Regeln der Klassifizierung und Abstammung anwendet.
Selbst wenn wir einmal annehmen, dieses Ausruhen in der errungenen Wahrheit sei
wünschenswert, würde es dennoch nicht menschlich sein. Ebensowenig in der Biologie wie in
der Physik erlaubt das Wirkliche uns jemals, es als erschöpft zu bezeichnen. Im Gegenteil, gerade
in dem Augenblick, da man es bis in die Tiefe erfaßt zu haben glaubt, weitet es sich plötzlich aus
und stellt uns vor einen neuen zu durchdringenden Bereich.
Es gab eine Zeit, da die Naturforscher nur Augen für die natürlichen Zusammenhänge und
Kontinuitäten hatten, die, nachdem Lamarck und Darwin als erste sie gesehen hatten, die
Naturgeschichte von den kalten und abstrakten Linnéschen Kategorien befreiten. Kämen die
ersten Transformisten in unseren Tagen in unsere Museen von London, New York oder Paris,
glaubten sie wahrscheinlich an den uneingeschränkten Triumph ihrer Theorien. Und doch, wenn
sie uns, die Handwerker der Auferstehungen, befragten, die ihr Verlangen mehr als erfüllen,
würden sie feststellen, daß unser Geist unbefriedigt bleibt, weil wir sehen, wie sich hinter dem,
was ihnen als das volle Licht erscheint, neue Dunkelheiten ausbreiten. Wenn man es von weitem
(120) und in seiner Gesamtheit beobachtet, so sagten wir eben gerade, ist das Leben noch
unteilbarer, und seine Phyla vermitteln eine noch größere Evidenz der Kontinuität als früher.
Doch wir sind auf den Gedanken gekommen, es aus größerer Nähe zu betrachten. Und siehe da,
bei dieser eingehenden Untersuchung schicken die viel gerührte Einheit und Kontinuität der
lebenden Formen sich an auseinanderzufallen. Ebenso wie die Physiker, als sie die
Dezimalstellen angingen, zwischen ihren Messungen und den schönsten mathematischen
Gesetzen des Universums Abweichungen gefunden haben, so haben auch die Naturforscher, als
sie die Morphologie der lebenden und ausgestorbenen Formen näher untersuchten, störende
Anomalien wahrgenommen.
Zunächst schließt sich in jedem Phylum in Wirklichkeit keine der Formen, die wir
aneinanderreihen, nahtlos an die ihr folgende an. Jede zeigt vielmehr immer irgendein
‹inadaptatives› Kennzeichen, irgendeine ihr eigene Spezialisierung, die sie aus der Reihe
heraustreten und leicht divergieren läßt. Das klassische Abenteuer des Hipparion, das man eine
Zeitlang wegen seiner seitlichen Zehen zu den Vorfahren des Pferdes zählte, das aber durch die
Form seiner Zähne viel komplizierter als letzteres ist, scheint sich in weniger scharfer
Ausprägung bei den meisten unserer genealogischen Versuche zu wiederholen. In dem Maße,
wie wir die von uns katalogisierten Fossilien vollständiger kennen, fällt es uns schwerer, die
schöne Regelmäßigkeit ihrer Verteilung beizubehalten. Unter der Vergrößerung der Lupe zeigen
sich unsere reinsten phylogenetischen Linien als aus kleinen, einander überlappenden
Segmenten gebildet, die sich umschließen, sich ablösen, die sich aber nicht genau eins ins andere
verlängern.
Wenn wir nun anstatt benachbarter, auf ein und demselben Phylum eingeordneter [dem der
Equidae zum Beispiel] (121) Formen zwei Formen vergleichen, von denen die eine einem
Hauptzweig, die andere einem Nebenzweig zugehört, besteht zwischen diesen Formen nicht nur
die von der transformistischen Theorie vorhergesehene Divergenz, vielmehr ist diese Divergenz
derart, daß wir nicht recht sehen können, wie sich mechanisch der Übergang von der einen zur
anderen hat vollziehen können. In einem an dieser Stelle kürzlich von M. Manquat16
besprochenen gewichtigen Buch hat der bedeutende Anatom M. Vialleton unerbittlich die
Unmöglichkeit analysiert, die eine genaue Morphologie aufdeckt, einen Vogel aus einem Reptil,
16 (FN 1) Membres et ceintures des Vertébrés tétrapodes. Critique morphologique du Transformisme. In Revue des Questions Scientifiques, April 1924, Seite 370.
54
eine Fledermaus aus einem kletternden Insektenfresser, einen Seehund aus einem laufenden
Fleischfresser hervorgehen zu lassen.
Kurz, und das wollen wir ‹das transformistische Paradoxon› nennen, die jüngsten Entdeckungen
der Paläontologie haben uns dahin geführt, unterhalb des Biegsamen und Beweglichen das
Starre und Fixierte zu finden. Das Leben, das von einem ersten Fortschritt der Wissenschaft als
eine fließende Kontinuität wahrgenommen wurde, löst sich durch einen weiteren Fortschritt
unserer Forschungen in unvereinbare und diskontinuierliche Einzelpunkte auf.
So lästig dieses Paradoxon auch sein mag, seine Entdeckung hätte, so scheint es, die
Naturforscher nicht an der Unumstößlichkeit ihrer ersten Entdeckung zweifeln lassen dürfen.
Gehört es nicht zum Wesen jeder wirklichen Bewegung [sei sie räumlich, chemisch oder
biologisch…], bei der Analyse in unbewegliche Elemente zerfallen zu können?
Und wirklich, so überrascht auch zum Beispiel M. Depéret und Mr. Osborn sein mögen, da sie
sehen, wie das anscheinend (122) so klar aufgezeichnete Phylum der Rüsseltiere unter ihren
feinfühligen Händen sich in unzählige verschiedene genealogische Reihen auflöst, hat doch
weder der eine noch der andere sich in irgendeiner Weise über die Wohlbegründetheit eines
gewissen Transformismus beunruhigt gezeigt. Die große Mehrheit der Naturforscher hält es
ebenso. Wenn sie auch von der eigenartigen Fähigkeit des Lebens, keinerlei Bewegung mehr zu
verraten, wenn man versucht, es in einem eingeschränkten Bereich seiner Beweglichkeit zu
erfassen, in Verlegenheit gebracht werden, glauben sie deshalb noch nicht verpflichtet zu sein,
auf die fruchtbaren und unersetzlichen Perspektiven einer biologischen Evolution zu verzichten.
Gleichwohl zeigen sich einige [und sie sind, das merke ich an, keine Paläontologen] verwirrt, da
sie Zenon bei sich entdecken. M. Vialleton ist in dem Buch, auf das wir hinwiesen, besonders
pessimistisch: seiner Ansicht nach wissen wir seit dem Arbeiten der transformistischen Schule
nicht mehr über das Leben als vorher. Ein derartiges, aus solch berufenem Munde kommendes
Eingeständnis der Mutlosigkeit ist, wie man sich denken kann, in den Naturwissenschaften
durchaus fremden Kreisen lärmend kommentiert worden. Ist man nicht so weit gegangen, den
‹Zusammenbruch des Transformismus› zu verkünden!
Um diese Übertreibungen zu mäßigen, um den evolutionistischen Glauben zu erklären und zu
legitimieren, der, soviel ich weiß, der beste Führer und die stärkste Stütze aller heutigen
Paläontologen bleibt, habe ich mir vorgenommen, auf den folgenden Seiten:
1. sichtbar zu machen, daß das transformistische Paradoxon, selbst wenn es begründet wäre, die
grundlegenden Ansichten und Forderungen des Transformismus vollständig bestehen läßt;
2. die Stärke dieses Paradoxons abzuschwächen, indem ich (123) aufzeige, daß, wenn es einerseits
wahrscheinlich auf einen einfachen, perspektivischen Effekt zurückzuführen ist, es andererseits
uns auch zwingen kann, sehr förderliche Fortschritte in der Vorstellung zu verwirklichen, die
wir uns von der Geschichte der lebendigen Formen machen.
Ich werde damit schließen, daß ich einmal mehr wieder in Erinnerung rufe, was das wesentliche
Postulat ausmacht, das sich unter den transformistischen Aussagen verbirgt und das sich nach
und nach aus ihnen herausschält; das Postulat, dem kein moderner Gelehrter mehr abschwören
kann, ohne zu seinen eigenen Forschungen in Widerspruch zu geraten.
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A. WAS DAS TRANSFORMISTISCHE PARADOXON NICHT BEDROHT
DER ‹NATÜRLICHE ORT› DER LEBEWESEN
Räumen wir also zunächst einmal ein, die widersprüchlichen Erscheinungen geschmeidiger
Bewegung und starrer Fixiertheit, die das Leben abwechselnd zeigt, je nachdem, ob man es von
weitem oder von nahem, im Ganzen oder im Einzelnen betrachtet, seien nicht ein einfaches Spiel
des Lichtes. Räumen wir weiterhin noch ein, in diesem Widerstreit unserer Erfahrungen stehe
die Wirklichkeit ganz auf seiten des Fixierten und Starren, so daß die Abfolge der besser
bekannten lebenden Arten sich uns immer mehr als eine Reihe von Abteilen zeigen müsse, die
zwar entsprechend der Gestalt einer Bewegung verteilt, die aber jedes für sich unbeweglich und
alle untereinander durch Wände geschieden sind.
Was würde bei dieser Hypothese, der dem Transformismus denkbar ungünstigsten, aus dem
Werk der evolutionistischen Naturforscher? Was bliebe von der glänzenden, aber überholten
transformistischen Periode? (124)
Es bliebe zumindest eine gewaltige wesentliche Tatsache, deren Eindringlichkeit die Gegner
seltsamerweise nicht spüren und deren Konsequenzen sie nicht ermessen: die Tatsache der
natürlichen Verteilung der lebenden Formen.
Sosehr der Anteil des eines Tages von den Naturforschern in die Gebilde des tierischen und
pflanzlichen Lebens wieder eingeführten Statistischen auch überwiegen mang, es wird, dank den
Fossiliensuchern und –rekonstrukteuren, endgültig gesichert bleiben, daß es in keinem Fall ein
einhufiges oder paarhufiges Glied gegeben hat, dem nicht vielfingrige Hufe vorangegangen
wären, – einen schneidenden Reißzahn [wie den der Wiesel, der Hyänen oder der Katzen], der
nicht durch dreispitzige Reißzähne [wie die der Ginsterkatzen oder der Hunde] vorbereitet
worden wäre, – einen Stoßzahn [sei es nun des Narwals, des Walrosses oder der Elefanten], der
nicht in abnorm entwickelten Eck- oder Schneidezähnen vorgezeichnet wäre, – ein Nasen- oder
Stirnhorn, das nicht auf einem zunächst waffenlosen Schädel gewachsen wäre und so weiter…
Wo auch der tiefere Grund für dieses Gebundensein liegen mag, seine Existenz steht außer
jedem Zweifel. In den lebendigen Organismen bildet sich nur etwas im Ausgang von einem
Ansatz. Niemals treten die wirklich lebbaren und beständigen morphologischen Charakteristika
zufällig auf: vielmehr fügen sie sich in einer streng determinierten Ordnung aneinander.
Es ist hier unwichtig, das sage ich noch einmal, ob die tierischen Arten, entlang deren die in
Frage stehenden Charakteristika sich entwickeln, sich durch ein Generationsband ineinander
verlängern oder ob sie, jede für sich, eine Art morphologischer Sackgasse bilden, aus der kein
Individuum entflieht. Es ist interessant, an dieser Stelle festzustellen, daß die zoologischen
Arten, selbst wenn sie, wie man sagt, isolierte Schuppen bilden, sich auf jeden Fall (125)
überdecken und sich wie Koniferenblätter derart ineinander verschachteln, daß sie einen Stiel,
einen Baum, wenn man will einen Busch, auf jeden Fall ein regelmäßiges und kohärentes Ganzes
bilden [oder zumindest vortäuschen]. In einer kürzlichen Studie17 haben wir versucht, unter
Absehung von jeder transformistischen Hypothese diese schuppige Struktur der Phyla im Falle
der Primaten zu fixieren. Was wir bei den Affen zu tun versucht haben, dürfte ebensogut bei
jeder beliebigen anderen lebendigen Gruppe gelingen. Wirklich, es ist erstaunlich, zu sehen, mit
welcher Leichtigkeit sich auf dem ganzen Feld des zoologischen Bereichs die dachziegelartige
oder gefiederte Struktur der lebendigen Formen von den kleinsten bis zu den umfassendsten
zoologischen Gruppen fortsetzt. Die in den uns nächsten Gruppen [Säugetiere unter den
17 (FN 2) Die Paläontologie und das Auftreten des Menschen, Revue de Philosophie, März/April 1923. Band II [‹Das Auftreten des Menschen›] der Werke P. Teilhard de Chardins, Seite 51.
56
Wirbeltieren, Mensch unter den Säugetieren] näher beieinander stehenden Schuppen oder
Zweige rücken rasch weiter auseinander in dem Maße, wie wir in die Abgründe der
Vergangenheit eindringen. Doch die allgemeine Symmetrie bleibt weiterhin deutlich. Selbst
wenn sie für unsere Augen ganz vom Hauptstamm abgeschnitten sind, bewahren die
verschiedenen Zweige in ihrem Verhalten eine Familienähnlichkeit, die sie ebenso unfehlbar als
die Elemente ein und desselben Gebäudes erkennen läßt wie zwei von ein und demselben Baum
abgerissenen Zweige. Es ist gewiß nicht zufällig, daß die während des Tertiärs in Patagonien
isolierten Säugetiere ihre Einhufer hervorgebracht haben oder daß die seit dem Sekundär in
Australien eingeschlossenen Beuteltiere ihren Maulwurf, ihren Igel, ihre Nagetiere, ihre
Fleischfresser gebildet haben – oder noch allgemeiner (126), daß jeder zoologische Stamm, wird
er sich selbst überlassen, sich in einem Quirl von Formen entfaltet, von denen die einen dem
Lauf, die anderen dem Flug oder dem Wohnen auf den Bäumen oder dem unterirdischen Leben
oder dem Schwimmen angepaßt sind. Wenn man diese Fähigkeit regelmäßiger Versprossung
sieht, wie sollte man da nicht trotz aller sekundären Schwierigkeiten sicher sein, daß die
zoologischen Gruppen organisch Teil ein und desselben natürlichen Ganzen bilden?
Diese Feststellung müßte für sich allein genügen, das Feld transformistischer Polemik für immer
zu begrenzen: von welcher Seite man das Gefüge der tierischen Formen auch beobachtet, eine
organisierte Harmonie wird in ihm unmittelbar sichtbar und setzt sich im Ganzen wie in den
Einzelheiten immer weiter fort. Vor Aufstellung jeder Hypothese wird man durch einfache
Bestandesaufnahme der geometrischen Verteilung der Lebewesen auf der Erde gezwungen
einzuräumen, daß keine zoologische Art physisch zu einem anderen Zeitpunkt oder anderswo
auftreten konnte, als sie es tatsächlich getan hat. Mit anderen Worten, kraft des
Gesamtzusammenspiels der astronomischen, geologischen und biologischen Faktoren unserer
Welt nimmt jede lebende Form eine bestimmte Stellung ein, sie hat einen natürlichen Ort, aus
dem man sie nicht herausreißen kann, ohne das ganze Gleichgewicht des Universums zu
zerstören.
Nachdem dies gesetzt ist, frage ich, ob es erlaubt ist, ernsthaft zu verstehen zu geben, wir hätten
dank den Bemühungen der transformistischen Systematik nichts Neues über das Leben gelernt.
Ist es wirklich nichts, zu wissen, daß die Fledermaus [so vollständig der morphologische Umguß
auch sein mag, aus dem sie hervorgegangen zu sein scheint] neben den kletternden
Insektenfressern aufgetreten ist oder der Seehund unter den landbewohnenden Fleischfressern
(127) oder die Vögel in unmittelbarer Nachbarschaft der Reptilien? Gewiß, wir haben noch keine
genaue Vorstellung von den Phasen ihrer Metamorphosen zu den einen oder zu den anderen
hin. Doch zwei wesentliche Punkte sind nunmehr gesichert, von denen man zu Linnés Zeiten
nichts ahnte. Wir sind heute sicher, daß es eine biologische Lösung zu dem Problem der Genese
der Flattertiere, der Flossenfüßler und der Vögel gibt; und wir wissen auch sicher, daß diese
Lösung in einem bekannten Bereich eingegrenzt ist.
Es gibt gewiß eine wissenschaftliche Erklärung des Ursprungs der Arten, denn weder die
Fledermaus noch der Seehund noch die Vögel hätten einen natürlichen Ort im Universum, wenn
sie in ihm nicht kraft einer Gesamtheit analysierbarer, der Erfahrung zugänglicher Faktoren
aufträten. Und der Bereich, in dem diese Erklärung zu suchen ist, ist bereits gefunden: er liegt
zwischen zwei geologischen Epochen, und zwar innerhalb eindeutig bestimmter zoologischer
Gruppen.
Und wenn ich danach noch ohne Vorbehalt von der unermeßlichen transformistischen Illusion
sprechen höre, so muß ich erklären, daß ich nicht mehr begreife, was die Kritik sagen will. – Der
Übergang von einer zoologischen Art in die andere sei eine Illusion? Mag sein. Wir haben bisher
57
innerhalb dieser Hypothese argumentiert. – Der allgemeine Aufstieg der Formen zu immer
größerem Bewußtsein und größerer Spontaneität eine Illusion? Mag auch sein. Diese Ansicht ist
zu sehr von Philosophie, ja von einer Art Mystik durchtränkt, als daß man einen Mann der reinen
Wissenschaft daran hindern könnte, in den Abwandlungen des Lebens etwas anderes als ein
einfaches Bemühen um Vermannigfaltigung zu sehen. – Doch die geordnete, organisierte,
unausweichliche Verteilung der Lebewesen durch Raum und Zeit eine Illusion? Das verneine ich
mit der ganzen Kraft meiner paläontologischen Erfahrung. (128)
Einen Augenblick, wird man sagen. Sie kämpfen hier gegen einen eingebildeten Gegner.
Niemand denkt daran, die geometrische Verteilung zu bestreiten, von der Sie sprechen. Sie ist
allzu evident, als daß irgendein Naturforscher sich ihr zu entziehen versuchte. – Wirklich? Doch
wieso sehen Sie dann nicht, daß Sie mit diesem einzigen Zugeständnis retten, was Sie zu
zerstören behaupten? Wir haben es eben gesagt: eine natürliche Gruppierung der Tiere im Raum
und in der Zeit ist die Gewähr dafür, daß die Lebewesen in das Universum durch eine natürliche
Pforte eingedrungen sind; und ein natürlicher Ursprung der Lebewesen ist die Garantie dafür,
daß es einen natürlichen [das heißt wissenschaftlichen] Grund für das Phänomen
aufeinanderfolgenden Auftretens gibt18. Was aber ist der Transformismus im Grunde anderes als
der Glaube an ein natürliches Band zwischen den tierischen Arten? Allein dadurch, daß Sie ein
derartiges Band in der lebenden Natur zugestehen, fügen Sie den evolutionistischen
Gesichtspunkt uneingeschränkt in Ihre Anschauungen wieder ein. Und ich anerkenne, daß Sie
nicht anders können. Begreift man den Transformismus, wie es geschehen muß, großzügig, so ist
er bereits keine Hypothese mehr. Er ist die Denkform geworden, außerhalb deren es keine
mögliche wissenschaftliche Erklärung gibt. Deshalb wird er, und wäre es in einer völlig
unerwarteten Form, unausweichlich weiterhin die Morphologie der Zukunft leiten und
beseelen19.
Was wir eben sagten, genügte bereits, um zu erklären, weshalb die Paläontologen trotz des
rätselhaften Verhaltens des Lebens mit Recht den evolutionistischen Ansichten treu bleiben.
Selbst in einem Universum, in dem die tierischen Arten sprunghaft, ohne irgendeine
unmittelbare Abstammung aufeinanderfolgten, müßte man immer noch einen
wissenschaftlichen Grund für die von diesen Diskontinuitäten befolgte Ordnung, das heißt ein
Evolutionsgesetz, finden. Doch bevor wir die alte und einfache Vorstellung von den Phyla
aufgeben, in denen die aufeinanderfolgenden Glieder einander durch Zeugung im eigentlichen
Sinne hervorbringen, bleibt noch genau zu prüfen, ob das transformistische Paradoxon sich
wirklich, wie wir bisher eingeräumt haben, zugunsten der Stabilität und der Unabhängigkeit der
Elemente auflösen muß, deren Reihe die Lebensbewegung aufzeichnet, – oder ob nicht gerade
diese Stabilität und die Unabhängigkeit Illusion sind.
Bereits vor jeder Einzelanalyse ist dieser zweite Standpunkt bei weitem der bestechendste.
Niemand, so glaube ich, der sich konkret mit der Systematik zu befassen hatte, wird mir in
diesem Punkt widersprechen: aus der längeren Beobachtung der lebenden Organismen gewinnt
man unwiderstehlich den ersten instinktiven Eindruck, daß es eine von einer Art zur anderen
führende organische Brücke gibt. Wie könnte man zum Beispiel annehmen, das Oberarmbein
oder das Sprungbein der Säugetiere seien von der Natur mehrmals, unabhängig voneinander,
18 (FN 3) Man wird, so glaube ich, begreifen, daß in diesem Satz der Terminus ‹natürlich› [der hier im Gegensatz zu ‹künstlich› begriffen wird] keinerlei dem Einfluß der ersten Ursache auferlegte Art von Begrenzung impliziert. Siehe außerdem die Anmerkung 8. 19 (FN 4) Angesichts des Transformismus, so wie wir ihn eben gerade definiert haben, ist die abwartende oder agnostische Haltung nicht einmal erlaubt. Die Frage, die unter Gelehrten gestellt wird, ist bald nicht mehr die Frage, ob die einzelnen Arten mit Hilfe der anderen auftreten, sondern wie sie es tun.
58
erfunden worden?20 Aus den heute und in der Vergangenheit von den Lebewesen auf der Erde
eingenommenen Stellungen folgt fast notwendig die Existenz eines Überganges zwischen (130)
ihnen. «Ex situ, transitus.» Gewiß bin ich bei der Lektüre M. Vialletons von den mechanischen
Schwierigkeiten beeindruckt worden, evolutiv von einem gewöhnlichen Insektenfresser zu einer
Fledermaus oder zu einem Maulwurf, von einem Huftier zu einer Seekuh zu gelangen. Wenn ich
aber sehe, wie sich in natura rerum gewisse als unmöglich bezeichnete Wandlungen mit
veränderlicher Intensität in sehr verschiedenen Phyla periodisch vollziehen [das ist der Fall aller
‹adaptativen Ausstrahlungen›]; – wenn ich zum Beispiel auf einen echten, die Steppen der
Mongolei durchwühlenden Nager, den Myospalax, stoße, dessen Grabfüße genau auf halbem
Wege zwischen denen einer Ratte und denen eines Maulwurfs stehen; – dann frage ich mich
erleichtert, ob die mechanischen Unmöglichkeiten, die man dem klassischen Transformismus
entgegenhält, nicht jener Art von Berechnungen zuzuordnen seien, die es einer Lokomotive
verboten, auf Schienen zu rollen. Das Leben ist in seinen Erfindungen sicher viel geschmeidiger
und fruchtbarer, als wir ahnen. Wäre es nicht knabenhaft, Metamorphosen, deren Evidenz sich
uns in fast unausweichlicher Weise aufdrängt, unter dem Vorwand zu leugnen, daß es uns noch
nicht gelingt, sie zu analysieren?
Versuchen wir also, unter Beibehaltung der alten Hypothese eines Transformismus durch
Abstammung zu erklären, wie es möglich ist, daß die Bewegung, die theoretisch die Lebewesen
in ihren aufeinanderfolgenden Evolutionen mitreißt, so umfassend oder so intermittierend sei,
daß wir in unseren Laboratorien tatsächlich niemals etwas anderes zu erfassen vermöchten als
Fragmente des Unbeweglichen und Starren. (131)
B. VERSUCH EINER INTERPRETATION DES TRANSFORMISTISCHEN PARADOXONS
Eine erste Weise, die von dem Leben in unseren wissenschaftlichen Analysen gezeigte
wunderliche Mischung von Kontinuität und Diskontinuität zu erklären, kann in der
unzweifelhaften Tatsache gesucht werden, daß die Zahl der zoologischen Arten, deren Reihe die
Geschichte der tierischen Entwicklung abdeckt, unvergleichlich größer ist, als wir uns vorstellen.
Was wir eine Abstammungslinie nennen, zum Beispiel die der Pferde oder der Elefanten, ist
keineswegs eine einfache lebende Faser noch auch nur ein klar begrenztes Bündel von leicht
aufzählbaren Formen. Konkret setzt sich ein Phylum aus einer unermeßlichen Menge
morphologischer Einheiten zusammen, die nach allen Launen der geographischen Wanderungen
und der Fossilbildung eigenwillig ineinander verschlungen sind. Wenn es uns gelingen könnte,
eine Faser dieses Zopfes zu isolieren und ihr durch die geologischen Zeiten hindurch lange zu
folgen, würden wir feststellen, daß es zwischen ihren Elementen eine wirkliche morphologische
Kontinuität gibt. Tatsächlich wird dieser günstige Fall niemals verwirklicht. Bei den [sehr
lückenhaften und dünn gesäten] aufeinanderfolgenden Schnitten, die wir in verschiedener Höhe
durch ein und denselben zoologischen Zweig legen können, stoßen wir bald auf eine, bald auf
eine andere Faser und wahrscheinlich niemals zweimal auf dieselbe. Somit sind unsere
allgemeinen Reihen jeweils nur eine ideale Achse, die recht und schlecht innerhalb des
wirklichen Bündels der zoologischen Arten hin und her pendelt. Unsere Phyla sind mittels von
verschiedenen organischen Einheiten übernommener Elemente hergestellte, buntscheckige,
ungefähre Konstruktionen.
20 Trotz seines überlegten Agnostizismus in evolutionistischen Fragen kann M. Vialleton, wenn er vom Ursprung der Flattertiere spricht, nicht umhin zu sagen, daß die Natur, um sie zu bilden, «wahrscheinlich von gewöhnlichen Säugetieransätzen ausgegangen ist» [Seite 421], ein treffender Beweis, das sei nebenbei gesagt, für die Unmöglichkeit, der sich jeder wahre Naturforscher gegenübersieht, die transformistische Denkweise zu ‹exorzisieren›.
59
Als erste Annäherung ist gegen diese Weise des Vorgehens (132) nichts einzuwenden, da die Linie,
die sie uns von der Evolution der lebenden Form liefert, im großen und ganzen der von der
Natur wirklich verfolgten Kurve ähnlich ist. Wenn wir uns jedoch anschicken, eine ins einzelne
gehende Kritik unserer Konstruktion zu geben, müssen wir wahrnehmen, daß ihre Elemente
einander nicht genau entsprechen, daß die einen in bezug zu den anderen Spielraum haben. Wir
hätten selbstverständlich unrecht, uns darüber zu wundern: die Bewegung des Lebens ist
durchaus wirklich; doch unsere Arbeitsmethode ist noch allzu grob, als daß es uns gelänge, sie in
aller Strenge aufzudecken.
Es erscheint nicht bezweifelbar, daß in einer großen Zahl von Fällen diese erste Lösung des
transformistischen Paradoxons gültig ist. Den Zoologen widerfährt ganz einfach das, was den
Physikern und den Astronomen widerfahren ist: ein Übermaß an Genauigkeit läßt sie
vorübergehend an der schönen und einfachen Wahrheit zweifeln, die sich einer naiveren
Beobachtung der Tatsachen mit Evidenz aufdrängte. Die Bäume verbergen uns den Wald.
Immerhin bleiben selbst nach diesen Erklärungen die wichtigsten Schwierigkeiten bestehen,
denen der Transformismus heute bei der Anwendung seiner Theorien begegnet. Wir beginnen
die Verwerfung zu begreifen, der bei einer genügenden Vergrößerung unsere besten
genealogischen Reihen unterworfen sind. Wir erkennen noch nicht, weshalb diese Reihen immer
vor uns als fast restlos durchgebildete Entitäten auftauchen und sich manchmal endlos, ohne
merkliche Veränderung ihrer Charakteristika fortsetzen.
Der Schlüssel zu diesem doppelten Geheimnis ist wahrscheinlich in einer sehr verallgemeinerten
Theorie der ‹Mutationen› zu suchen, – die durch einige sehr einfache Überlegungen über die
Verstümmelungen zu ergänzen ist, denen der Mechanismus der Fossilisation unsere Einsichten
(133) in die Vergangenheit unterwirft, – und die von einer [was immer man auch dagegen hat]
psychischen Interpretation der Evolution gestützt wird.
1. Man spricht häufig von den Mutationen als einem außerordentlichen, mehr oder weniger im
Widerspruch zum gewöhnlichen Vorgehen des Lebens stehenden Ereignis. Sind sie bis zu einem
gewissen Grad entwickelt, können sie wohl als solches gelten. Werden sie dagegen in ihrem
wesentlichen Mechanismus genommen, sind sie ganz im Gegenteil ein beständig mit der
Zeugung der lebenden Formen verbundenes Element. Die ‹phylogenetische› Bewegung zeigt, das
darf nicht vergessen werden, einen ganz besonderen Charakter. Bei fast allen anderen
Bewegungen, die wir zu studieren gewohnt sind [räumliche Verschiebungen, physikalisch-
chemische Umwandlungen, ontogenetische Evolution…], bildet das Subjekt der Veränderung
einen kontinuierlichen Träger der auftretenden aufeinanderfolgenden Veränderungen. Im Falle
der Entwicklung einer zoologischen Art verhält es sich ganz anders. Selbst wenn man annehmen
müßte, das Germen bilde zwischen den Individuen ein und derselben genealogischen Reihe ein
physisch durchgehendes, autonomes Band, bliebe die Tatsache, daß dieser geheimnisvolle
Wurzelstock sein ganzes Leben lang unter dem Einfluß von vorübergehend auf seinem Stiel
erblühten Wesen blieb. Die Bewegung der Art vollzieht sich im Sprung von einem Individuum
zum anderen. Was aber sind nun unter genetischem oder dynamischem Gesichtspunkt diese
Bewegungsträger, denen sich nacheinander die Bewegung aufprägt? – Zweifellos stellen sie
jeweils ein kleines, unabhängiges System einer Möglichkeit morphologischer Abweichung dar.
Ebenso wie an einem Pflanzenstiel jedes Blatt [und manchmal sogar jede Zelle] einen möglichen
Punkt der Knospung, der Verzweigung bezeichnet, so ist entlang einem zoologischen (134) Stamm
jedes Individuum befähigt, die Bewegung der vitalen Evolution in eine besondere Richtung
abzulenken, und zwar gemäß den Charakteristika, die genau das ausmachen, was es an
Individuellem hat. Nicht einmal innerhalb ein und derselben echten Familie bilden die
60
Lebewesen, unter dem Gesichtspunkt der zoologischen Kennzeichen, eine gerade Linie; vielmehr
zeichnen sie eine Reihe von Kerben oder Tangenten zu der für die Art repräsentativen
Idealkurve. Jedes Individuum ist eine kleine Schöpfung für sich, eine mögliche neue Art, ein
Ansatz eines Phylums, ein morphologischer ‹Seitensprung›. Das stimmt derart, daß man die von
der Paläontologie bei der Rekonstruktion der Phyla angewandten Methoden nicht stark zu
übertreiben brauchte, um zu dem Beweis zu gelangen, daß ein Sohn nicht von seinem Vater
abstammen kann, unter dem Vorwand, daß die Variation der Charakteristika von einem zum
andern nicht in irreversibler oder fortlaufender Weise erfolge.
Wenn dies anerkannt wird, ist ganz klar, daß in der Mehrheit der Fälle die individuellen
Abweichungen sich ausgleichen. Die Knospen bleiben virtuell, oder sie wachsen nicht. Wenn sich
aber im Leben der Art gewisse Erschütterungen oder gewisse Notwendigkeiten oder gewisse
Gelegenheiten ergeben, die einem Wechsel in der Verhaltensweise oder der Annahme einer
neuen Lebensweise [z. B. Leben in der Luft oder im Wasser] den Weg öffnen, dann begreift man,
daß das eintritt, was der große amerikanische Anatom und Paläontologe W. K. Gregory einen
«revolutionären Wandel» nennt: einen ausgeglichenen Umguß des Organismus. Die
individuellen Möglichkeiten treten zutage – die Knospe bricht auf und wächst – ein neuer Zweig
entsteht tatsächlich an dem bis dahin fast glatten Stiel des alten Phylums.
Revolutionärer Wandel, Umguß, sagten wir. Hüten wir (135) uns wohl davor, den Umfang der
Metamorphose in ihren Anfängen zu übertreiben. Es macht die [sicher ungewollte]
Geschicklichkeit M. Vialletons aus, daß er sich in seinem Buch besonders dem Studium
offenkundig sehr isolierter und nach allgemeiner Ansicht zu einem Paroxysmus an
Spezialisierung gelangter morphologischer Typen zuwendet. Die plötzliche Bildung eines
Flattertiers oder eines heutigen Seehunds im Ausgang von einem einer Spitzmaus oder einem
Fischotter ähnlichen Tier ist offensichtlich unvorstellbar. Doch die Dinge dürften sich nicht so
zugetragen haben. M. Vialleton macht sehr richtig darauf aufmerksam, daß der älteste bekannte
Vertreter der Equidae, das Hyracotherium des Eozäns, durch die Anmut seiner Kopfhaltung und
die allgemeine Anlage seines Skeletts bereits durch und durch Pferd ist. Das stimmt. Doch welch
bewundernswert wenig ausgeprägtes Pferd! Vier Vorderzehen, drei Hinterzehen, kurze,
engstehende, höckrige Zähne und so weiter… Gehen wir in Gedanken über das Hyracotherium
nur um die Hälfte des morphologischen Abstandes zurück, der es vom heutigen Pferd trennt.
Wir finden immer noch, das räume ich gerne ein, ein nach der Grundformel der Equidae
gebautes Tier. Diesmal aber sind seine ‹pferdhaften› Charakteristika derart ansatzhaft, derart
verhüllt, daß ihr Erwerb nicht mehr wesentlich die Grenzen des organischen Umgusses zu
überschreiten scheint, der das Zur-Welt-Kommen jeder beliebigen lebenden Individualität
begleitet. An dieser Stelle beobachtet, erscheint die Geburt der Equidae morphologisch nicht
ungewöhnlicher als das Auftreten irgendeiner zoologischen Varietät. Nur die Kenntnis, die wir
heute von dem dieser Variation vorbehaltenen Erfolg haben, erlaubt uns, sie unter vielen
anderen zu unterscheiden. – Dasselbe gilt für die Fledermäuse und die Seehunde. Die ersten
Vertreter dieser beiden Gruppen hatten gewiß nicht so ausgeprägte (136) Züge wie ihre heutigen
Nachkommen. Doch wenn sie bereits im Keim alle Charakteristika der Flattertiere und der
Flossenfüßler hatten, so mußten sie sie, wie das Beispiel des Hyracotheriums bestätigt, in so
verschwommener, so verhüllter Weise besitzen, daß ihre morphologischen Besonderheiten bei
einem zeitgenössischen Beobachter, der sie hätte unterscheiden wollen, eine wunderbar
Voraussicht der Zukunft verlangt hätten.
2. Wie kommt es nun, daß diese verschwommenen, unscharfen Formen, die interessantesten für
die Wissenschaft, gerade immer die Formen sind, die in unseren Sammlungen fehlen? Woher
61
kommt diese Fatalität, die in unseren Reihen immer die Glieder verschwinden läßt, in denen wir
mit größter Gewißheit die Existenz einer Bewegung des Lebens erfassen könnten?
Hier ist der Ort, einen sehr bescheidenen und sehr akzidentellen Faktor einzuführen, einen sogar
so akzidentellen Faktor, daß es scheinen möchte, er sei von den verbellten Transformisten
willkürlich erfunden worden, wenn nicht die dauernde Erfahrung aller Paläontologen dafür
einstände, seine allzu hinderliche Wirklichkeit zu verbürgen: ich meine die automatische
Zerstörung der Stiele der zoologischen Phyla, eine Zerstörung, die selbst auf zwei Ursachen
zurückgeht: die sehr geringe Größe der Lebewesen, auf deren Ebene sich die großen
morphologischen Wandlungen vollzogen haben, und vor allem die relativ geringe Zahl von
Individuen, aus denen sich ursprünglich die lebenden Arten zusammensetzten.
Seit langem21 hat man beobachtet, daß die ersten bekannten Vertreter der verschiedenen
zoologischen Familien viel kleiner sind als ihre Nachkommen. Das Hyracotherium ist (137) so groß
wie ein Fuchs. Die ersten Wiederkäuer sind kleiner als ein Hase. Die kleinen Primaten des
unteren Eozäns haben die Größe einer Spitzmaus. Das Gesetz scheint uneingeschränkt allgemein
zu gelten. – Ohne uns hier dabei aufzuhalten zu erforschen, ob die absolute Kleinheit eines
Tieres nicht recht eigenartigerweise eine für den möglichen Umfang seiner Mutationen
notwendige Bedingung sei, halten wir nur fest, daß die häufig winzigen Ausmaße der
ursprünglichen zoologischen Typen ein sehr großes Hindernis zunächst für ihre Fossilisierung
und dann für ihre Entdeckung sind. Wenn zum Beispiel die große Zerstreuung der Säugetiere
innerhalb einer Tiergruppe erfolgt ist, deren mittlere Größe der einer Maus entsprach, haben
wir recht wenig Aussichten, ihre Spuren aufzufinden… Es sei denn, man nehme an, die Anzahl
mutierter Individuen sei unmittelbar sehr beträchtlich gewesen. Doch diese letztere Annahme,
wir werden bald darauf zurückkommen, ist höchst unwahrscheinlich.
M. Vialleton scheint zu glauben, man neige dazu, die Lücken in unseren paläontologischen
Kenntnissen zu übertreiben. Demgegenüber überzeugt mich alles, was mich die Praxis der
Geologie gelehrt hat, und zwar in steigendem Maße, davon, daß diese Lücke so groß sind, daß es
einer wirklichen geistigen Anstrengung bedarf, um dahin zu gelangen, sich recht und schlecht
ihrer Gewaltigkeit bewußt zu werden. Bereits in der Stratigraphie, vor allem in der
kontinentalen, sind die ‹weißen Stellen› eindrucksvoll: es fehlen uns gewiß mehr Formationen,
als wir besitzen. Paläontologisch ist die Lage noch ungünstiger. Selbst wenn für eine bestimmte
Epoche die geologischen Schichten vorhanden sind und wenn sie [was bei weitem nicht die
Regel ist] fossilienhaltig sind, müssen wir uns eingestehen, daß wir uns nur eine sehr schwache
Vorstellung von den Tierformen machen, die damals die Erde bevölkerten. Ein unmittelbarer
(138) Beweis für diesen Mangel in unserem Bild der Vergangenheit wird bereits durch die
Tatsache geliefert, daß es genügt, einen neuen Bereich der Welt anzugehen, um neue zoologische
Formen zu entdecken: in der Paläontologie hört man nicht auf, Neues zu finden! Andere
Tatsachen sind noch bezeichnender. Es gibt Fälle, den des Menschen oder der Straußenvögel
zum Beispiel, in denen wir dank den von den einen hinterlassenen unzerstörbaren
Steinwerkzeugen und den von den anderen hinterlassenen sehr widerstandsfähigen Eiern uns
eine Vorstellung von dem Verhältnis machen können, das zwischen der Zahl der gefundenen
Fossilien und der Zahl der wirklich gelebt habenden Wesen besteht. Nun, der Quotient ist von
unwahrscheinlicher Kleinheit. In einer Epoche [dem Chelléen], aus der wir höchsten zwei
menschliche Gebeine kennen, bedecken die Steinwerkzeuge die Erde. Gegenüber Millionen von
Struthiolithus-Resten, die die roten Tonerden und die Lösse Chinas durchsetzen, besitzen wir
zwei oder drei Knochen von dem Vogel, der sie legte. In dem selben Lande hat der Tiger
21 (FN 6) Siehe zum Beispiel, was Depéret in seinen Transformations du Monde animal schreibt.
62
während der ganzen geschichtlichen Zeit gelebt: ich habe nicht davon gehört, daß man auf einen
einzigen Knochen von ihm in dem alten Boden gestoßen wäre. – Was wird mit alldem gesagt?
Ganz einfach dies, daß die Paläontologie [wie alles Schauen in weite Ferne] uns nur Maxima
enthüllt. Damit eine Tierform im fossilen Zustand aufzutreten beginnt, muß sie bereits Legion
sein22.
Wenden wir uns nun wieder der Betrachtung der Phyla und ihres Ursprungs zu. Aus mancherlei
positiven Gründen und Analogien gelangen wir zu der Annahme, daß die (139) Bildungsdauer der
zoologischen Arten relativ kurz ist. Da dieser Zeitraum kurz ist und die Mutationen
wahrscheinlich zu Beginn jeder neuen Art nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Vertreter
der alten Art beeinflussen, ist die absolute Anzahl der Individuen des wirklichen ‹Übergangs›-
Typs notwendigerweise beschränkt. Nicht nur die Körpergröße dieser für die Zoologie höchst
interessanten Individuen ist sehr klein [wie wir gesehen haben], vielmehr ist auch ihre
Gesamtzahl der Bedingung unterworfen, sehr gering zu bleiben. Auf Grund aller ihrer
quantitativen Charakteristika bilden die Stiele der Phyla also Minima in der biologischen
Evolution. Auf Grund dessen, was wir über die Schwierigkeiten der fossilen Erhaltung wissen,
sind sie also zum Verschwinden verurteilt. Wir haben ebensowenig Aussicht, die ersten tertiären
Vertreter der Equidae oder der Affen wiederzufinden wie die in den metamorphosierten Böden
vergrabenen Vorfahren der Trilobiten oder der Würmer. Aus verschiedenen Gründen ist die
Zerstörung der einen wie der anderen gleich unausweichlich sicher. Wenn ein Phylum für uns
wahrnehmbar wird, kann es nicht anders als in seinen Zügen bereits vollständig definiert und in
seinen Charakteristika verhärtet sein. Und gerade das erklärt uns die paradoxen
Erscheinungsformen, unter denen das Leben sich vor unseren Augen zeigt: die
Erscheinungsformen eines großartigen Baumes, dessen regelmäßig angeordnete und voll
ausgewachsene (140) Äste an einem unsichtbaren oder imaginären Stamm zu hängen scheinen.
3. Bei den vorausgehenden Erklärungen mag bemerkt worden sein, daß ein Punkt dunkel blieb.
Um den Schwingungen und den Verzweigungen der Phyla gerecht zu werden, haben wir letzten
Endes das Phänomen der Mutationen zu Hilfe genommen. Handelt es sich dabei nicht um eine
rein verbale Lösung? Ist die ganze Schwierigkeit des Transformismus nicht gerade in dieser
dunkeln Vorstellung von einem plötzlichen Wandel beschlossen, die die Ideen der Stabilität und
der Bewegung, des Zufalls und der Finalität künstlich miteinander zu verbinden scheint? Als wie
geringfügig wir auch die individuellen Variationen annehmen, aus denen als seitliche Zweige der
Ast der Equidae oder der der Flattertiere hervorgebrochen sind, diese Variationen müssen [M.
Vialleton hat recht, das zu betonen] wunderbar gezielt, ausgewogen und koordiniert gewesen
sein; sonst hätten sie das Leben nicht in derart siegreiche Bahnen gelenkt. Wie soll man ein
blindes, zufälliges organisches Wirken an den Ursprung einer so harmonischen Umformung der
Orange setzen? – Nunmehr müssen wir uns zu diesem grundlegenden Punkt erklären.
Unserer Meinung nach sind die Mutationen für die heutigen Naturwissenschaftler deshalb so
schwer verständlich und annehmbar, weil sie die ‹plasmatische› Rolle der lebenden Psyche aus
Furcht vor einem falsch begriffenen Vitalismus zu Unrecht aus ihren Theorien ausscheiden; weil
sie zu Unrecht ‹natürlich› und ‹mechanisch› identifizieren.
22 (FN 7) M. L. Cuénot, ein Spezialist in transformistischen Fragen, hat mir freundlicherweise mitgeteilt, daß diese Vorstellungen seit langem die seinen sind. «Wir kennen eine Form erst», schreibt er mir, «wenn sie spezialisiert ist, das heißt, wenn sie mit zahlreichen Individuen einen frei gebliebenen Platz in der Natur einnimmt. Darwin glaubte das Gegenteil und sah in den großen Arten das Material für die Evolution. Diese Vorstellung wird durch die Tatsachen durchaus widerlegt. Dann aber erscheinen uns die kleinen, an Individuen wenig zahlreichen Arten, die die evolutive Kraft als Depositum in sich tragen, als mit einer besonderen Eigenschaft begabt, die die spezialisierten Arten verloren haben…»
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Diese Identifizierung und dieser Ausschluß stehen im Widerspruch zur Erfahrung, weil es
genügt, die Evolution der Lebewesen zu betrachten, um zu sehen, daß die Reihe ihrer
osteologischen Metamorphosen lediglich der äußere Schleier, die Fassade der Entwicklung eines
Instinkts ist. – (141) Und sie sind außerdem theoretisch nicht gerechtfertigt, weil man sie
entbehren kann, ohne im geringsten auf die Abwege zu geraten, die jüngst die Schule von
Montpellier bekannt gemacht haben. Antiwissenschaftlich am Vitalismus ist, daß er das Leben in
die Reihen der physikalisch-chemischen Ursachen derart einschaltet, daß er es wägbare oder
meßbare Wirkungen unmittelbar hervorbringen läßt, die ihm spezifisch wären – als wäre es eine
Art Strahlung oder Elektrizität. Wenn man jedoch das Leben [wie jede geistige Ursache begriffen
werden muß] als eine synthetische Kraft höherer Ordnung als der der physikalisch-chemischen
Kraft begreift, die fähig ist, letztere zu koordinieren und sich ihrer zu bedienen, ohne jemals ihre
Determinismen zu zerbrechen oder zu verfälschen – dann ist nicht einzusehen, weshalb die
Wissenschaft daran mehr Anstoß nehmen sollte als an der menschlichen Freiheit, von der sich
zu befreien kaum jemandem einfallen dürfte, es sei denn, er wäre ein ausgeprägter Mechanist.
Weil das Leben ein physischer Faktor höherer Ordnung als die wägbaren Kräfte ist, ist es uns
immer genauso möglich, seine Produkte zu analysieren, ohne ihm zu begegnen, wie eine Uhr
mechanisch zu erklären, ohne an den Uhrmacher zu denken: in jedem Augenblick stellt das
Universum, selbst wenn wir es mit psychischen Kräften ausgestattet annehmen, durchaus einen
geschlossenen Kreislauf von Determinismen dar, die sich gegenseitig einführen. Da aber diese
psychischen Kräfte im Grunde den Koordinationsfaktor der verschiedenen determinierten
Systeme bilden, deren Zusammenfügung die belebte Welt konstituiert, können andererseits die
aufeinanderfolgenden Transformationen der letzteren nicht erklärt werden, ohne daß wir auf
die unwägbaren Kräfte der Synthese zurückgreifen.
Unter diesen Bedingungen und um mich eines von Èdouard Le Roy geprägten Ausdrucks zu
bedienen, glaube ich, wir (142) können das, was in einem Phylum im Augenblick seiner
Entstehung vorgeht, nicht besser begreifen, als wenn wir uns eine Erfindung vorstellen. Eine
instinktive, von ihren Urhebern weder analysierte noch berechnete Erfindung, das ist klar.
Jedoch trotzdem eine Erfindung – oder aber, was auf dasselbe hinausläuft, Erwachen und
organhafte Verwirklichung eines Verlangens und eines Vermögens. Nichts spricht dagegen, daß
gewisse Phyla [Wühler oder Höhlenbewohner zum Beispiel] an ihrem Ursprung sich irgendeine
Anomalie oder irgendeinen organischen Fehler zunutze gemacht hätten. Nichtsdestoweniger
scheint meistens eine positive Kraft ins Spiel zu kommen, um das Leben zu differenzieren. Hat
nicht, so möchte man sagen, eine Art Anziehungskraft oder erahnte Fähigkeit die Landtiere ins
Wasser oder in die Luft getrieben, die Krallen geschärft oder die Hufe verkleinert? Wenn man
mit Erstaunen sieht, wie sich entlang eines Fleischfresser-Phylums die Zähne verkleinern und
zuspitzen [d. h. wie sich die Organe umbilden, die auf Grund ihrer Starrheit am meisten dahin
angelegt sind, den durch den Gebrauch erworbenen Änderungen zu entgehen], wie sollte man da
nicht unwiderstehlich noch viel eher an die Hervorhebung eines Temperaments oder einer
Leidenschaft, das heißt an die Entwicklung eines moralischen Charakteristikums, als an die
Evolution eines anatomischen Charakteristikums denken? – Es verhalte sich so, und sogleich hat
die vollkommene Korrelation der verschiedenen organischen Modifikationen im Augenblick
einer Mutation nichts Außergewöhnliches mehr an sich. Wenn sich nicht ein isoliertes
morphologisches Element ändert, sondern das Koordinationszentrum aller Organe selbst sich
verschiebt, kann das Lebewesen sich nur in einem Guß und harmonisch verwandeln.
Dies, das sage ich noch einmal, bedeutet in keiner Weise (143) eine Rückkehr zu den
Lebenskräften oder zu den ‹Kräften› der schlechten Scholastik. Immer weniger wird der
Gelehrte, ohne in Trägheit zu verfallen, darauf verzichten können, die Determinismen genau zu
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analysieren, die das Leben benutzt und gruppiert in seinem Bemühen, die Tendenzen zu
exteriorisieren, die letzten Endes seine beständigste Wirklichkeit sind. Doch wenn er sich nicht
gleichzeitig entschließt, diese Tendenzen als die letzte der Erfahrung zugängliche Quelle der
evolutiven Energien, die er studiert, zu Hilfe zu nehmen, werden die organischen
Transformationen der tierischen Welt für ihn ebenso unerklärlich bleiben wie einem rein
deterministischen Historiker die historischen Wechselfälle der menschlichen Gesellschaft. Das
transformistische Paradoxon wird vor ihm stehenbleiben als eine unlösbare Schwierigkeit.
Wird es für ihn, wenn er den spiritualistischen Vorstellungen dieses Zugeständnis macht, nicht
dasselbe bedeuten wie die die Idee der Evolution selbst zerstören? Heißt die Rolle einer
formenden Psyche bei der Bildung der Arten anerkennen nicht, dem Transformismus den
Rücken kehren? M. Vialleton hat das schreiben können, weil er, es ist mir unbegreiflich weshalb,
Transformismus und Mechanismus identifiziert. Es ist uns unmöglich, die Wirklichkeit des
Dilemmas zu sehen, vor das man uns stellen will. Transformist sein heißt nicht, das haben wir
häufig gesagt, Darwinist oder Lamarckist oder Anhänger irgendeiner bestimmten Schule sein. Es
heißt einfach anerkennen, daß das Auftreten der Lebewesen auf der Erde einem feststellbaren
Gesetz gehorcht, welches auch immer dieses Gesetz sei. Weder der Mutationismus noch ein
recht verstandener Vitalismus stehen im Widerspruch zu dieser Haltung. (144)
SCHLUSSFOLGERUNG
Die vorausgehenden Überlegungen haben, so hoffe ich, gezeigt, daß es, ohne Zuhilfenahme
irgendeines wesentlich neuen Faktors zoologischer Metamorphose und unter der einzigen
Bedingung, das vernünftig lokalisierte Eingreifen der Lebenskräfte nicht auszuschließen,
möglich ist, in transformistischen Termini die auf den ersten Blick so verwirrenden Sprünge der
tierischen Evolution zu erklären.
Wir hätten jedoch den tiefsten Grund unseres Denkens nicht aufgedeckt, wenn wir zum Schluß
nicht folgende Bemerkungen anfügen würden.
Bisher hat man beim Studium des Lebens wie auch bei dem der Materie vor allem versucht, den
Grund der Phänomene im Wirken der elementaren Ursachen zu finden. Es möchte scheinen, die
Sternenwelt dürfe nur durch die korpuskularen Kräfte erklärt werden und die lebendige Welt
nur durch die individuellen Wirkungen. – Man darf sich fragen, ob diese Art von Atomismus
trotz seiner unbestreitbaren Fruchtbarkeit noch lange der Aufgabe gewachsen ist, uns das
Wirkliche wissenschaftlich begreiflich zu machen. Neben den aus dem Zusammenspiel der Teile
sich ergebenden Eigenschaften muß es in jedem organisierten Ganzen gewisse andere wägbare
oder unwägbare Eigenschaften geben, Erbteil des Ganzen als solches, die weder durch die
Analyse noch die Summierung der elementaren Kräfte erklärt werden können. Können wir uns
wirklich einbilden, die Welt zu erklären, ohne diesen letzteren einen eindeutigeren Platz in
unseren Studien einzuräumen? Das heißt, ohne die Existenz umfassenderer natürlicher
Einheiten als jener, auf die wir gewöhnlich unsere Beobachtungen begrenzen, ins Auge zu fassen
und ohne deren spezifische Attribute zu erforschen?
Das irdische Leben steht in der vordersten Reihe dieser umfassenden (145) Entitäten, deren
unmittelbar sie angehendes Studium wahrscheinlich genügen würde, damit sich vor unseren
Augen zahlreiche Schwierigkeiten verflüchtigen, die unmöglich auszuräumen sind, solange man
in der Welt einzig und allein die elementaren Energien in Betracht zieht. Das Leben, das in enger
Abhängigkeit von den physikalisch-chemischen Gegebenheiten unseres Planeten aufgetreten ist,
stellt durch das, was es hervorgebracht hat, einen wichtigen und unablösbaren Teil unserer
kosmischen Einheit dar. Läßt man die Frage der metaphysischen Würde beiseite, gibt es
65
ebensowenig einen Grund, die Pflanzen und die Tiere von der Erde zu trennen wie die
Meerwasser oder den Granit. Wenn aber auf Grund dieser Gegebenheiten der Verwurzelung und
der Isolierung auf ein und demselben Stern das Leben eine solidarische, verbundene, gestaltete
Masse bildet, – dann muß diese Masse als solche durch Strömungen, Schwingungen, Gesetze
verraten, die nicht für dieses individuelle Leben oder das Leben im allgemeinen charakteristisch
sind, sondern für das irdische Leben, sofern es als etwas betrachtet wird, das ein spezifisches
Ganzes bildet.
Wir haben oben auf die eigentümlichen Eigenschaften der Plastizität und der Differenzierung
hingewiesen, die in einer Fauna zutage treten, sobald sie geographisch isoliert ist. In einer
derartigen Gruppe stellt sich allmählich ein gewisses Gleichgewicht zwischen
pflanzenfressenden, fleischfressenden, wühlenden und so weiter Formen ein, als ob jedes
genügend große Fragment des Lebens – wenn es als Ableger gesetzt wird, so könnte man sagen
– dahin strebt, auf seinem Sproß das allgemeine Muster des Baumes neu hervorzubringen, von
dem es abgeschnitten wurde. Rühren wir bei diesen Tatsachen nicht an eine autonome Kraft der
Organisation, der Differenzierung, die keineswegs in den Individuen lokalisiert ist, sondern
diffus (146) in einem großen Teilstück belebter Materie vorhanden ist?
Noch ein Anzeichen. Wir haben oben versucht, das plötzliche Auftreten und die lineare
Entwicklung zoologischer Charakteristika in Begriffen individueller psychischer Absichten oder
Tendenzen zu erklären. Wir haben aber nicht gewagt zu erklären, wie es kommt, daß diese
Mutationen gleichzeitig bei einer verhältnismäßig großen Zahl von Individuen auftreten, die
plötzlich beginnen, gleichzeitig in ein und derselben Richtung abzuweichen. Wäre dieses
Zusammentreffen erklärlich ohne die Existenz einer zugleich inter- und superindividuellen
Verkettung?
Ein letztes, noch bezeichnenderes Indiz. Wenn man die biologische Evolution in ihren großen
Linien betrachtet, sieht man überrascht, daß jedes neue Aufblühen höherer Formen den Druck
des Saftes in den niederen Zweigen sinken läßt. Es gibt anscheinend eine gewisse Konstanz, eine
gewisse Invarianz der vom irdischen Leben mitgeführten Gesamtenergiemenge. Verrät diese
Wachstumssolidarität zwischen den verschiedenen Bereichen der organischen Welt in deren
Gesamtheit nicht eine wirkliche physische Einheit?
Wahrlich, wenn man diese verschiedenen Symptome und andere ähnliche nebeneinander hält,
beginnt man ernstlich, die mögliche Existenz einer umfassenden lebenden tellurischen Entität
ins Auge zu fassen, die schwierig darzustellen ist [weil sie von einer höheren Größenordnung als
der unsrigen ist und weil wir in sie hineingetaucht sind], die aber Sitz eindeutig bestimmter
physischer Eigenschaften ist. Und man fühlt sich bereit, in dieser geheimnisvollen, jedoch nicht
metaphorischen Biosphäre die Antwort auf zahlreiche Fragen zu suchen, die um uns herum
ohne Antwort geblieben sind. Sollten wir nicht in sie nunmehr den Sitz, die Triebkraft, die letze
Steuerung der zoologischen (147) Evolution verlegen müssen? – Wer weiß [und hier übernehme
ich eine Vorstellung, die den Ansichten M. Vialletons nicht fremd zu sein scheint], wer weiß, ob
die letzte Lösung des transformistischen Paradoxons sich nicht in der Konzeption eines
Universums findet, in dem die zoologischen Haupttypen, die untereinander ebenso deutlich
geschieden sind wie die Linien eines Lichtspektrums, ihre Kontinuität in der Tatsache finden
würden, daß sie von einer gemeinsamen, in der irdischen Einheit insgesamt lokalisierten
organischen Entwicklungskraft ausstrahlten und sich zerstreuten? Das Plastische in der Welt
des Lebendigen, das sich Bewegende, das periodisch in neugebildete Zweige Divergierende
wären dann nicht mehr die Elemente [die ihrerseits in Variationen geringer Schwingungsbreite
eingeschlossen sind], vielmehr wäre es die physische Kraft, die alle Elemente einhüllt.
66
Diese noch mehr als undeutlichen Ansichten lassen sich nur schwierig aussagen. Sie haben auf
den ersten Blick einen seltsamen und fast phantastischen Aspekt. Wir sehen darüber hinaus
auch noch nicht, wie sie zu fruchtbaren Experimenten führen könnten. Mir lag jedoch daran, sie
darzulegen, um begreiflich zu machen, wie sehr die Welt unter der wissenschaftlichen
Forschung grenzenlos wächst und wie sehr auch die transformistische Idee allmählich den
engen Formen entrinnt, in denen sie ihre Gegner halten möchten.
Denn es ist höchst seltsam festzustellen [und mit dieser Bemerkung möchte ich schließen]:
wenn die neuen Perspektiven der Diskontinuität und des Polyphyletismus, denen wir uns einen
Augenblick zuwandten, sich bestätigen sollten, würden die alten evolutionistischen
Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts, weit davon entfernt, wie eine Fata Morgana zu
vergehen, ganz im Gegenteil ihre wirkliche Blüte erleben. (148)
Je mehr man die transformistische Bewegung in ihrer Geschichte studiert, um so mehr gewinnt
man die Überzeugung, daß sie gleich allen anderen großen Eingebungen des menschlichen
Denkens nur nach und nach sich ihrer wirklichen Erfordernisse bewußt wird. Man hat
nacheinander glauben können, das Wesen des Transformismus wäre die Anpassung der
lebenden Formen an das Milieu und die Vererbung der erworbenen Charakteristika oder aber
die natürliche Auslese oder aber der Monophyletismus oder aber zumindest die
Abstammungslehre. Nunmehr zeigt sich, daß unter diesen besonderen Erklärungen eine viel
allgemeinere und tiefere Idee ans Licht drängte, nämlich die Idee einer gewissen physischen
‹Immanenz› [man möge mir diesen philosophischen Terminus durchgehen lassen] des Lebens.
Es ist die heute unsere wissenschaftlichen Darstellungen der Welt beherrschende
Voraussetzung, daß nichts in das Feld unserer physischen Erfahrungen tritt, das sich nicht
materiell auf präexistente Elemente aufstützt. Früher hätte man sich über die plötzliche
Hinzufügung eines Atoms zur kosmischen Masse oder über seine plötzliche Versetzung an einen
anderen Ort quer durch den Raum nicht zu sehr gewundert. Heute zweifeln wir nicht mehr
daran, daß die Verwirklichung eines Wasserstoffmoleküls zum Beispiel und seine Lokalisierung
an einem bestimmten Punkt des Universums die Unermeßlichkeit einer ganzen astralen
Evolution erfordert haben. Alles muß, soll es in die Gestalt wissenschaftlichen Denkens gebracht
werden können, seine erfahrbaren Wurzeln unendlich nach rückwärts und überallhin
eintauchen: das ist das Postulat, das sich an der Basis allen heutigen wissenschaftlichen
Forschens findet, das ausdrücklich zur Sprache zu bringen den meisten Wissenschaftlern aber
nicht einmal einfällt, derart erscheint es ihnen evident und ist es ihnen zur Gewohnheit
geworden. (149) Dieses Postulat auf das Leben auszudehnen, das macht in Wirklichkeit den neuen
Transformismus aus.
Damit sind für den heutigen Transformisten die Zahl der tierischen Phyla und der Umfang der
sie trennenden Einschnitte recht unwichtig. Eines nur würde ihn unwillig werden lassen: wenn
nämlich ein einziges dieser Phyla, bis zu seinen Ursprüngen zurückverfolgt, sich durch nichts
weiter nach rückwärts verlängerte; wenn eine einzige dieser Diskontinuitäten in ihrer Existenz
und in ihrer Größe nicht bestimmbaren physischen Bedingungen gehorchte. Die zunächst vor
allem als eine Notwendigkeit der Veränderung begriffene Evolution ist vor allem ein Gesetz der
Geburt geworden, und dieses Gesetz scheint endgültig gesichert zu sein.
Deshalb würden, wenn die Naturforscher unter dem Druck des transformistischen Paradoxons
in ihren Konstruktionen dem Starren und dem Diskontinuierlichen einen breiteren Raum
einräumen, die Anti-Evolutionisten sich sehr zu Unrecht vorstellen, wir kehrten zu dem alten
Fixismus zurück. Wenn die Lebewesen uns heute unabhängiger voneinander erscheinen, als
Lamarck, Darwin oder Gaudry glaubten, so sind sie umgekehrt der sie tragenden Welt
67
unvergleichlich viel solidarischer geworden. Und deswegen ist, wenn man auf den Grund der
Dinge zu sehen versteht, die Einstellung aller heutigen Zoologen und Biologen [selbst die M.
Vialletons, es genügt, seine Arbeitsmethode zu beobachten] die eines Ultratransformismus. Man
ist also nie weiter als jetzt von dem alten Kreationismus entfernt gewesen23, der die Lebewesen
darstellte, als träten sie voll (150) ausgebildet inmitten eines Rahmens auf, dem es gleichgültig ist,
sie aufzunehmen. Die Ideen kehren, wie das Leben, dessen höchste Bekundung sie sind, niemals
nach rückwärts um.
Revue des Questions Scientifiques, Januar 1925. (151)
VI
DIE NATURGESCHICHTE DER WELT
Gedanken über den Wert und die Zukunft der Systematik
Anscheinend ist die Systematik ein recht bescheidener und recht alt gewordener Zweig am
Baum der Wissenschaft. Schon bei ihrem Namen sehen wir die ehrwürdigen Zeiten Linnés und
Buffons vor uns – die Epoche, in der das ganze Studium des Lebens darauf hinauslief, zu
sammeln und zu etikettieren – das Zeitalter, da die gesamte Kenntnis über die organische Welt
als Naturgeschichte erzählt wurde.
Es ist nicht unnütz, so glauben wir, wider diesen Eindruck anzugehen, der dazu führen könnte,
das Bemühen der Klassifikatoren herabzusetzen angesichts der als edler, höher,
durchdringender angesehenen Forschungen, wie etwa der Anatomie, der Physiologie, der
Zytologie, der Biochemie und so vieler anderer, die unter großem Aufwand von Technik und von
Messungen die Erforschung der lebenden Materie fortsetzen.
Das Ziel dieser Zeilen ist aufzuzeigen – ohne paradox zu werden, so hoffen wir –, daß das
klassifizierende Bemühen der Naturforscher, so wie es heute begriffen wird:
1. nicht damit zufrieden ist, daß es eine genauso hochstehende Arbeit geworden ist wie
irgendeine andere der wissenschaftlichen Analysen des Wirklichen;
2. dabei ist, einen neuen Forschungsbereich für sich selbst zu entdecken und den anderen
Wissenschaften von der Natur zu eröffnen;
3. während sein eigener Gegenstand [die natürliche Verteilung der Seienden] sich nach und nach
als der gemeinsame und höchste Zielpunkt herausstellt, auf den hin in seinem spekulativen Teil
alles wissenschaftliche menschliche Bemühen konvergiert. (153)
A. DIE WAHRE NATUR DER HEUTIGEN SYSTEMATIK: EINE
VERALLGEMEINERTE ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE
Wissenschaftlich etwas [Seiendes oder Phänomen] erkennen heißt, seinen Ort in einem
physischen System zeitlicher Antezedenzien und räumlicher Bindungen bestimmen. Solange
23 (FN 8) Ist es notwendig, daran zu erinnern, daß die transformistischen Ansichten, so wie sie hier dargelegt wurden, weit davon entfernt, mit der Existenz einer ersten Ursache unvereinbar zu sein, ganz im Gegenteil die edelste und die ermutigendste Weise darstellen, uns deren Influx bildhaft aufzuzeigen? – Für den christlichen Transformismus wird das schöpferische Wirken Gottes nicht mehr so begriffen, daß es von außen her seine Werke mitten unter bereits existierende Wesen wie Eindringlinge hineintreibt, sondern so, daß es die aufeinanderfolgenden Glieder seines Werkes inmitten der Dinge entstehen läßt. Es ist deswegen nicht weniger wesentlich, nicht weniger universell und vor allem nicht weniger innig.
68
man also die lebenden Formen für durch das von außen kommende Wirken einer Intelligenz
fixierte und [sei es auch noch so harmonisch und ‹natürlich›] nebeneinander gestellte Einheiten
hielt, gab es zu ihrer verstandesmäßigen Erfassung keine andere Methode als die Beschreibung
und die Einordnung in logische Rahmen, von denen angenommen wurde, daß sie denen der
schöpferischen Idee entsprachen. Bis zum Aufkommen des evolutionistischen Gesichtspunktes
war die Naturgeschichte nicht wirklich eine Wissenschaft [und konnte es auch nicht sein]. Von
dem ersten Augenblick an jedoch, da die Begriffe Geburt und Werden begonnen haben, die
Vorstellungen zu erhellen, die die Naturforscher sich von den tierischen und pflanzlichen Arten
machten, verschweißten die systematische Zoologie und die systematische Botanik sich mit dem
Block, der bereist von der Anatomie, der Physik, der Chemie und der Astronomie gebildet
wurde. Es genügt, die moderne Arbeit der Klassifizierung einige Zeit praktiziert zu haben, um
sich davon zu überzeugen, daß der Zusammenschluß zwischen diesen verschiedenen
Disziplinen seit einem Jahrhundert von Tag zu Tag immer inniger wird.
Es ist offensichtlich unmöglich, zu erraten, was in der Zukunft aus der transformistischen
Theorie wird. Unsere Nachfolger werden wahrscheinlich unsere heutigen Konzeptionen von der
Evolution des Lebendigen sehr kindlich finden, und sie werden sie weitgehend berichtigen.
Bereits (154) jetzt jedoch erscheint eines schon sicher: welches auch die neuen, durch die
künftigen Fortschritte zu unseren Konstruktionen beigetragenen Modalitäten sein mögen, die
biologischen Wissenschaften werden unter immer zunehmender Betonung des Gesichtspunktes
der physischen und organischen Abhängigkeit zwischen lebenden Formen weitergehen, den
Lamarck und Darwin in Ermangelung eines Besseren in Termini einfacher Zeugung, Anpassung
und Vererbung ausgesagt haben. Im Bereich des Lebens, wie in dem der Materie, scheinen die
grundlegenden Einheit des Universums und das unerbittliche Untereinander-Verbundensein der
kosmischen Elemente, die jedem neuen Seienden verbieten, sich in unsere Erfahrung anders
einzuführen denn in Funktion aller gegenwärtigen und vergangenen Zustände der erfahrbaren
Welt24, durchaus endgültiges Eigentum unseres Geistes zu sein. Von diesen Perspektiven wird
man nicht mehr abgehen; und man wird im Gegenteil in ihnen immer weiter voranschreiten,
weil wir durch das Gesamtbemühen des menschlichen Geistes seit mehreren hundert Jahren
dorthin zugleich angezogen und getrieben wurden – und auch, weil man im Ausgang von ihnen
das Wirkliche sich ordnen und erhellen sieht, soweit das Auge reicht.
Was ist unter dieser Voraussetzung aus dem Bemühen der Klassifikatoren geworden, und was
wird in immer zunehmendem Maße aus ihm? – Was bedeutet es heute, eine lebende Form zu
bestimmen? – Heißt das ganz einfach wie früher, ihr auf einer dichotomischen Tafel einen Platz
finden? – Offensichtlich nicht; niemand glaubt das mehr. Für einen dieses Namens würdigen
Naturforscher heißt ein Tier oder eine Pflanze klassifizieren, ihm oder ihr seinen (155) oder ihren
wahren, natürlichen Platz in der organischen Gesamtheit der lebenden Formen finden, die als
ein Ganzes auf dem Wege der Entwicklung betrachtet wird. Um ein Seiendes zu begreifen,
genügt es also nicht mehr, seine Merkmale aufgezählt zu haben und es entsprechend
irgendeinem dieser Merkmale [des offensichtlichsten oder des bequemsten] dem oder jenem
Kapitel eines Kataloges beigefügt zu haben. Man muß in sehr viel tiefschürfenderer Arbeit
[zumindest in annähernder und vorläufiger Weise] seine organische Geschichte rekonstituiert,
seine biologische Umgebung erklärt und seine geographische Verteilung wahrscheinlich
gemacht haben. Ebenso wie ein Pflanzenzweig [so erkennbar er auch in sich selbst durch seine
Form, seine Besonderheiten sein mag] physisch nur durch das Jahr seines Auftretens, die Höhe,
in der er sich auf dem ihn tragenden Stamm befindet, die Ordnungsnummer, die er in den
24 (FN 1) Das ist wohlgemerkt kein Determinationsgesetz, sondern ein Geburtsgesetz.
69
Unterteilungen des Haupttriebes einnimmt, die Assoziation, die ihn an diesen oder jenen
Nachbarzweig bindet, definierbar ist – ebenso erscheint keine lebende Art mehr letzten Endes
anders einsichtig denn durch den Platz, den sie einnimmt auf Grund ihrer Geburt in dem
Gesamtgebäude der organischen Formen. Die guten Gattungs- oder Artmerkmale sind gerade
jene, die am besten diese Stellung sichtbar machen.
Es kommt hier wenig darauf an, ob die verschiedenen am Baum des Lebens erschienen
natürlichen Gruppen eher den Blättern einer Pflanze [mehr oder weniger mit dem sie tragenden
Stiel homogener Organe] zu vergleichen sind als den unabhängigen Kelchen, die auf der Achse
eines Polypenstockes wachsen. Ob am Ursprung der Arten Kontinuität oder Diskontinuität
vorliegt – ob die verschiedenen Organismentypen eine Reihe ohne andere Einschnitte als die der
Individuen bilden oder ob sie sich auf eine begrenzte Zahl geschlossener spezifischer
Verbindungen verteilen (156) [ähnlich den Körpern der Chemie], es bleibt – und darüber sind sich
die klassischen Transformisten und die Mutationisten einig, – daß keine lebende Form ‹in der
Luft hängt›. Jede ist durch irgend etwas ihrer selbst an eine ihr vorausseiende Skizze, an ein
morphologisches Antezedens geschweißt – und jede ist auch mit den benachbarten Formen
solidarisch. Mehr braucht es nicht, damit die Wissenschaft der Klassifikation als den höchsten
Wissenschaften des Lebens ebenbürtig geadelt wird.
Wenn nämlich im Bereich der pflanzlichen und tierischen Formen alles physisch
zusammenhängt, welchen Unterschied gibt es dann zwischen der Arbeit des Klassifikators und
der der anderen Biologen? Unter dem Gesichtspunkt der wesentlichen Methode keinen.
Wenn der klassifizierende Zoologe zum Beispiel, um zu erfahren, was ein Hund oder eine
Eidechse ist, dahin strebte, das Phylum dieser Tiere zu unterscheiden und zu rekonstituieren,
geht er [wenn auch mit anderen Mitteln und in einer anderen Größenordnung] genauso vor wie
der Anatom, der, um wissenschaftlich zu erkennen, was ein Herz, ein Schädelknochen, ein Nerv
ist [doch in sich höchst beschreibbare Dinge], nicht umhin kann, die Organismen in
verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung zu sezieren und Histologie oder Embryogenie zu
treiben.
Wenn derselbe Zoologe weiter, um das Auftreten und die Modifikationen gewisser
morphologischer Apparate [Glieder, Flügel, Zähne…] zu erklären, sich bemüht, die biologischen
Bedingungen aufzufinden, inmitten deren sich zum Beispiel die Amphibien, die Vögel, die
Säugetiere gebildet haben – oder aber, wenn er dahin gelangt, eine Art von Ausgleich inmitten
ein und derselben Gruppe zwischen fleischfressenden, pflanzenfressenden, kletternden,
wühlenden usw. Typen anzunehmen, läuft seine Arbeit ganz genau parallel zu der des
Physiologen, der unter Beiseitelassung (157) der erblichen anatomischen Merkmale bei dem
Lebewesen versucht, letzteres als einen lebensfähigen Verband von Funktionen zu definieren.
Wenn schließlich dieser Zoologe, um sich einen Ursprung seiner Phyla vorzustellen [d. h. um
eine Lösung zu den aufreizenden Problemen des Ursprunges des irdischen Lebens und der
Differenzierungen der Reiche oder Verzweigungen der organischen Welt zu erahnen], die
Notwendigkeit vermutet, auf die Idee zurückzugreifen, daß das Leben und seine wichtigsten
Mutationen Funktion der physikalisch-chemischen Bedingungen sind, die die astrale Evolution
der Erde regeln, das heißt die sich nur als Eigenschaften der als ein spezifisches Ganzes [in
gleicher Weise wie ein chemisches Molekül] begriffenen Erde definieren lassen, entdeckt er
nicht nur in weiter Ferne vor sich eine unermeßliche Verlängerung der Biochemie, vielmehr
gewinnt er Anschluß an den bereits in Erforschung begriffenen Bereich der Geochemie.
70
Der einzige wesentliche Unterschied zwischen der Systematik einerseits und den anderen
biologischen Wissenschaften andererseits besteht im Grunde darin, daß letztere sich auf das
Studium organischer Einheiten beschränkten, die derselben Größenordnung angehören wie
unsere menschliche Individualität – während jene die Elemente einer unendlich
beträchtlicheren organischen Masse seziert und ihre Funktionen ins Gleichgewicht bringt,
nämlich die lebende Schicht, die die Erde einhüllt, die «Biosphäre» [Sueß]: ein unermeßlicher
Gegenstand, der uns verschwommen erscheint, weil wir in ihn hineingetaucht sind wie in eine
Milchstraße – jedoch ein großartiger Gegenstand, und es macht den Ruhm der Systematik aus,
mehr als jede andere Wissenschaft dazu beigetragen zu haben, ihn aufzudecken und zu
analysieren. (158)
B. EIN VON DER SYSTEMATIK NEU ERSCHLOSSENER BEREICH:
DIE BIOSPHÄRE
Dieser Art war nämlich das Geschick der Systematik: da sie aufgebrochen war zur Eroberung
gewisser logischer Rahmen, in die die Lebewesen eingeordnet werden könnten, und da sie
anstelle dieser Rahmen auf immer zahlreichere und allgemeinere organische Bindungen
gestoßen war, hat sie schließlich die physische Wirklichkeit höherer Ordnung entdeckt, ohne die
die obengenannten Bindungen unerklärlich wären. Eines schönen Tages gewahrte die Biologie
‹der Position› angesichts der geschmeidigen und geordneten Ergebnisse, zu denen ihre
Klassifikationen sie führten, daß es oberhalb der Lebewesen ein Leben gab – keineswegs, das ist
allzu offensichtlich, einen universellen Organismus, zu dem die Lebewesen die Elemente wären,
sondern eine physische Wirklichkeit einer besonderen Ordnung, die wissenschaftlich durch
spezifische, eindeutig bestimmte Eigenschaften charakterisiert ist. Von diesem Augenblick an
hatte sie das eigentliche Materialobjekt gefunden, zu dessen Studium sie geboren war.
Unter den die natürliche Einheit der lebenden, irdischen Masse verratenden und
charakterisierenden Eigenschaften sind eine gewisse Zahl nur eine vergrößerte Wiederholung
jener, die den individuellen Lebewesen [Pflanze oder Tier] eigen sind. Dieser Art sind25: die
Unterteilung der Gruppen [Ordnungen, Familien, Gattungen, geographisch isolierte Faunen…] in
regelmäßige Quirle, die einer festen Zahl von Hauptstrahlen [baumbewohnende, laufende,
fliegende, wühlende, schwimmende Typen – Insektenfresser, Fleischfresser, Pflanzenfresser…]
entsprechen; der Zwang bei gewissen Stämmen, unendlich der Akzentuierung eines Merkmals
unterworfen zu sein, unaufhörlich ‹zu wachsen› [Orthogenese], während andere
unerschütterlich in ihren Merkmalen fixiert bleiben; die Fähigkeit einer Gruppe, in neuen
Formen zu wuchern, oder im Gegenteil ihre vollständige Sterilität; die allgemeine Tendenz aller
Phyla, bei großen oder kleinen, einen höheren Psychismus zu erreichen; mit einem Wort, all
diese Wachstumsanzeichen beweisen, daß die zoologischen Gesamtheiten, ebenso wie die
Individuen, durch eine Phase der Plastizität, der Differenzierung, der Fruchtbarkeit
hindurchgehen, um sich anschließend zu fixieren und zu sterben.
Diese verschiedenen Phänomene, die uns durch ihre Weite begeistern, ohne uns durch ihre
Neuheit zu verwirren, sind wohlbekannt: und sie haben veranlaßt, daß man schon seit langem
[wenn auch vielleicht allzu metaphorisch und zaghaft] vom Leben der Art spricht, das heißt
letzten Endes vom Leben der Gruppe der Lebewesen insgesamt. Es ist sicherlich angemessen, als
dem [als ein natürliches Ganzes betrachteten] irdischen Leben spezifische Eigenschaften eine
Reihe anderer Fakten mit ihnen in Verbindung zu bringen, die ihrerseits auch von der
25 (FN 2) Ganz zu schweigen von dem monozellularen Ursprung der Lebewesen und den allgemeinen Gesetzen der Befruchtung, deren Entdeckung kein spezifisch durch die Systematik erzieltes Ergebnis ist.
71
Systematik herausgestellt wurden, die aber den Biologen auf den ersten Blick verwirren, weil sie
keine genaue Analogie zu irgendeinem durchexperimentierten Lebensphänomen aufweisen. Wir
wollen hier von den Phänomenen plötzlichen Auftretens sprechen, die das erste Aufblühen des
Lebens auf der Erde kennzeichnen mußten und die sich periodisch jedesmal zu wiederholen
scheinen, wenn ein wirklich neuer organischer Typus zur Pflanzen- oder Tierreihe
hinzukommt26. Diese (160) Kategorie von Ereignissen erscheint uns noch äußerst geheimnisvoll.
Sollte das Geheimnis nicht in der Tatsache liegen, daß man, um sie zu interpretieren, ihren Sitz
nicht in den Einzelorganismen [in den individuellen Lebewesen] suchen muß, sondern in den
kollektiv gefaßten Organismen [in dem insgesamt als Ganzes gefaßten Leben]?
Wir haben diese wichtige Frage bereits gestreift. Doch hier ist der Ort, darauf zurückzukommen.
Bisher haben die Biologen sich hauptsächlich darum bemüht, die Geschichte des Lebens im
Ausgang von elementhaften Faktoren der Evolution [d. h. von den Individuen] zu erklären.
Sollten sie nicht damit denselben Fehler begangen haben, den man macht, wenn man versucht,
die Organe eines Tieres zu begreifen? Es ist recht schwierig, noch sehr verschwommenen
Intuitionen, einfachen Ahnungen eine klare Form zu geben. Wir beginnen jedoch, es zu
vermuten: ebenso wie die Phänomene ‹radiativer› Anpassung wahrscheinlich Funktion des
allgemeinen Gleichgewichts der lebenden Gruppen sind, die man als einen physiologischen
Block bildend betrachtet; ebenso auch wie die Errungenschaften des Lebens zumindest teilweise
ein Effekt großer Zahlen sind, das heißt das Ergebnis unendlich zahlreicher Versuche, die
beständig gemacht werden, um einen biologischen Ausweg zum Mehrsein oder Bessersein zu
finden [Versuche, deren Resultante dem Druck verglichen werden könnte, den ein Gas auf ein
Gefäß ausübt]: genauso haben auch die plötzlichen Neubildungen oder Mutationen [wenn es sie
gibt] große Aussicht, ihre experimentelle Erklärung in irgendeiner supraindividuellen und
einheitlichen Reifung des (161) Protoplasmas [Germen der Neodarwinisten] zu finden, einer
Reifung, die an die globale Konstitution und Evolution der tellurischen Einheit gebunden ist. In
seinen Anfängen und in seinen Hauptrichtungen betrachtet, wird man das Leben erst
wissenschaftlich zu begreifen beginnen, wenn die physikalisch-chemische Geschichte des Sterns
entziffert ist, dessen bewußte Hülle es ist. Wenn es diesen noch recht undeutlichen Perspektiven
gelänge, sich zu präzisieren, ist klar, daß die Systematik, da sie die Diskontinuitäten aufdeckt, an
denen sich in bevorzugter Weise unter Beherrschung der individuellen Ursachen der eigentliche
Einfluß der Biosphäre bekundet, den Wissenschaften vom Leben einen neuen und
unermeßlichen Bereich erschlossen hätte.
Schon jetzt kann man mit Gewißheit sagen, durch die Stärke allein der Hinweise, die wir eben in
Erinnerung riefen, daß die Systematik kraftvoll die Wissenschaften von der unorganischen Welt
in ihrer Tendenz unterstützt, die Probleme der Materie mit einem neuen Sinn für die Bindung
der Phänomene untereinander und für ihre Fülle anzugehen, das heißt unter einem immer
kosmischeren Gesichtspunkt. Die physikalische Chemie ist dank der Spektralanalyse und den
strahlenden Substanzen bereits weit im Studium der Evolution der grundlegenden Masse des
Universums vorangeschritten. Und hier sieht sich die Geologie ihrerseits dahin geführt, sich
Phänomene vorzustellen [Faltungen, Überschiebungen, Verteilung der Kontinente…], die ihr
Äquivalent nicht unter den elementaren, materiellen Phänomenen hätten – das heißt, die nicht
auf die Verhaltensweisen irgendeiner materiellen Einheit rückführbar wären, die zu einer
niedereren Größenordnung gehörten als der der Erde. Die Wissenschaft von der Erde, das fühlen
26 (FN 3) In einem kürzlich erschienen Buch: Membres et ceintures des Vertébrés tétrapodes, Paris 1923, hat der berühmte Professor Vialleton aus Montpellier mit großem Nachdruck die Gründe dargelegt, die uns zu der Annahme drängen, daß die organische Evolution eher stoßweise, durch Aufeinanderfolge plötzlich umgegossener Organismen, erfolgt ist als durch teilweise und schrittweise Veränderungen.
72
wir, wird diesen Namen erst verdienen, wenn sie unter Absehen von den Sekundäreffekten, die
sich (162) im Laboratorium reproduzieren lassen, die Gruppe spezifisch irdischer Effekte
unterschieden und herausgestellt haben wird, die die Einheit Erde charakterisieren [wie andere
Eigenschaften die Einheit Wasserstoff oder die Einheit Sonne charakterisieren]. In jenem
Augenblick werden Biologie, Geologie und Astronomie einander sehr nahe gekommen sein, und
man wird zweifellos erstaunt sein festzustellen, wie tief die Wurzeln der Soziologie in ihren
Block eindringen.
Wirklich, die Wissenschaft scheint in ein Alter zu gelangen, in dem sie nachdem sie sich vor
allem mit elementaren Größen befaßt hat, versuchen wird, direkt das Studium der kosmischen
Bewegungen und Einheiten anzugehen. Wenn diese Bewegung sich akzentuiert, wird die
Systematik, die heute noch allein explizit die Biosphäre erforscht, wahrscheinlich erleben, daß
ihr Forschungsbereich zergliedert und unterteilt wird. Es wird vielleicht an ihrer Stelle eines
Tages eine Anatomie, eine Physiologie, eine Biochemie des allgemeinen Lebens geben. Diese
Wissenschaften, deren Funktionen sie derzeit kumuliert, werden sich auf ihre Kosten
individualisieren. Selbst dann wird ihr die Ehre bleiben, daß sie nicht nur den Weg zu neuen
Perspektiven gebahnt hat, sondern auch, daß sie das Modell und den Kern der Ergebnisse
geliefert hat, deren Verwirklichung das geeinte Bemühen aller spekulativen Wissenschaften
erstreben muß.
C. DIE SYSTEMATIK, SPEKULATIVER ZIELPUNKT ALLER
WISSENSCHAFT
Die Philosophen, die seit etwa dreißig Jahren den Wert der Wissenschaft analysiert haben,
haben sehr stark den relativen, vorläufigen Charakter der menschlichen Erkenntnisse, vor allem
in der Physik, betont. Sie haben die Vereinfachungen, (163) die Annäherungen bloßgestellt, die
Vereinfachungen aller Art, die die konkrete Natur, das Faktum, erfährt, wenn es in unsere
mathematischen Gesetze eingeht. Sie haben das gebrechliche Leben der Hypothesen
nachgemessen. Es fehlt nicht viel, so könnte man meinen, wenn man sie hört, die Wissenschaft,
die sich so mächtig in der praktischen Beherrschung der materiellen Energien erweist, sei
kraftlos, wenn es sich darum handelt, unsere Wahrnehmung des Wirklichen zu verlängern und
ein schrittweise einsichtigeres Universum aufzubauen.
In diesen Kritiken steckt ein gut Teil Übertreibung, die unmittelbar sichtbar wird, sofern man
nur zwei sehr verschiedene Elemente in den wissenschaftlichen Konstruktionen unterscheidet:
a] die mathematischen Ausdrücke, welche die an den Phänomenen vorgenommenen Messungen
verbinden; und b] die physischen Entitäten [Eigenschaften zunächst, aber vor allem natürliche
Zentren], die fortschreitend durch das Netz der Gesetze und Berechnungen eingekreist und
erfaßt werden.
Das erste dieser beiden Elemente ist zweifellos sehr relativ. Die mathematische Darstellung der
physischen Wirklichkeiten hängt von dem vom heutigen Physiker [und von der ganzen Physik
seit zumindest zwei Jahrhunderten] gewählten Gesichtspunkt ab, unter dem man die Natur
angeht und die Phänomene zerlegt. Sie variiert mit der Genauigkeit der Messungen. Sie ist
beständig einer Art Idealisierung unterworfen. Die mathematischen Gesetze sind letzten Endes
eine Sprache, die man sich sehr anders, als sie heute ist, vorstellen könnte, um dieselben Dinge
auszudrücken.
Ganz anders ist es mit den physischen Entitäten, die den mathematischen Gebäuden als
materielle Träger dienen. Dieses zweite Element der wissenschaftlichen Konstruktionen hat
tatsächlich einen absoluten Wert; es stellt eine (164) wirkliche und endgültige Unveränderliche
73
dar, das heißt etwas, das, einmal gefunden, dazu bestimmt ist, immer dasselbe unter allen
Vertiefungen und allen Analysen, allen Ausdrucksformen und allen Gesichtspunkten zu bleiben.
Nehmen wir den typischen Fall der Entdeckung des Neptun. Die astronomischen Gesetze, deren
sich Le Verrier für seine Berechnungen bediente, galten nur annähernd. Die Fortschritte der
Astronomie und der Mathematik werden sie vielleicht sehr tiefgreifend modifizieren. Sie haben
jedoch ausgereicht, einen unbekannten Himmelskörper zu entdecken. Dieser neue Stern aber ist
eine endgültige Eroberung der Wissenschaft.
Nehmen wir noch den moderneren Fall der Atome und der Elektrone. Seit einigen Jahren läßt
das Studium der Strahlungen die Existenz exzessiv kleiner materieller Zentren vermuten, deren
objektive Wirklichkeit, während sie die der von der Chemie vorgestellten Partikeln bestätigt,
dahin strebt, sich der Wissenschaft als ein wirkliches Faktum aufzudrängen. Es ist klar, daß die
mathematischen Gesetze, die die Verteilung und die Bewegung der Elektronen regeln, große
Wandlungen zu gewärtigen haben. Die Elektronen aber, wenn sie einmal [direkt] ‹gesehen› sind,
wovon sie nicht mehr weit entfernt sind, werden den Himmel der menschlichen Erfahrung
ebensowenig mehr verlassen wie Neptun, nachdem er im Teleskop wahrgenommen wurde, oder
wie die Sonne. Es wir neue Weisen geben, sie zu betrachten, sie zu verbinden, sie zu bereifen.
Doch da sein werden sie immer.
Ebenso sind in der Kristallographie die Haüyschen Gitter dabei, sich dank den Röntgenstrahlen
zu objektivieren, welches auch immer die Annäherungswerte der physikalischen Gesetze der
Symmetrie sein mögen.
Wenn man diese und andere ähnliche Fakten zusammenstellt, bemerkt man bald, daß der
kräftigste Teil der wahrhaft (165) unzerstörbare Rückstand der Eroberungen der Wissenschaft in
der Physik und in der Chemie durch die Entdeckung und Katalogisierung einer umfassenden
Familie von Einheiten, Zentren, natürlichen Kernen27 dargestellt wird, die durch spezifische
Eigenschaften definiert und in hierarchisierten Kategorien gruppiert werden. Diese Kerne sind
zu klein, zu zahlreich, als daß man sie noch [zweifellos als daß man sie jemals] individuell
charakterisieren könnte, wie es nötig wäre, um sie ebenso gut zu kennen wie etwa ein Tier.
Vielleicht wird es jedoch gelingen, bei ihnen Nuancen, Rassen zu entdecken [Kohlenstoffrassen,
Eiweißrassen, weshalb nicht?]. Auf jeden Fall begreift die Wissenschaft bereits, daß sie die
atomaren Gruppen erst an dem Tage intellektuell beherrschen wird, an dem sie neben der Dauer
ihres Lebens die lange Reihe ihrer sideralen Evolution kennen wird.
Was heißt das anderes, als daß vor unseren Augen unter dem Druck der Natur und der Wahrheit
selbst die vereinten Bemühungen der Physik, der Chemie und der Astronomie dahin gelangen,
durch ihre wertvollsten spekulativen Ergebnisse eine umfassende Systematik der anorganischen
(166) Welt aufzubauen, in die sich mühelos auf der Ebene der Biosphäre die Klassifizierung der
organischen Wesen einfügt? Der Baum der anorganischen[atomaren und astralen] Einheiten
beginnt mit seinen Verzweigungen die organischen Einheiten einzuhüllen und abzulösen. Die
systematische Biologie, das heißt die Wissenschaft von den in ihrer Hierarchie und ihrer
27 (FN 4) Es fällt auf, daß in einer ersten Phase [Neptun vor seiner Entdeckung im Fernrohr, die Elektronen vor den konvergierenden Ergebnissen der jüngsten Versuche usw.] diese natürlichen Kerne einfache ‹Hypothesen› waren. Dies zeigt, wie unrecht man der Hypothese tut, wenn man sie immer als ein vorläufiges und vorübergehendes Mittel beschreibt, um unsere Kenntnisse zu gruppieren. Weit davon entfernt, in der Wissenschaft etwas Nebensächliches zu sein, ist die Hypothese das Ziel, die Seele und die wahre Konsistenz der wissenschaftlichen Konstruktionen, wechselnd, gebrechlich, aber fortschreitend wie das Leben. Die guten Hypothesen wandeln sich dauernd, jedoch in einer bestimmten Richtung, in der sie sich vervollkommnen; und am Zielpunkt dieser Evolution erlangen sie den Rang endgültiger Elemente, die bestimmt sind, später in jedem repräsentativen Gebäude der Welt ihren Platz zu haben.
74
Geschichte begriffenen lebenden Einheiten, durchdringt und assimiliert nach und nach die als
erhabenst geltenden Wissenschaften, jene, die am besten zur Beherrschung durch Formeln und
Zahlen geeignet sind. Die alte Systematik hätte selbstverständlich unrecht, sich dieser
Eroberungen [oder zumindest dieses Einflusses] zu brüsten. Ihr Bereich, die aus deutlich
unterschiedenen und klar gereihten Teilen gebildete Welt der Lebewesen, war ein ideales Feld,
um ohne Schwierigkeit den Wert der natürlichen Ordnungen und die ungeheure Bedeutung der
Evolution in der Welt zu entdecken. Es war also für sie kein großes Verdienst, als erste ihre
Forschungen in die Richtung zu lenken, die die richtige war. Es bleibt um nichts weniger wahr,
daß ihre Verächter wenig Anlaß haben, sie so geringzuachten.
Es ist gewiß ein Ruhmesblatt für die ‹Naturkundler›, daß die bescheidenen Reihen Buffons und
Linnés, beseelt von der Entdeckung, daß es physische Antezedenzbeziehungen zwischen
lebenden Formen gibt, ihre Verzweigungen vervielfacht und ausgeweitet haben, bis sie den
ganzen Kosmos umgreifen; sodaß, wenn man einen allgemeinen Namen für die spekulative
Wissenschaft finden müßte, wie sie sich durch die Allianz der ausgefallensten und der
verfeinertsten Disziplinen unseres Jahrhunderts zu konstituieren strebt, es zweifellos
angemessen wäre, sie ‹Naturgeschichte der Welt› zu nennen.
Scientia [Revue Internationale de Synthèse Scientifique], Januar 1925. (167)
VII
ÜBER DAS NOTWENDIG DISKONTINUIERLICHE
ERSCHEINUNGSBILD JEDER EVOLUTIVEN REIHE
Einer der Haupteinwände, den man gewöhnlich gegen den Transformismus macht, beruht auf
der Tatsache, daß die von der Paläontologie konstruierten evolutiven Reihen, während sie sich
durchaus in einer natürlichen Ordnung anordnen, wie in der Luft hängen bleiben, ohne Bindung
an einen gemeinsamen Stamm: die Übergangstypen zwischen Phyla [oder, wenn man es
vorzieht, die Geburt der Phyla] bleiben immer unfaßbar. «Keine sichtbaren Zwischenglieder»,
sagen die Fixisten, «also keine Evolution.»
Um die Schwäche dieses Einwandes aufzudecken, genügt es zu beobachten, daß die
Erscheinungsformen der Diskontinuität und der Fixiertheit, die im Falle der paläontologischen
Rekonstruktionen so stark herausgestellt und kritisiert werden, sich als genau dieselben in den
wissenschaftlichen Perspektiven wiederfinden, die wir von derart unbestreitbar evolutiven
Wirklichkeiten gewinnen wie den menschlichen Zivilisationen, Institutionen, Sprachen, Ideen
und so weiter. Wer könnte den Ursprung der Sumerer, der Ägypter, der Phönizier nennen? Oder
aber den des Hebräischen, des Griechischen oder des Lateinischen? Und doch, wer wagte zu
behaupten, diese Idiome seien eines Tages voll ausgebildet, ohne wechselseitige Beziehungen
und außerhalb irgendeines, ihre Entstehung beherrschenden Gesetzes aufgetreten?
Die Wahrheit ist, daß die vergangenen Wirklichkeiten, welche es auch immer seien, uns nur
Spuren hinterlassen, die ihren quantitativen Maxima entsprechen, das heißt ihrer Erfolgs- und
Stabilitätsperiode. Die Entstehungs- und Ausbildungsperioden, die den Minima an Dauer und
(169) Umfang entsprechen, verschwinden automatisch aus unserem Gesichtsfeld, ohne Spuren zu
hinterlassen.
Kurz, wird die Vergangenheit des Lebens den wissenschaftlichen Forschungsmethoden
unterworfen, reagiert es genauso wie jede andere Vergangenheit. Weit davon entfernt zu
beweisen, daß die tierische Welt einen außergewöhnlichen, sich der Geschichte widersetzenden
75
Bereich bildet, ist die Diskontinuität der phyletischen Reihen ein positives Anzeichen zugunsten
der Wirklichkeit einer biologischen Evolution, die mit Recht ebenso feststellbar ist wie die des
Römischen Reiches.
L’Anthropologie, Band XXXVI. Mitteilung Pierre Teilhard de Chardins vor der
Société d’Anthropologie, Sitzung vom 17. März 1926. (170)
VIII
DIE GRUNDLAGEN UND DER KERN DES
EVOLUTIONSGEDANKENS
Je mehr man die Perspektiven des biologischen Evolutionismus für sich vertieft und den
anderen darlegt, um so überraschter ist man von ihrer Einfachheit, ihrer Fülle, ihrer Evidenz:
und um so erstaunter ist man auch, da man die Schwerfälligkeit entdeckt, mit der ihre Gegner
sich von nebensächlichen oder schlecht gestellten Fragen lösen, um sich gerade eben den
Kernproblemen oder -antworten zu stellen, die zu sehen allein wichtig wäre.
Ich will auf den folgenden Seiten versuchen, noch einmal herauszustellen, was man die Essenz
des Transformismus nennen könnte – nämlich die Gruppe von Fakten, Ansichten, Haltungen, die
die Grundlagen und den Kern des evolutionistischen Geistes bilden; und ich nehme mir vor
aufzuzeigen, daß der Transformismus, wird er auf diese Essenz zurückgeführt [gleichgültig,
welchen Namen man ihm dann auch gibt], derart mit der Masse der die moderne Wissenschaft
und das moderne Bewußtsein charakterisierenden Tendenzen und Vorstellungen
zusammenfällt, daß man in ihm nicht nur eine endgültige Eroberung, sondern auch eine
unvermeidliche Form des menschlichen Denkens sehen muß, der sich, ohne es zu ahnen, die
entschlossensten Fixisten als erste unterwerfen.
A. DIE STRUKTUR DER LEBENDIGEN WELT UND DAS
GRUNDLEGENDE EVOLUTIONISTISCHE ERFORDERNIS
Der allgemeinste Beweis [man könnte sagen, der einzige und unerschöpfliche Beweis] für eine
Evolution der organischen Materie muß in den unbestreitbaren Strukturspuren (171) gesucht
werden, die die lebende Welt in der Analyse aufweist, wird sie als ein Ganzes betrachtet.
Infolge der sehr natürlichen Gewohnheit, die uns dazu neigen läßt, die Dinge nach dem Maßstab
unseres Körpers zu messen, sind uns die Idee und das Begreifen von pluri- oder
supraindividuellen Organismen weniger vertraut als die vom vereinzelten Lebewesen. Und doch
bekundet sich die Existenz weit umfassender belebter Komplexe in der Natur durch präzise
Phänomene, die ebenso unbestreitbar sind wie jene, die für die Beziehungen der Teile innerhalb
einer jeden Pflanze oder eines jeden Tieres jeweils für sich genommen kennzeichnend sind. Es
gibt eine natürliche Verteilung und ein natürliches Untereinander-Verbundensein der lebenden
Elemente der Welt in Zeit und Raum: zu dieser immer besser bewahrheiteten Feststellung
gelangen die Naturforscher und Biologen aller Bereiche, angezogen von den zahllosen Wegen
dieser alten, heute in voller Erneuerung begriffenen Wissenschaft, die man Naturwissenschaft
nennt, und auch von den anderen, noch namenlosen oder unter Kindheitsnamen verborgenen
Disziplinen [botanische Geographie, Biogeographie, Chemie oder Soziologie der lebenden
76
Gruppen…], deren langsame Konvergenz das Heraufkommen einer Wissenschaft von der
Biosphäre vorbereitet28.
Wir können nicht, das ist klar, daran denken, hier dieses (172) riesige Beweismaterial
auszubreiten. Wir werden uns vielmehr damit zufriedengeben, knapp in Erinnerung zu rufen,
was schon häufig über die Gestalt gesagt wurde, die das vergangene Leben in unseren Augen
schrittweise annimmt. Niemand versucht heute mehr, dies zu leugnen: von oben bis hinab in die
Tiefen der unermeßlichen Geschichte, die Punkt für Punkt durch das fortgesetzte Bemühen der
Paläontologie rekonstruiert wird, entdecken wir das Organische – oder wenn man vorzieht, die
Organisation des Organisierten.
Das Organische zeigt sich zunächst in den greifbaren Beziehungen zwischen der rein materiell
genannten Welt und der lebenden irdischen Schicht insgesamt genommen. Denn auf Grund ihrer
Struktur und nicht durch eine Art Ankleisterung findet sich die organisierte Materie an die
Architektur selbst der Erde gebunden. Da sie in der Hydrosphäre und der Atmosphäre lokalisiert
ist, das heißt in der Zone des Wassers, des Sauerstoffs und der Kohlensäure, taucht sie ihre
Wurzeln in die tiefsten geochemischen Gegebenheiten, die aus der Evolution selbst unseres
Planeten entstanden sind. In der Konstitution und in den Gesetzen der Zellelemente sehen wir
die großen kosmischen Gesetze der Schwerkraft, der Kapillarität, der Molekularkräfte sich nach
besonderen Modalitäten nuancieren, in denen sich in gewisser Weise die Individualität der Erde
ausprägt. Die Ursprungsphasen dieser Verbindung entziehen sich unserem Zugriff. Doch von
dem Augenblick an, da die Geologie uns die ersten Spuren der Biosphäre aufzeigt, können wir
das außerordentliche Ineinander-Verschlungensein der beiden Materien, der rohen und der
organisierten, verfolgen – wobei letztere fortwährend in jene eindringt, um durch eine
kontinuierliche Synergie [weil man noch nicht zu sagen wagt: Symbiose] ihre chemischen Zyklen
abzuwandeln oder ihre physischen Schichten zu erobern. Von (173) der mikroskopischsten
Bakterie bis zur größten Provinz des Tierreiches erscheint das Leben uns beständig bis in die
tiefste Tiefe seiner selbst mit den Mikro- oder Makro-Diastrophismen der Erde verflochten. Man
sagt häufig, die Paläontologie müsse sich von der Geologie trennen, um in der Zoologie
aufzugehen. Sollte es nicht eher die Zoologie sein, die, aufgesogen von der Geologie, sich als eine
Biostratigraphie oder eine Biogeologie begreifen und behandeln müßte? – Dieses
Zusammenwachsen des Lebens und der Materie ist seit langem bemerkt worden – zweifellos
seit immer schon. Doch wir sind noch recht weit davon entfernt, die gewaltigen Konsequenzen
dieser Tatsache begriffen zu haben, die ebenso einfach und massiv und doch auch so
geheimnisvoll ist wie die Bewegung der Sterne oder die Verteilung der Ozeane.
Das globale Leben, das sich als natürliche Zone [und nicht als parasitäres Anhängsel] unseres
Planeten konstituiert hat, hat eine Gesamtphysiognomie, die nicht leicht zu beherrschen ist und
die wir übrigens mangels eines Vergleichspunktes nicht zu bewerten vermögen. Immerhin
können wir in seiner gegenwärtigen Verteilung zumindest einige allgemeine Charakteristika
unterscheiden, in denen sowohl ein erstaunliches Expansions- und Plastizitätsvermögen als
auch ein allgemeiner Aufstieg zu mehr Bewußtsein und Freiheit zum Ausdruck kommt. Das
Leben erfüllt alle Bereiche seiner Zweige und schließt im allgemeinen letztere mit Formen ab, in
28 (FN 1) Ist es nötig, zu sagen, daß wir unter Biosphäre nicht irgendein die Spontaneitäten zerstörendes ‹großes Tier› verstehen, sondern nur eine natürliche Assoziation von Individuen in irgendeiner Einheit höherer Ordnung, die nur in Analogie zu alldem vorgestellt werden kann, was wir an anderem in bezug auf natürliche Einheiten kennen. Die Biosphäre kann nur eine Wirklichkeit ‹sui generis› sein, zu deren Konzeption unser Geist sich durch ein positives Bemühen erheben muß, analog jenem zum Beispiel, das in der Mathematik dahin führte, die irrationalen und inkommensurablen Größen neben den ganzen Zahlen [nach welchem Ärgernis für die griechische Geometrie] anzuerkennen.
77
denen das Nervensystem ein Maximum der Komplikation und der Konzentration erreicht. In
diesem allgemeinen Aufriß der so weit wie möglich von außen und im Gegensatz zu der
einfachen Materie betrachteten Biosphäre findet sich bereits ein sehr bemerkenswertes Indiz
der Struktur. Letztere wird sich unserem Blick sehr viel eindeutiger zeigen, wenn wir versuchen,
sie über weniger weite Räume zu verfolgen. (174)
Lassen wir der Einfachheit halber das unendlich komplexe und von uns so naiv vereinfachte
Universum der einzelligen Wesen beiseite: und unter Beiseitelassung sogar der primitiven
Scheidung der Metazoen in Pflanzen, Coelenteraten, Insekten usw. … [lauter ineinander
verschlungene Welten, deren wahre ‹Parallaxen› sich unserem Zugriff noch entziehen] wollen
wir beobachten, was in der heutigen und vergangenen Verteilung der Wirbeltiere geschieht.
Wir sind unmittelbar von einer ersten Tatsache betroffen: in diesem Zweig [die jüngste
Abteilung des Lebens und folglich jene, deren Studium uns als Schlüssel und Modell für das
Verständnis aller anderen lebenden Gruppen dienen muß] verteilen sich die von uns
katalogisierten Formen in aufeinanderfolgenden Schichten, von denen jede zu ihrer Zeit die
gesamte Biosphäre ausfüllt, bevor sie, von der folgenden Schicht ersetzt, mehr oder weniger
vollständig verschwindet. Gewisse gepanzerte fischartige Formen [die sehr zu Unrecht mit den
Fischen verwechselt werden], die Amphibien, die Theromorphen, die Reptilien, die Säugetiere
und, muß man hinzufügen, der Mensch [bedeutender als eine Klasse oder sogar eine
Verzweigung im biogeologischen Gleichgewicht] bilden ebenso viele Expansionen oder
Flutwellen des Lebens über die Totalität des Erdballs – Expansionen, die voneinander
unterschieden sind, die aber trotz der Diskontinuitäten, auf die wir noch ausführlich
zurückkommen werden, einem unbestreitbaren Verteilungsgesetz gehorchen. In unseren
Perspektiven, so begrenzt sie auch durch die Kürze der erforschbaren Zeit sein mögen, erneuert
sich die Biosphäre zumindest sechsmal in dem zoologischen Bereich, auf den wir uns beschränkt
haben – was zumindest sechs vitale Pulsstöße erster Größenordnung auf der Achse des
Wirbeltierlebens ergibt. (175)
Befassen wir uns nunmehr mit dem Einzelstudium eines dieser Pulsstöße. Wir werden
feststellen, daß er sich seinerseits zu einer Zerlegung oder Spaltung in ganz natürliche Teile
eignet, von denen am unmittelbarsten jene sichtbar sind, die sich aus der Harmonisierung des
morphologischen Grundtypus mit einem verschiedenen Milieu [Luft, Wasser, Erde, Pflanzen,
Bäume usw. …] ergeben. So zeichnet sich in jeder Verzweigung oder Klasse als Antwort auf die
Reize des Milieus ein System von Linien [‹radiations› der amerikanischen Autoren] ab, deren
Quirl, der besonders gut erkennbar ist bei den Reptilien, den Säugetieren [und in den ‹künstlich›
genannten Formen sogar beim Menschen] bereits in den ärmeren oder schlechter bekannten
Gruppen der Theromorphen und der Amphibien sichtbar wird. In Wirklichkeit sind die Quirle,
von denen wir hier sprechen, sehr komplex. Jeder Strahl ihrer Krone enthüllt sich in der Analyse
als aus einem Bündel paralleler Strahlen gebildet, die jeweils mit einem der immer
elementareren Unterquirle zusammenhängen, die durch das Aufblühen der Gruppen zweiter,
dritter Ordnung und so weiter hervorgebracht werden, in die die zoologischen Verzweigungen
oder Klassen zerfallen.
So können bei den Säugetieren die Wühler Marsupialier, Insektenfresser oder Nagetiere sein; die
schwimmenden Formen Seekühe, Wale oder Raubtiere; die Einhufer Equidae oder
Notoungulaten [oder tertiäre Huftiere Südamerikas]… Doch lassen wir vorläufig diese
Komplikation beiseite, um uns dem Studium eines einzigen, möglichst einfachen Strahles in
einem einzigen Quirl zuzuwenden. Verfolgen wir in der Zeit die eine oder die andere dieser
Linien. Wir werden feststellen, daß der zoologische Typ auf der gewählten Achse regelmäßig
78
variiert, indem er sich in einer bestimmten Richtung spezialisiert. Das ist der Sonderfall der
phyletischen Linien [Pferde, Kamele, Elefanten usw.], (176) Klassen mit einer Kurve, auf die man
lange Zeit hindurch in viel zu großer Einengung den allgemeinen Grundriß der
Transformationen des Lebens zurückgeführt hat.
Aufeinanderfolgende Schichten innerhalb ein und desselben allgemeine Ganzen, Quirle in den
Schichten, phyletische Strahlen in den Quirlen: wir sind die Hauptgruppierungstypen
durchgegangen, wie sie sich in den komplexen lebenden Einheiten darstellen. Es geht nunmehr
darum, folgendes gut zu begreifen: das Gesetz der Zusammensetzung oder des Zerfalls, zu dem
wir gelangt sind, ist genauso wie die Gesetze, die die Verteilung der Gitter in einem Kristall oder
die der Blätter oder Zweige bei einer Pflanze bestimmen, nur eine Rekursionsformel. Wir haben
sie im Falle der großen oder mittleren Einheiten des Lebens untersucht. Doch ist es in gewissen
günstigen Fällen möglich, sie weiter nach unten [und wahrscheinlich viel weiter nach oben] zu
verfolgen, bis man in ihr eine ‹kongenitale› und strukturelle Anlage der organisierten Materie
selbst erkennt. Je besser wir die Tiergruppe kennen, um so mehr löst sie sich vor unseren Augen
in eine wachsende Zahl aufeinanderfolgender, immer kleinerer Fächer auf.
Die Beobachtung ist besonders interessant und leicht anzustellen innerhalb der menschlichen
Gruppe. Weil die Menschheit heute im vollen Leben steht und weil sie durch ihre feinen Rassen-
und Kulturunterschiede die Ansatzpunkte zu einer Unendlichkeit von physiologischen und
psychologischen Differenzierungen gibt, können wir dahin gelangen, unter der
Grundschwingung eine endlose Zahl von Oberschwingungen zu zählen. Der Mensch schlechthin
zerfällt in fossile Menschen und in den Homo sapiens; letzterer in Weiße, Gelbe und Schwarze;
jede dieser Gruppen ihrerseits spaltet sich in ethnische Einheiten aller Art. Und man muß noch
weiter gehen; bis in die Geschichte (177) jeder Familie, bis in die Entwicklung sogar jedes
Individuums oder sogar jeder Idee in dem Individuum ist es möglich, im Entstehungszustand
den Mechanismus der Zerstreuung, der Entfaltung und der Ablösung zu erkennen, der den Gang
der größten lebenden Gruppen regelt, die zu überblicken unserer Erfahrung gelingt. Dieselbe
analytische Arbeit wäre selbstverständlich in allen zoologischen Gruppen möglich, wenn wir sie
mit ‹Leib und Seele› besser kennten.
Lassen wir nunmehr die in sich selbst betrachteten Dinge beiseite und nehmen wir die Frage in
ihren Zusammenhängen mit unserem wissenschaftlichen Forschungsbemühen wieder auf. Unter
diesem Gesichtspunkt läßt sich alles, was wir eben gesagt haben, in der folgenden Feststellung
zusammenfassen. Es gibt eine gewaltige Wissenschaft, die Systematik, die seit einem
Jahrhundert von einer wachsenden Zahl von Forschern mit einer immer größeren Akribie in
beständig ausgeweitete Bereiche vorangetrieben wird. Diese Wissenschaft, die aufbrach, um
eine einfache nominelle oder logische Klassifizierung der Seienden zu schaffen, ist nach und
nach unter dem Druck der Fakten eine wirkliche Anatomie oder Histologie der lebenden
irdischen Schicht geworden. Sie ist nicht nur in dieser neuen Gestalt geboren, indem sie sich so
als möglich bekundete; sondern sie wird auch unaufhörlich kräftiger und umfassender. Unter
ihrer analytischen Arbeit zerfällt die Biosphäre, soweit das Auge reicht, im Großen und im
Kleinen, bis sie nur mehr ein unermeßliches natürliches Netz von Elementen bildet, die
aneinander stoßen und einander überdecken. In diesem einmal aufgewiesenen Netz findet jede
neu entdeckte lebende Form mühelos einen Platz, der die Kontinuität des Ganzen vollendet.
Nun, das ist ein gewaltiger Erfolg, und es ist seltsam, daß wir so schwerfällig sind, seinen Grund
zu erkennen. Alles läßt sich klassifizieren: (178) also hängt alles zusammen. Wirklich nicht das
einfache Zeugnis irgendwelcher isolierter oder flüchtiger Fakten, sondern das ganze Leben einer
blühenden Disziplin [das heißt die tägliche Kontrolle tausendfach wiederholter Beobachtungen]
gewährleistet es uns: die riesige von der Totalität der Lebewesen geformte Masse bildet keinen
79
zufälligen Verband oder ein akzidentelles Nebeneinander; sie konstituiert eine natürliche
Gruppierung, das heißt ein physisch organisiertes Ganzes.
Da wir an diesen Punkt unserer Untersuchung gelangt sind, brauchen wir nur mehr einen
weiteren Schritt zu tun, damit sich vor unseren Augen in seiner Fülle der grundlegende und
unerschöpfliche Beweis des Transformismus enthülle, den wir zu Beginn dieses Paragraphen
ankündigten. Die Biosphäre, so haben wir festgestellt, stellt sich als ein konstruiertes Ganzes dar,
in dem die äußere Struktur der großen gegliederten Blöcke sich in einer inneren Textur der
kleinsten Elemente fortsetzt. Eine Schlußfolgerung drängt sich auf: nämlich daß sie sich
fortschreitend gebildet hat. Wir mögen die Dinge und die Worte drehen, wie wir wollen: bisher
hat man nur eine einzige Weise gefunden, die von der Systematik entdeckte Struktur der
lebenden Welt zu erklären; nämlich in ihr das Ergebnis einer Entwicklung, einer ‹Evolution›, zu
sehen. Das Leben trägt in seinen Hauptzweigen ebenso wie in seinen zartesten Verästelungen
die evidenten Spuren eines Keimens und Wachsens. An diesem wesentlichen Punkt kann man
die Geisteshaltung erkennen, zu der die moderne Wissenschaft endgültig gelangt ist. Sagen wir
es, weil es wahr ist: man würde eher einen Botaniker oder einen Histologen überzeugen, daß die
Gefäße eines Stengels und die Fasern eines Muskels von einem geschickten Fälscher verwebt
und verschweißt wurden, als daß man einen sich der Wirklichkeiten, mit denen er umgeht,
bewußten Naturforscher dazu brächte, die genetische (179) Unabhängigkeit der lebenden
Gruppen einzuräumen29.
Die Masse organisierter Materie, deren Hülle die Erde umkleidet, ist geboren und ist gewachsen.
Dieser Satz muß, um die ihm von uns verbürgte Gewißheit zu bewahren, selbstverständlich in
der allgemeinen Form gehalten werden, die wir ihm gelassen haben. Die zoologische Evolution
[das ergibt sich schon aus den Gliedern unserer Beweisführung] ist letzten Endes nur in dem
Maße erwiesen, wie sie notwendig ist, um die Architektur des Lebens zu erklären. Sobald man
versucht, dem Problem näher auf den Leib zu rücken, beginnt das Zögern. Genau welche
Geburts- und Wachstumsmodalitäten haben die Richtung des gegenwärtigen Gleichgewichts der
lebenden Welt bestimmt? Wie viele unabhängige biologische Komponenten, das heißt
ursprüngliche Phyla, gibt es? Unter der Einwirkung welcher inneren oder äußeren Faktoren
haben die Formen sich differenziert und angepaßt? Mit einem Wort, welches sind die
besonderen Ausdrucksformen der physischen Funktion, die, dessen sind wir sicher, organisch
die Lebewesen untereinander verbindet? – Alle diese Fragen bleiben noch ohne endgültige
Antworten. Zugleich aber sind sie, daran muß man immer wieder erinnern, für das Problem
nebensächlich. Man könnte alles Spezifische in den Darwinischen oder Lamarckschen
Erklärungen des Lebens zerschlagen haben [und gerade an diesem ‹Spezifischen› greifen die
Gegner des Transformismus an], die grundlegende evolutionistische Existenz bliebe (180) so stark
wie je im tiefsten Grund unserer ganzen Erfahrung des Lebens eingeschrieben. Es scheint nicht
möglich, unserer phänomenalen Schau des Lebens im Universum gerecht zu werden, ohne die
Existenz einer feststellbaren biologischen Entwicklung zu Hilfe zu nehmen: das ist die
tatsächliche, wirklich handfeste Position, die die Verteidiger der Evolution niemals verlassen
dürfen, um sich in zweitrangige Diskussionen über die wissenschaftlichen ‹Wie› und die
metaphysischen ‹Weshalb› hineinziehen zu lassen.
29 (FN 2) Man lese mit etwas Aufmerksamkeit die in diesen letzten Jahren von unabhängigen Gelehrten gegen die alten Formen des Transformismus geführten freimütigsten Angriffe, und man wird unmittelbar gewahr, daß diese anscheinenden Gegner [so pluralistisch sie sich auch nennen] alle als unbestreitbare Voraussetzung anerkennen, daß es eine Evolution [d. h. eine zusammenhängende Geschichte] des Lebens gibt.
80
Hierzu eine Bemerkung: unter diesem Gesichtswinkel und in dieser allgemein Form [d. h. als ein
universelles und kontinuierliches Zeugnis der Systematik] zwingt die Evolution der
organisierten Materie sich unabhängig von jeder unmittelbaren Wahrnehmung irgendeiner
aktuellen Transformation des Lebens auf. Mit vielen Beobachtern bin ich überzeugt, daß die
Abwandlung der zoologischen Formen sich weiterhin vollzieht [genauso wie die Faltungen oder
die Sprünge der Erdrinde] und daß nur ihre Langsamkeit uns daran hindert, sie wahrzunehmen.
Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, daß sich gegenwärtig in unserer Umgebung Rassen
bilden, die das Aufkommen neuer Arten vorbereiten. Doch selbst wenn das Gegenteil feststünde,
das heißt, wenn die Immobilität der heutigen Biosphäre wissenschaftlich30 bewiesen wäre,
bliebe zur Erklärung des gegenwärtigen Zustandes die Notwendigkeit einer (181) vergangenen
Bewegung genauso bestehen. Selbst wenn die Kalkbänke der Alpen heute endgültig erstarrt
sind, ist doch um nichts weniger gewiß, daß sie sich ehedem gefaltet haben. So kann man sich
eines Lächelns nicht erwehren, wenn man sieht, wie gewisse Forscher ihr Einverständnis mit
den evolutiven Anschauungen von den Ergebnissen einer Untersuchung über die
Veränderlichkeit eines Mooses oder eines Spinats abhängig machen. Diese Forscher haben
zumindest für sich die edle Entschuldigung, in die fruchtbare Kleinarbeit ihrer Untersuchungen
versunken zu sein. Doch was soll man von den Philosophen sagen, die auf diesen Nadelspitzen
ein Gebäude errichten wollen, das jenem widerstreitet, das nach und nach nicht nur, wie wir
gesagt haben, auf den allgemeinen Ergebnissen einer ganzen Wissenschaft aufgebaut wird,
sondern mehr noch, wie wir sehen werden, auf der unermeßlichen Grundlage all unseren
sinnlichen Erkennens.
B. DER TRANSFORMISMUS, EIN SONDERFALL DER
UNIVERSALGESCHICHTE
Wir haben kurz, aber ausreichend, den auf der anscheinenden Fixiertheit der heute lebenden
Formen gründenden anti-evolutionistischen Einwand ausgeräumt. Ein andere Einwand, der sich
auf das ‹Fehlen von Zwischenformen› stützt, muß uns länger beschäftigen, weil seine Prüfung
uns dahin führen wird, den engen Zusammenhang besser zu begreifen, der zwischen der
transformistischen Konzeption des Lebens und der Struktur nicht nur der organisierten Welt,
sondern der Welt schlechthin besteht.
Die Diskontinuität der von der Systematik aufgestellten Stammbäume ist nicht zu leugnen; und
wir hatten bereits mehrfach in anderen Arbeiten Gelegenheit, sie eingehend (182) zu analysieren.
Selbst unsere gelungensten Phyla [die der Pferde, der Rhinozerosse, der Elefanten, der Kamele
z.B.] erweisen sich, aus nächster Nähe betrachtet, als nicht aus einer einzigen Faser gebildet,
sondern aus kleinen, sich überlappenden Segmenten zusammengesetzt, die zu einer sehr großen
Zahl einander ablösender Linien gehören. Am Ursprung der Phyla verstärkt sich das Phänomen.
Wir haben uns auf den vorhergehenden Seiten ausführlich über die natürlichen Gruppierungen
in Schichten, Quirle, Strahlen verbreitet, die eine als bloße ‹Positions›-Wissenschaft begriffene
Biologie in der Masse der Lebewesen unterscheidet. Dabei haben wir [um unsere Darlegungen
zu vereinfachen] zu sagen unterlassen, daß diese verschiedenen Einheiten im gegenwärtigen
Zustand unserer Kenntnis nur wirklich ein zusammenhängendes Ganzes bilden, wenn man sie
30 (FN 3) Es ist seltsam, daß man folgendes noch nicht bemerkt hat: der berühmte Einwand gegen den zoologischen Evolutionismus, der sich auf die Tatsache gründet, daß die Versuche, die angestellt wurden, um künstlich beständige Variationen der Formen zu erhalten, im allgemeinen nicht zum Ziel führen – dieser Einwand, so sage ich, beweist nichts, weil er zu viel beweist. Er würde nämlich dahin tendieren, daß wir einräumten, die zu Hunderttausenden durch die Systematik erkannten fixierten Arten stellten ebenso viele unabhängige ‹Schöpfungen› dar. Doch kein Fixist wagt heute so weit zu gehen.
81
idealisierend ineinander verlängert. Die zoologischen Zweige, stärker ausgebildet in ihren
Spitzen, vor allem wenn diese Spitzen selbst zu dem Endstück eines in jüngerer Zeit
aufgetretenen Astes gehören, entblättern sich und verschwinden dann rasch vor unseren Augen,
sobald wir versuchen, bis zu ihrem Ansatzpunkt an einem gemeinsamen Stamm hinabzusteigen.
Daraus ergibt sich, daß die wirklich bekannten Teile der tierischen oder pflanzlichen Welt sich
uns in ihrer Gesamtheit und in ihren Einzelheiten wie Büschel in der Luft an gewissen
unsichtbaren Zweigen hängender Blätter darstellen – oder auch, um einen anderen Vergleich zu
nehmen, wie die Früchte der Nadelbäume, deren Schuppen einander berühren, während sie
zugleich ihren tiefen Zusammenhalt verdecken.
Die Fixisten machen viel Aufhebens von dieser Diskontinuität der Phyla, und sie haben die
Angewohnheit, darin ein Todesurteil des Transformismus zu sehen. Das ist eine Illusion
ihrerseits. Das Verschwinden der zoologischen Stiele läßt nicht nur eine gesicherte
Gesamtstruktur bestehen, (183) die eine Erklärung verlangt, deren wissenschaftlichen Grund
anzugeben der Fixismus niemals versucht hat; – sondern, richtig begriffen, erscheint sie auch als
eines der ermutigendsten Zeichen für die Richtigkeit der evolutionistischen Anschauungen. Der
auf den ersten Blick für den Transformisten so verwirrende lückenhafte Charakter der
phyletischen Reihen ist in Wirklichkeit, wenn man recht hinsieht, das sehr sichere Anzeichen für
eine wirkliche Wachstumsbewegung des Lebens.
Man verlangt von den Zoologen, den ersten Ursprung der Pferde oder der Amphibien oder der
Reptilien zu zeigen. Doch, hat man jemals daran gedacht, von den Archäologen den ersten
Ursprung der Semiten, der Griechen oder der Ägypter zu verlangen? ... oder von den
Sprachforschern den des Sanskrit, des Hebräischen oder Lateinischen? ... oder von den
Philosophen den der Hauptströmungen des Denkens, der Moral oder der Religion? … oder von
den Juristen den der Organisationsprinzipien, der Familie oder des Eigentums? … Es würde
genügen, diese Fragen zu stellen, um in jedem Augenblick überrascht angesichts unserer
Unwissenheit über den Beginn von Dingen zu sein, deren evolutive Natur für niemanden dem
geringsten Zweifel ausgesetzt ist, doch deren Herkunft tatsächlich durch keinerlei präzises
Dokument erwiesen ist. Ein bekannter Sprachforscher machte mich kürzlich darauf
aufmerksam, daß wir nicht wissen, wie die romanischen Sprachen zusammenhängen, so daß
wir, genaugenommen, durch schriftliche Dokumente nicht beweisen können, daß das
Französische aus dem Lateinischen hervorgeht. Nach einer dunklen Periode ist unsere Sprache
eines schönen Tages in ihren wesentlichen Linien ganz durchgebildet da, ganz genau so wie die
ersten Säugetiere oder die ersten Pferde. Wenn man darüber nachdenkt, erscheint der Grund für
diese Lücken, die mit Recht gerade an den interessantesten (184) Punkten ihren Ort haben, ganz
einfach. Durch die Erosion der Zeit verschwinden die schwachen Teile der Vergangenheit, und
die Dinge neigen automatisch dazu, sich auf ihre widerstandsfähigsten oder größten Teile zu
reduzieren. Doch im Laufe einer Entwicklung, ganz gleich welcher, sind es gerade die Phasen der
kürzesten Dauer, der geringsten Konsistenzen, der schwächsten Ausdehnung, die mit dem
ersten Auftreten und den ersten Fortschritten einhergehen: denn die Geburts- und
Wachstumskrisen dauern nicht lange und hinterlassen gewöhnlich keinerlei Spur ihrer selbst
außer ihrem Einfluß auf die Zukunft. Dagegen haben die meiste Aussicht zu überdauern
[tatsächlich allein zu überdauern], die quantitativen Maxima, die einer gesicherten Situation und
den gefestigten Blütezeiten entsprechen. Deshalb zeigt uns die Geschichte in allen ihren
Bereichen niemals etwas anderes [zumindest in ihren alten Teilen, und je älter diese Teile sind]
als eine Abfolge von aus dauerhaften Zuständen – letzten Endes aus fixfertigen Dingen –
konstituierten Zivilisationen, die einander jagen wie die aufeinanderfolgenden Szenen eines
Films – im Kinematographen. Was würden in den Resten unserer heutigen menschlichen
82
Schicht, wenn irgendein Kataklysmus sie begrübe, ohne dabei die Stahlorganismen zu
zerfressen, die von einem anderen Stern herabgestiegenen Paläontologen anderes entdecken als
Fahrräder, Automobile, Flugzeuge von einem in etwa fixierten und vollendeten Typus? Die
ersten Fahrräder, die alten ‹Klapperkisten› der Anfänge, wenig zahlreich und rasch verdrängt,
würden unauffindbar bleiben. Und wir lachen bei dem Gedanken an den Irrtum, dem die
ausgrabenden Gelehrten zu verfallen drohten, wenn sie sich vorstellten, unsere Mechanismen
wären mit einem Schlag in vollkommener Form erfunden worden. – Und gehen nicht in jedem
Augenblick die Fixisten in genau dieselbe Falle? (185) Man muß sich das endlich in Erinnerung
rufen. In allen Bereichen tendieren wir infolge eines mechanisch an das Funktionieren der Zeit
gebundenen Effekts dahin, in dem Maße, wie die Gegenstände sich von uns entfernen, sie nur
mehr im erwachsenen Zustand erfassen zu können. Wenn man also von dem Zoologen als
Beweis für den Transformismus verlangt, er solle die Ursprünge des Phylums aufzeigen, das ihm
zu konstruieren gelungen ist, verlangt man nicht nur ungerechterweise von ihm, was von
keinem Erforscher der dem unseren näheren menschlichen Bereich verlangt wird, sondern man
verlangt etwas Unmögliches – was von einer vollständigen Unkenntnis sowohl des Alters und
Umfangs der biologischen Evolution als auch der Bedingungen zeugt, unter denen alle
Geschichtsschreibung arbeitet.
Alles, was man in Wirklichkeit in der Zoologie aus dem Fehlen von Zwischenformen schließen
muß, ist, daß die Biosphäre, da sie in genau derselben Weise auf die Methode unserer
historischen Analyse reagiert, wie jedes beliebige andere uns bekannte, mit größter Gewißheit
evolutive Gebiet selbst evolutiver Natur ist. Wie wir ankündigten, ist der Einwand in einen
Beweis umgeschlagen. Es genügte, ihn zu verallgemeinern, um in ihm diese sehr einfache
Wahrheit zu entdecken, daß der wissenschaftliche Evolutionismus keine einfache Hypothese
zum Gebrauch der Zoologen ist, sondern ein Schüssel, dessen sich jeder bedient, um in ganz
gleich welchen Bereich der Vergangenheit vorzudringen – der Schlüssel des universellen
Wirklichen. Es bedeutet große Geschicklichkeit oder einen schlimmen Irrtum, die Last und die
Verantwortung für die transformistischen Anschauungen die Biologen allein tragen zu lassen,
als hätten sie allein die Aufgabe, sie zu verteidigen. In Wirklichkeit findet die Naturgeschichte
auf ihrem Gebiet lediglich dieselben Entwicklungsgesetze und (186) dieselben Lücken wieder wie
jedes andere Studium der Vergangenheit. Den Transformismus in seiner Essenz erschüttern
hieße also, die Totalität unseres Wissens vom verflossenen Wirklichen treffen: es hieße, die
ganze historische Wissenschaft anzugreifen. Ist das jemals von jenen bedacht worden, die sich
vorstellen, die Evolution sei ruiniert, weil man eine stärkere Diskontinuität zwischen den
Becken der Wirbeltiere gefunden hat, als es ursprünglich schien? Wenn sie den Transformismus
zu ihrem Führer machen, behaupten die Zoologen keineswegs [das werden wir noch einmal
sagen müssen], den Kern der Dinge zu erklären. Doch sie halten daran fest, daß irgendein Tier,
ebenso wie Cäsar oder Sesostris, nicht anders in das Feld unserer Erfahrung treten konnte denn
entlang einer Ereignislinie unter bestimmbaren Umständen. Und niemand kann die Legitimität
dieses Postulats bestreiten, ohne, wie wir sehen werden, den tiefsten und universellsten
Gesetzen unserer sinnlichen Wahrnehmung zu widersprechen.
C. DIE ENTDECKUNG DER ORGANISCHEN ZEIT ODER DER KERN
DES TRANSFORMISMUS
Nunmehr sind wir endlich Schritt für Schritt an den eigentlichen Kern der transformistischen
Frage gelangt. Da wir den Transformismus mit der Geschichte im allgemeinen verschweißt
haben [d. h. faktisch mit dem ganzen Bereich der positiven Wissenschaften], haben wir nicht nur
83
sein Gebäude unerschütterlich befestigt; wir haben auch implizit ein Faktum anerkannt und eine
Frage grundlegender Bedeutung gestellt.
Unsere Wissenschaft vom erfahrbaren Wirklichen tendiert heute [ob es sich um lebende
Organismen, Ideen, Institutionen, Religionen, Sprachen oder konstitutive Elemente (187) der
Materie handelt] unbezwinglich dahin, in ihren Untersuchungen und Konstruktionen die
historische Methode anzunehmen, das heißt den Standpunkt der Evolution, des Werdens. Die
Geschichte erobert nach und nach alle Disziplinen, von der Metaphysik bis zur Physik und
Chemie, und zwar derart, daß sich eine Art einziger Wissenschaft des Wirklichen zu
konstituieren strebt [wir sind auf diesen Punkt an anderer Stelle eingegangen], die man die
‹Naturgeschichte der Welt› nennen könnte. Kraft welcher geheimnisvollen Notwendigkeit
vollzieht sich diese Eroberung? stellt sich diese Trift ein?
Die Antwort ist folgende: wir sind dabei, die Zeit zu entdecken. Die Zeit. Immer schon, das ist ganz
klar, war sich die menschliche Erfahrung dessen bewußt, daß sie in ihre unermeßlichen
Schichten hineingetaucht ist. Doch welcher Abstand zwischen dieser ersten simplistischen
Wahrnehmung der Dauer und dem tieferen Begreifen, zu dem die fortschreitende Analyse des
Universums uns nach und nach führt.
Bis in eine kaum vergangene Epoche [kurz, bis ins letzte Jahrhundert] ist die Zeit praktisch für
die Gesamtheit der Menschen eine Art großer Behälter geblieben, in dem die Dinge
nebeneinander dahintreiben. In diesem indifferenten und homogenen Milieu wurde jedes
Wesen so vorgestellt, als könne es zu beliebiger Zeit und an beliebigem Ort auftauchen. Inmitten
dieses Ozeans erschien jede Natur in ihren Konturen, ihrem Ursprung und ihrer Geschichte
ebenso scharf umrissen wie ein inmitten der Wasser schwebender Gegenstand. Nach Belieben,
so schien es, konnte man ihn dorthin setzen, dorthin verschieben oder herausnehmen.
Zweifellos war für den Aristotelismus die Zeit nicht wirklich von der Bewegung der Dinge
verschieden. Doch diese wahrhaft tiefschürfende Konzeption von der Dauer verband sich im
Grunde mit einem essentiellen (188) Immobilismus. Tatsächlich blieb die Ortsveränderung in
gewisser Weise das ‹analogum princeps› der Bewegung, und wenn andere Veränderungen ins
Auge gefaßt wurden, um die Dauer zu fundieren oder zu skandieren, so scheinen sie nicht tiefer
als die sinnlichen Qualitäten oder das Spiel der Leidenschaften oder der Eindruck der
intellektuellen Spezies gedrungen zu sein. Die verschiedenen ‹Naturen› wurden als
ursprüngliche und fertig gegebene Elemente der Welt begriffen. Ihre möglichen ‹substantiellen
Veränderungen› waren von vornherein fixiert und vollzogen sich augenblickshaft. Man kann sich
fragen, ob für die alte Scholastik die Zeit jemals etwas anderes umspült hat als den Bereich der
Akzidentien, das heißt der oberflächlichen Zone der Seienden.
Seit einem Jahrhundert dagegen wendet sich, angeregt von den Wissenschaften vom Leben und
allgemeiner von der Wissenschaft schlechthin, das philosophische Denken verallgemeinerten
Perspektiven zu. Für uns durchdringt die Dauer jetzt die Essenz der Seienden bis in ihre letzten
Fasern31. Sie dringt bis in ihren Stoff selbst ein; nicht als ob die Dinge dadurch [wie man häufig
vorgegeben hat] inkonsistent und fließen würden, sondern in dem Sinne, daß sie uns heute als
unbeendbar, unbegrenzt in der Vorbereitung, der Reifung und der Vollendung ihrer Natur
erscheinen, für wie unveränderlich man letztere auch hält. Die früher als ‹punktförmig›
betrachteten ‹Naturen› ziehen sich jetzt vor unseren Augen unzerteilbar über die Länge der
31 (FN 4) Vielleicht könnte man in diesem Sinne sagen, der aristotelische Hylemorphismus stelle die Projektion des modernen Evolutionismus auf eine Welt ohne Dauer dar. Wird sie in ein Universum übertragen, in das die Dauer eine weitere Dimension hineinträgt, wird die Theorie von der Materie und der Form fast ununterscheidbar von unseren heutigen Spekulationen über die Entwicklung der Natur.
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erfahrbaren Zeit aus. Sie werden in gewisser Weise ‹filiform›. (189) In gewissen Augenblicken
werden die Seienden zweifellos expliziter geboren; das heißt, sie treten deutlich in das Feld
ihres inneren Bewußtseins und unserer gemeinsamen Erfahrung. Doch dieser Geburt, durch die
wir sie aus Konvention beginnen lassen, geht in Wirklichkeit eine Trächtigkeit ohne festlegbaren
Ursprung voraus. Durch irgend etwas ihrer selbst [ist das nicht das, was der heilige Augustinus
«ratio seminalis» nannte?] verlängert sich alles in irgendeine andere präliminäre Wirklichkeit,
und durch etwas anderes ist alles in seiner individuellen Vorbereitung und Entwicklung [das
heißt in seiner eigenen Dauer] an eine Gesamtevolution gebunden, in der die kosmische Dauer
aufgezeichnet wird. Partiell, infinitesimal ist jedes Element, ohne irgend etwas von seinem
individuellen Wert zu verlieren, der Geschichte, der Wirklichkeit des Alls, koextensiv.
Selbstverständlich läßt sich diese Grundgegebenheit der Seienden, daß sie nur solidarisch mit
der Totalität der Vergangenheit wahrgenommen werden können, in metaphysischen Termini
aussagen. Doch [und das hier festzustellen, ist wichtig] ist sie zunächst Ausdruck eines Gesetzes
unserer sinnlichen Erfahrung. Philosophen wie Bergson haben lediglich eine Gegebenheit in ein
allgemeines System übertragen, auf die wir auf allen Wegen stoßen, die wir in das greifbare
Wirkliche zu eröffnen suchen. Zahllose Dinge treten um uns herum zutage, wachsen und
überschreiten ontologische Schwellen, die sie Zugang zu höheren Zonen des Seins gewinnen
lassen. Keines beginnt total. Alle entstehen aus dem, was vor ihnen war. – Pascal geriet in
Ekstase angesichts der beiden räumlichen Abgründe des unendlich Kleinen und des unendlich
Großen, zwischen denen wir voranschreiten. Die großartigste Entdeckung unserer Zeit ist es
zweifellos, daß sie sich eines dritten Abgrunds bewußt geworden ist, der die beiden anderen
erzeugt, (190) des Abgrundes der Vergangenheit. Von nun an ist für alles menschliche Denken, das
auf der Welt erwacht, jedes Ding seiner Struktur nach ein bodenloser Schacht geworden, in den
unser Blick hinabtaucht und sich bis in die Unendlichkeit der verflossenen Zeiten verliert.
Wir sehen das heute und zweifellos für immer. Ebenso wie das ‹Seiende im Raum› Ausdruck für
dieses Urgesetz der Welt ist, das verlangt, daß neben jedem Ding sich ein anders befindet, das es
stützt und verlängert – ebenso bedeutet ‹Seiendes in der Zeit› für jede Wirklichkeit, daß vor ihr
eine andere existiert, um sie einzuführen – und so weiter ad infinitum. Ein totaler Anfang in der
geringsten Kleinigkeit [d.h. der erfahrbaren Wirklichkeit eines Seienden, so klein es auch sein
mag, dessen eine Seite sich auf das zeitliche Nichts öffnete] würde ebenso sicher das ganze
Gebäude unseres sinnlichen Universums zum Einsturz bringen, das heißt ebenso radikal seiner
inneren Struktur widersprechen wie die Wirklichkeit einer kosmischen Grenze, entlang deren
die Gegenstände eine Seite aufwiesen, die sich auf ein räumliches Nichts hin öffnete. Selbst das
irdische organische Leben, das läßt sich leicht voraussehen, wird uns immer mehr als aus
irgendeinem ‹Vor-Leben› emergierend erscheinen. Das bringt, in Übereinstimmung mit allen
anderen Wissenschaften, im Bereich der lebenden Formen der Transformismus zum Ausdruck
und folglich müßte man das erschüttern, um ihn zu zerstören.
Man merke sich das sorgfältig, wenn man jede unnütze Kontroverse vermeiden will. Die
Wahrnehmung der organischen Zeit, von der wir hier sprechen [d. h. nämlich die der Zeit, deren
totaler Ablauf der schrittweisen, fortschreitenden und irreversiblen Erarbeitung eines Ganzen
organisch verbundener Elemente entspricht], diese neue Wahrnehmung, so sagen wir, liefert in
keiner Weise aus sich selbst eine Erklärung der Dinge, sondern nur eine genauere (191) Sicht ihrer
quantitativen Integrität. Daraus, daß die Lebewesen zum Beispiel anstatt innerhalb einiger
Existenzjahre umschrieben zu sein, uns heute als die Frucht einer Trächtigkeit erscheinen, die
sie buchstäblich zu Kindern der Erde und des Universums macht, ergibt sich, daß wir ihre
wahren Dimensionen und die Unermeßlichkeit des Problems genauer beurteilen, die die
materielle Existenz des geringsten unter ihnen stellt.
85
Doch folgt daraus in keiner Weise, daß die Probleme ihrer äußeren Form und mehr noch ihres
Seinsgrundes gelöst wären. Wir haben eine bessere Vorstellung von ihrer Komplikation, ihrer
Ausdehnung und der Eitelkeit jeder physischen oder philosophischen Lösung gewonnen, die
versuchen wollte, den Elementen außerhalb des Ganzen gerecht zu werden. Nichts weniger,
aber auch nichts mehr. Ein unermeßlicher Fortschritt im Bewußtsein vom Wirklichen und in der
Triangulation der Welt, eine ausgeprägtere und berechtigtere Vorliebe für die nach Einheit
strebenden Anschauungen und Konstruktionen; jedoch unmittelbar kein neuer Zugang zu den
verborgenen Bereichen der Substanzen und der Ursachen – das bedeutet das Aufblühen des
historischen Sinns im menschlichen Denkens.
Nicht nur, so könnte man sagen, erklärt der wissenschaftliche Evolutionismus nichts, vielmehr
ruft er uns diese elementare Wahrheit in Erinnerung, läßt er uns mit dem Finger an diese
elementaren Wahrheiten rühren, daß, so weit wir auch unsere Erfahrung des Sinnlichen
verlängern, wir immer nur im Sinnlichen bleiben können. Wenn wir irgendwo in der Zeit oder
im Raum auf einen Gegenstand stießen, dem nichts benachbart wäre, oder auf ein Ereignis ohne
Antezedenz, würden wir einen Spalt finden, um unseren Blick in das Jenseits der
Erscheinungsformen zu tauchen. Doch nichts scheint den Schleier der Phänomene durchstoßen
zu können. Wenn man von einem Universum (192) spricht, in dem die räumlichen oder zeitlichen
Reihen grenzenlos um jedes Element ausstrahlen, geraten viele Geister außer sich, und man
fängt an, von ewiger Materie zu sprechen. Das Fehlen jedes erfahrbaren Anfangs, wie es vom
Transformismus und von der ganzen Geschichte postuliert wird, hat eine sehr viel demütigere
und ganz andere Bedeutung. Es zieht in keiner Weise die Existenz eines mit göttlichen
Attributen bekleideten Universums nach sich32. Es bringt lediglich zum Ausdruck, daß die Welt
so konstruiert ist, daß unsere sinnliche Wahrnehmung in ihrer Unermeßlichkeit absolut
gefangen ist. Je weiter sie in ihr vorstößt, um so weiter scheint sie ihre Ufer zurückzuziehen.
Weit davon entfernt, dahin zu streben, einen neuen Gott zu entdecken, wird die Wissenschaft
uns nur die Materie enthüllen, die der Schemel der Gottheit ist. Dem Absoluten nähert man sich
nicht durch eine Reise, sondern durch eine Ekstase. Das ist die letzte intellektuelle Lehre des
Transformismus und ihre erste sittliche und religiöse Unterweisung.
D. DIE SITTLICHEN KONSEQUENZEN DES TRANSFORMISMUS
Anscheinend sind die um den Transformismus geführten Diskussionen wissenschaftlicher
Ordnung. Im Grunde hat die Leidenschaft, die sich in ihnen bekundet, einen tieferen (193)
Ursprung: sie ist sittlicher und religiöser Ordnung. Die Gegner des biologischen Evolutionismus
wären nicht so einfallsreich bei der Vermehrung oder Aufblähung ihrer Einwände, wären sie
nicht im Hinblick auf diese neuen Anschauungen von einem grundlegenden Mißtrauen beseelt,
das sie überzeugt, sie retteten die Tugend und die Religion, indem sie die transformistischen
Ideen angreifen.
Man könnte versucht sein, diesen Vorurteilen eine einfache, klare Abweisung entgegenzusetzen.
Wenn wirklich der Transformismus für den Fall des tierischen und pflanzlichen Lebens nur eine
aller materiellen Wirklichkeit gemeinsame Struktur oder korrelativ eine universelle Form
unseres Wahrnehmungsvermögens zum Ausdruck bringt, bleibt, so scheint, nichts anderes
übrig, als ihn als ein Seinsgesetz anzunehmen, ohne darnach zu fragen, ob er uns gefällt oder
32 (FN 5) Ein derartiges Universum hat nämlich nichts von der Seinsfülle noch der Ewigkeit, die die christliche Philosophie Gott zuerkennt. Seine Notwendigkeit ist Folge der freien Entscheidung des Schöpfers, und sein ‹unbeendbarer› Charakter hat nichts von einer Unendlichkeit. Daraus, daß unser Geist kein erstes Glied der phänomenalen Verkettungen wahrnimmt, kann man nicht auf das Nichtvorhandensein eines ontologischen Beginns der Dauer schließen.
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nicht. – Psychologisch ungeschickt, wäre diese brüske Geste auch rational vorschnell. Die häufig
in einer etwas allzu sentimentalen Weise formulierten fixistischen Antipathien wurzeln in dem
sehr richtigen Gedanken, daß eine neue Wahrheit in das menschliche Denken nur endgültig
hineingenommen werden kann, wenn sie sich als fähig erweist, seine bereits fest organisierten
Teile zu nähren und zu beleben. Das muß man anerkennen. Wenn die Welt gelebt werden kann
[wie wir alle implizit voraussetzen], können die evolutionistischen Anschauungen nur unter der
Bedingung Vertrauen einflößen, daß sie keinem der für die Erhaltung und Förderung des
menschlichen Tuns als notwendig erkannten Elemente widersprechen.
Nun wird unaufhörlich gesagt, der Evolutionismus gefährde unmittelbar dieses Tun. Er mache es
in seiner Wurzel selbst siech, indem er den Glauben an die Seele und die Gottheit zerstöre. Und
er vergifte es in seinem Wirken, indem er einer Egoismus- und Brutalitätsdoktrin das
Übergewicht über die Güte und die Selbstlosigkeit gebe. (194)
Eine Verteidigung des Transformismus wäre in schwerwiegender Weise unzulänglich, stellte sie
nicht diese parawissenschaftlichen Schwierigkeiten in Rechnung. Wir werden also, um darauf zu
antworten, sichtbar machen, daß, wenn die transformistischen Vorstellungen tatsächlich dazu
haben benutzt werden können, den materialistischen und inhumanen Tendenzen zu dienen,
diese Pervertierung jedoch weder notwendig noch legitim ist. Recht verstanden, ist der
Transformismus ganz im Gegenteil eine mögliche Schule geistigen Ideals und hoher Sittlichkeit.
1. Der Transformismus, mögliche Schule eines besseren Spiritualismus
Zunächst hat der Transformismus logisch weder den Materialismus noch den Atheismus zur
Folge. Was bringt er nämlich Neues in unseren Anschauungen? Nichts anderes, wie wir gesehen
haben, als einen unermeßlichen Zusammenhang im Werden. Innerhalb der sinnlichen Welt, so
lehrt er uns, folgt das Bewußtere regelmäßig auf das weniger Bewußte. Historisch und
wissenschaftlich setzt das ‹Mehr› das ‹Weniger› voraus. So sind der Geist und die Materie, die im
allgemeinen als zwei in unbegreiflicher Weise miteinander verbundene antagonistische
Universen betrachtet werden, nur mehr zwei Pole, die ein Strom verbindet, längs dessen die
Elemente, sosehr man sie auch als voneinander ontologisch verschieden annimmt, dem Gesetz
unterworfen sind, nur in einem Bereich auftreten zu können; das heißt in einer bestimmten
Ordnung. Streng genommen, regelt dieses Verteilungsgesetz nur die Erscheinungsformen. Doch
wie gewöhnlich hält unser Denken sich nicht zurück, einen Schritt weiter zu gehen, als die
Wissenschaft verlangt. Dort, wo die Fakten ihm nur die (195) Aufeinanderfolge in den Geburten
zeigen, wird es im allgemeinen einen Zusammenhang im Sein wahrnehmen, das heißt, es wird
einräumen, daß sich etwas Substantielles läutert und wirklich vom materiellen zum geistigen
Pol der Welt übergeht. Nehmen wir die Theorie in dieser extremen Gestalt, die sich leicht in für
die orthodoxeste Philosophie annehmbaren Termini aussagen läßt. Wer sähe nicht, daß sie mehr
zugunsten des Spiritualismus als des Materialismus spricht? Wollen Sie unbedingt, auf die
Gefahr hin, die Welt undenkbar und unlebbar zu machen, in den Plural und das Unbewußte den
Primat des Seins leben? Dann wird alles auf das Niedere zurückgeführte Materie. – Begreifen Sie
dagegen, daß allein die Vereinigung, die Synthese dem Universum seine Seligkeit und seine
Konsistenz geben? Entscheiden Sie sich, um danach zu streben zu sein, dafür, in der Richtung
dieses höheren Poles den absoluten Sinn alles Wachsens zu legen? Dann wird für Sie, kraft des
durch die Evolution zwischen allen Dingen geschaffenen Zusammenhanges, alles auf das Oben
zurückgeführt; alles wird, wenn nicht Geist, so wenigstens Vorbereitung, ‹Materie› für Geist.
Doch fürchten Sie nicht, Sie fielen dadurch in einen gegenteiligen Exzeß, von einem
materialistischen Pantheismus in irgendeinen spiritualistischen Monismus, in dem das
transzendente Wirken einer ersten Ursache ausgeschlossen wäre. Daß bei vielen der Eindruck
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entsteht, in einem Universum evolutiver Struktur verflüchtige sich der christliche Gott, ist darin
begründet, daß sie den Begriff der Schöpfung nicht genügend in sich selbst erneuert haben. Sie
sind immer noch dabei, im Hinblick auf die göttlichen Epiphanien von ich weiß nicht welchen
lokalisierten und greifbaren Einbrüchen zu träumen, ähnlich jenen, die mit dem Spiel der
materiellen und sekundären Ursachen einhergehen. Doch dieses Zerreißen unseres sinnlichen
Universums (196) durch ein Tun höherer Ordnung wäre nicht nur, um in der Schulsprache zu
sprechen, «contra leges naturae, in essendo et in percipiendo» [denn sie würden in unseren
Perspektiven durch das Auftreten von antezedenzlosen Wirklichkeiten zum Ausdruck kommen –
was, wie wir gesehen haben, ein ‹Erfahrungsmonstrum› ist] – vielmehr würden sie auch nichts
zu den Vorrechten des Schöpferwirkens hinzufügen33.
Geschaffen sein heißt für das Universum, sich Gott gegenüber in dieser ‹transzendentalen›
Beziehung befinden, die es im Mark seines Seins selbst sekundär, teilhabend, am Göttlichen
hängend sein läßt. Wir haben uns angewöhnt [trotz unseren wiederholten Aussagen, daß die
Schöpfung kein Akt in der Zeit ist], diese Bedingtheit des ‹teilhabenden› Seins mit der Existenz
eines erfahrbaren Nullpunktes in der Dauer zu verknüpfen, das heißt mit einem feststellbaren
zeitlichen Beginn. Doch dieses angebliche Erfordernis der Orthodoxie erklärt sich lediglich durch
eine unerlaubte Verunreinigung der phänomenalen Ebene durch die metaphysische. Überlegen
wir einen Augenblick, und wir werden sehen, in seinem Wirken innerhalb der Welt macht es
gerade das Eigentümliche des göttlichen Wirkens aus, daß es nicht hier oder dort gefaßt werden
kann [außer bis zu einem gewissen Punkt in den mystischen Beziehungen von Geist zu Geist],
sondern sich überall in den getragenen, finalisierten und in gewisser Weise über-beseelten
Komplex des sekundären Wirkens ausgegossen findet. Ob unser Raum und unsere Dauer eine
erfahrbare Grenze haben oder nicht, hat nichts mit der Überlegenheit eines Wirkens zu tun,
dessen Vorrecht gerade ist, daß es als Ansatzpunkt (197) seiner Kraft die globale Totalität der
vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Welt hat.
Ist der Transformismus in keiner Weise unvereinbar mit dem Schöpfungsgedanken, wenn er uns
die Erscheinungsformen eines unbegrenzten sinnlichen Universums vorlegt34, ist er
ebensowenig materialistisch oder atheistisch, wenn er uns das Bild von einer Welt bietet, in der
das menschliche Denken zu seiner Stunde im organisch-physischen Zusammenhang mit den
niederen Formen des Lebens aufgetreten wäre. Vielen Leuten scheint es, die Überlegenheit des
Geistes wäre nicht gewahrt, wenn seine erste Bekundung nicht mit irgendeiner Unterbrechung
einherginge, die in den gewöhnlichen Gang der Welt hineingetragen wäre. Doch gerade weil er
Geist ist, müßte man vielmehr sagen, hat sein Auftreten die Gestalt einer Krönung oder eines
Aufblühens annehmen müssen. Doch lassen wir alle systematischen Überlegungen beiseite. Wird
nicht jeden Tag eine Menge menschlicher Seelen im Laufe einer Embryogenese ‹geschaffen›,
entlang deren sich keinerlei wissenschaftliche Beobachtung jemals als fähig erweisen wird, den
geringsten Bruch in der Verkettung der biologischen Phänomene zu erfassen? Hier haben wir
täglich vor unseren Augen das Beispiel einer für die reine Wissenschat absolut nicht
wahrnehmbaren, unfaßbaren Schöpfung. Weshalb dann so viel Schwierigkeiten machen, wenn
es sich um den ersten Menschen handelt? – Selbstverständlich ist es für uns sehr viel
schwieriger, uns das Auftreten der ‹Reflexion› entlang eines aus verschiedenen Individuen
gebildeten Phylums vorzustellen als entlang einer Reihe von Zuständen, durch die derselbe
33 (FN 6) Recht begriffen, ist das Wunder selbst weniger ein Riß in den Phänomenen als eine harmonische Ausweitung [durch Über-Schöpfung oder Über-Beseelung] der Vermögen des geschaffenen Seins. 34 (FN 7) Weil, wir sagen das noch einmal, daraus, daß unter phänomenalem Gesichtspunkt der zeitliche Anfang der Welt ungreifbar ist, keineswegs folgt, daß es der Vorstellung von einem ontologischen Anfang der Welt an Objektivität mangelt.
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Embryo hindurchgeht. (198) Doch vom Standpunkt des schöpferischen Wirkens, wird es in seinen
Beziehungen zu den Phänomenen betrachtet, ist der Fall der Ontogenese derselbe wie der der
Phylogenese. Warum soll man zum Beispiel nicht zugeben, daß das absolut freie und besondere
Tun, durch das der Schöpfer gewollt hat, daß die Menschheit Sein Werk kröne, den Gang der
Welt vor dem Menschen so gut beeinflußt, vor-organisiert habe, daß letzterer uns heute [als
Folge der Entscheidung des Schöpfers] als die von den Entwicklungen des Lebens natürlich
erwartete Frucht erscheint? «Omnia propter Hominem.» Diese Absicht findet in vorbereitendem
Wirken ihren Ausdruck, und wir haben genau die Erscheinungsformen einer Evolution, die von
ihren Ursprüngen an das Auftreten des Denkens der Erde impliziert. – Noch einmal, hüten wir
uns davor, die Ebenen durcheinander zu bringen. In unserem Universum bringen die
Diskontinuitäten der Naturen, die evolutiven Stufen [so zahlreich und so bedeutsam sie die
Philosophie auch verlangt] keinerlei notwendigen Stillstand im Ablauf der Phänomene mit
sich35.
Wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem Transformismus und dem Fixismus in der Weise,
die menschliche Seele zu begreifen, so diesen, daß für den ersten diese Seele nicht nur speziell,
sondern allein gewollt worden ist. Der Schöpfer hat sie nicht eines schönen Tages in eine Welt
geworfen, die künstlich darauf vorbereitet war, sie zu empfangen. Vielmehr hat Er sie ein erstes
Mal geboren werden (199) lassen, und Er läßt sie weiterhin geboren werden jeden Tag durch ein
seit je mit dem Gang des Universums wunderbar verwobenes Wirken. Diese Anschauung ist
gewiß geeigneter als jede andere, unserem modernen Geist eine hohe spekulative Vorstellung
von dem Wert des Geistes zu geben. Sie hat noch eine weitere Überlegenheit, die wir hier noch
zu analysieren haben: nämlich in den Gang selbst unseres praktischen Lebens ein unermeßliches
Gewicht an Ideal und Verantwortung hineinzutragen.
2. Der Transformismus, mögliche Schule hoher Sittlichkeit
Der Diskussion der Ideen ist kein Sophismus verhängnisvoller als jener, der darin besteht, der
Gesamtheit einer Theorie die Schwächen zur Last zu legen, die sie in der einen oder anderen
ihrer besonderen Modalitäten zeigt. Was hat man nicht an Ungerechtem über den
Transformismus gesagt, weil man ihn mit seinen mechanistischen oder materialistischen
Formen und insbesondere mit dem Darwinismus identifiziert hatte. Die letzten Jahre [infolge
einer recht seltsamen Rückwirkung des Krieges] sind gekennzeichnet gewesen durch ein
Wiederanschwellen des Kreuzzuges wider die verderblichen Auswirkungen eines
Evolutionismus, der als synonym mit Lebenskampf begriffen wurde. Der Transformismus, so hat
man gesagt [und nicht nur in Tennessee], ist eine Schule der Unsittlichkeit, weil er im Namen der
natürlichen Auslese den egoistischen Kampf, die Priorität der Macht vor dem Recht legitimiert
und folglich lehrt. Wir werden in dieser Studie gar nicht versuchen zu erfahren, ob die Ideen des
großen Gelehrten, der Darwin war, in diesen simplistischen Ansichten, auf die wir hier
angespielt haben, richtig zum Ausdruck gebracht (200) sind. Vielmehr wollen wir, indem wir diese
gemeine und verbreitete Weise, die moralischen Konsequenzen des Transformismus zu
begreifen, zum Ausgangs- und Ansatzpunkt unserer Diskussion nehmen, aufzeigen, daß es
genügt, das Segel unseres Schiffes anders und richtiger zu stellen, damit die als so
35 (FN 8) So kann, philosophisch gesprochen, die Ausweitung des Transformismus [der in dem hier allein anerkannten allgemeinen Sinne eines geschichtlichen Zusammenhangs mit den allgemeinen Entwicklungen des Lebens zu verstehen ist] auf den Menschen – diese Ausweitung, so sage ich, die von der Gesamtheit unserer biologischen Erkenntnisse verlangt wird, kann einem christlichen Denker keinerlei ernstliche Schwierigkeiten machen.
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unruhestiftend verschrieene evolutionistische Brise zu einer großartigen Triebkraft zu dem
höchsten Ideal hin werde.
Wir müssen immer von derselben festen Grundlage ausgehen: das Wesentliche des
Transformismus ist nicht die Einführung dieses oder jenes besonderen Mechanismus in die
Erklärung der Lebensentwicklungen; es ist allein die Schau eines Universums und insbesondere
einer organisierten Welt, in der die Teile in ihrem Auftreten und in ihrem Schicksal physisch
untereinander verbunden sind.
Nachdem dies klar ist, welches muß unseres Erachtens die einzige legitime Auswirkung der
evolutionistischen Anschauungen auf einen zutiefst von ihrer Wahrheit überzeugten Menschen
sein?
Vor allem erfährt dieser Mensch, wie sich vor ihm die Größe seiner Verantwortung fast bis zum
Unendlichen steigert. Er, der sich bisher in der Natur für ein sich dort nur kurz aufhaltendes,
örtlich begrenztes, akzidentelles Wesen halten konnte, frei, auf seine Kosten den Lebensfunken
zu vergeuden, der ihm zugefallen ist, er erkennt plötzlich im Grund seiner selbst den
erschreckenden Auftrag, den Reichtum einer Welt zu bewahren, zu vermehren, weiterzugeben.
Sein Leben hat in einem wahren Sinne aufgehört, ihm allein zu eigen zu sein. Mit Leib und Seele
emergiert er aus einer ungeheuren schöpferischen Arbeit, an der die Totalität der Dinge seit
immer schon mitgewirkt hat; und wenn er sich der ihm zugewiesenen Aufgabe entzieht, wird
etwas von diesem Bemühen für immer verloren sein, und es wird der ganzen Zukunft fehlen. (201)
Oh! Die heilige Wallung des Atoms, das im Grunde seiner selbst das Antlitz des Universums
entdeckt… Welch wunderbares Gemurmel, vermöchten wir es zu vernehmen, in diesem
zahllosen Seufzen, das unsere Geburt vorbereitet hat, vermengt mit den zahllosen Rufen, die zu
uns aus der Zukunft herabkommen. Zu einem winzigen, aber wirklichen Teil liegt der Erfolg der
gewaltigen Sache, des unermeßlichen universellen Gebärens in den Händen des Geringsten
unter uns. Das sind die heiligen Worte, die jeder Mensch zu sagen versuchen kann, die aber
auszusprechen der Evolutionist mehr als jeder andere in Wirklichkeit das Recht hat. Weil in
seinen Perspektiven jede juridische und nominelle Beziehung zwischen Elementen der Welt
organischen und natürlichen Zusammenhängen Platz gemacht hat, haben die Bedeutung und der
Ernst des Lebens für ihn einen neuen Wert gewonnen. Seine Augen sind für die Größe des
Universums empfänglicher geworden; und zugleich hat sich sein Herz mühelos dem Atem der
Liebe geöffnet.
Das grundlegende Hindernis für die Liebe ist nämlich die Vielzahl. Kürzlich hat man in einem
Buch, das in einer sozialen Bewegung sich verlängert hat, schreiben können: Es ist unmöglich,
aufrichtig alle Menschen zu lieben. Das Herz eines jeden von uns ist ausgefüllt, wenn es sich
einem einzigen anderen hingegeben hat. Wenn wir also vorgeben, die menschliche Menge
zärtlich zu lieben, verfälschen wir uns durch ein widernatürliches Bemühen oder, richtiger, wir
täuschen uns selbst. Die helle Wahrheit ist: die einfache Gerechtigkeit mit ihrer kalten Ökonomie
muß in den menschlichen Beziehungen die unmögliche Liebe ersetzen.
Würde die Menschheit nur eine Gesamtheit physisch nebeneinander gestellter oder einfach
divergierender Elemente bilden, wäre es schwierig, auf dieses neue Evangelium (202) zu
antworten. So setzt das christliche Gebot der Nächstenliebe auch wesentlich voraus, daß die
Menschen nicht nur durch eine gemeinsame Abstammung Brüder sind [was an sich noch
unzureichend wäre, um den Egoismus legitim zu überwinden und die Liebe zu gebieten],
sondern auch in einer wirklichen und physischen Weise einander als die Glieder ein und
desselben leidenschaftlich ersehnten Wesens erkennen. Doch ist es nicht allen gegeben,
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unmittelbar zu den übernatürlichen Perspektiven der Inkarnation Zugang zu erhalten, und im
übrigen verlangen diese Perspektiven, um wirklich lebendig zu sein, selbst bei den Gläubigsten36
als Grundlage die präexistente Wahrnehmung irgendeiner natürlichen menschlichen Einheit;
Vorbereitung und Grundlegung der höheren Einheit in Christo Jesu.
Mit einem zugleich evolutionistischen und spiritualistischen37 Blick gesehen, läßt sich die Welt
nicht nur, wie wir gesagt haben, mit einer ungeheuren Verantwortung auf; vielmehr leuchtet sie
von den demütigsten Stadien des Glaubens an Gott an von einer unwiderstehlichen
Anziehungskraft (203) auf. Wirklich, nicht eine kleine Zahl privilegierter Geschöpfe erweist sich
dann als fähig, in jedem Menschen sein wesentliches Bedürfnis nach Ergänzung und Liebe zu
befriedigen. Sondern mit Hilfe und als Widerschein dieser seltenen Geschöpfe die Totalität der
zugleich mit ihm in das Einswerdungswerk des Kosmos hineingenommenen Wesen. Jedes
Element kann schließlich seine Seligkeit nur finden in seiner Vereinigung mit dem Ganzen und
dem transzendenten Zentrum, das erforderlich ist, um das Ganze zu bewegen. Folglich kann er,
wenn es ihm psychologisch auch nicht möglich ist, jedes Wesen mit der besonderen und
erfüllten Zuneigung umgeben, die die menschlichen Lieben kennzeichnet, doch zumindest für
alles, was ist, diese allgemeine [verschwommene, aber wahre] Leidenschaft nähren, die ihn in
jedem Gegenstand oberhalb und jenseits jeder erfahrbaren Qualität das Sein selbst lieben läßt; –
das Sein, das heißt dieser undefinierbare und erwählte Teil jeden Dinges, der nach und nach
Fleisch von seinem Fleisch wird unter dem Einfluß Gottes.
Eine derartige Liebe ist nicht in genauer Weise vergleichbar mit irgendeiner der Bindungen, die
in den gewöhnlichen sozialen Beziehungen einen Namen haben. Ihr ‹Materialobjekt›, wie die
Scholastiker sagen würden, ist (204) derart unermeßlich und ihr ‹Formalobjekt› derart tief, daß
sie sich nur in komplexen Termini von Trauung und Anbetung aussagen lassen. In ihr tendiert
jegliche Unterscheidung zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit dahinzuschwinden. Jeder liebt
sich und verfolgt sich in der Erfüllung aller anderen: und die geringste Geste der
Besitzergreifung verlängert sich in das Bemühen, in der fernsten Zukunft zu erreichen, was in
allen dasselbe sein wird.
Wenn man diese verschiedenen Auswirkungen der [recht verstandenen] evolutionistischen
Ansichten auf unser Verhalten bedenkt, gelangt man dahin, sich zu fragen, ob ihr Auftreten und
ihre Verbreitung, weit davon entfernt, so diabolisch zu sein, wie man zu sagen beliebt, nicht eher
in unserer Zeit einen providentiellen Charakter hätten.
Soweit man die psychologischen Tendenzen unserer Zeit überblicken kann, gewinnt man den
Eindruck, daß wir [trotz oder wegen eines ungewöhnlichen Hingezogenseins zur menschlichen
Einheit] durch eine kritische Phase des Individualismus hindurchgehen. Gewiß ist niemals, zu
36 (FN 9) Immer kraft des großen ‹Geburtsgesetzes›, das ebensowohl die Bewegungen des psychologischen Lebens wie auch die Transformationen der organischen Welt regelt. 37 (FN 10) Unter spiritualistischem Evolutionismus verstehen wir jenen [oben auf Seite 196 definierten], der auf seiten des Geistes, das heißt der Synthese, den wahren Sinn und die wirkliche zukünftige Konsistenz der Welt setzt. Ein derartiger Evolutionismus, der an dem Glauben an einen höheren Pol des Universums hängt, könnte auch Evolutionismus der Konvergenz genannt werden. Die Evolutionismen der ‹Divergenz›, ob sie nun radikal materialistisch seien [d. h. das Gleichgewicht der Welt in das Viele verlegen], oder ob sie einfach die Hoffnung auf eine spätere Einswerdung der [als eine Umherstreuung glänzender Funken betrachteten] geistigen Monaden aufgeben, sind unfähig, den Sinn für eine universelle Verantwortung und Liebe zu begründen. Sie können wohl aus uns allen, uns Menschen, und aus alldem, was auf der Welt ist, Brüder machen, die im Schoße Demeters ebenso eng vereint sind wie in dem irgendeiner Eva. Doch Brüder können Feinde sein; und wenn sie es nicht sind, so aus anderen Gründen als ihrem gemeinsamen Ursprung. Die Geburt ist letzten Endes nur eine Erinnerung. Liebe aber gibt es nur im gemeinsamen Wachsen innerhalb ein und derselben Zukunft.
91
keinem Augenblick der Geschichte, ein schärferes Empfinden für die Rechte jedes Elements in
allen sozialen Gruppen allgemeiner verbreitet gewesen. Menschenrechte, Bürgerrechte, Rechte
des Arbeiters, Rechte der Völker, zu handeln, zu denken, sich frei zu entwickeln, werden im
persönlichen und kollektiven Bewußtsein übersteigert. Nichts ist uns widerlicher geworden als
auch nur die Idee eines ungerechtfertigten äußeren Einbruchs in unser autonomes Urteils- und
Handlungsvermögen. Es wäre vergeblich, dieses Erwachen zu bedauern und zu verurteilen, das
gewiß einen Fortschritt in der Konstitution der denkenden Einheiten inmitten des Universums
darstellt. Doch im Laufe alles Fortschreitens muß jeder Schritt, ob man ihn nach rechts oder
nach links tut, durch den folgenden Schritt gerechtfertigt werden. In der heutigen Menschheit
(205) droht das Übermaß an Individualismus, die Zerbröckelung, die Zerstreuung und folglich die
Rückkehr zur Vielheit, zur Materie, nach sich zu ziehen. Jeder strebt dahin, sich nicht mehr um
das Gemeinwohl zu kümmern. Die natürlichsten Gruppen zerfallen. Durch jahrhundertelanges
Erproben und Bedenken langsam konzentrierte Gewißheiten verflüchtigen sich. Eine gewisse
empörte Unabhängigkeit wird zum Ideal der sittlichen Haltung. Geistig findet diese Zerstreuung
des Bemühens und des Denkens im Agnostizismus ihren Ausdruck.
Was brauchen also die Menschen unseres Jahrhunderts, um das Übel, zu dem sie ein
unzulänglich ausgewogener Begriff der individuellen Werte führen würde, zu kompensieren und
in einem weiteren Fortschritt zu integrieren? Sie müssen um jeden Preis einem Niveau, das dem
ihres Denkens im jetzigen Augenblick entspricht, den Sinn und die beherrschende Leidenschaft
für das Ganze wiederfinden.
Wenn jeder Mensch kraft einer Weltvorstellung, die nur ein Minimum an Metaphysik verlangt
und die sich übrigens durch ein Maximum an erfahrbaren Hinweisen aufzwingt, einräumen
wird, daß sein wahres Sein nicht auf die engen Konturen seiner Glieder und seiner
geschichtlichen Existenz begrenzt ist, sondern daß es in gewisser Weise einen Leib und eine
Seele mit dem Prozeß bildet, der das Universum fortreißt – dann wird er begreifen, daß er, um
sich selbst treu zu bleiben, sich wie zu einem persönlichen und heiligen Werk der mühevollen
Arbeit weihen muß, die das Leben von ihm verlangt. In ihm wird das Vertrauen in die Welt
wieder erwachen, in eine Welt, deren Totalität nicht zugrunde zu gehen vermag; – und auch der
Glaube an ein höchstes Zentrum der Personalisation, der Sammlung und der Kohäsion, in dem
allein ein Heil des Universums vorstellbar ist. (206)
Und das wird mehr denn je die zur Bekehrung gereifte Welt sein: die ‹anima naturaliter
christiana›.
So verbindet sich der Evolutionismus, weit davon entfernt, eine nebensächliche oder
verderbliche Doktrin zu sein, mit den größten und tiefsten Bewegungen des menschlichen
Wachsens. Weiter oben stellten wir fest, daß er im geistigen Bereich der Ausdruck für das
Eindringen der besser begriffenen Wirklichkeit der organischen Zeit in all unseren
wissenschaftlichen Perspektiven ist.
Nunmehr werden wir gewahr, daß er im Sittlichen und Religiösen das Emporkommen der
universalistischen Anschauungen und Bestrebungen begleitet und schützt, die in noch
stärkerem Maße als alles Anwachsen des Individualismus das moderne Zeitalter kennzeichnen.
Die Gegner des Transformismus betrachten ihn noch als einen kleinen Stein, den man mit dem
Fuß beiseite schieben kann. Sie mögen einmal versuchen, um diesen Stein herum zu graben: sie
werden feststellen, daß er bis in die Struktur selbst der Neuen Erde hinabreicht.
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Diesen Versuch sind wir auf diesen Seiten angegangen. Im Ausgang von sehr bescheidenen
zoologischen Überlegungen sind wir unmerklich dahin geführt worden, die grundlegendsten
Bedingungen des menschlichen Erkennens und Tuns zu analysieren. – Möge uns der Nachweis
gelungen sein: Die wahre transformistische Frage ist kein einfacher Streit um Einzelheiten, der
sich im Laufe einer osteologischen Debatte entscheiden ließe. Wird sie von allen falschen oder
nebensächlichen Problemen befreit, in die sich gewöhnlich die Diskussion verirrt, läßt sie sich
auf folgendes Dilemma zurückführen, dem ins Auge zu sehen man sich früher oder später
notwendig entscheiden muß:
Entweder erkennen Sie an, daß nichts in den Bereich der Erfahrung treten kann, ohne durch
irgendeine Antezedens (207) eingeführt zu sein, und in diesem Falle sind Sie uneingeschränkt
Evolutionist – oder aber Sie nehmen an, uns könne etwas erscheinen, ohne ‹geboren› zu sein,
und dann beginnen Sie einen unmöglichen Kampf gegen die Struktur selbst der sinnlichen Welt.
Übertragen wir es nun in den Bereich des Tuns, gewinnt dasselbe Dilemma diese andere,
weniger evidente, aber vielleicht entscheidendere Gestalt:
Entweder betrachten Sie die Welt als ein Ganzes physisch untereinander verbundener Wesen,
die auf dem Wege solidarischen Wachsens sich auf irgendeine organische Vollendung hin
bewegen; und dann sind Sie wiederum in ihrem Herzen Evolutionist. – Oder aber Sie sehen im
Universum nur ein System sittlicher und juridischer Beziehungen, die nebeneinandergestellte
Wesen assoziieren; und dann haben Sie nichts mehr in Händen, um mit Recht dem Anwachsen
des egoistischen und agnostischen Individualismus zu steuern, der die denkende Zone der Erde
aufzulösen und fortzuschwemmen droht.
Ineditum; Golf von Bengalen, Chrsti Himmelfahrt 1926. (208)
IX
DIE BEWEGUNGEN DES LEBENS
Einer der wichtigsten Fortschritte, die der menschliche Geist im Laufe des letzten Jahrhunderts
verwirklicht hat, ist die wissenschaftliche Überwindung der Illusion des Unbeweglichen im
Bereich des sehr Großen und des sehr Kleinen. Unter der scheinbaren Unbeeinflußbarkeit der
Materie sehen wir nunmehr ein extremes Gewimmel der Atome und eine langsame
Transformation der physikalisch-chemischen Elemente. Aus den erstarrten Zügen der Erde
können wir die noch nicht abgeschlossenen Wechselfälle einer langen Geschichte entziffern. Und
nunmehr setzt sich die Welt der Lebewesen ihrerseits in Bewegung und enthüllt sich unserem
Blick immer deutlicher als von großen allgemeinen Strömungen durchwaltet.
Genau gesagt, haben die Augen der Naturforscher schon vor hundert Jahren und mehr
begonnen, sich für die Beweglichkeit des Lebens zu öffnen. Vor nunmehr einem Jahrhundert
sind zunächst Lamarck und dann Darwin [um nur zwei repräsentative Namen innerhalb einer
ganzen Denkbewegung zu nennen] gewahr geworden, daß die Verzweigungen, Klassen,
Familien, Gattungen, Arten der Linnéschen Klassifizierungen durch ihre Verteilung keineswegs
ein fixiertes System, sondern die Spur einer Evolution in der Natur aufzeichneten.
Doch dieses erste Erfassen des Beweglichen unter dem Unbeweglichen, so genial es auch in
seiner Entstehungsfrische sein mochte, war noch, das sehen wir heute, sehr eng und sehr
simplistisch. In den Augen der Transformisten des neunzehnten Jahrhunderts sollten die,
insgesamt gesehen, wenig zahlreichen lebenden Formen durch die geologischen Zeiten hindurch
93
lückenlos aufeinanderfolgen, und zwar entlang spärlicher Linien, die von einer einfachen
Bewegung durchlaufen wurden. Das Pferd unmittelbar nach (209) dem Hipparion und dem
Paläotherium, der Mensch direkt in der Folge der Anthropoiden, die Säugetiere als genaue
Verlängerung der Reptilien, der Amphibien und der Fische, all das ohne Einschnitte, jedes Glied
ging in das andere mit allem seiner selbst ein: das ist die kaum übertriebene Vorstellung, die
man sich zunächst von der zoologischen Evolution machte.
Dieser Artikel hat die Absicht, in großen Zügen aufzuzeigen, worin sich seit der Zeit der ersten
Transformisten unsere Perspektiven über die irdischen Entwicklungen der organisierten
Materie schrittweise kompliziert haben und gewachsen sind.
Versuchen wir also zu begreifen, was die jüngsten Forschungen uns an Neuem über die
Mannigfaltigkeit und die Fülle der Bewegungen des Lebens zu erfassen oder zu erahnen
erlauben.
A. DIE MANNIGFALTIGKEIT DER BEWEGUNGEN DES LEBENS
Die einfachste und zuerst wahrgenommene der Bewegungen des Lebens ist jene, die entlang
einer Kette oder Stammreihe von Lebewesen [entlang eines Phylums, wie man sagt] sich einen
besonderen Organismustyp schrittweise herausbilden läßt: Typ Pferd, Typ Elefant, Typ Katze
und so weiter.
Die bekannte Zahl derartiger Phyla nimmt beständig zu [Pferde, Kamele, Elefanten,
Rhinozerosse, Hirsche usw.], und es gibt sozusagen heute keinen einzigen Säugetiertyp mehr,
dessen im Gang befindliche Bildung man nicht über einen beträchtlichen Zeitraum verfolgen
kann. Es könnte also scheinen, daß wir heute der Lösung des Problems der lebenden Arten sehr
nahe wären. Noch nicht. Und zwar aus folgenden Gründen. (210)
Die Phyla, sagten wir, entsprechen jedes der Akzentuierung einer besonderen
Organisationsweise. Sie zeichnen uns die Etappen auf, die das Leben durchlief, um gewisse
lebende Instrumente zu konstruieren, wie zum Beispiel den einzehigen Fuß des Pferdes, die
Zahnbildung eines Fleischfressers, die Schwimmform eines Seehundes und so weiter. Doch was
lehren sie uns über den eigentlichen Ursprung der Bewegung, die die Lebewesen derart in diese
oder jene morphologische Richtung gelenkt hat? Nichts. Angenommen, sie würde sehr weit
vorangetrieben, so vermöchte unser Erfolg in der Arbeit der Rekonstruktion der genealogischen
Stämme uns doch keine befriedigende Lösung für das Problem der lebenden Formen zu liefern.
Die Bewegungen linearer Evolution, auf die man lange Zeit den Transformismus zurückführen
wollte, gleichen diesen schönen, geraden Trieben, die man hier und dort auf dem Stamm eines
Baumes hervorwachsen sieht. Verfolgen Sie sie bis unten. Sie enden in einer Gabelung, das heißt
in einer alten Knospung. Das Leben muß seinerseits auch knospen und sich gabeln; sonst wäre
die Existenz selbst der Phyla unvorstellbar. Was heißt das anderes, wenn nicht, daß wir auf
Grund der Betrachtung der Phänomene kontinuierlichen Wachsens in einer Richtung
[Orthogenese] dahin geführt werden, den Bewegungen einer völlig anderen Natur eine
wachsende Aufmerksamkeit zu schenken und einen immer größeren Platz einzuräumen:
nämlich denen einer plötzlichen Änderung der Form, oder, wie man sagt, der Mutation.
Die Mutationen, das heißt, wie wir eben erklärt haben, die Entstehung neuer biologischer
Richtungen, beginnen, von den Zoologen und Botanikern eindeutig festgestellt zu werden.
Nichtsdestoweniger, und zwar weil sie ihrer Natur nach rasch ablaufen und nur zu einem Beginn
oder Embryo morphologischer Änderung führen und nur eine beschränkte (211) Zahl von
Individuen betreffen, ist ihre unmittelbare Beobachtung an den heute lebenden Formen sehr
94
heikel und an den fossilen Formen praktisch unmöglich. Glücklicherweise können wir, besser als
sie selbst, gewisse allgemeine Gesetze erreichen, denen sie gehorchen und die folglich erlauben,
sie durch eine Art Eingrenzung zu erfassen.
Unter diesem Gesichtspunkt könnte man sagen, daß auf eine gegebene Gruppe von Lebewesen
die Mutationen zumindest auf drei Weisen einwirken können [und sich folglich auch aufdecken
lassen]: durch Zerstreuung, durch Ausstrahlungen, durch Kanalisierung.
Zunächst durch Zerstreuung; wenn die in Betracht stehenden Lebewesen sich innerhalb ihrer
Gruppe in alle Richtungen differenzieren, wie ein weißer Lichtstrahl sich in ein Kontinuum
verschwisterter Schwingungen bricht. Die zahllosen zugleich so fixierten und benachbarten
Formen, denen wir in gewissen Gattungen oder Familien der Schmetterlinge, Fische, Vögel,
Antilopen begegnen, wahrhafte Modulationen über ein und dasselbe zoologische Thema,
verraten sichtlich eine Pulverisierung dieser Gattung.
Dann durch Ausstrahlungen; wenn die neuen Differenzierungen, anstatt sich zu zersplittern,
ohne sehr weit zu gelangen, sich entsprechend einer Anzahl begrenzter, aber fortschreitender
Richtungen vollziehen, die insbesondere durch präzise Daseins- und Umweltbedingungen
bestimmt werden. Bei den Wirbeltieren haben die Naturforscher schon seit langem das
Diversifikations- und Ausgleichsgesetz bemerkt, das jede isolierte Fauna [sofern sie bedeutend
genug ist] zwingt, sich unter ebenso viele Phyla in laufende, kletternde, schwimmende,
wühlende, fliegende, pflanzenfressende, fleischfressende, insektenfressende… Formen
aufzuteilen. Das gilt für die Reptilien des Sekundärs; (212) und ebenso für die Säugetiere des
Tertiärs; und für die in Australien eingeschlossenen Marsupialier oder die lange Zeit auf
Südamerika eingegrenzten Plazentalier.
Schließlich durch Kanalisierung; wenn die sehr stark ‹polarisierten› Formänderungen
konvergieren und sich in einer gemeinsamen Richtung addieren. Und damit finden wir auf einer
Ebene tiefschürfenderer Erklärung die Phyla selbst wieder. Man kann [und bisher haben wir das
getan] jedes Phylum einfach als eine Linie kontinuierlicher Entwicklung betrachten. Doch das ist
nur ein unerklärtes Schema. Wenn man die Analyse weitertreibt, wird man gewahr, daß jede
zoologische Stammreihe, die der Pferde zum Beispiel, wahrscheinlich nichts anderes ist als eine
gerichtete Reiche kleiner und zahlreicher Mutationen.
Natürlich sind in jedem dieser drei Fälle [Zerstreuung, Ausstrahlungen, Kanalisierung], vor allem
in den beiden ersten, die Mutationsbewegungen nicht kontinuierlich, sondern periodisch. Die
sekundären Triebe einer Pflanze lösen sich nicht ab, noch wachsen sie einheitlich auf dem
Stamm, der sie trägt. Es gibt einen Rhythmus in der Verzweigung und im Wachstum der
Pflanzen. Ebenso in der Differenzierung der lebenden Formen. Lange Zeit hindurch erscheint ein
zoologischer Zweig fixiert. Dann beginnt er wieder zu wachsen und wird zum Zentrum eines
Fächers neuer Zweige, die sich ihrerseits vermehren oder sich fixieren.
Geschieht nicht genau das um uns herum in der menschlichen Gesellschaft bei den Individuen,
den Familien, den Rassen, den Nationen?
Infolge der wiederholten Knospungs- und Gabelungsbewegungen, die wir eben analysiert haben,
ist der Stammbaum der gegenwärtigen und vergangenen Formen in Wirklichkeit ein Busch von
unerhörter Komplexität. Den Paläontologen wird das heute immer mehr bewußt: selbst (213) in
den günstigsten Fällen gelingt es uns nie, eine wirkliche genealogische Linie lange Zeit zu
verfolgen, unsere Phyla mit einem durchgehenden Strich aufzuzeichnen. Vielmehr bestehen
selbst unsere geradesten Reihen in Wirklichkeit aus einer Menge kleiner, sich überlappender
Striche, die ebenso vielen unterschiedenen Formen entsprechen und die einander wie die sich
95
einer Kurve anschmiegenden Tangenten ablösen. Die Typen der Pferde, Rhinozerosse,
Menschen, die wir in eine Abstammungsreihe stellten, entsprechen nur sehr entfernten Vettern;
sie folgen weniger aufeinander, als daß sie einander ersetzen.
Wir stoßen hier auf das große Gesetz der Ablösungen, ein Gesetz, das gebieterisch alle unsere
Perspektiven der Vergangenheit beherrscht, jedoch ein Gesetz, das, um voll verstanden zu
werden, verlangt, daß wir, nachdem wir stehengeblieben sind, um die Mannigfaltigkeit der
Bewegungen des Lebens zu beobachten, nunmehr versuchen, uns in etwa ihrer Fülle bewußt zu
werden.
B. DIE FÜLLE DER BEWEGUNGEN DES LEBENS
Wie die Wissenschaften von der Materie sehen sich auch, wenn auch unter einem anderen
Gesichtspunkt, die Wissenschaften vom Leben nach und nach dahin geführt, auf Grund eben
ihrer Fortschritte zu einem Studium der großen Zahlen zu werden. Man verstünde heute nichts
von der zoologischen Evolution, wenn man sich nicht zuvor von der Idee [und wenn möglich der
Schau] durchdringen ließe, daß sie ein Zusammenspiel von Massen, ein Masseneffekt ist.
Denken wir an die Milliarden lebender Individuen, die sich derzeit auf die Tausende von Arten
verteilen, in die jeder der zehn Zweige zerfällt, in die die Systematik allein die (214) Tiere
einordnet. Unter diesen Individuen ist keines, das nicht in gewissem Grade ein mögliches
Mutationszentrum darstellt. Das ist, an einem Augenblicksquerschnitt gemessen, die Quantität
und Komplexität des Lebens, das seit Jahrmillionen sich unaufhörlich in tausend verschiedenen
Strömungen innerhalb dieser organisierten Hülle der Erde, die man Biosphäre genannt hat,
faltet und entfaltet. Welch weiter Weg also von diesen zahllosen, ineinander verwickelten und
anastomosierenden Rinnsalen bis zu den wenigen einfach gegabelten Linien, die dem
Naturforscher bleiben, um auf einem Blatt Papier seine genealogischen Konstruktionen zu
fixieren!
Gewiß, in diesen wirklichen Bereich des Lebens übertragen, in dem die Verbindungen so
zahlreich sind, daß man, um ein befriedigendes Schema von ihnen zu geben, über einen Raum
mit n-Dimensionen verfügen müßte, bestehen die verschiedenen oben analysierten elementaren
Transformationsbewegungen [Orthogenese, Mutationen…] im wesentlichen fort. Doch umgeben
sie sich mit anderen Bewegungsarten, die ihrerseits den sehr großen Ganzen eigentümlich sind;
und sie finden dort ihre notwendige Ergänzung, um nicht zu sagen einen Anfang von Erhellung.
Es macht die Erklärung gewisser Lebensphänomene häufig so schwierig, daß man versucht, sie
sich in einem zu kleinen Bereich vorzustellen oder sie dort zu reproduzieren. Erweitern wir
unseren Horizont, und es wird uns vielleicht mit Recht scheinen, daß wir klar zu sehen beginnen.
Sobald zum Beispiel das Leben, als Subjekt der pflanzlichen oder tierischen Transformationen,
die Charakteristika und die Eigenschaften einer unermeßlichen Menge angenommen hat,
erweist es sich vielfältiger augenblicklicher Tastversuche, des dauernden Drucks in alle
Richtungen fähig, deren wir bedurften, um zu begreifen, daß im Laufe seiner langen Geschichte
vom Leben fast alle (215) morphologischen Lösungen versucht, alle Auswege gefunden worden
seien.
Sobald es weiterhin in unseren Augen nicht mehr eine kleine diskontinuierliche Gruppe,
sondern ein umfassendes Behältnis solidarischer Elemente bildet, wird dasselbe Leben zum
möglichen Sitz dieser Trächtigkeits- und Reifungsprozesse, ohne die gewisse bedeutendere
Mutationen [jene zum Beispiel, aus der die Menschheit hat hervorgehen müssen] uneinsichtig
bleiben. Dunkel können in der in Gärung befindlichen lebenden Masse die neuen Richtungen sich
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vorbereiten, im Verborgenen reifen, bis zu dem Tage, da sie überall aufbrechen und sich
verbreiten. Wie in einem Wald die Zweige, die gleichzeitig in den ersten schönen Tagen grünen,
wie im menschlichen Bereich die Revolution, die plötzlich eines schönen Morgens das Angesicht
der Ideen und der Dinge erneuert.
Sobald schließlich seine Dimensionen und seine Gestalt die einer Flut, eines Ozeans sind,
erscheint uns wiederum dieses selbe Leben als sehr natürlich von diesen periodischen
Gezeitenbewegungen beseelt, deren Spuren die Paläontologie und die Biogeographie uns in so
packender Weise offenlegen. Wir haben vorhin ein erstes Mal auf dieses Grundgesetz der
Ablösung hingewiesen, kraft dessen alle feststellbaren Veränderungen des Lebens sich, anstatt
in kontinuierlicher Weise zu erfolgen, in Serien aufeinanderfolgender Wellen vollziehen, die
einander ersetzen und überholen. Reptilien verdrängen die Amphibien, Säugetiere folgen auf die
Reptilien, der Mensch schaltet alle von ihm selbst verschiedenen Säugetiere aus, das gilt im sehr
Großen; – Arten verdrängen die Arten, Rassen verjagen die Rassen, Individuen treten an die
Stelle von Individuen, das gilt im Kleineren. Sehr wahrscheinlich muß man in der Betrachtung
der großen Zahl der Lebewesen den mechanischen Grund für diesen eigentümlichen
Wachstumsrhythmus (216) suchen. Infolge eines Masseneffektes erfassen wir in unseren
Erforschungen der Vergangenheit niemals die Anfänge selbst, sondern nur die Spuren
aufeinander folgender Wogen, die sich ausbreiten, bevor sie sterben, eine Reihe über die Schicht
der Biosphäre laufender Wellenkämme.
Den ersten Transformisten schienen diese Wogen aus ziemlicher Nähe oder sogar aus nächster
Nähe zu kommen. Erwartete man nicht, in den Gräbern des alten Ägypten von den unsrigen
verschiedene Pflanzen zu finden? Jetzt wissen wir, daß die Stoßwellen, aus denen die uns
umgebenden Formen hervorgegangen sind, in derartigen Entfernungen zurückliegen, daß die
verschiedenen aus ihnen hervorgehenden morphologischen Linien, soweit wir sie auch
verfolgen können, fast parallel zu sein scheinen. Wiederum ein Effekt und ein Beweis der
Unermeßlichkeit der Bewegungen, die das Leben schütteln.
Und jetzt wollen wir einen weiteren Schritt tun, den vorletzten, der beim gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnisse möglich ist. Wir haben vom Tasten, von Reifungen, von Schwingungen
gesprochen. Doch setzen diese Effekte, diese Bewegungen, um aufzutreten und nützlich
aufzutreten, nicht voraus, daß die Welt der Lebewesen noch besser als die der Atome oder der
Flüssigkeiten ein Korrelations- und Kohäsionsgesetzen unterworfenes Ganzes bildet? Es ist
durchaus evident, daß das der Fall ist. Ebenso gebieterisch von der Wissenschaft gefordert wie
diese ‹Isostasie› zum Beispiel, die die Geologen zu Hilfe nehmen, um das Gleichgewicht der
Kontinente auf einer relativ flüssigen Zone der Erde zu erklären, erscheint uns jetzt eine gewisse
‹Isotonie›, die die allgemeinen Verschiebungen der in Bewegung befindlichen lebenden Masse
regelt und harmonisiert.
Das Leben bildet durch irgend etwas seiner selbst physisch nur eins. (217)
Doch damit sind die Naturforscher nunmehr Schritt um Schritt dahin gelangt, sich das
Schlußproblem zu stellen: «Sollte es nicht tiefer und umfassender als die Einzelbewegungen,
deren eingehende Analyse bisher die Hauptbeschäftigung der transformistischen Biologie
ausgemacht hat, sollte es nicht eine wissenschaftlich definierbare Grundbewegung der Totalität
des Lebens geben?»
Es scheint, auf diese letzte Frage könne man bereits jetzt zu antworten beginnen: ja.
Zunächst sind wir, und zwar ohne den Bereich noch die Methoden der Wissenschaften der
Materie zu verlassen, bereits in der Lage zu beobachten, daß das global genommene Leben sich
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als eine der Entropie entgegengesetzte Strömung bekundet. Entropie ist bekanntlich der Name,
den die Physik diesem anscheinend unausweichlichen Gefälle gibt, infolge dessen die
korpuskularen Gruppen [Sitz aller physikalisch-chemischen Phänomene] kraft statistischer
Wahrscheinlichkeitsgesetze zu einem mittleren Zustand diffuser Bewegung abgleiten, Zustand,
in dem jeder auf der Stufe unserer Erfahrung nützliche Energieaustausch aufhört. Zu diesem
Tode der Materie scheint um uns herum alles abzusinken; alles, ausgenommen das Leben. Das
Leben ist im Gegensatz zum nivellierenden Spiel der Entropie die methodische, unaufhörlich
erweiterte Konstruktion eines immer unwahrscheinlicheren Gebäudes. Der Einzeller, der
Vielzeller, das gesellige Wesen, der Mensch, die Menschheit, alles wachsende
Herausforderungen an die Entropie; alles immer maßlosere Ausnahmen zu dem gewöhnlichen
Verhalten der Energetik und des Zufalls.
Gewiß ist es bisher der Physik möglich, das Leben in den allgemeinen Gesetzen der
Thermodynamik zu halten. Das Leben, so kann man weiterhin sagen, ist ein örtlicher
Gegenstrom, ein Wirbel in der Entropie. Es ist das Gewicht, (218) das aufsteigt kraft eines
schwereren Gewichtes, das absinkt. Trotz der Verzögerung, die diese lokale Anomalie mit sich
bringt, hört das Gesamtsystem der Natur nicht auf, in Richtung auf ein universelles Lauwerden
abzusinken.
Wenn wir zur Beurteilung der Bewegungen des Lebens nur äußere energetische Faktoren
hätten, könnte man seine vollständige Reduzierung auf die Entropie als vertretbarer ansehen. Es
ist jedoch noch eine andere Seite der Dinge in Betracht zu ziehen. Das in seiner Totalität
genommene Leben bekundet sich unserer Erfahrung nicht nur als ein Marsch zum
Unwahrscheinlichen. Es erweist sich unserem wissenschaftlichen Erforschen auch als ein
stetiger Aufstieg zum größeren Bewußtsein. Unter dem Auf und Ab der zahllosen Wellen, welche
die organisierten Formen bilden, zeichnet sich eine beständig zu mehr Freiheit, Geschicklichkeit,
Denken aufsteigende Flut ab. Ist es möglich, diesem gewaltigen Ereignis nur den Wert eines
Sekundäreffekts der kosmischen Kräfte zuzuschreiben? Darin nur einen im Universum
nebensächlichen Charakterzug zu sehen? Für die Metaphysik ist ein Zaudern kaum möglich. Für
die Physik beginnt die Frage sich zu stellen.
Der Wissenschaft der Zukunft wird es beschieden sein, so hoffen wir, eine durchaus allgemeine
Darstellung der Dinge zu finden, die die beiden anscheinend entgegengesetzten Phasen der
Entropie und des Lebens synthetisiert. Halten wir hier einfach fest, daß es das Werk unseres
Jahrhunderts ist, schon jetzt in ihnen die beiden größten erfahrbaren Strömungen aufgedeckt
und identifiziert zu haben, welche unter sich die Welt teilen.
Ineditum; April 1928. (219)
X
WAS SOLL MAN VOM TRANSFORMISMUS HALTEN?
Die Frage vom Transformismus wird immer noch weiter leidenschaftlich diskutiert – und die
Einführung seiner [mehr oder weniger vereinfachten und verderbten] Theorien in die
Schulbücher verpflichtet die christlichen Lehrer, genaue Vorstellungen über das zu haben, was
an den neuen Anschauungen gewiß oder zweifelhaft, für die Gläubigen annehmbar oder
unannehmbar ist. Denn es ist ebenso gefährlich, zuviel zu leugnen, wie zuviel zuzugestehen. Da
wir seit vielen Jahren inmitten der vom Transformismus aufgeworfenen Diskussionen und
inmitten der von ihm studierten Wirklichkeiten leben, haben wir geglaubt, es könne nützlich
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sein, so sauber wie möglich einige Grundprinzipien herauszuarbeiten, die jedem erlauben, sich
eine rechte Vorstellung von der transformistischen Frage zu machen, so wie sie sich in der
gegenwärtigen Phase darstellt.
Prinzip I: Beim Transformismus nicht verwechseln, was [gefestigte] Grundanschauung ist und was
[gebrechliche] sekundäre Erklärungen sind.
Seit einigen Jahren hört man häufig sagen, der Transformismus sei im Fallen. Dieser Mißkredit
betrifft in Wirklichkeit nur gewisse besondere Formen des Transformismus, in denen die
wesentliche evolutionistische Idee entweder mit besonderen Erklärungen oder mit gewissen
philosophischen Ansichten verbunden ist: so der Darwinismus [natürliche Auslese], der
Lamarckismus [Anpassung unter dem Einfluß des Milieus] – oder allgemeiner, all die
simplistischen Theorien, die glauben, die Entwicklung des Lebens (221) auf einige einfache
Evolutionslinien zu reduzieren, die unter dem Einfluß rein mechanischer Faktoren von einer
uniformen Bewegung durchlaufen werden [Transformismus des Haeckelschen Typs]. – Keine
dieser verschiedenen besonderen Theorien wird, das stimmt, mehr als zureichend angesehen,
weil das Leben uns mit jedem Tag immer komplizierter erscheint.
Aber nachdem dies eingeräumt ist, bleibt gültig, daß die wesentliche transformistische
Anschauung [nämlich, daß die lebenden Formen eine natürliche Verbindung von Dingen bilden,
die derart verbunden sind, daß wir uns wissenschaftlich die Geschichte ihres
aufeinanderfolgenden Auftretens und ihrer aufeinanderfolgenden Expansionen vorstellen
können], es bleibt gültig, daß diese allgemeine Ansicht, so sage ich, immer mehr von allen
Naturforschern [zumindest implizit] angenommen wird. Kein einziges der Millionen täglich von
den mit der Klassifizierung der vergleichenden Anatomie oder der Physiologie sich befassenden
Männern festgestellten Fakten, das nicht in vollem Einklang mit ihr stünde. Alles ordnet sich ein,
das heißt, an jedem Tag findet alles seinen natürlichen [räumlichen und zeitlichen] Ort in der
allgemeinen Geschichte der Erde. Das ist ein gewaltiges Faktum – der wahrhafte Beweis dafür,
daß das wahrnehmbare Auftreten und die Fortschritte des Lebens einem Erfahrungsgesetz
gehorchen, das heißt, daß sie von der Wissenschaft als ein Phänomen behandelt werden können.
Es ist also sorgfältig darauf zu achten, daß es den besonderen [nützlichen, aber hinfälligen]
transformistischen Theorien zugrunde liegend eine transformistische ‹Konzeption› der Welt gibt
und daß diese wahrscheinlich eine endgültige Ausrichtung des menschlichen Denkens
charakterisiert. Recht verstanden ist diese Ausrichtung ganz einfach und sehr legitim,
Transformist sein heißt im Grunde (222) ganz einfach anerkennen, daß wir die Geschichte des Lebens
schreiben können, wie wir die Geschichte der menschlichen Zivilisation oder die der Materie
schreiben. Jede Erfahrungswirklichkeit ist ihrer Natur nach historisch [erzählbar]. Weshalb und
durch welches undenkbare Wunder sollte das Leben dieser universellen Gegebenheit entzogen
sein?
So verstanden ist der Transformismus keine einfache Hypothese mehr. Er ist eine allgemeine
Forschungsmethode, die praktisch von allen Gelehrten angenommen ist. Noch weiter gefaßt ist
er nur die Ausweitung auf die Zoologie und die Botanik einer Erkenntnisweise [der historischen
Erkenntnis], die immer mehr die Totalität des menschlichen Wissens [Physik, Chemie,
Religionen, Institutionen usw.] beherrscht.
N.B. Es ist nicht unsere Absicht, hier die antitransformistische [fixistische] Position zu kritisieren. Um der
Klarheit unserer Darlegung willen ist es jedoch gut, auf folgendes hinzuweisen:
1. Die erstaunlichen und endlosen Zusammenhänge, die die lebenden Arten in einem sukzessiven und
sozusagen organisierten Ganzen gruppieren, stellen uns vor ein positives wissenschaftliches Problem
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[ebenso positiv wie die relative Bewegung der Erde und der Sonne], das folglich nach einer positiven
Lösung wissenschaftlicher Art verlangt. Es macht die große Schwäche der Fixisten aus, daß sie die
transformistische Lösung in einer völlig negativen Weise kritisieren, das heißt ohne irgendeine
konstruktive wissenschaftliche Erklärung eines Faktums anzubieten, das zu erklären ebenso ihre Aufgabe
ist wie die der Transformisten.
2. Angesichts des unermeßlichen Faktums der ‹natürlichen› [geographischen, morphologischen,
zeitlichen] Verteilung der lebenden Formen verschwinden die drei großen, von den Fixisten gegen den
Transformismus erhobenen Einwände, nämlich: a] die Unmöglichkeit, die geringste von der Systematik
unterschiedenen Arten künstlich variieren zu lassen; b] die Unmöglichkeit für die Paläontologie, den
genauen Ursprung der zahlreichen evolutiven Zweige aufzufinden; c] der wandlungslose Fortbestand
gewisser lebender Formen durch die geologischen Zeiten hindurch – diese Einwände also verschwinden
unserer Ansicht nach und sind gegenstandslos. Fügen wir ganz allgemein hinzu, daß sie wertlos sind, weil
sie zu viel beweisen. Die erste (223) Schwierigkeit würde dazu zwingen, die unabhängige ‹Erschaffung› von
Hundertausenden von Arten an Pflanzen, Insekten, Fischen, Vögeln anzuerkennen, die einander derart
nahe und derart nuanciert sind, daß kein Fixist meines Wissens ihnen einen eigenen Ursprung
zuzuschreiben wagt. Die anderen beiden Einwände würden uns, zu Ende gedacht, dazu zwingen, daran zu
zweifeln, daß die Weißen, die Gelben, die Schwarzen – die Ägypter, die Griechen und die Römer und so
weiter einen gemeinsamen Ursprung hätten, da wir den Ausgangspunkt irgendeiner menschlichen
Population [oder Sprache, oder Institution, oder Religion] nicht kennen und weil alle diese menschlichen
Wirklichkeiten von Überlebensbeispielen wimmeln, die ebenso charakteristisch sind wie die der Lingulae
oder des Ginkgo! – Die ‹großen Einwände› des Fixismus bringen einfach Charakteristika oder Schwächen
zum Ausdruck, die sich in aller historischen Wissenschaft finden.
Prinzip II: Beim Transformismus nicht die wissenschaftliche Ebene [der erfahrbaren Abfolge in der
Zeit] und die philosophische Ebene [der tiefen Kausalität] verwechseln.
Dieses zweite Prinzip erinnert an eine banale Unterscheidung, auf die man jedoch beständig
zurückkommen muß. Wissenschaftlich, das riefen wir eben in Erinnerung, will der
Transformismus nur eine Geschichte erzählen, das heißt ein Ganzes von photographierbaren
Fakten und Zusammenhängen [einen Film] zeichnen: vor der lebendigen Form N, sagt er, hat es
die Form N–1 gegeben, der selbst die Form N–2 vorausging und so weiter. In unserer Erfahrung
wird jedes Ding erfahrungsgemäß von einem anderen eingeführt: es ‹wird geboren›. Das
behauptet er.
Kraft welcher inneren Potenz und in Richtung welchen ‹ontologischen› Zuwachses diese Geburt
geschieht – das weiß die reine Wissenschaft nicht, und es ist Sache der Philosophie, darüber zu
entscheiden.
Eine seltsame Sache: diese derart einfache Unterscheidung zwischen Antezedenz [oder
wahrnehmbarer Abfolge] und (224) tiefer Kausalität ist lange Zeit unbemerkt geblieben. Gläubige
und Ungläubige, alle Welt hat sich beim Auftreten des Transformismus vorstellen können, ‹die
lebenden Formen in zeitlichen Zusammenhang zu bringen› hieße: ‹sie ontologisch zu
identifizieren›; als ob längs der ganzen evolutiven Reihen, da es gelang, sie wissenschaftlich
aufzuweisen, das Mehr ipso facto als ganz allein aus dem Weniger hervorgehend betrachtet
werden müßte [oder genauer, als das Weniger bleibend].
Nichts ist falscher noch gefährlicher, als diese Verwechslung von ‹Aufeinanderfolge› und ‹ein
und dieselbe Sache sein›. Verbinden heißt nicht identifizieren. Ist nicht jeder von uns sehr viel
mehr als die Zelle, aus der er hervorgegangen ist? Und steht die photographierbare Kontinuität
der im Laufe der Embryogenese durchgemachten Stadien dem Auftreten einer Seele unterwegs
entgegen?
100
Dies muß ein für allemal wohl begriffen werden – und gesagt werden. Selbst wenn die
transformistische Konzeption anerkannt wird, bleibt klaffender denn je in der Natur unversehrt
der Platz frei für eine erste schöpferische Kraft. Und sogar noch weit besser, eine Schöpfung
evolutiven Typs [Gott läßt die Dinge sich machen] schien seit langem sehr großen Geistern die
schönste Form, die wir uns für das göttliche Wirken im Universum vorstellen könnten. Hat nicht
der heilige Thomas, da er die [wie wir heute sagen würden, fixistische] Sehweise der Lateiner,
wie etwa des heiligen Gregors, mit der ‹evolutionistischen› Sehweise der griechischen Väter und
des heiligen Augustinus verglich, von letzterer gesagt «Magis placet» [II Sent. D. 12; g. 1, a. 1]? –
Freuen wir uns also, unserem Geist in der Berührung mit diesem großen Denken mehr Kühnheit
zu geben38! (225)
Prinzip III: Die noch bestehende Schwierigkeit, die wissenschaftliche Darstellung und die
katholische Darstellung der menschlichen Ursprünge derzeit miteinander zu versöhnen, genau
lokalisieren.
Die Wissenschaft ist sich zurzeit über die genaue Art und Weise unschlüssig, in der in
angemessener Weise der Mensch historisch mit den anderen Tieren zu verknüpfen ist. Während
die meisten Naturforscher weiterhin annehmen, die Hominiden hätten sich gegen Ende der
tertiären Zeiten von der Gruppe der anderen Anthropoiden gelöst, neigen heute einige
Anthropologen und Paläontologen [insbesondere Prof. Osborn] zu der Annahme einer älteren
Ablösung und einer längeren Autonomie für unsere Gruppe. Ihrer Ansicht nach würde der
Mensch auf dem Stamm der Primaten einen dem der Anthropoiden parallelen, aber von diesen
verschiedenen zoologischen Zweig darstellen.
Diese Diskussionen haben bei den Nichteingeweihten den Eindruck erwecken können, die
Theorie der menschlichen Abstammung verliere an Boden. In Wirklichkeit betrifft die
Kontroverse [wie die über die Vererbung erworbener Eigenschaften] nur sekundäre Punkte des
Transformismus. Im Grunde fügt sich der Mensch, und zwar mehr als je, in den Augen der
gewaltigen Mehrheit der Naturforscher [und zwar immer mehr] in die allgemeine
transformistische Sicht ein. Je mehr man wissenschaftlich unseren zoologischen Typ genau
untersucht, um so unwiderstehlicher gelangt man dahin, anzuerkennen, daß weder das
Zusammentreffen seines Auftretens mit dem der anderen großen Anthropoiden noch die
winzigsten Einzelheiten seiner anatomischen Übereinstimmungen39, noch die Charakteristika
(226) der [noch seltenen, aber bezeichnenden40] fossilen Überreste, die wir von ihm besitzen,
38 (FN 1) Vergleiche zum Evolutionismus bei den griechischen Vätern das bemerkenswerte kleine Buch des Chanoine de Dorlodot ‹Darwinisme et Catholicisme›, Brüssel, Vromant 1914. 39 (FN 2) Es ist zum Beispiel fast unmöglich, einen menschlichen Molar von einem Molar des Schimpansen zu unterschieden. Nun ist ein Säugetierzahn etwas eindeutig Definiertes: er ist ein an Homologien reiches, von einer ganzen Geschichte geprägtes Organ. 40 (FN 3) Da diese Zeilen in China geschrieben werden, möchten wir sagen, daß im letzten Jahr einige Kilometer von Peking entfernt, im Laufe extensiver wissenschaftlich geleiteter Ausgrabungen in einer fossiliferen Spalte, die Reste von Tieren aus dem Quartär enthält, Knochentrümmer aufgefunden wurden [Kiefer- und Schädelfragmente], die zu einem Wesen von sehr eigenartigem zoologischem Typ gehören. Die Zähne sind gewiß und der Schädel wahrscheinlich vom menschlichen Typus; während die Form des Unterkiefers an den Schimpansen erinnert. Bevor man ein endgültiges Urteil über diese Dokumente abgeben kann, muß man selbstverständlich warten, bis sie vollständig von ihrem Ganggestein befreit sind, das außerordentlich hart ist. Doch es scheint durchaus so, daß wir hier vor einem ernsten Faktum stehen, das verdient, die Aufmerksamkeit aller Welt zu wecken. Die Leser, die eine gesicherte und gemäßigte Darlegung über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse in der Vorgeschichte zu finden wünschen, werden gut daran tun, eines der folgenden Werke zu lesen: M. Boule, ‹Les Hommes fossiles› [letzte Ausgabe], Paris, Masson, oder G. Goury, ‹Origine et Evolution de l‘homme›, Paris, Picard.
101
ohne irgendein historisches [d. h. in der Erfahrung aufdeckbares] Band zwischen ihm und den
anderen Primaten vernünftig erklärt werden können.
An dieser Stelle müssen wir uns mehr denn je daran erinnern, daß zwei Seiende ‹in
Zusammenhang bringen›, selbst in genealogischen Zusammenhang, nicht notwendig heißt, sie
‹identifizieren›. Häufig lehnen die Gläubigen sich a priori gegen die vom Transformismus auf
unsere Vergangenheit eröffneten Perspektiven auf. Sie haben unrecht. Unter philosophischem
Gesichtspunkt dürfte der Christ als solcher keinerlei Grund haben, eine Ausweitung des
wissenschaftlichen Evolutionismus auf die Menschen aus Prinzip zu leugnen oder zu
erschrecken, wenn diese Ausweitung eines Tages sich durchsetzen sollte. Weshalb sollte die
Bildung der menschlichen Art nicht ebenso wie die jeden menschlichen Individuums evolutiver
Art gewesen (227) sein? Hat nicht wiederum der heilige Thomas an einer Stelle gesagt, es «gefalle
ihm mehr, daß Gott den Menschen ex limo jam informato gezogen habe»41?
Wenn etwas an den modernen wissenschaftlichen Anschauungen das katholische Denken noch
[und recht stark] bedrückt, so keineswegs die mögliche Bildung des Menschen [geistiges Wesen]
im Ausgang von den Tieren. Es ist die Schwierigkeit, mit dem als wahr angenommenen
Transformismus den strengen Monogenismus, das heißt unsere gemeinsame Abstammung von
einem einzigen Paar, glaubhaft in Einklang zu bringen. Einerseits hält die Kirche aus Gründen,
die letzten Endes weder philosophisch noch exegetisch, sondern wesentlich theologisch sind
[paulinische Konzeption des Sündenfalls und der Erlösung], an der historischen Wirklichkeit
Adams und Evas fest. Andererseits würde aus Gründen der Wahrscheinlichkeit und auch der
vergleichenden Anatomie die Wissenschaft, sich selbst überlassen, niemals [das ist das
mindeste, was man sagen kann] daran denken, dem gewaltigen Gebäude des
Menschengeschlechts eine so schmale Basis wie zwei Individuen zuzuschreiben.
Das ist genau der Punkt, um den heute in Fragen des Transformismus der vorläufige Zwiespalt
zwischen Wissenschaft und Glaube lokalisiert ist. Es bedeutet bereits, so glauben wir, einen
entscheidenden Schritt zur Lösung des Konflikts, wenn das Problem sauber abgegrenzt wird.
Wie wird seine Lösung sein? – Das läßt sich unmöglich bereits sagen. Die beiden einander
gegenüberstehenden (228) Bruchstücke der Wahrheit werden sich gewiß nicht verschweißen,
bevor sie vollkommen klar geworden sind. Doch in der Frage der menschlichen Ursprünge hat
die Wissenschaft gewiß noch viel zu finden, und die Katholiken haben noch viel zu denken. Alles,
was man voraussehen kann, ist, daß, während die Kirche immer mehr die wissenschaftliche
Legitimität einer evolutiven Form der Schöpfung anerkennt – und die Wissenschaft den Kräften
des Geistes, der Freiheit und folglich der ‹Unwahrscheinlichkeit› endlich in der historischen
Evolution der Welt einen größeren Platz einräumt, der Monogenismus Schritt um Schritt, ohne
etwas von seiner theologischen ‹Effizienz› zu verlieren, eine für unsere wissenschaftlichen
Erfordernisse voll befriedigende Form annehmen wird.
Bis dahin kann für den Gläubigen die Einstellung nicht zweifelhaft sein. Er hat lediglich mit
Geduld und Vertrauen auf beiden Seiten zu suchen. Zwischen seinem Credo und seinem
menschlichen Wissen kann es, das garantiert ihm der Glaube, keinen Widerspruch geben.
41 (FN 4) Selbstverständlich müssen wir uns davor hüten, uns in diesen Dingen durch Fragen des Eindrucks, der Empfindsamkeit beherrschen zu lassen – als ob es widerlicher wäre, sich einer tierischen Schicht verknüpft zu fühlen, als der Erde selbst! Nichts in der Natur ist mehr niedrig oder minderwertig, sobald man sie als in Bewegung zum Sein und zum Lichte Gottes betrachtet.
102
Prinzip IV: Unter Benutzung der Anschauungen des wissenschaftlichen Transformismus einen
spiritualistischen Evolutionismus aufbauen, der wahrscheinlicher und verlockender als der
materialistische Evolutionismus ist.
In den vorhergehenden Überlegungen haben wir angesichts der Lehren von der Evolution eine
vor allem defensive Position bezogen. «Bis zu welchem Punkt setzt sich der Transformismus
wissenschaftlich durch? Bis zu welchen Grenzen ist er philosophisch und theologisch tragbar?» –
Jetzt geht es darum, die Offensive zu ergreifen, jedoch keineswegs gerade, um zu zerstören,
sondern um zu erobern. Der Transformismus wird allgemein als seiner Natur nach (229)
antichristlich angesehen. Wäre es nicht richtiger [und auch apologetisch wirksamer], für ihn die
Fähigkeit in Anspruch zu nehmen, eine ausgezeichnete Basis für das christliche Denken und das
christliche Tun zu liefern?
Es scheint, ja.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, wir nähmen die vom Transformismus gegebene
historische Erklärung der Welt ganz an. Was würde sich daraus für die Weise ergeben, in der wir
das Leben intellektuell beurteilen und praktisch angehen? – Nichts anderes, wenn wir recht zu
beobachten wissen, als eine wachsende Achtung der geistigen Werte sowohl in Fragen der
geistigen Anschauungen als auch in Fragen des sittlichen Tuns.
1. Zunächst im Geistigen. – Man muß eingestehen, daß der Transformismus auf den ersten Blick
durch seine Art, die Lebewesen auf immer elementarere Organismen und auf immer
vereinfachtere Mechanismen zu reduzieren, den Eindruck erwecken kann, das Universum zu
‹materialisieren›. Doch dieser Eindruck entsteht durch die Tatsache, daß wir ihm in seiner
analytischen Arbeit, das heißt in gewisser Weise hinabsteigend folgen. – Versuchen wir im
Ausgang von den unteren Gliedern, bei denen er endet wieder aufsteigend das Werk der
Synthese zu bewerten, die historisch die Zusammenfügung der Teile hat darstellen müssen, die
unsere wissenschaftliche Analyse so geschickt und so nutzbringend auseinandergenommen hat,
und wir werden von der Notwendigkeit gepackt sein, in die wir uns gestellt sehen, den
beherrschenden und kontinuierlichen Einfluß einer ‹erfinderischen Kraft›, das heißt eine
psychische Kraft zu Hilfe zu nehmen, um – sowohl den beständigen Aufstieg der elementaren
Glieder zum Aufbau mechanisch immer unwahrscheinlicherer Gebilde – als auch im Laufe dieses
Aufstiegs die erstaunlichen Expansionen der Spontaneität, denen wir beiwohnen, physisch zu
erklären. (230)
Unter diesen Expansionen ist vor allem die eine, die zeitlich letzte, die der Menschheit, ganz und
gar außerordentlich, und sie scheint dazu bestimmt [wenn man sich entscheiden wird, sie
wissenschaftlich ohne Vorurteile zu studieren, und zwar in gleicher Weise wie die anderen
Phänomene der Welt], uns den Schlüssel und den Sinn der Evolution zu liefern. Es ist sehr wohl
möglich, wie wir gesagt haben, daß der menschliche Zweig historisch in der einen oder anderen
Weise am allgemeinen Stamm der Primaten ansetzt. Doch wenn man im Ausgang von dem
Faktum dieser möglichen Verbindung den Menschen darauf reduzieren will, nur ein Primate wie
die anderen zu sein, schließt man steril die Augen vor dem größten Phänomen, das die
Wissenschaft nach der Kondensation der Materie und dem ersten Auftreten des Lebens
feststellen könnte: wir meinen das Auftreten, die Ausweitung und die endgültige Festsetzung
des Denkvermögens auf Erden.42
42 (FN 5) Um die grob zweideutige These so vieler Lehrbücher: «Der Mensch stammt vom Affen ab», richtigzustellen, vermeidet man also vorteilhaft jede Diskussion über das schwierig zu leugnende Faktum irgendeines biologischen Zusammenhangs zwischen den Menschen und der übrigen tierischen Welt.
103
Energien psychischer Art kontrollieren überall die Entwicklung des Lebens – und der Mensch hat
durch sein Denken das Antlitz der Erde erneuert.
Je mehr man diese beiden Kategorien von Tatsachen abwägt, um so mehr fühlt man sich von
dieser Wahrheit überzeugt, daß der Transformismus, weit davon entfernt, die Intelligenz zu
materialisieren, die seine Perspektiven anerkennt, sie ganz im Gegenteil dazu geneigt machen
muß, (231) im Universum den Primat der geistigen Energien anzuerkennen.
2. Doch ist dieser Primat einmal im Geistigen anerkannt, was folgt dann daraus für den Bereich
des praktischen Lebens?
Im Sittlichen noch mehr als im Denken, so hat man immer wieder gesagt, seien die
transformistischen Theorien verderblich und für alle Übel verantwortlich. – Dieser Vorwurf ist
vielleicht wahr, wenn man den Evolutionismus in seinem materialistischen Sinne versteht.
Nimmt man ihn aber, wie wir gesagt haben, in seinem spiritualistischen Sinne, so ist die Anklage
nicht mehr haltbar. Wer das Universum in der Gestalt eines gemeinsamen, mühsamen Aufstiegs
zum größeren Bewußtsein wahrnimmt, für den lädt sich das Leben, weit davon entfernt, blind,
hart oder verachtenswert zu scheinen, mit neuem Ernst, neuen Verantwortungen, neuen
Bindungen. Wie vor nicht langer Zeit Sir Oliver Lodge sehr richtig geschrieben hat: «Recht
verstanden ist die transformistische Lehre eine Schule der Hoffnung», fügen wir hinzu: eine
Schule größerer gegenseitiger Liebe und größeren Bemühens.
So kann man auf der ganzen Linie und ohne paradox zu werden, die folgende These
vertreten[wahrscheinlich die beste, um die Geister angesichts des Aufstiegs der
transformistischen Ansichten zu beruhigen und zu leiten]: der Transformismus öffnet nicht
notwendig einer Eroberung des Geistes durch die Materie die Wege; er zeugt vielmehr
zugunsten eines wesentlichen Triumphes des Geistes. Ebensosehr, wenn nicht besser, als der
Fixismus ist der Evolutionismus befähigt, dem Universum die Größe, die Tiefe, die Einheit zu
geben, die die natürliche Atmosphäre des christlichen Glaubens sind.
Und diese letzte Überlegung führt uns dahin, mit folgender allgemeiner Bemerkung zu
schließen:
Was auch immer wir, die Christen, letzten Endes, sei es (232) zum Thema des Transformismus
oder zum Thema irgendeiner anderen der neuen Anschauungen sagen, die das moderne Denken
anziehen, laßt uns niemals den Eindruck erwecken, das zu fürchten, was unsere Vorstellung
über den Menschen und das Universum erneuern und vergrößern kann. Die Welt wird niemals
weit genug und die Menschheit niemals stark genug sein, um dessen würdig zu sein, der sie
geschaffen und sich in sie inkarniert hat.
Revue des Questions Scientifiques, Januar 1930. (233)
XI
DAS MENSCHLICHE PHÄNOMEN
Unter dem Ausdruck ‹menschliches Phänomen› verstehen wir hier die Erfahrungstatsache des
Auftretens des Reflexions- und Denkvermögens in unserem Universum. Während
unermeßlicher Zeiträume fehlte der Erde gewiß jede Bekundung des Lebens im eigentlichen
Vielmehr muß man, unter Berufung auf die Tatsachen, die erfahrbaren Charakteristika groß herausstellen, die den Menschen in der Natur zu einem neuen Bereich, einer neuen ‹Schöpfung› machen. Letzten Endes kommt es wenig darauf an, wie der Mensch geboren ist, sofern nur seine Transzendenz gewährleistet ist.
104
Sinne. Dann hat sie während eines anderen auch unermeßlichen Zeitraums in der auf ihrer
festen oder wäßrigen Hülle aufgetretenen Schicht organisierter Materie nur Zeichen von
Spontaneität und irreflektiertem Bewußtsein erkennen lassen [das Tier fühlt und nimmt wahr;
doch scheint es nicht zu wissen, daß es fühlt und wahrnimmt]. Schließlich haben seit einer
relativ jungen Epoche die Spontaneität und das Bewußtsein auf Erden in der menschlich
gewordenen Zone des Lebens die Eigenschaft erworben, sich sich selbst gegenüber zu isolieren
und zu individualisieren. Der Mensch weiß, daß er weiß. Er emergiert aus seinem Tun. Er
beherrscht es, in welch geringem Maße das auch sein mag. Er kann also abstrahieren,
kombinieren und voraussehen. Er reflektiert, er denkt.
Dieses Ereignis kann als Ausgangspunkt zahlreicher philosophischer, moralischer oder
religiöser Überlegungen dienen. Wir wollen es hier, zumindest im Anfang, nur unter dem
einfachen historischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkt betrachten43. Lange Zeit hindurch
hat es kein Denken auf Erden gegeben. Jetzt gibt es Denken und derart, daß das Antlitz der Dinge
vollständig verändert ist. Wir stehen hier wirklich vor einem Gegenstand reiner (235)
Wissenschaft, einem Phänomen. Was ist von diesem Phänomen zu halten?
Folgendes ist außerordentlich. Seit einem Jahrhundert haben die Gelehrten mit unerhörter
Spitzfindigkeit und Kühnheit die Geheimnisse der materiellen Atome und der lebenden Zelle
untersucht. Sie haben das Elektron und die Sterne erwogen. Sie haben die Pflanzen- und
Tierwelt in Hunderttausende von Arten seziert. Sie arbeiten mit unendlicher Geduld daran, die
menschliche Form anatomisch mit der der anderen Wirbeltiere zu verbinden. Sich unmittelbarer
der Untersuchung unseres zoologischen Typs zuwendend, bemühen sie sich, die Triebkräfte der
menschlichen Zoologie auseinanderzunehmen oder die Gesetze freizulegen, die in der
wachsenden Komplexität der Gesellschaft den Austausch der Produkte und Dienstleistungen
regeln. Doch inmitten dieses großen Bemühens ist fast noch niemand darauf gekommen, die
Hauptfrage zu stellen: «Was ist denn nun eigentlich das menschliche Phänomen?», das heißt in
präziseren Termini: «Welchen Ort hat denn, was macht denn in der erfahrbaren Entwicklung
der Welt das außerordentliche Denkvermögen?» Sagen wir es noch einmal: Der Mensch ist heute
wissenschaftlich durch eine Unendlichkeit von Einzeleigenschaften und –zusammenhängen
bekannt, abgetastet. Doch sei es bei den einen aus Furcht, in die Metaphysik zu verfallen, oder
bei den anderen die Angst, ‹die Seele› zu profanieren, indem man sie als einen Gegenstand der
einfachen Physik behandelt, in dem, was der Mensch an Besonderem und Offenbarendem für
unsere Erfahrung hat, das heißt, in seinen ‹geistig› genannten Eigenschaften ist er noch aus
unseren allgemeinen Konstruktionen der Welt ausgeschlossen. Daher dieses paradoxe Faktum:
Es gibt eine Wissenschaft vom Universum ohne den Menschen. Es gibt auch ein Wissen vom
Menschen außerhalb des Universums; es (236) gibt aber noch keine Wissenschaft vom Universum,
die sich bis auf den Menschen als solchen erstreckt. Die heutige Physik [wir verwenden das Wort
im weiten griechischen Sinne des ‹systematischen Begreifens der ganzen Natur›] räumt dem
Denken noch keinen Platz ein; das bedeutet, daß sie noch völlig außerhalb des
bemerkenswertesten Phänomens konstruiert wird, das unserer Beobachtung durch die Natur
geboten wird.
Wir möchten auf diesen Seiten gegen eine derart antiwissenschaftliche Situation reagieren,
indem wir sehr schematisch die möglichen Konturen eines Universums skizzieren, in das die
spezifisch menschlichen Eigenschaften [Reflexion und Denken] als eine Art neuer Dimension 43 (FN 1) Man möge beachten, daß unser Standpunkt hier rein methodologisch ist. Da wir uns auf den Boden der reinen Erfahrungswissenschaft stellen, abstrahieren wir – ohne sie übrigens irgendwie zu verleugnen, von den – reicheren und präziseren – Erkenntnissen der Offenbarungsebene, die der katholische Glauben schenkt.
105
eingeführt wären. Dies hier ist selbstverständlich ein ganz vorläufiger Versuch. Er ist der Gefahr
ausgesetzt, gewissen Leuten eher als eine poetische Erörterung denn als ein System fest
zusammengefügter Fakten zu erscheinen. Doch wer vermöchte zu sagen, bis zu welchem Punkt
eine verführerische Harmonie nicht der aufkeimende Zauber und das Vorzeichen der striktesten
Wahrheit ist44?
A. DIE CHARAKTERISTIKA DES MENSCHLICHEN PHÄNOMENS
Die Bedeutung des menschlichen Milieus entzieht sich uns, weil wir in es hineingetaucht sind. Da
wir in ihm geboren (237) sind, nur es atmen, fällt es uns schwer, eine richtige Sicht seiner
Dimensionen zu gewinnen, seine außerordentlichen Eigenschaften zu fühlen. Um die ihm
zukommende höchste Bedeutung zu ahnen, muß man die schwierige Anstrengung machen,
durch den Geist aus ihm herauszutreten. Folglich disponiert nichts besser das
Erkenntnisvermögen, das menschliche Phänomen wahrzunehmen, als die Arbeit in den
Wissenschaften, die versuchen, die allgemeine Geschichte der Erde zu rekonstruieren. Die
Menschheit erscheint uns klein und langweilig neben den großen Kräften der Natur. Doch
vergessen wir sie einige Zeit, um unseren Blick auf die fernen und dunklen Zeitalter zu heften, in
denen unser Planet sich ohne einen Anschein von Leben oder Denken bewegte. Treiben wir
Geologie, Paläontologie. Dann wenden wir die Augen wieder auf die Welt, die uns umgibt. Wenn
wir es wirklich verstanden haben, ein wenig die Vergangenheit zu beleben, werden wir einen
intellektuellen Schock empfangen, wenn wir uns plötzlich dieses Faktums bewußt werden, daß
wir uns durch unsere individuelle Existenz an einen Ort und in eine Zeit gestellt sehen, wo sich
in einem in jüngster Zeit aufgebrochenen Bereich mit überraschender Macht eine der
Grundströmungen des Universums entwickelt.
1. Macht des menschlichen Phänomens
Die Macht des menschlichen Phänomens läßt sich an der Weise ermessen, in der es ihm in
relativ kurzer Zeit gelungen ist, Fuß zu fassen und die Erde zu bedecken. Bis in die Anfänge der
Quartär genannten Zeiten [sagen wir, um uns eine Vorstellung zu machen, vor vier- oder
fünfhunderttausend Jahren, vielleicht etwas mehr] schien nichts die Invasion des Denkens
voraussehen zu lassen, es sei denn (238) ein allmählicher Aufstieg des Instinkts zu den behenden
und reichen Formen, die wir bei den großen anthropomorphen Affen kennen. Der Mensch ist
vielleicht bereits da: doch wir erkennen ihn nicht als solchen. Und dann in einem so kurzen
Zeitraum, daß er, in die alten geologischen Zeitalter übertragen, nicht zählen würde, ändert sich
alles. Eine erste kaum wahrnehmbare Woge, die wahre Überreste zurückläßt wie den
Pithekanthropus von Java, den Sinanthropus von Peking, den Menschen von Mauer. Eine zweite,
stärkere, die die alte Welt mit sehr alten Steinwerkzeugen bedeckt. Eine dritte, die unter einigen
Überlebenden der vorhergehenden Zeiten [Neandertaler] voll ausgebildet die heutige Gruppe
des Homo sapiens [Weiße, Gelbe und Schwarze, alle zugleich] plötzlich auftreten läßt. Eine vierte,
die im Neolithikum die endgültige Besitzergreifung der ganzen Erde [einschließlich Amerikas]
durch eine ackerbauende und handeltreibende Bevölkerung kennzeichnet. Eine fünfte,
schließlich, eine noch anschwellende, die tosend in Richtung einer außerordentlichen
Industrialisierung und Einswerdung der Welt läuft. In einigen großen Wogen hat die
44 (FN 2) Der Leser möge festhalten, daß die hier vorgetragenen Ideen wissenschaftlicher Ordnung in vollkommenem Einklang mit dem katholischen Dogma von der besonderen Schöpfung der menschlichen Seele stehen. Die übernatürlichen Bestimmungen des Menschengeschlechts und jedes Menschen insbesondere präzisieren und ergänzen in den Augen des Gläubigen das effektive Zum-Ziel-Gelangen des Fortschrittes des Lebens.
106
menschliche Flut alles übrige Leben hinweggefegt oder überschwemmt. Was früher die niederen
Wirbeltiere, dann die Reptilien, dann die Masse der Säugetiere langsam und unvollständig
verwirklicht hatten – nämlich die Eroberung der Oberfläche der Erde –, hat der Mensch ganz
allein in einigen Jahrtausenden und in einer zugleich neuen und wunderbaren Form zustande
gebracht. Heute dringt er nicht nur nach überallhin ein, nimmt er nicht nur alle bewohnbaren
Plätze ein; vielmehr schafft er innerhalb dieses unermeßlichen Mantels, den er über die Welt
wirft, eine Kohäsion, eine Organisation, von der vor ihm nichts eine Vorstellung geben konnte.
Indem er die schnellen Verbindungs- und Austauschmittel vervielfachte, vor allem indem er sich
des (239) Äthers bemächtige, ist der Mensch zu dem [noch in vollem Fortschritt befindlichen]
Ergebnis gelangt, daß die Individuen, da sie immer näher beieinander leben, dahin tendieren,
sich wechselseitig vital zu durchdringen – um den Preis welchen Brodelns, wissen wir! – Man
hat gesagt, von einer sehr großen Entfernung aus gesehen müsse die von ihren Pflanzen und
ihren Ozeanen bedeckte Erde grün oder blau erscheinen. Für einen fernen Beobachter, der sie
besser zu entziffern verstünde, erschiene sie in diesem Augenblick von Denken leuchtend. Unter
dem kältest positivistischen Gesichtspunkt, den es geben mag, stellt das menschliche Phänomen
nichts weniger denn eine allgemeine Transformation der Erde durch Bildung einer neuen Hülle
auf ihrer Oberfläche dar, der denkenden Hülle – vibrierender und leitender in einem gewissen
Sinne als jedes Metall; beweglicher als jede Flüssigkeit; expansiver als aller Dampf;
assimilierender und sensibler als alle organische Materie… Und diese Metamorphose erhält ihre
volle Größe dadurch, daß sie nicht als ein sekundäres Ereignis oder ein zufälliges Akzidens
zustande gekommen ist – sondern in der Art einer seit je schon durch das Wirken selbst der
allgemeinen Evolution der Welt45 wesentlich vorbereiteten Krise.
2. Tiefe und zentrale Ursprünge des menschlichen Phänomens
Man darf sich nämlich nicht von den unvermeidlichen Vereinfachungen der Lehrbücher oder
sogar der dicken Werke der Paläontologie und Zoologie täuschen lassen. In derartigen Werken,
für die die Morphologie [Studium der Formen] der Hauptforschungsgegenstand ist, wird der (240)
Wert der vitalen Veränderungen hauptsächlich nach ihren osteologischen Auswirkungen
beurteilt: eine Modifikation der Struktur der Glieder gewinnt dann eine ebensolche Bedeutung
wie ein Zuwachse des Gehirns; so kommt es, daß die Phylogenie der Pferde zum Beispiel als ein
der Phylogenie des Menschen gleichwertiges Phänomen erscheint. Diese Verwechselung der
Ebenen ist sorgfältig zu berichtigen, wenn man eine richtige Perspektive der Gesamtheit der
lebendigen Phänomene gewinnen will; denn nichts ist für eine exakte Kenntnis der Welt [wie für
jedes Werk der Kunst oder der Wahrheit] wesentlicher, als die wirklichen Proportionen der
Dinge zu entdecken und zu respektieren. Die häufig auf ein und dieselbe Ebene gestellten
verschiedenen, von der Zoologie erkannten Reihen organischer Entwicklung sind in Wirklichkeit
von höchst ungleichem Wert oder Rang. An einem Baum gibt es die Blätter, die Ästchen, die
Zweige, die Hauptäste; und dann gibt es auch die Hauptsproßachse, ‹den Pfeil›. Ebenso muß man
in dem komplizierten Gebäude der tierischen Reihen, deren Gesamtheit die Gruppe der
Lebewesen bildet, unter dem Laubwerk oder der Buschung tausend verschiedener Formen [von
denen jede einer besonderen Weise des Tuns oder der Ernährung entspricht] ein
Grundwachstum und einen Gipfeltyp unterscheiden. Das Grundwachstum – man kann sich
dieser fast unmittelbaren Evidenz immer weniger entziehen – ist der Vormarsch der
organisierten Wesen zu einem Zuwachs an Spontaneität und Bewußtsein. Der Gipfeltyp – es
wäre kindisch, das aus Furcht vor ich weiß nicht welchem ‹Anthropomorphismus› zu leugnen –
ist gegenwärtig der Mensch. Der Mensch läßt sich zweifellos auf der relieflosen Karte der
45 (FN 3) Selbstverständlich vom Schöpfer beseelt.
107
Systematik als eine an gewissen Einzelheiten des Schädels, des Beckens und der Glieder
erkennbare Familie der Primaten definieren. – Genauso wie der Pfeil des Baumes, von dem wir
eben sprachen, (241) wenn man seine Stellung in dem pflanzlichen Ganzen, das er überragt, nicht
berücksichtigt, immer noch durch gewisse Einzelheiten von den Nachbarzweigen differenziert
werden kann. Doch wenn man in einer wahrhaft natürlichen Darstellung der Welt, die die ganze
Evolution des Lebens berücksichtigt, seinen Ort bestimmen will, muß man ihn hauptsächlich
durch die Eigenschaft definieren, die er besitzt, nämlich derzeit in der Bewegung ‹die Spitze zu
halten›, die die organisierten Wesen zu Möglichkeiten größeren Wissens und Tuns mitreißt. In
dieser Hinsicht nahm bereits der ganze Stamm der höheren Primaten vor der Ankunft des
Menschen einen besonderen Platz in der Natur ein. Doch der Mensch hat sie, da er auftrat,
beiseite geschoben; und er hat allem, was ihn umgibt, gegenüber einen so entscheidenden
Vorsprung gewonnen, daß er jetzt allein vorn steht. Es genügt nämlich nicht, erkannt zu haben,
wie wir es getan haben, daß das menschliche Phänomen derzeit die vorgeschobene Front des
Lebens absteckt. Um es voll zu würdigen, müssen wir noch begreifen, daß es auf eben dieser
Vormarschlinie das Auftreten einer absolut neuen Phase darstellt.
3. Kritischer Charakter des menschlichen Phänomens
Das ist nämlich der einzige wissenschaftliche Ausdruck, der fähig ist, die Metamorphose, die
Revolution auszusagen, deren Signal für das Antlitz der Erde das Auftreten des Menschen
gewesen ist. Mit dem Menschen hat die bis dahin regelmäßige Entwicklung des Lebens einen
kritischen Punkt erreicht. Mit dem Menschen hat die allgemeine Bewegung der organisierten
Wesen um Bewußtsein eine bedeutendere Diskontinuität überschritten. Während er in seinem
Organismus noch ganz mit den im Laufe früherer (242) Phasen angehäuften Erbteilen beladen
erscheint, die den Zoologen noch erlauben, aus ihm einen Primaten zu machen, hat der Mensch
auf der Erde eine neue Sphäre eingeleitet, die Sphäre des rationalen Wissens, der künstlichen
Konstruktionen und der organisierten Totalität. Zwischen dem Menschen und allem, was ihm
vorausging, steht ein Zustandswandel, ein Bruch. Das ist, so wissenschaftlich wie möglich
ausgesagt, die grundlegende Tatsache, die man, da man nicht wagt, sie so einfach zu deuten, wie
sie sich darstellt, allzu häufig hat verwerfen oder nicht sehen wollen, auf die Gefahr hin, die
Symmetrie des Universums zu verstümmeln und seine Klarheit zu verdunkeln. Zahlreiche
Denker und Gelehrte schließen systematisch die Menschheit als eine Anomalie aus ihren
Konstruktionen aus, unter dem Vorwand, sie scheine ihnen ‹einer anderen Erkenntnisordnung›
zuzugehören als die Phänomene, die zu handhaben sie gewohnt sind. Doch wissen wir nicht
schon seit langem, daß die wahrhaften Fortschritte der Wissenschaft eben gerade darin
bestehen, die tiefen Zusammenhänge zu entdecken, die die anscheinend voneinander
geschiedensten Ordnungen vereinen? Verschweißen sich nicht in diesem Augenblick die
Gleichungen der Mechanik mit denen des Lichtes? Und was wäre aus der modernen Physik
geworden, wenn man die Radioaktivität als ein bizarres und lästiges Phänomen vernachlässigt
hätte?… Die erste Vorbedingung, um das menschliche Phänomen annehmbar zu machen und
ihm zu ermöglichen, seine wissenschaftliche Fruchtbarkeit offenkundig zu machen, ist, es weder
zu umgehen, noch es herabzusetzen. Der Mensch ist nur deshalb für die Wissenschaft so
verwirrend, weil letztere zögert, ihn mit der Fülle seiner Bedeutung anzunehmen, das heißt als
das Auftreten eines absolut neuen Zustandes des Lebens am Ende einer kontinuierlichen
Transformation. Erkennen wir ein für allemal offen an, in (243) einer realistischen Sicht der
Geschichte der Welt ist das erst Auftreten des Denkvermögens ein ebenso wirkliches, ebenso
spezifisches und ebenso großes Ereignis wie die erste Kondensierung der Materie oder das erste
Auftreten des Lebens: und wir werden vielleicht anstatt der gefürchteten Unordnung eine
vollkommenere Harmonie sich über unsere Darstellungen des Universums breiten sehen.
108
B. DIE INTERPRETATION DES MENSCHLICHEN PHÄNOMENS
Die oben dargelegten Überlegungen zur Existenz und zu den Hauptcharakteristika des
menschlichen Phänomens scheinen unanfechtbar. Die folgenden werden vielleicht – wie wir
weiter oben schon ankündigten – weniger wissenschaftlich als poetisch erscheinen. Sie haben
zumindest den Vorteil, eine allgemeine und logische Sicht der Welt zu bieten.
Als Ausgangspunkt dieses neuen Gedankenganges nehmen wir die wohlgesicherte Tatsache, daß
die Gesamtheit aller bekannten physischen Phänomene durch das äußerst allgemeine Gesetz der
Entropie beherrscht wird, das heißt von dem Gefälle oder der Abnahme der nutzbaren Energie.
Im Laufe jeder Arbeit, so stellt die Thermodynamik fest, wird ein Teil Energie in Gestalt
nichtzurückgewinnbarer Wärme zerstreut, so daß die Wirkkapazität des materiellen
Universums nach und nach ausgefüllt wird. In den heute von der Wissenschaft auf Grund
positiver Beweise anerkannten atomaren Perspektiven läßt sich dieses großes Phänomen der
Nivellierung der kosmischen Energie durch einen statistischen Effekt erklären. Da die nutzbare
Energie des Universums an eine heterogene Verteilung der korpuskularen Elemente gebunden
ist [Heterogenität erzeugt (244) ‹Potentialunterschiede›], strebt das Spiel der Wahrscheinlichkeit
unerbittlich dahin, diese Elemente zu einer wahrscheinlicheren, das heißt homogenen Verteilung
zu bringen46, in der die Wirkkapazitäten sich in einer Art universeller Lauheit gegenseitig
neutralisieren und aufheben. An der Entropie ist [außer ihrer Allgemeinheit] sehr
bemerkenswert, daß sie im eigentlichen Sinne kein Gesetz wie die anderen ist, das absolute
Gleichgewichtsbedingungen zu irgendeinem Augenblick ausdrückte. Sie macht eine universelle
Trift der materiellen Phänomene durch die Dauer hindurch offenkundig. Sie drückt in einer
algebraischen Formel eine historische Strömung aus: den Marsch der Materie zu den
wahrscheinlichsten Bedingungen und Anordnungen. Insofern schlägt sie eine Brücke zwischen
der mathematischen Physik und den Naturwissenschaften.
Nachdem dies gesagt ist, wollen wir einen Augenblick die Entropie lassen und zu den Lebewesen
zurückkehren. In Termini der Physikochemie sind die Lebensphänomene wesentlich [gerade im
Gegensatz zu den denen der Materie] durch eine Evolution zum weniger Wahrscheinlichen
charakterisiert. Unwahrscheinlichkeiten in den riesigen und instabilen Molekülen, die die
organische Materie anhäuft; Unwahrscheinlichkeiten in der unglaublich komplizierten Struktur
des geringsten Protozons; Unwahrscheinlichkeiten rasch wachsender Größenordnung in der
Konstruktion der höheren Tiere und in der Entwicklung der letzteren zu mannigfaltigen
fortschrittlichen Typen durch die geologischen Zeitalter hindurch; höchste
Unwahrscheinlichkeiten schließlich des Auftretens, der Bewahrung und der Organisation des
Denkens auf der Erde… Der Mensch (245) wird von einem schwindelerregenden Gerüst aus
Unwahrscheinlichkeiten getragen, zu denen jeder neue Fortschritt ein weiteres Stockwerk
beiträgt.
Vor dieses gewaltige und unleugbare Faktum des regelmäßigen Aufstiegs eines Teils der Welt zu
unwahrscheinlichen Zuständen gestellt, hat die Wissenschaft bisher versucht, die Augen zu
schließen oder abzuwenden. Die Konstruktionen des Lebens sind unwahrscheinlich? Also
zufällig und für die Spekulation und die Berechnung uninteressant. Und das Leben bleibt
weiterhin als etwas Abwegiges außerhalb der Physik; als ein bizarrer Strudel, der zufällig in dem
allein ursprünglichen und endgültigen Strom der Entropie entstanden ist.
46 (FN 4) Man wird unmittelbar die Verwandtschaft dieser Idee mit jenen erkennen, die kürzlich Professor E. Le Roy in seinen Vorlesungen am Collège de France vorgetragen hat.
109
Doch sollte es nicht eine mögliche andere Sehweise geben, die sogar ganz von selbst aus dem
Zusammenfügen der einfachsten Worte entspringt, die wir finden können, um unsere Erfahrung
des Universums auszusagen? Wenn wir im Universum angesichts zweier wichtiger Bewegungen
der elementaren Einheiten stehen, die eine zum Wahrscheinlicheren, die andere zum weniger
Wahrscheinlichen, weshalb soll man dann nicht versuchen, in dieser doppelten Strömung zwei
Phänomene derselben Allgemeinheit, derselben Bedeutung, derselben Größenordnung zu sehen
– die beiden Seiten oder die beiden Richtungen ein und desselben äußerst allgemeinen
Ereignisses?
Weshalb sollte letzten Endes das Leben nicht ein Doppel oder eine Umkehrung der Entropie
sein?
Selbstverständlich hat das Leben, um zur Würde der zweiten Grundströmung der Welt erhoben
zu werden, gegen sich seine Erscheinungsformen, räumlicher Begrenzung und höchster
Gebrechlichkeit. Wie kann man, so wird man einwenden, den furchtbaren und
unwiderstehlichen Entfaltungen kosmischer Energie den instabilen Film aufbauender
Spontaneitäten vergleichen, mit dem sich infolge (246) einer unwahrscheinlichen Reihe von
Glücksfällen unsere kleine Erde umhüllt hat? Wir zögern, derartig offenkundig verschiedene
Größen gegeneinander abzuwägen. Doch sollte das nicht gerade daran liegen, daß wir die
Lehren des menschlichen Phänomens nur unzulänglich begriffen haben?
Solange das Leben in seine ‹instinktiven› Formen gehüllt bleibt, kann man mit mehr oder
weniger Wahrscheinlichkeit versuchen, es auf einfache Mechanismen zu reduzieren. Doch im
Menschen bricht es mit Eigenschaften auf, die unreduzierbar sind auf die Gesetze der Physik, die
es respektiert und benutzt. Im Menschen enthüllt sich das bis zum Denken getragene Leben als
eine Seite sui generis der Potenzen der Welt. Diese neue Energie ist in ihren Bekundungen eng
lokalisiert: doch die Geschichte ihrer Vorbereitung und ihres Erfolges erscheint der ganzen
Evolution der Materie koextensiv. Sie erscheint lächerlich schwach, auch das stimmt: doch
verrät die Sicherheit der Schritte, die sie ohne Stehenbleiben bis zur Menschheit getragen haben,
nicht das Wirken des bloßen Zufalls und entzieht sich damit dessen Drohungen. Etwas ebenso
Unwiderstehliches wie die Materie verbirgt sich unter der geduldigen Unfehlbarkeit des
Aufstiegs der Lebewesen. Wir haben die etwas kindische Gewohnheit angenommen, das
endgültige Gleichgewicht, die Festigkeit der Welt auf seiten der wahrscheinlichsten
Verbindungen zu setzen. Wer weiß, ob wir nicht gut daran täten, die Stufenleiter unserer Werte
von einem Ende zum anderen umzukehren, das heißt, ob die wahre Stabilität, die wahre
Konsistenz des Universums nicht in der Richtung zu suchen wäre, in der das Unwahrscheinliche
wächst47? (247)
Kurz, ebenso wie in den Synthesen der modernen Physik der alte Atomismus aufgenommen und
verwandelt wurde, so könnte es auch dazu kommen, wissenschaftlich die alten Intuitionen von
irgendeinem kosmischen Dualismus wieder aufzugreifen. Das Universum wäre nicht so einfach,
wie wir glaubten, das heißt einen einzigen Abhang hinabgleitend in Richtung der Homogenität
und der Ruhe. Vielmehr würde sich die Gesamtheit seiner ursprünglichen Gärung in zwei
Irreversiblen spalten. Die eine würde durch Anhäufung und Verflechtung verworrener
47 (FN 5) Gegen eine physische Gleichwertigkeit des Lebens und der Entropie könnte man ferner noch einwenden, das Leben werde, da es sich aus den allgemeinen Energiegesetzen unterworfenen Elementen aufbaut, grundlegend selbst von der Entropie mitgerissen. Doch sind wir wirklich sicher, daß die belebte Materie in ihrem vollkommen vitalisierten Strahl [so schwach dieser Strahl auch sein mag] noch Energie zerstreut, um zu handeln? Die Gesetze der Physik gelten nur, vergessen wir das nicht, für die großen Zahlen. Doch das eigentlich lebendige Wirken des Lebenden [des individuellen oder kollektiven Lebenden] ist wesentlich ein isoliertes, elementares Wirken.
110
Bewegungen zu einer fortschreitenden Neutralisierung und zu einer Art Verschwinden des
Tätigseins und der Freiheiten führen: das ist die Entropie. Die andere würde durch gerichtetes
Tasten und wachsende Differenzierung ohne wissenschaftlich festlegbare Grenzen48 [aber
zweifellos in Richtung irgendeines neuen Zustandswandels, ähnlich dem, der durch das
Auftreten des menschlichen Phänomens (248) gekennzeichnet wurde] den wahrhaft
fortschrittlichen Teil der Welt herausarbeiten. Dort die großen Zahlen, die die Einheit aufsaugen;
hier die Einheit, die aus den großen Zahlen geboren wird. Das alles ist, sagen wir es noch einmal,
vielleicht Poesie, doch ist ihm die Kraft eigen, uns zu gewissen präzisen und praktischen Wegen
des Fortschritts zu lenken.
C. DIE ANWENDUNGEN DER KENNTNIS DES MENSCHLICHEN
PHÄNOMENS
Nehmen wir also zumindest als vorläufige Hypothese diese Idee an, im menschlichen
Bewußtsein reflektiere sich einer der beiden Grundströme des Universums [tatsächlich der
einzige der beiden, von dem man wirklich sagen kann, er habe eine Zukunft] in sich selbst, er
werde sich seiner selbst in gewissem Maße bewußt und gewinne Herrschaft über sich selbst.
Was ergibt sich daraus für unser Vermögen zu begreifen und zu handeln?
Zunächst haben wir, um die Welt zu begreifen, ein wunderbares Forschungsinstrument in
Händen durch das Innen. Beobachten wir uns selbst: und wir werden durch Intuition, wenn
nicht durch Berechnung, in dem lebenden Element, das wir sind, irgend etwas von allen
Schritten des Universums erfassen. Tragen wir unsere individuellen Vermögen zusammen und
steigern wir sie: und wir werden die Größe ahnen, erspähen, zu der sich das menschliche
Phänomen entwickelt. Schwächen wir dagegen unsere Wahrnehmungs- und
Entscheidungsmöglichkeiten: und wir werden uns wieder auf den dunklen Wegen finden, auf
denen das Leben gemäß einer langen Reihe von instinktiven ‹Erfindungen› sich bis zum Denken
erhoben hat. Beobachten wir schließlich den Schleier des Determinismus, (249) der unaufhörlich
dahin strebt, die Wiederholung oder die unorganisierte Vielheit unserer Gesten zu überziehen:
und in dieser Eroberung unseres Seins durch die Tendenz zum Wahrscheinlicheren bekommen
wir eine wirkliche Geburt der Materie zu fassen. Es handelt sich hier nicht, das sei noch einmal
gesagt, um Meßbares. Doch folgt daraus, daß die Ziffern einen unbestreitbaren Genauigkeits-
und Konstruktionswert haben, nicht, daß außerhalb von ihnen keiner anderen
Erfahrungskenntnis ein spekulativer und praktischer Wert zukäme. Wir haben einen Blick auf
die Horizonte geworfen, die die hier vorgelegten Interpretationen des menschlichen Faktums
unserem Bedürfnis, zu begreifen, enthüllt. Sehen wir nunmehr zu, welche Triebkraft und welche
Richtlinien sie wissenschaftlich unserem Wirkbedürfnis liefert.
Ihre Triebkraft ist, daß sie uns einen Grund zu handeln enthüllt, der zugleich unermeßlich und
greifbar ist. Man braucht nicht sehr gelehrt zu sein, um wahrzunehmen, daß die größte Gefahr,
vor der die Menschheit erschrecken könnten, nicht irgendeine äußere Katastrophe, weder der
Hunger noch die Pest ist…, sondern viel eher diese geistige Krankheit [die schrecklichste, weil
48 (FN 6) Die Irreversibilität der Lebensströmung ist bis zu einem gewissen Grad durch ihren Erfolg selbst bewiesen: weshalb würde sie zurückfallen, da sie in ihrer Gesamtheit seit ihren Ursprüngen nur gewachsen ist? Man kann hinzufügen [und dieser Beweis ist sehr stark, wenn man ihn zu begreifen versteht], das Leben zeigt sich beim Menschen, wo es reflektiert wird, um seiner Funktionsfähigkeit selbst willen mit dem Anspruch, irreversibel zu sein. Gelangten wir nämlich zu der Erkenntnis, das belebte Universum gehe einem totalen Tod entgegen, würde die Freude am Tun ‹ipso facto› in der Tiefe unserer selbst getötet; das heißt, das Leben würde sich automatisch zerstören, indem es seiner selbst bewußt würde. Und das scheint absurd.
111
am unmittelbarsten widermenschliche von allen Plagen], welche der Verlust der Lebenslust sein
würde. In dem Maße, wie er sich seiner selbst durch die Reflexion mehr bewußt wird, sieht der
Mensch, daß sich vor ihm in immer heftigerer Weise das Problem des Wertes des Tuns stellt.
Durch die Existenz findet er sich, ohne daß er es gewollt hätte, in ein umfassendes
Tätigkeitssystem hineingenommen, das von ihm ein fortdauerndes Bemühen verlangt. Was soll
ihm dieser Zwang? Sind wir erwählt? Oder sind wir Toren? Ist das Leben ein Weg oder eine
Sackgasse? Das ist die vor kaum einigen Jahrhunderten formuliere Frage, die sich heute explizit
aus dem Munde der Masse der Menschheit stellt. (250)
Infolge der heftigen und kurzen Krise, in der sie sich gleichzeitig ihres schöpferischen
Vermögens und ihrer kritischen Fähigkeiten bewußt geworden ist, ist die Menschheit mit Recht
anspruchsvoll geworden; und kein unter blinden Instinkten oder wirtschaftlichen Bedürfnissen
gewählter Sporn wird noch lange Zeit genügen, sie zu veranlassen voranzuschreiten. Nur ein
Grund, ein wirklicher und wichtiger Grund, leidenschaftlich das Leben zu lieben, wird sie
bestimmen, weiter voranzustoßen. Doch wo auf der Erfahrungsebene den Ansatz [wenn nicht
die Vollendung] einer Rechtfertigung des Lebens finden? Nirgendwo anders, so will es scheinen,
denn in der Erwägung des inneren Wertes des menschlichen Phänomens. Halten sie den
Menschen weiterhin für einen zufälligen Auswuchs oder ein Spielzeug im Schoße der Dinge: und
Sie führen ihn zum Ekel oder zur Auflehnung, die, würden sie sich verallgemeinern, das
endgültige Scheitern des Lebens auf der Erde kennzeichneten. Erkennen Sie dagegen an, daß im
Bereich unserer Erfahrung der Mensch, weil er die marschierende Front der einen der beiden
umfassendsten Wogen ist, in die sich für uns das greifbare Wirkliche teilt, in seinen Händen das
Geschick des Universums hält: und Sie werden sein Gesicht einer großen aufgehenden Sonne
zuwenden.
Der Mensch hat das Recht, sich um sich selbst Sorgen zu machen, solange er sich in der Masse
der Dinge verloren, isoliert fühlt. Doch muß er freudig zu neuem Voranschreiten aufbrechen,
sobald er entdeckt, daß sein Los an das Los der Natur selbst gebunden ist. Denn es wäre bei ihm
nicht mehr kritische Tugend, sondern geistige Krankheit, wollte er den Wert und die Hoffnungen
einer Welt verdächtigen49. (251)
Tatsächlich hat unsere Generation, ohne die ‹Bekehrung› der Wissenschaft abzuwarten, die tiefe
Bedeutung ihrer Bestimmung begriffen. In uns und um uns herum entwickelt sich sozusagen
sichtbar ein psychologisches Phänomen großer Spannweite [das vor kaum mehr als einem
Jahrhundert geboren ist!], das man das Erwachen des menschlichen Sinns nennen könnte.
Eindeutig beginnen die Menschen, sich alle zusammen an eine große Aufgabe gebunden zu
fühlen, deren Fortschritt sie fast religiös in ihrem Bann hält. Mehr wissen, mehr vermögen. Diese
Worte umgeben sich, ohne aufzuhören, für viele einen utilitaristischen Sinn zu haben, für fast
alle mit dem Glanz eines heiligen Wertes. In unseren Tagen gibt man geläufig sein Leben hin,
«damit die Welt fortschreite». Hier drückt sich in einer Praxis, die handfester als alle Spekulation
ist, die implizite Anerkennung des menschlichen Phänomens aus. Entlang welcher Linien muß
die Bewegung, kraft eben ihrer Natur, sich fortzusetzen streben?
Die Hauptpunkte des Programms sind ebenso klar und präzis wie die Bedingungen, die den
Gebrauch und die Vermehrung ganz gleich welcher Energie regeln. Es sind folgende:
a] Vor allem in der menschlichen Masse für die Erhaltung und die Vermehrung der vitalen
Spannung der Lebenslust zu sorgen, dieses Potentials, das kostbarer ist als jede Erdöl- oder
Kohlenreserve. Zu diesem Zweck zunächst die zahllosen unentschuldbaren Lecks vermindern,
49 (FN 7) Vergleiche Anmerkung 2.
112
die in der heutigen Gesellschaft überall das ungeordnete Tun und die vergeudete Liebe
darstellen. Und wiederum und vor allem zu diesem Zweck die Wahrnehmung und die
Anziehungskraft der großen universellen Wirklichkeiten entwickeln – den Sinn für die Welt und
den menschlichen Sinn nähren. – Bliebe zu sehen [es ist hier nicht der Ort, die Frage zu
diskutieren], ob ein derartiger Glaube an das Universum, da (252) er ein garantiertes und
sozusagen absolutes Ziel verlangt, nicht beim erkannten und angebeteten Gott endet.
b] Wenn diese menschliche Spannung zum Besseren gewährleistet ist, geht es darum, sie zu
wirklich fortschrittlichen Zielen hinzulenken. Die allgemeine Formel dieser nützlichen Arbeit
kann sich auf ein Wort bringen lassen: Einswerden. Einswerden der Elemente, indem jeder im
Grunde seiner selbst das Werk der Werke der Natur vervollkommnet: die Personalität. Und
Einswerden des Ganzen durch Begünstigung und Regulierung der Affinitäten, die in unseren
Tagen so deutlich dahin streben, alle menschlichen Einheiten in einer Art einzigem Eroberungs-
und Forschungsorgan zu gruppieren.
So finden die Gesetze, die physisch die Fortschritte der ‹unwahrscheinlichen› Strömung im
Universum beherrschen, auf der Stufe des Menschen unwiderstehlich in Termini der Moral und
der Religion ihren Ausdruck.
Moral und Religion erscheinen in einem auf den alleinigen Bereich der Gesetze der
Wahrscheinlichkeit und der großen Zahlen reduzierten Kosmos der Physik [und sogar der
Biologie] absolut fremd. Es ist nicht die geringste, jenen, die danach streben, den Menschen
entschlossen wieder unter die Phänomene zu stellen, vorbehaltene Überraschung, zu sehen, daß
sie beide, die eine wie die andere, einen streng energetischen und strukturellen Wert in der
totalen Erde gewinnen – denn die eine und die andere stehen in unerbittlich strengem
Zusammenhang mit der wirklichen Bewahrung und den wirklichen Fortschritten des
Universums.
Der Gang der menschlichen Kenntnis [das sollte das letzte Wort dieser kurzen Untersuchung
sein] scheint entschieden auf einen Zustand hinzulenken,m in dem, da die verschiedneen
Abeilungen des Erfahrungswissens sich nach und nach zusammenschließen, es nur mehr eine
auf den (253) erkennenden Menschen und auf den Menschen als Erkenntnisgegenstand zentriete
einzige Wissenschaft der Natur geben wird50.
Revue des Questions Scientifiques, November 1930. (254)
XII
DER ORT DES MENSCHEN IN DER NATUR
Wie kürzlich Professor Otto Abel zu bemerken gab, gewahren wir nicht ohne Überraschung,
wenn wir bei Linné das Kapitel über den Menschen aufschlagen, die zumindest verbale
Ähnlichkeit seiner und unserer Ausdrücke. In der von dem großen schwedischen Naturforscher
aufgestellten Klassifizierung der Lebewesen wird der Mensch nicht nur als eine einfache Gattung
unter die Primaten gestellt; sondern innerhalb derselben Gattung wird der Art Schimpanse ein
Platz eingeräumt! – Ist das nicht bereits bis auf wenige Einzelheiten genau die heutige Position
50 (FN 8) Dieser Gedanke liegt überall in der Luft. So kann man im ‹Literary Digest› vom 21. Juni 1930 [Seite 30] diesen von einem Reporter den gut bekannten Physikern Compton und Heisenberg zugeschriebenen Satz lesen: “We found strong reasons for believing that, in spite of his physical insignificance, the Man may be of extraordinary importance in the cosmic scheme.“
113
der Wissenschaft? Das heißt, haben wir im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre uns nicht sehr
viel aufgeregt, um auf derselben Stelle stehenzubleiben?
Dieser Eindruck kann einen Augenblick lang unseren Geist streifen. Ein zweiter Augenblick des
Nachdenkens genügt, um seine Nichtigkeit zu erfassen. Nein, zwischen unseren Vorstellungen
vom Menschen, wie wir sie heute vertreten, und den Ansichten der Naturforscher des
achtzehnten Jahrhunderts besteht keine Identität: Eine Welt trennt sie; – wie vielleicht eine
andere Welt unsere heutigen Ideen von denen trennen wird, die um uns herum im Entstehen
begriffen sind.
Was ist im Laufe des letzten Jahrhunderts getan worden, um den Ort des Menschen in der Natur
zu bestimmen; – und was bleibt noch zu tun? Das möchte ich in dieser kurzen Studie skizzieren.
A. DIE VERWIRKLICHTEN FORTSCHRITTE
Das große geistige Ereignis, das in der Zukunft das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnen wird,
ist wahrscheinlich (255) weniger die Besitzergreifung der Energien der Materie durch den
Menschen mit Hilfe der Physiker und Chemiker als die Entdeckung der Zeit und der Evolution
durch die Gelehrten und Denker zusammen. So außerordentlich das auch erscheinen mag, das
Universum ist dem Menschen nicht immer unermeßlich und in Bewegung befindlich erschienen.
Im Gegenteil, es genügte, daß wir drei oder vier Generationen zurückversetzt würden, um in
eine Gesellschaft zu fallen, in der die Welt sich mit Perspektiven darstellte, die uns durch ihre
Begrenztheit, ihre Starrheit und ihre Zersplitterung verwirren und ersticken würden. Bis zum
Endes des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Erde noch als eine nur einige Jahrtausende alte
Welt vorgestellt: eine Welt, deren Elemente plötzlich fix und fertig bereits in ihrer heutigen
Gestalt erschienen wären; eine Welt, deren innere Beziehungen einen rein ideellen Plan unter
Ausschluß aller organischen Zusammenhänge zum Ausdruck bringen. Heute, am Ende eines sehr
viel beträchtlicheren geistigen Aufschwungs als jener, der sich zur Zeit Galileis in der
Astronomie vollzog, hat sich für unsere Augen in der Natur die ganze Physiognomie der
Lebewesen gewandelt. Unter und hinter uns hat sich der unendliche Abgrund der Zeit geöffnet;
und das Gesicht der gegenwärtigen Welt enthüllt sich unseren Blicken als der augenblickliche
Endpunkt einer unermeßlichen Genese [man könnte sagen, Embryogenese].
Es gibt keinen einzigen Bereich des Erfahrungswissens, in dem das Auftreten der
Evolutionsvorstellung unsere Ansichten nicht modifiziert hätte [in derselben Weise, wie eine
geometrische Figur durch die Einführung einer neuen Dimension modifiziert wird]. Doch
nirgendwo ist die Transposition der Werte tiefgreifender gewesen denn im Bereich der
Lebewesen. Für Linné stellten die verschiedenen Rahmen der Systematik [Ordnungen, Familien,
(256) Gattungen, Arten…] abstrakte Kategorien dar – ideelle, in den Schöpfungsplan
eingeschriebene, zusammenfassende Klammern. Für uns ist diese Verteilung die in die Natur
eingezeichnete Spur der verschiedenen Strömungen des Lebens geworden, die sich getrennt
haben, dann gewachsen sind und sich im Laufe der Zeitalter entfaltet haben. Die mehr oder
weniger große, zwischen zwei zoologischen Formen beobachtete Nähe gibt das Maß der mehr
oder weniger innigen Verwandtschaft dieser Formen innerhalb der Evolution an. Die natürliche
Klassifizierung der Lebewesen sagt ihre Genealogie aus; das ist der Lichtstrahl. Wenn also der
Mensch ein Primate ist, so deshalb, weil er auf dem Trieb der Primaten im dichten Zweigwerk
der Wirbeltiere aufgetreten ist. Das ist der gewaltige und wesentliche Unterschiede, den Worte
angenommen haben, die seit der Zeit Linnés dieselben sind. – Die intellektuelle Annahme der
Möglichkeit und der wissenschaftliche Beweis der Wirklichkeit dieser Entstehung des Menschen
114
im Schoße des allgemeinen Lebens ist eine der schönsten Leistungen gewesen, die die Loyalität
und die Ausdauer der Menschen im Laufe der letzten Jahre vollbrachte haben.
Wie es immer in der Geschichte der großen wissenschaftlichen Revolutionen geschieht, hat sich
der Geist bei der Anerkennung einer zoologischen Evolution und ihrer Ausweitung auf den
Menschen zunächst schneller vorangewagt als die Fakten. Für sich allein genommen sprach die
vergleichende Anatomie bereits recht deutlich zu jenen, die auf sie zu hören verstanden. Doch
die positiven historischen Dokumente der aus den geologischen Zeiten datierenden Archive, das
heißt Fossilien, fehlten in den Anfängen den Anhängern des Transformismus zum Beweis der
Richtigkeit ihrer Ansichten [die häufig, das muß man anerkennen, in ungeordneter oder
simplistischer Weise zum Ausdruck gebracht wurden]. Erst nach der Mitte des neunzehnten (257)
Jahrhunderts hat die Paläontologie wirklich beginnen können, mit einiger Entschiedenheit die
Abstammung einer gewissen Zahl lebender Formen aufzuzeichnen. Seither hat unsere Kenntnis
der verschwundenen Arten und ihrer gegenseitigen Zusammenhänge in unerhoffter Weise
Fortschritte gemacht. Eine nach der anderen verbanden die isoliertesten Formen, die wir in der
heutigen Natur kennen [der Elefant, das Kamel, der Wal usw.], sich in der Tiefe der Zeit mit
machtvollen Gruppen, die ihrerseits zur Basis hin untereinander konvergierten. Die ferne
Geschichte der Primaten und ihre Beziehungen zu den primitivsten Säugetieren des Tertiärs
enthüllten sich wie die anderen. Durch dieses unwiderstehliche Einsinken der ganzen lebenden
Welt in die Evolution war das Erfahrungsproblem der menschlichen zoologischen Ursprünge
bereits virtuell gelöst. Hätten wir noch kein menschliches Fossil gefunden, wäre die Entstehung
des Menschen im Ausgang von vormenschlichen Formen bereits gewiß, – auf Grund dessen, was
wir über die universelle Ableitung aller Lebewesen der einen im Ausgang von den anderen
gelernt haben.
Doch selbstverständlich waren dort noch unmittelbare Anzeichen oder Beweise zu suchen. So ist
die Vorgeschichte entstanden – eine Wissenschaft, deren Name schon unsere Väter verwirrt
hätte, deren außerordentlich rasche Entwicklung aber [sie ist nicht viel mehr als achtzig Jahre
alt…] ihre Legitimität bewiesen hat und ihr weiteres Wachstum voraussehen läßt.
Mit der Vorgeschichte ist es wie mit dem Rundfunk und den Flugzeugen. Es fällt uns schwer, uns
vorzustellen, es habe sie nicht immer gegeben. Und doch ist es kaum länger als eine Generation
her, daß das Institut de France sich weigerte, die Möglichkeit bearbeiteter Feuersteine in den
alten Terrassen der Somme anzuerkennen – und daß man (258) als sensationell den Fund eines
gravieren Stoßzahns von einem Mammut verzeichnete, einen durchschlagenden Beweis, daß der
Mensch in Gesellschaft dieses ausgestorbenen Tieres gelebt hat. Welch ein Weg wurde seitdem
zurückgelegt! – Entdeckung des Neandertalers in Westeuropa, des letzten und am besten
bekannten Vertreters der echten fossilen Menschen. Entdeckung des Pithekanthropus auf Java;
dann in Deutschland des Menschen von Mauer; dann kürzlich in Peking des Sinanthropus – der
uns mitten in das Milieu und sogar mitten in die unterste Schichte des Pleistozäns
zurückversetzt. Noch überreichlichere, weil leichtere, Entdeckungen bearbeiteter Steine, die die
aufeinanderfolgenden Phasen, die geographischen Provinzen und die gewaltige Ausdehnung der
ersten Zivilisationen der ganzen alten Welt durch das Quartär hindurch aufzeichnen. – Wir
stehen erst, das wissen wir, am Anfang der Forschungen. Und doch heben sich bereits die
wesentlichen Linien des menschlichen Faktums vor unseren Augen mit wachsender Plastizität
ab. Zunächst im Fernsten und Tiefsten, das wir zu unterscheiden vermögen, die erste Schicht:
die Menschheit des unteren Paläolithikums [Phitekanthropus, Mauer, Sinanthropus…] – eine
dunkle Gruppierung von Wesen mit überwiegend neandertaloiden Zügen, von denen heute nur
noch zutiefst fossilisierte Reste bestehen. Dann, bereits in viel größerer Nähe, die plötzlich die
letzten Reste des Menschen des Moustérien hinwegfegende Woge des oberen Paläolithikums
115
[Weiße, Gelbe, Schwarze wie wir], noch einfache Jäger, aber bereits Träger der Kunst. Dann die
neolithische Revolution: der Mensch gruppiert sich in große soziale und landwirtschaftliche
Einheiten und findet in dieser Organisation die Kraftfülle für seine Expansion über die Welt
[Amerika einbegriffen]. Dann, nach einer Zwischenzeit, die uns maßlos erscheint, die aber von
den dreien bei weitem die (259) kürzeste ist, die gegenwärtige Revolution: das Zeitalter der
Industrie und der großen internationalen Unternehmungen – eine machtvolle und doch eben
erst angelaufene Grundwelle, die uns emporhebt und uns zu neuen Zuständen mitfortreißt.
Der Mensch, in eine allgemeine Evolution des Lebens eingefügt, zu der er eine der
Verlängerungen ist; – die menschliche Gruppe folglich selbst einer inneren Evolution
unterworfen, die, bis in den Knochenbau wahrnehmbar, sich immer mehr in den psychischen
und sozialen Bereichen zu konzentrieren scheint: das sind die beiden Grundeinsichten, die uns
seit den Zeiten Linnés die gemeinsamen Bemühungen der Paläontologie, der Vorgeschichte und
der Anthropologie offenbart haben. Und aus welchen Richtungen dürfen wir nunmehr eine
weitere Erhellung erwarten?
B. DIE ERHOFFTEN FORTSCHRITTE
Das heute einer Wissenschaft vom Menschen geöffnete Feld, das unendlich über die alte
Anthropologie hinausgreift, kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden. Das
Forschungsprogramm richtet sich selbstverständlich in erster Linie auf die Festigung und
Ausweitung der gewonnenen Positionen. Um nur von den sehr alten Epochen der Vorgeschichte
zu sprechen, fehlt es uns, das ist sehr klar, an neuen Sinanthropen und neuen Menschen von
Mauer – die dieses Mal durch vollständigere Schädel und durch ihr Skelett bekannt wären. Wir
müssen mit Hilfe ausgedehnterer und genauerer Forschungen das wahrscheinliche Gebiet
festzulegen suchen, in dem sich die geheimnisvolle ‹Hominisation› der letzten Vor-Menschen
vollzogen hat: ist es Zentralasien? Oder der Rand des Tropenwaldes? – (260) Gibt es im Falle des
Menschen einen einfachen Herd oder eine langausgedehnte Zone [eine Front] der Evolution? –
Es wird immer wichtiger, diese verschiedenen Probleme herauszuarbeiten und klarzustellen,
um zu koordinierten, methodischen Forschungen zu gelangen, die an den «sensiblen Punkten»
der Erde durchgeführt werden51.
Aber das ist schließlich nur die einfache Weiterführung der begonnenen Arbeit. Sollte es nicht
zufällig beim Studium des Menschen neben den beharrlich weiter zu verfolgenden Pfaden
irgendeine Türe geben, die auf neue Horizonte zu öffnen ist? – Wir glauben, ja: Und diese
wunderbare Türe wäre unseres Erachtens ein besseres Begreifen dessen, was man das
spezifische Menschliche Phänomen nennen kann.
Wie wir eben erklärt haben, ist das Bemühen der anthropologischen Wissenschaften im Laufe
der letzten Jahre durch das Bemühen charakterisiert, den Menschen auf den Fall der anderen
Lebewesen zurückzuführen, indem bewiesen wird, daß auch er in Abhängigkeit von den
allgemeinen Gesetzen der Evolution aufgetreten ist. Die Suche nach dem organischen Band, dem
Kontinuitätselement, dem ‹Phylum›, hat also alles Forschen in der Anthropologie beherrscht, wie
sie übrigens alle übrigen biologischen Wissenschaften beherrschte. Weil man, vergessen wir das
nicht, die Evolution gerade entdeckt hatte, war man geradezu von der Kontinuität ihrer Kurve
fasziniert, und man dachte nicht daran, die andere Hälfte ihrer Größe und ihrer Bedeutung
könne darin bestehen, daß sie gewisse Bereiche der Diskontinuität aufwiese. Werden die
Schichten eines Kegels bis zu einem gewissen Grad der Konvergenz vorangetrieben, 51 (FN 1) Vergleiche Afrika und die menschlichen Ursprünge, Band II der Werke P. Teilhard de Chardins: Das Auftreten des Menschen, Seite 262. [Anmerkung der Herausgeber]
116
verschmelzen sie in einem ausdehnungslosen (261) Punkt. Werden die Körper auf eine gewisse
Temperatur oder auf einen gewissen Druck gebracht, ändern sie ihren Zustand: sie verflüssigen
sich oder sie verdampfen. Es gibt überall ‹kritische› oder ‹besondere› Punkte in den
Bewegungen der Materie. Warum sollte sich in den Transformationen des Lebens nicht etwas
Ähnliches zeigen? Tatsächlich tendieren die Phänomene der Diskontinuität seit einiger Zeit
dahin, in den evolutionistischen Theorien der Natur eine wachsende Bedeutung zu gewinnen. Im
kleinsten Maßstab sind die Mutationen von De Vries eine erste Art von Diskontinuität. Doch
andere, umfassendere ‹Mutationen› lassen sich am Ursprung der großen Phyla erahnen
[Tetrapoden, Amphibien, Säugetiere…]. Muß nicht die erste Entstehung der organisierten
Materie selbst als eine entscheidende Diskontinuität gedeutet werden, die im Laufe eines im
Vor-Leben begonnenen Prozesses eintrat? Nun, das große Faktum, das die Anthropologie von
gestern, allzu beschäftigt mit der Suche nach «missing links», nicht gesehen hat, das aber
[unserer Meinung nach] die Anthropologie von morgen erleuchten wird, ist eben die Tatsache,
daß das Auftreten des Denkvermögens [d.h. für ein Seiendes das Vermögen, sich in sich selbst zu
reflektieren] in der Welt seinerseits auch als eine Diskontinuität erster Größenordnung
verstanden werden muß, vergleichbar dem ersten Auftreten organisierter Wesen. – Der Mensch
ist ein denkendes Tier; ein banaler Ausdruck, wenn das Denken als eine Art sekundärer, zufällig
das Leben überlagernder Eigenschaft verstanden wird [so wie wenn Linné sagte, der Mensch ist
ein Primate]; – jedoch ein mit schwerwiegenden Konsequenzen geladener Ausdruck, wenn
dasselbe Wort, wie es sich in einer wahren Evolution gehört, als eine axiale und höhere Form
des Lebens verstanden wird.
Beobachten wir die gewaltigen Änderungen, die in unserer (262) Welt mit dem Aufblühen des
Denkens eingetreten sind – und wir werden mit derselben Klarheit erkennen, wie im Falle der
anderen wissenschaftlichen Wahrheiten: mit dem Menschen ist nicht nur eine weitere Art in der
Menge der Wesen aufgetreten, die durch gewisse Einzelheiten des Schädels und der Glieder
charakterisiert wäre; vielmehr hat sich ein neuer Lebenszustand in der Natur kundgetan. Das
Denken ist eine wirkliche physische Energie sui generis, der es in einigen hundert Jahren
gelungen ist, das ganze Antlitz der Erde mit einem Netz zusammenhängender Kräfte zu
überziehen. Wir müssen ihm also einen besonderen Platz in unseren Konstruktionen einräumen.
So verstehen es die Gelehrten, die wie mein Freund Dr. Grabau die Vorstellung vertreten, im
Quartär sei eine neue Ära, das Psychozoikum, eröffnet worden, das in seiner Bedeutung trotz
seiner Jugend den größten Perioden des vergangenen Lebens vergleichbar ist. So begreifen es
die Philosophen, die nach dem Beispiel von Professor Edouard Le Roy [Nachfolger von Bergson
am Collège de France] eine die Biosphäre des großen Geologen Sueß als Aureole umgebende
denkende Schicht, die ‹Noosphäre› der Erde, zu erkennen glauben. So würden ohne jeden Zweifel
[sofern es sie gäbe] die Gelehrten ganz gleich welches anderen Planeten urteilen, wenn es ihnen
möglich wäre zu erfahren, was auf unserer Welt geschieht.
Mit dem Menschen und im Menschen hat das Leben eine Schwelle überschritten. Das ist die uns
geöffnete Türe, von der wir oben sprachen. Seitdem es die Wissenschaft gibt, haben wir die
sideralen Räume, die Ozeane, die Berge ausgelotet. Wenden wir uns endlich dem
geheimnisvollen Bewußtseinsstrom zu, zu dem wir gehören. Das Denken ist noch niemals in
gleicher Weise wie die materiellen Größen als eine Wirklichkeit kosmischer und evolutiver Natur
studiert worden. Tun wir diesen Schritt. Akzeptieren wir die Wirklichkeit, analysieren (263) wir
die Eigenschaften und fixieren wir den Ort des menschlichen Phänomens in der allgemeinen
Geschichte der Welt. – Zwei große Konsequenzen, eine theoretische und eine praktische, lassen
sich als Ergebnis der Erforschung dieses neuen Feldes erahnen.
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Unter theoretischem Gesichtspunkt würde das Faktum der Anerkennung einer neuen Eigenschaft
[oder genauer, wie wir sagten, eines neuen Zustandes] des Lebens im Menschen uns helfen,
endlich eine absolute Richtung, einen Pol, in den großen Bewegungen und am Himmel des
Lebens zu entdecken. Sich selbst überlassen ist die reine Zoologie unvermögend, uns einen
Leitfaden in dem Labyrinth der lebenden Formen zu liefern, aus denen die Biosphäre gewebt ist.
Gibt es einen wirklichen Fortschritt oder nur einfache Vermannigfaltigung von dem Protozoon
zum Dinosaurier und zum Primaten?... Ja, könnte eines Tages die Wissenschaft vom Menschen
entscheiden, es gibt wirklich Fortschritt; denn in dem ausdauernden Marsch des Bewußtseins zu
immer spontaneren und schließlich reflektierten Formen halten wir ein objektives Element in
Händen, das uns erlaubt, unter den und durch die Komplikationen im einzelnen hindurch den
beständig aufsteigenden Gang ein und derselben Grundgröße zu verfolgen. Ein im Laufe
unendlichen Tastens nach und nach erwachendes Bewußtsein: das wäre in diesem Falle die
wesentliche Gestalt der Evolution.
Doch, wenn es wahr ist, daß im Menschen die Evolution des irdischen Lebens sich konzentriert
und in ihrer derzeit vollendetsten Form emergiert, – wer sieht dann nicht die praktische
Folgerung? – Bisher hatte unsere Wissenschaft vor allem darin bestanden, die Vergangenheit
des Menschen genau zu untersuchen. Wird sie nicht dahin gelangen, von nun an hauptsächlich
die Mittel zu suchen, seine Zukunft zu gewährleisten? Die innere Bewegung der Welt (264) in ihrer
zentralsten und lebendigsten Form geht derzeit durch uns hindurch. Wir stellen die aktuelle
Front der Woge dar. Was werden wir tun, wir, ihre bewußten Elemente, um ihr Voranschreiten
zu begünstigen? Welche Organisationen wählen? Welche Beziehungen zwischen den Völkern
knüpfen? Welche Wege eröffnen? Welche Moral annehmen? Auf welches Ideal hin unsere
Energien zusammenfassen? Durch welche Hoffnung im Herzen der menschlichen Masse die
heilige Lust des Forschens und Voranschreitens erhalten?
Es wird das unermeßliche Verdienst der Gründer der Anthropologie gewesen sein, die
historischen Bande aufgefunden zu haben, die den Menschen organisch an das Leben und an die
Erde binden. Doch ihr Werk wird seine Früchte nur tragen, wenn der Mensch, der durch sie sich
seiner Blutsverwandtschaft mit dem Universum bewußt geworden ist, begriffen haben wird, daß
es seine Bestimmung ausmacht, in sich selbst den Geist der Erde und des Lebens zu läutern und
zu retten.
Die Evolution nicht nur erkennen – sondern sie in uns weiter voranbringen.
Revue des étudiants de l’Université Nationale de Péking, 1932.
Anmerkung der Herausgeber
Pater Teilhard berichtet in einem Brief an seine Cousine zu dieser Schrift: «Pater Maréchal von Löwen
macht mir die Ehre, als Antwort auf ein bescheidenes Papier zu schreiben: ‹Niemand hält heute so wie Sie
alle theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Größen des Problems der Evolution in
Händen.›»
Lettres de voyage, Seite 180, Edition Grasset.
Geheimnis und Verheißung der Erde, Reisebriefe 1923 bis 1939, Verlag Karl Alber, Freiburg 1961. (265)
118
XIII
DIE ENTDECKUNG DER VERGANGENHEIT
A. DIE EXPANSION DES BEWUßTSEINS
In den Augen des Biologen oder des Philosophen stellt ein Phänomen alle anderen in den
Schatten auf der heutigen Erde, nämlich das der Expansion des Bewußtseins.
Alles aufzeichnen, alles versuchen, alles begreifen. Was oben ist, ferner als das Atembare, und
was unten ist, tiefer als das Licht. Was sich im Sternenraum verliert und was sich hinter den
Elementen verbirgt. Luft, Meer, Erde, Äther, Materie. Durch alle erfahrbare Wirklichkeit
hindurch dringt, von einem Druck vorangetrieben, den nichts aufhält, das Denken. Bereiche
schienen auf immer undurchdringlich. Doch das ist kein Hindernis! Sich an Kühnheit und
Verwegenheit überbietend, werden die Apparate ersetzt, sterben die Menschen. Doch das
Bewußtsein schreitet voran. Eher würde man die Wärme daran hindern, sich in einer
Eisenstange auszubreiten.
Mit dieser allgemeinen Expansion des Geistes verbindet sich offensichtlich als ein besonderer
Sinn der Instinkt, der im Laufe der jüngsten Zeiten so viele Forscher zur Entdeckung der
Vergangenheit geführt hat.
Lange Zeit hindurch mochte die Vergangenheit den Menschen als ein endgültig verschwundener
[und im übrigen sehr enger] Bereich des Universums erscheinen, ein verlorenes Land, von dem
man niemals viel mehr erfahren würde, als was die mündlichen Überlieferungen und einige alte
Bücher bewahrten.
Nun aber wurde, vor allem dank der Geologie, nach und nach eine wissenschaftliche Methode
erarbeitet, die erlaubte, in dem, was ist, die Spuren zu entdecken und zu analysieren von dem,
was gewesen ist. Die Akkommodation (267) unserer Augen hat sich dadurch geändert, und wir
sind fähig geworden, zurückzuschauen. Und so hat sich unter unseren Füßen der Abgrund der
Vergangenheit aufgetan, den Pascal noch keineswegs vermutete. Genau wie bei der Entdeckung
des Mikroskops und des Teleskops, genau wie in den ersten Zeiten der Spektralanalyse und der
Strahlungen fiel eine Mauer, hinter der eine ganze Abteilung der Welt auftauchte – unbetreten.
Von diesem leeren Raum angezogen, hat sich der Geist hineingestürzt und er stürzt sich noch
weiter hinein. So entstand die Geschichtswissenschaft in ihrer Fülle. Das geringste Tier, das über
ein Feld läuft, der geringste Stein, der herumliegt, sind für die Naturforscher ebenso fern und
ebenso kompliziert geworden wie für den Astronomen das Licht eines Sternes.
Wieviel Energie und Geld wird heute zur Erforschung der verflossenen Jahrhunderte
aufgewendet! Wie viele Ausgrabungen, Abhandlungen, Museen! Wieviel Menschen beugen sich
ihr Leben lang über das, was vor uns gewesen ist! Weshalb fahre ich selbst in diesem Augenblick,
da ich diese Zeilen schreibe, über das Meer zu den Hängen, wo unter den gefalteten Resten des
aufsteigenden Himalaja vielleicht die Spuren einer primitiven Menschheit begraben sind?
Welche Kraft treibt mich wieder einmal mehr nach Asien, wenn nicht der Hauch, der vom
gegenwärtigen Leben in die Abgründe der Vergangenheit hinabsteigt?
Doch weshalb dann in dem mich beseelenden Entdeckerwillen dieses uneingestandene Zaudern,
das ich fühle, mich mitziehen zu lassen? Man täuscht sich nicht in einer Energie, die absinkt, in
einer Liebe, die schwächer wird. Doch an derartigen Zeichen ahne ich, daß die Hingabe meiner
selbst an die Wissenschaft nicht mehr ebenso natürlich, ebenso vollständig ist wie früher. Wäre
119
es möglich, daß ich erschlaffe? Oder wäre es nicht vielmehr so [denn meine Liebe zur Welt ist
unversehrt], daß, da der durch die Öffnung (268) der Vergangenheit geschaffene Unterdruck sich
nach und nach auffüllt, der Bewußtseinsstrom, dessen Fluten mich nach hinten trugen, dahin
strebt, sich umzukehren? Die Expansion des Geistes ist je nach den Achsen vielleicht nicht gleich
dauerhaft oder wertvoll. Und damit wäre es für die menschliche Energie ein Fehler, versteifte sie
sich auf eine Richtung, die ausgeschöpft wird. Für die Geschichtsforschung ist wahrscheinlich
der Augenblick gekommen, sich selbst die wesentliche Frage zu stellen: «Was gab es? Was gibt
es noch? Was wird es morgen noch an derart Lebenswichtigem in der Vergangenheit zu
entdecken geben?»
B. DER ZAUBER DER VERGANGENHEIT
Der Zweifel, der mir diese Seiten diktiert, hat gewiß nicht den Geist der Pioniere der Geschichte
berührt.
Als von den Gipfeln aus, auf die ihn die Zeit getragen hatte, der Mensch, da er sich umkehrte, sich
plötzlich imstande sah, die Ausdehnung der Zeitalter zu erkennen, hat er, so kann man sagen, die
Erregung eines Kolumbus angesichts eines neuen Kontinents verspürt. Die ganze Frische, das
Geheimnis und die unbegrenzten Hoffnungen der anfänglichen Entdeckung.
Ein erster Zauber der Erforschung der Vergangenheit ist die Auffrischung, die sie unserer
Erfahrung bringt. Es wird auf die Dauer derart ermüdend, um uns herum immer dieselben
Horizonte, dieselben Klimata, dieselben Tiere zu sehen! In die Vergangenheit vordringen heißt,
das Wonderland besuchen.
In dem Maße, wie man zurückgeht, wandelt sich der Schauplatz, und die Schauspieler wechseln,
wie es auf keiner Reise vorkommt. Die Berge stürzen sich in den Ozean und andere tauchen
inmitten der Ebenen auf. Die Wälder (269) bevölkern sich mit wunderlichen Hölzern. Und diese
neue Erde durchziehend, tauchen Tiere auf, so wirklich wie ein wissenschaftliches Faktum und
so phantastisch wie ein Traum. Erneuerung, Staunen, Exotik.
Sehen, um zu bewundern. Aber auch sehen, um zu haben. Der Mensch, der zum erstenmal den
Dschungel betritt, gibt sich nicht damit zufrieden, zu schauen. Er will mit den Händen und mit
dem Geist ergreifen. Halten. Nun, gerade diesen Beutetrieb befriedigt außer dem Bedürfnis nach
Änderung die Vergangenheit in uns. Alles, was wir in der Asche der Städte oder in dem
verfestigten Schlamm der Erde aufwecken, ist eine Beute, in der sich unser Instinkt des
Größerwerdens gefällt: ergreifen und begreifen. Was die Mannigfaltigkeit und die Schönheit der
Trophäen angeht, ist keine Jagd den Nachstellungen der Geschichte vergleichbar.
Jagd, sagte ich. Doch weshalb von Jagd sprechen? In unseren Tagen zumindest ist Jagen zu einer
Fiktion, zu einem Sport, einer leeren Geste geworden, in der sich um eines Nichts willen das
Nachstellbedürfnis befriedigt. Für die ersten Erforscher der Vergangenheit war durchaus im
Gegenteil der Urwald, in den sie sich hineinwagten, mit unendlich dramatischen Möglichkeiten,
Erwartungen geladen. Früher, bevor die Geographie die Erde eingekreist hatte, mußte ein
wirkliches Geheimnis über den unbekannten Gegenden der Erde schweben. Wer weiß, ob die
Gottheit nicht auf den Gipfeln ferner Berge, an der unzugänglichen Quelle der Flüsse wohnte?...
Wir lächeln seit langer Zeit über diese Naivität. Doch was offensichtlich keine Reise durch den
Raum aufzudecken vermochte, sollte das nicht ein Eintauchen in die Zeit erreichen? Sollte das
Rätsel des Universums sich nicht lösen, wenn es uns gelänge, die Wiege des Lebens
wiederzufinden? Das ist, so glaube ich [da ich es selbst verworren gespürt habe], die geheime
(270) Anziehungskraft, die letzten Endes die Woge geschichtlicher Forschung emporgehoben hat.
120
Später, davon bin ich überzeugt, wird die Bewegung, die unsere Generation zu den Gestaden der
Vergangenheit trieb, als ein rush zu einem Eldorado erscheinen, das ein endgültiges Wissen
verhieß. Wir sind in die Vergangenheit nicht als Amateure, sondern als Konquistadoren
aufgebrochen, um die Lösung der Welt verborgen in ihren Ursprüngen zu entdecken.
C. DAS AUFTRETEN DER ZUKUNFT
Doch die Natur ist eine große Spötterin. Wenn wir sie zu halten glauben, führt sie uns.
Als also die Menschen, nachdem sie das Mittel gefunden hatten, die Vergangenheit zu
analysieren, mit langer Geduld Fakten in Menge gesammelt hatten, und als sie noch geduldiger
diese Fakten entsprechend ihrer natürlichen Position in der Tiefe der Zeitalter verteilt hatten,
schauten sie hin, um sich zu vergewissern, daß die so gebaute Straße ihnen wirklich erlaubte,
Zugang zur ursprünglichen Essenz der Welt zu erhalten. Doch etwas ganz anderes sprang ihnen
in die Augen. Da staunten die Astronomen, als sie, nachdem sie die Sterne auf ihren jeweiligen
Ort am Firmament verteilt hatten, feststellen mußten, daß der Sternenstaub einen
unermeßlichen Strudel beschrieb. Noch betroffener waren die Erforscher der Vergangenheit, als
sie aus den geschickt geordneten Tierreihen die Gestalt einer Bewegung aufleuchten sahen, in
die sie und sogar ihre Wissenschaft hineingenommen waren. Die belebte Welt scheint für den
Beobachter einer dünnen Schicht der Gegenwart an Ort und Stelle zu schlafen oder zumindest,
falls sie sich ausbreitet, so durch Vermannigfaltigung gemäß irgendeinem ungefährlichen
allseitigen Sich-Ergießen. Doch hier (271) setzt sich diese gewaltige Masse, wird sie in genügender
Tiefenausdehnung gesehen, in Bewegung in eine bestimmte Richtung. Eine auf dem Wege sich
befindende Bewußtseinswoge säumte den Bug des Universums. Und in dem unseren
Forschungen zugänglichen Bereich war diese Woge die Menschheit.
Recht bedacht ist es zweifelhaft, ob in der Geschichte des Menschen jemals ein natürliches
Ereignis eingetreten ist, das dieser Entdeckung einer Bewegung der Welt nicht mehr in
irgendeinem materiellen Milieu, sondern durch das Sein selbst hindurch vergleichbar ist. Dieser
Gedanke, daß das Universum, das teilweise seinen Ausdruck in unseren individuellen
Bewußtheiten hat, in jedem Augenblick einen entitativen Zuwachs erfährt, der ihm eine, im
Vergleich zu ihm selbst, höhere Qualität verleiht, ist so großartig und so folgenreich, daß wir
eben gerade erst anfangen, ihn uns anzueignen. Es gibt wahrlich keinen Bereich des Denkens, in
dem diese neue Perspektive, die viel revolutionärer ist als die Relativität, nicht fruchtbare
Änderungen einführte. Kein Ätherwind, sondern Bewußtseinswind! Wir hatten uns derartig
daran gewöhnt zu glauben, alles habe ein für allemal zu existieren begonnen, mit einem
Schlage!...
Es ist nicht meine Absicht, hier die allgemeinen Voraussetzungen dieser Neuausrichtung zu
untersuchen. Meine Untersuchung interessiert hier nur die Analyse der Wirkung des
unerwarteten Ergebnisses, zu dem sie ihre Schritte geführt haben, auf die Geschichte selbst. Da
es zur Erforschung der Vergangenheit aufgebrochen war, hat das Bewußtsein unversehens die
Zukunft entdeckt. Da es sich über das neigte, was zu existieren aufgehört hatte, traf es auf eine
Strömung, die es unwiderstehlich in Richtung dessen zurückwarf, was noch nicht ist. Wie wird
es auf diese entgegengesetzten Einflüsse reagieren? (272)
D. DIE VERSCHWINDENDE FATA MORGANA
Als ein erstes Ergebnis lässt das Auftreten der Zukunft die Morgenröte verblassen, die wir hinter
uns schimmern zu sehen glaubten. Der wesentliche Zauber der Fahrt in die Vergangenheit war,
121
so sagten wir, die Hoffnung, einer Lichtquelle nahe zu kommen. Jetzt ist die Illusion nicht mehr
erlaubt. Nach rückwärts verfolgt, verblassen, verwischen, verwirren sich die zeitlichen Reihen.
Zunächst durften wir hoffen, das wäre eine Unzulänglichkeit unserer Forschungsmittel, der
abzuhelfen wäre. In Wirklichkeit stießen wir uns an einer strukturellen Gegebenheit des
Universums. Die Strahlen, die uns umgeben, divergieren nicht aus der Vergangenheit, vielmehr
konvergieren sie in Richtung der Zukunft. Die Sonne geht vor uns auf.
Ein Widerschein des Vorn also, die leuchtenden Flecken, die wir über den Ursprüngen schweben
sahen.
Und ein Widerschein auch der Eindruck der Neuheit, der uns erfaßte, da wir in das Geheimnis
der verschwundenen Dinge eindrangen.
In gewissem Sinne enthalten die verflossenen Jahrhunderte kein Geheimnis, und es gibt in ihnen
nichts, das sie uns geben könnten. Die Vergangenheit ist überholt.
Damit ist in letzter Instanz jede Haltung verurteilt, die der Rückschau explizit oder implizit einen
absoluten Wert beimißt. Trügerisch ist die Freude an der Auferweckung alter Zivilisationen und
verschwundener Welten. Biologisch falsch ist die Tendenz, die uns dazu neigen lassen möchte,
mit dem Geist oder mit dem Herzen in die Rahmen, in die Kunst, in das Denken früherer Zeiten
zu emigrieren. Morbid unsere Sehnsucht nach den vergangenen, nicht wiederkehrenden
Wintern. Was gewesen ist, hat in sich kein Interesse mehr. Voran!
Voran!!... Doch was bleibt dann noch an Legitimem in (273) dem Feuereifer, der uns einen
Augenblick lang zur Eroberung des immer Älteren getrieben hat? Sollte die Geschichte, da sie
unsere Trift in die Zukunft entdeckte, in sich selbst den Schwung getötet haben, der sie leben
ließ? Muß sie wie eine Pflanze sterben, indem sie ihre Frucht bringt? Ich begreife jetzt das
anfängliche Zögern, dessen verschwommene Unruhe mich dahin brachte, diese Seiten zu wagen.
Was bleibt logisch einem Evolutionisten, das ihn noch mit einem vitalen Interesse an die
Erforschung der Vergangenheit fesseln könnte?...
E. DIE VERBLEIBENDE AUFGABE DER GESCHICHTE
Was mich betrifft, so muß ich bekennen: Seitdem die Existenz eines entitativen Wachstums der
Welt mir wissenschaftlich erwiesen scheint, scheint mir die Freude, die man an der Entzifferung
der Archive der Erde finden kann, abzunehmen. Was soll man noch weiter von den toten Dingen
verlangen, über ihr Zeugnis zugunsten der noch offenen Möglichkeiten für die Fortschritte des
Lebens hinaus? Und doch muß man auch anerkennen, trotz gewisser Anzeichen der
Verlangsamung ist die Retro-Expansion des menschlichen Bewußtseins noch zu machtvoll, als
daß man darin ein bloßes Wirken der Trägheit sehen könnte. In dieser Richtung leisten wir
gewiß noch mehr und Besseres, als nur unser Schiff auslaufen zu lassen. Was bleibt uns also
noch, außer der Existenz einer Zukunft, in der Vergangenheit zu entdecken?
Die den Erforschern der Vergangenheit noch obliegende Aufgabe scheint mir zunächst die
Konsolidierung eben der Position zu sein, die wir eingenommen haben. Der Durchbruch in die
Zukunft ist geschaffen, das stimmt, doch muß (274) er expliziert werden. Denn auf einen
Menschen, der die tiefe Lehre der Geschichte begriffen hat, kommen Dutzende anderer, die noch
die alte Illusion bewahren! Beweise, immer mehr Beweise für die Bewegung, die uns nach vorn
mitreißt: das wird für den endgültigen Erfolg des Angriffs verlangt. Der Aufweis eines neuen
Gesichtspunktes ist keine augenblickshafte Erleuchtung, rasch wie ein Blitz. In einem gewissen
wahren Sinne habe ich sagen können, die Zukunft sei uns bereits, und zwar endgültig,
erschienen. Doch muß man in einem anderen Sinne auch hinzufügen, daß der neue Stern noch
122
nicht ganz über unserem Horizont aufgegangen ist. Der Erwerb des Sinns für die Zukunft ist ein
beseeltes biologisches Phänomen eigener Dauer: Bevor es sich auf sein Totalsubjekt: die
Menschheit, ausdehnt, werden vielleicht viele Generationen vergehen. Und diese ganze Zeit
hindurch muß das Bemühen der Geologen, der Paläontologie, der Vorgeschichte
aufrechterhalten werden.
Soweit zur grundsätzlichen Arbeit. Aber subsidiär dazu gibt es noch viele andere Aufgaben. Die
eigentliche Funktion der Geschichte, das fühlen wir jetzt, besteht darin, den Experimenten der
Wissenschaft eine genügende Dicke der Gegenwart zu liefern. Die Gegenwart im
umgangssprachlichen Sinne des Wortes ist eine äußerst dünne Schicht der Dauer. Die sehr
kurzen Wellenbewegungen hinterlassen dort ihre Spuren. Die langsamen Rhythmen dagegen
können sich dort nicht klar einzeichnen, und die seltenen Besonderheiten sind dort völlig
ungreifbar. Erscheint das Wasser, in einer dünnen Schicht beobachtet, nicht durchsichtig? Und
läuft nicht jede beliebige Kurve, wird von ihr ein sehr kleines Segment genommen, Gefahr,
gerade zu scheinen? Weil es ihnen gelungen war, eine Gegenwartsschicht großer Dicke zu
konstruieren, so haben wir oben gesehen, haben die Naturforscher akzidentell die (275)
Verschiebung des Universums durch das Bewußtsein hindurch sichtbar werden lassen. Durch
Anwendung derselben Methode werden wir wahrscheinlich noch andere große Fortschritte in
der Analyse der Energien zu verwirklichen haben, die uns jetzt beseelen und mitreißen.
Zahlreiche wesentliche Modalitäten in der Evolution des Bewußtseins im Schoße der Natur
entziehen sich uns noch. Was wissen wir zum Beispiel wissenschaftlich über die beiden
kritischen Hauptpunkte, die durch das Auftreten der ersten Organismen und des ersten Denkens
auf der Erde gekennzeichnet sind?
Wahrlich, man entstellt die Geschichtswissenschaft, wenn man in ihr wer weiß was für ein
Unternehmen sieht, das aufgezogen wurde, um die auf den Schlachtfeldern des Lebens
zurückgelassenen oder verlorenen Wahrheits- und Schönheitspartikeln wiederzugewinnen.
Diese Dinge könnten an sich ruhig verschwinden, ohne daß wir damit viel verlören. Was aber für
das Sein, das in unseren Bewußtheiten wächst, höchst wichtig ist, ist, daß wir möglichst viel
Fäden und Triebkräfte der gegenwärtigen Welt, angefangen von den unermeßlichsten und
langsamsten, fest in unseren Händen vereinigen. Die Vergangenheit hat bereits jetzt aufgehört,
ein Garten für Neugierige oder ein Kaufhaus für Sammler zu sein. Ihr Studium hat nur Wert und
wird sich selbst nur überleben als eine Abteilung der Physik des Universums.
F. FRÜHLING
Und jetzt, so groß auch die der Geschichtswissenschaft geöffneten Hoffnungen noch sein mögen,
wie lange Zeit werden die Dinge noch so weitergehen? Werden wir immer noch im
Zurückliegenden etwas haben, das uns anzieht und uns beschäftigt? Oder aber wird, wie im Falle
der geographischen (276) Erforschung der Erde, eine Zeit kommen, da wir, nachdem wir die Dinge
gründlich durchgegangen sind, spüren werden, daß der Augenblick gekommen ist,
haltzumachen?
An sich erscheint selbstverständlich die Vergangenheit im Unterschied zu unserem runden
Planeten unbegrenzt. Wie das Kielwasser eines Schiffes entfalten sich die Reihen, aus denen sie
sich zusammensetzt, unendlich hinter dem Heck des fahrenden Universums. Und doch ist in
diesem Fächer, dessen Rippen hinter uns divergieren, so weit das Auge reicht, nicht alles
unserer Forschung gleich nützlich oder zugänglich.
Zunächst ist der Teil, der uns am meisten interessiert, ich meine die Entwicklung des Lebens
[und insbesondere die des reflektierten Bewußtseins] wirklich nicht groß. Kosmisch gesprochen
123
ist die Menschheit noch ganz jung. Was sind einige zehn oder sogar einige hundert Jahrtausende,
um in ihren kürzesten Oberschwingungen die Kurve des Denkens zu studieren? In diese
Richtung können wir nicht lange hinabtauchen, ohne auf den Grund zu stoßen.
Weiterhin treten gewiß mit der Entfernung Verdunkelungen ein, die isoliert zufällig erscheinen
könnten, die aber insgesamt genommen eine Art Absorbierung der Sichtbarkeit der Gegenstände
durch die Zeit verraten. Alle Historiker haben das eigenartige Phänomen bemerken können,
kraft dessen bis in uns benachbarte Epochen hinein die Ursprünge der Organismen, der
Gesellschaften, der Institutionen, der Sprachen, der Ideen, sich unserem Zugriff entziehen, als ob
die wesentlich flüchtige Spur dieser Embryonalzustände automatisch ausgelöscht würde. Auf
sehr weite Entfernungen laufen Ereignisse größerer Dimensionen Gefahr, für unsere Augen
ihrerseits zu verschwinden, und zwar auf eine Weise, die durch kein Instrument ausgeglichen
werden könnte. (277)
Was finden wir schließlich selbst in den günstigsten Fällen in der Vergangenheit, das nicht
erstarrt, verflüchtigt, all dessen beraubt wäre, was es zum unerschöpflich Wirklichen machte?
Aus all diesen Gründen könnte ein Bereich, der zunächst für die Expansion des Bewußtseins
grenzenlos erschien, sich schließlich sättigen. Noch einmal, ist das nicht genau der Eindruck, auf
den ich zu Beginn dieser Seiten hinwies?
Je mehr ich an diese Dinge denke, desto mehr sehe ich [ohne jeden Pessimismus, vielmehr eher
mit einem Aufquellen der Hoffnung] vor meinem Geist die Möglichkeit einer Erschöpfung der
Vergangenheit wachsen. Gewiß, lange Zeit hindurch noch werden wir die Spuren der Geschichte,
eine um die andere, untersuchen müssen: Es ist derart schwierig, die Gewißheit zu haben, daß
der einzige Gegenstand, den man vernachlässigt, nicht eben gerade der wichtigste ist! Beständig
werden übrigens die Fakten, die die wissenschaftliche Forschung für immer in das menschliche
Gedächtnis eingeschrieben hat, neu durchdacht und neu angeeignet werden müssen, nach dem
Maße neuer Konzeptionen. In diesem Sinne wird die Vergangenheit fortfahren, unaufhörlich neu
gefunden zu werden. Doch für jene, die lange Zeit nach uns kommen werden, werden diese
Größen, deren Eroberung uns so viele Mühe kostet, ebenso selbstverständlich sein wie für uns
das Alphabet oder das Geheimnis der Sterne. Die Zeit der Entdeckung und der Erforschung der
Vergangenheit wird beendet sein.
Zu diesem Zeitpunkt wird der Mensch, vielleicht ohne etwas von seinem Bewußtsein der
Kosmogenese, in die er hineingenommen ist, zu verlieren, das Gewicht der Museen, der
Sammlungen, der Bibliotheken verringern können. Fest auf die Achsen gestützt, die ihm geholfen
haben, die Geschichte zu bestimmen, wird er das Recht haben, (278) sein ganzes Bemühen der
Unterscheidung und dem Gebrauch der lebenden Energien zuzuwenden, die ihn umgeben.
Und das wird dann die Jahreszeit des restlos auf ein Voran gerichteten Marsches sein, das
seinerseits keine Grenzen kennt.
Der Mensch wird dann endlich das wesentliche Wort begriffen haben, das ihm die Ruinen, die
Fossilien, die Asche zuflüsterten: «Nichts lohnt die Mühe, gefunden zu werden, denn das, was
noch nie existiert hat. Die einzige unseres Bemühens würdige Entdeckung ist, die Zukunft zu
bauen.»
Études, 20. November 1935; Rotes Meer, 15. September 1935. (279)
124
XIV
DIE NATÜRLICHEN MENSCHLICHEN EINHEITEN
Versuch einer Biologie und einer Moral der Rassen
EINFÜHRUNG – DAS ERWACHEN DER RASSEN
Das neunzehnte Jahrhundert schien mit einer von der menschlichen Masse erreichten Phase
allgemeinen Gleichgewichts zu Ende zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt, ‹vor dem Kriege›,
erweckten die verschiedenen über die Erde verbreiteten politischen und ethnischen Gruppen
den Eindruck, dauerhafte Kontaktlinien und eine endgültige innere Stabilität gefunden zu haben.
Über dieses in etwa kohärente Ganze breitete sich, durch die außerordentlichen Fortschritte der
Wissenschaft begünstigt, rasch das Netz der geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen aus.
Und, das ist noch bezeichnender als diese materielle Koordination der Zivilisation, eine
Atmosphäre der Einswerdung und der Gruppierung überwog in der Welt. Das war die Zeit, in
der die Menschheit in ihrem fortschrittlichsten Teil international dachte und sprach.
Doch in wenigen Jahren scheint sich infolge der Erschütterung von 1914 die Situation völlig
verändert zu haben. Menschliche Blöcke, die man als sicher miteinander verwachsen betrachten
konnte, streben dahin, auseinanderzufallen. Und zwar nicht nur unter der Gewalttätigkeit
äußerer Erschütterungen, sondern auch kraft einer psychischen inneren Auflösung. Prinzip und
Rechte der Nationalitäten, die impulsiv als Prinzip und Rechte der Rassen interpretiert werden,
bringen nicht nur Nachbarn, von denen man gestern noch glaubte, sie verstünden sich, in wilden
Gegensatz zueinander; vielmehr bringen sie in den (281) Kern der alten Staaten die seltsamsten
Spaltungsfermente. Als ob die menschliche Masse im Widerspruch zu den äußeren Bedingungen,
die sie immer gebieterischer in sich selbst zusammendrängen, im Inneren dadurch reagierte,
daß sie zerfällt.
Dieses unerwartete Phänomen, das uns in der gegenwärtigen Stunde auf so tragische Weise
umgibt, möchte ich im von der allgemeinen Geschichte des Lebens erborgten Lichte ein wenig zu
erhellen versuchen. Es genügt, um sich zu überzeugen, zu beobachten, welche Hingabe und
welchen Haß sie weckt: die gegenwärtige Krise der Nationen ist keine rein künstliche, nicht
einmal eine streng rationale Bewegung; und es ist keineswegs eine bloße Ausflucht, wenn die
Herren der Stunde ihre Exzesse mit der Berufung auf die natürlichen Erfordernisse gewisser
menschlicher Gruppen zu rechtfertigen suchen. Ein elementarer Instinkt wirkt oder wirkt von
neuem in diesem Augenblick in den menschlichen Tiefen. An der Wurzel des Erwachens der
Rassen befinden wir uns mitten im Biologischen.
Wenden wir uns also an die Biologie – jedoch an eine den Dimensionen der menschlichen
Größenordnung angemessene Biologie –, um zu versuchen, das, was vorgeht, zu begreifen und
zu lenken.
Ursprung und Bedeutung der Rassen im Leben allgemein. In der Menschheit von dem rassischen
Phänomen, indem es sich hominisierte, angenommene Form. Wahrscheinliche Funktion der
Rassen in der Menschheit.
Haben wir diese drei Punkte nacheinander behandelt, werden wir in der Lage sein, mit einiger
Wahrscheinlichkeit die Bedeutung der gegenwärtigen nationalistischen Bewegung in der
menschlichen Geschichte zu beurteilen – und schließlich auch in großen Zügen eine Moral der
Völker zu skizzieren. (282)
125
I. DIE VERZWEIGUNGEN DES LEBENS
Mir scheint nicht, man könne das Problem der menschlichen Rassen angehen, ohne zuvor ein
Faktum zu studieren, an das wir derart gewöhnt sind, daß wir aufgehört haben, uns darüber zu
wundern: ich meine das innere Ausbreitungs- und Teilungsvermögen, das die lebende Substanz
charakterisiert. In der Welt um uns herum verteilen Pflanzen und Tiere sich morphologisch
entsprechend einer baumförmigen Zeichnung, deren Linien zu entwirren das Leben der
Naturforscher seit Linné ausfüllt. Doch offensichtlich stellt dieses komplizierte Gefüge
ebensowenig eine ursprüngliche Anordnung der Natur dar wie das Netz der Wasserläufe, die
das Becken eines großen Flusses entwässern. Niemand zweifelt mehr daran. Das dichte
Faserwerk der von der Wissenschaft mit viel Geduld in die Rahmen der Systematik verteilten
tierischen und pflanzlichen Formen ist also nicht etwas fix und fertig Gegebenes. Es hat sich
schrittweise herausgebildet. Das Leben breitet sich also wie ein Formenfächer aus, von dem jede
Rippe möglicherweise einen anderen Fächer hervorbringen kann und so unendlich weiter. Es
verzweigt sich. Beobachten wir die Einzelheiten dieses Phänomens näher.
Wenn der Physiker die Form und die Verbreitung einer Welle studieren will, hält er sich
zunächst an die Bewegung eines inmitten des vibrierenden Milieus isoliert genommenen
Moleküls; und er errechnet so die Elementarschwingung oder -welle, deren ‹Summierung› zur
Kenntnis der Gesamtwelle führen muß. Im Falle des in Expansion befindlichen Lebens wird das
Elementarphänomen durch das numerische Anwachsen der Lebewesen im Augenblick der
Fortpflanzung dargestellt. Jedes Lebewesen ist fähig, mehrere andere Lebewesen zu gebären, die
zugleich von ihm und untereinander verschieden sind. Vermehrung (283) und
Vermannigfaltigung: die doppelte Eigenschaft, durch die in seinen äußeren Bekundungen das
Leben definiert wird. Um diese reine Erfahrungstatsache zu erklären, stellen die modernen
‹Genetiker› sich vor, die Keimzellen teilten im Laufe der Teilung, die sie individualisiert, nach
den Gesetzen des Zufalls eine gewisse Zahl von Charakteren oder Genen untereinander, die
durch ihre Gruppierung auf den Fäden des Zellkerns das ‹Keimplasma› des Individuums
definieren, zu dem sie gehören. Wenn sie sich später je zwei und zwei nähern, um sich zu
befruchten, werfen die von verschiedenen Individuen herkommenden Zellen ihre
entsprechenden Gene zusammen, so daß jede Tochterzelle letzten Endes durch das
Zusammentreffen von Genen determiniert wird, die zunächst bei den beiden Eltern ausgelost
und dann zufällig nach der unvorhersehbaren Laune der Befruchtung vereinigt wurden. Zwei
sich überlagernde Zufälle. Da die Zahl der durch diesen Mechanismus gewährleisteten
Verbindungen unermeßlich ist, begreift man, daß die zahlenmäßige Vermehrung der Lebewesen
in Übereinstimmung mit der Erfahrung mit einer beständigen Modifizierung ihrer
Erscheinungsformen Hand in Hand geht. Mehr noch: das eingehende Studium einer tierischen
oder pflanzlichen Stammreihe über mehrere Generationen hin hat ermöglicht, aufzuzeigen, daß
gewisse sogenannte ‹Mendelsche› Eigenschaften [Farben zum Beispiel] sich wirklich auf die
Individuen [vorausgesetzt, daß man berücksichtige, daß die Gene einander dominieren können]
entsprechend einem vorhersehbaren Wahrscheinlichkeitsgesetz verteilen. Es war wichtig,
beiläufig auf diese ‹genetische› Theorie hinzuweisen, denn sie bildet die Grundlage der
modernen Wissenschaft von den Rassen; doch ich beeile mich, hinzuzufügen, daß sie, wie wir
sehen werden, weit davon entfernt ist, alle Besonderheiten zu erklären, die der Baum des
Lebens aufzeigt. (284)
Gehen wir jetzt über das Elementarphänomen der Fortpflanzung beim Individuum hinaus, um
den Fall einer ganzen in Evolution befindlichen lebenden Gruppe ins Auge zu fassen. Gehen wir
vom schwingenden Molekül zur Welle über. Was wird am Ende dieser ‹Integration› in
126
Erscheinung treten? Die von der Zoologie aufgezeichneten Stammbäume zeigen meistens lineare
Figuren. Das ist eine Schwäche, die verrät, wie schwer es uns fällt, das Zusammenspiel der
Gruppen zu begreifen und uns vorzustellen. In Wirklichkeit hat jede Transformation lebender
Formen als Subjekt keineswegs eine enge Gruppe, eine Linie, sondern eine Vielheit, ein Volumen
von Individuen. Die Metamorphosen des Lebens zeichnen sich in der Natur ab und vollziehen
sich in ihr in der Weise von Strömungen in einer Flüssigkeit. Es sind Massenbewegungen
innerhalb einer beweglichen Masse. Wie wird in die Größenordnung der Großen Zahlen das
vermehrende und vermannigfaltigende Spiel der Geburten übertragen? Wenn die Genetiker
restlos recht hätten, das heißt, wenn das Auftreten neuer Typen einem rein statistischen Gesetz
gehorchte, müßte man erwarten, daß sich ein Kontinuum buntscheckiger Typen bilde, in dem
alle Möglichkeiten entsprechend ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad vertreten wären. Doch das in
der lebenden Welt festgestellte Ergebnis ist nicht dieser Art.
Erstens verteilt sich die totalisierte Masse der individuellen Stammlinien, weit davon entfernt,
sich gleichmäßig in eine Art homogenen Netzes auszubreiten, entsprechend einer gewissen Zahl
von Vorzugsachsen, die besondere Lebensfähigkeits- oder Stabilitätsbedingungen darstellen:
ähnlich dem von einem Gewitter ausgeschütteten Wasser, dessen Schicht sich auf dem Boden in
eine Reihe verschiedener Rinnsale bricht. Unter dem Einfluß schlecht bestimmter äußerer oder
innerer Ursachen bildet die Vielheit elementarer (285) Gruppen, die durch den Mechanismus jeder
neuen Generation im Umlauf gesetzt wird, indem sie sich addieren, ein geordnetes und
differenziertes Ganzes. Dank einer geheimnisvollen, an dem Produkt der Generation geübten
Auslese treten bestimmte Gruppenbildungen, Typen auf: keineswegs ein Nebel von Individuen,
sondern Konstellationen von zoologisch katalogisierbaren Formen.
Und das ist nicht alles. Unter den so aufgetretenen kollektiven Typen scheinen gewisse [die
sogenannten Mendelschen Arten] starre oder sogar reversible Konstruktionen darzustellen.
Andere dagegen [die wirklichen Arten] verhalten sich nicht in der Weise träger Aggregate. Sie
zeigen sich vielmehr als mit einer Art eigener Vitalität begabt, die die Summe der durch das
weitergehende Spiel der Geburten in ihrer Mitte später aufgetretenen individuellen Variationen
in eine bestimmte Richtung lenkt. Eine in den ersten Generationen eingeleitete Veränderung
prägt sich im Laufe der folgenden Generationen immer mehr aus. Gewisse Finger bilden sich
zurück ; die Zähne komplizieren sich; das Gehirn nimmt zu. Das ist das seltsame, von der
Wissenschaft unter dem Namen Orthogenese festgehaltene Phänomen, angesichts dessen nach
so viel anderen mechanistischen Versuchen [natürliche Auslese und andere] die Theorie der
Gene scheitert. Gewisse lebende Gruppen sind polarisiert. Oder noch besser: sie ‹wachsen›. Auf
diese Weise zeigt sich die Tendenz zur Bildung der ‹Phyla› der Paläontologen – das der Pferde,
der Rhinozerosse, der Kamele… – Strömungen der lebenden Masse, längs deren ein Ganzes
anatomischer [und physischer!] Besonderheiten kontinuierlich in derselben Richtung wächst.
Als ob die wahrhafte Definition der Vererbung weniger in der Übertragung gewisser immer
schon gegebener Charakteristika zu suchen wäre als in der Entwicklung irgendeines Elans nach
vorn… (286)
Und so entstehen und breiten sich die Triebe des Lebens aus. Fügen wir einfach noch zu den
vorgenannten Faktoren den Begriff des Divergenzwinkels zwischen embryonalen Phyla hinzu,
und wir haben alle notwendigen Elemente in Händen, um in ihrem feststellbaren Mechanismus
die Verzweigung der lebenden Formen zu erklären. Am Ursprung sind die ‹Rinnsale des Lebens›
in gewisser Weise nur virtuelle getrennt. Ihre Elemente können sich noch von einem Rinnsal
zum andern an den Rändern begegnen und befruchten: das sind die von der subtilsten
Systematik erkannten Rassen oder Unterarten. Dann nimmt, in vielen Fällen von der
geographischen Isolierung begünstigt, die Divergenz zu. Die dauerhafte gegenseitige
127
Befruchtung wird unmöglich. Das ist die Art. Dann nimmt der morphologische Abstand noch
mehr zu. Zwischengruppen sterben aus, während neue Rinnsale [Rassen und Unterarten zweiter
Ordnung] sich auf der ihrerseits Mutter gewordenen Art bilden und divergieren. Das ist die
Gattung, dann bald die Familie, und danach die Ordnung… und so weiter. Durch das
Zusammenspiel von Wachstum und Divergenz ist die Knospe zum Trieb geworden; der Trieb
zum Zweig; und schließlich hat der Zweig die Ausmaße eines wirklichen Stamms angenommen.
In dieser allgemeinen, für den ganzen Bereich der Biologie gültigen Sicht wollen wir die drei
folgenden Punkte fixieren und festhalten, auf die sich das weitere, was ich sagen will, stützt:
1. Gerade durch das Spiel der Fortpflanzung erhält sich das Leben und schreitet es voran, indem
es sich verzweigt;
2. Die ‹Rasse› bildet den ersten nennenswerten Grad bei dieser Verzweigung. Man kann sie als
ein virtuelles oder entstehendes Phylum betrachten, das noch nicht die Fähigkeit verloren hat,
sich mit den Elementen des Triebs zu kreuzen, von dem es sich herleitet; (287)
3. Kraft des Verzweigungsmechanismus, der sie hat entstehen lassen, individualisieren sich die
morphologischen Gruppen aller Größenordnungen, die in der Natur aufgetreten sind, im Maße
ihres Wachstums. An ihrem Ursprung mehr oder weniger unscharf und verschwommen,
determinieren sie sich immer mehr im Laufe ihrer Isolierung. Es wäre also vergeblich, zu
versuchen, sie am Ausgangspunkt zur Aussage zu bringen. Die Reinheit einer Art oder einer
Rasse [ausgenommen den Sonderfall einer Mendelschen Gruppe] kann also nur in ihrem Erfolg
und in bezug auf ihr Endglied, das heißt nach vorn, definiert werden.
Wir können nunmehr unsere Aufmerksamkeit auf den Sonderfall konzentrieren, der das Objekt
dieser Studie bildet, das heißt, auf das Problem der Rassen innerhalb der Menschheit.
II. DIE VERZWEIGUNGEN DER MENSCHHEIT
A. DIE EXISTENZ
Zoologisch gesprochen stellt die Menschheit eine außergewöhnliche und seltsame Gruppe dar.
Anatomisch kaum von den anderen Primaten geschieden, innerhalb ihrer selbst stark
differenziert, ohne aufzuhören, wechselseitig fruchtbar zu sein, verhält sie sich auf Grund ihrer
psychischen Charakteristika als ein höheres besonderes Stockwerk im allgemeinen Gebäude des
Lebens: wie eine neue Welt. In gewissem Sinne verlängern sich alle Besonderheiten und Gesetze
der organisierten Materie in ihr und sind in ihr erkennbar. Doch in gewissem Sinne erfahren
diese verschiedenen biologischen Eigenschaften auch in ihr eine tiefgreifende Umschmelzung
und Neuanpassung. (288) Um den Menschen zu begreifen, darf man nie die für die
vormenschlichen Formen gültigen allgemeinen Entwicklungs- und Funktionsbedingungen aus
dem Auge verlieren. Doch muß man sich zugleich auch immer daran erinnern, daß diese
Bedingungen sich in ihm nur im vermenschlichten Zustand wiederfinden.
Nachdem dies gesagt ist, kann es keinen Zweifel darüber geben, daß das Phänomen der
Verzweigung, das so wesentlich an die Expansion des pflanzlichen und tierischen Lebens
gebunden ist, weiterhin in der menschlichen Masse wirkt. Und tatsächlich erscheint dieses
Wirken der Erfahrung, selbst der gewöhnlichsten, als offensichtlich. Zu allen Zeiten haben die
Menschen gefühlt und erkannt, daß sie zu verschiedenen großen Familien gehörten und daß
diese Familien in gewissen Grenzen einander näher kamen oder divergierten, sich verbanden
oder sich bekämpften: Völkerwanderungen, Bündnisse, Kriege… Um mehr oder weniger
verworren das organische ‹somatische› Substrat dieser verschiedenen Gruppe zu bezeichnen –
128
untereinander durch die Körpergröße, die Farbe, die Haare, die Augen, das Gesicht
verschiedener Gruppen –, hat sich die Gewohnheit durchgesetzt, von Rassen zu sprechen.
In jüngster Zeit haben die Anthropologen aller Richtungen, durch ‹das Erwachen der Rassen›
neugierig gemacht und alarmiert, versucht, die Natur dieser Rassen, von denen alle Welt sprach,
genauer zu erfassen. Und eine ganze Reiche von ihnen glaubte zu dem paradoxen Ergebnis zu
gelangen, es wäre unmöglich, irgendein wissenschaftliches Kriterium zu finden, das erlaubte,
innerhalb der Menschheit natürliche Gruppen zu erkennen und voneinander zu scheiden.
Insbesondere für die Genetiker, die logisch dahin gelangen, die Rasse durch die beständige und
ausschließliche Verbindung gewisser Gene in den Keimzellen zu definieren, wird die
Schwierigkeit unüberwindlich. (289) Da das Auffinden eines Satzes identischer Gene bei mehreren
Subjekten entschieden unwahrscheinlich erscheint, verflüchtigt sich die Rasse: Es gibt nur mehr
einander gegenüber stehende Individuen. Diese als wissenschaftlich hingestellte
Schlußfolgerung erscheint mir eher von einem Sophismus hergeleitet zu sein, dem es nicht einer
gewissen Analogie mit jenem mangelt, durch den Zenon bewies, daß es keine Bewegung gebe. Es
stimmt: im Mikroskop betrachtet, scheinen die Konturen der menschlichen Familie zu
verschwinden. Doch sollte das nicht daran liegen, daß ein Mikroskop gerade das recht gewählte
Instrument ist, um sie für unsere Augen verschwinden zu lassen? In der Wassermasse, die
zwischen den Ufern eines Flusses dahinfließt, bilden sich sekundäre Strömungen, die sich vor
uns verzweigen und winden. Diese Strudel sind so wirklich, daß ihre Launen manchmal unser
Boot gefährlich mitreißen. Versuchen wir jedoch, um sie zu sehen, uns auf die Größenordnung
eines Wassertropfens zu versetzen. Alles verschwimmt. Die Strömungen hören auf,
wahrnehmbar zu sein. Und sogar zwei Wassersträhnen innerhalb ein und derselben Strömung
laufen Gefahr, uns einander fremder zu erscheinen, als wenn man sie in zwei verschiedenen
Strömungen wählte. Was heißt das? Ganz einfach dies, daß auf der Welt nichts wahrnehmbar ist,
es sei denn, man stellt sich ‹auf den Punkt›, um es zu sehen. Als kollektive Entitäten sind die
Rassen nur aus einer gewissen Entfernung sichtbar. Sie treten nur in Gruppen in Erscheinung.
Vergrößern Sie die Menschheit nicht genug: Sie sehen sie nicht gut. Vergrößern Sie sie zu sehr:
sie verschwinden.
Fassen wir zusammen: die Zweige müssen in der menschlichen Art ebensowohl existieren wie in
allen anderen tierischen Arten, weil die menschliche Gruppe, da sie eine lebende Masse bildet,
nur fortbestehen kann, indem sie sich auf divergierenden Linien entfaltet. Und tatsächlich
existieren (290) derartige Zweige, wie ihr vielfältiges, in der gegenwärtigen Stunde soviel
Mißfallen erregendes Aufeinandereinwirken überreichlich beweist. Es wäre also vollkommen
sinnlos, ihre Wirklichkeit zu leugnen, wie auch zu versuchen, sie noch weiter zu beweisen. Das
einzige, worauf es ankommt, ist, ihre genaue Natur zu erkennen, um zu begreifen, was sie
bedeuten und was wir mit ihnen machen können.
Mit anderen Worten: was wird in der Menschheit, da sie sich vermenschlicht, aus der von den
lebenden Formen universell gezeigten Verzweigungsfähigkeit? Das ist die eigentliche Frage. Und
nur diese Frage soll uns von nun an beschäftigen.
B. NATUR
Wenn ich mich nicht täusche, kann man die spezifischen und neuen Eigenschaften, die entweder
in sich selbst oder in ihren wechselseitigen Beziehungen die beständig auf dem großen
menschlichen Ast in Bildung begriffenen morphologischen Zweige charakterisieren, auf zwei
zurückführen. Einerseits unterscheiden sich diese Zweige von allen anderen, früher auf dem
Baum des Lebens erschienen durch die bei ihnen erkennbare Dominanz der geistigen Qualitäten
über die leiblichen Qualitäten [das heißt des Psychischen über das Somatische]. Andererseits
129
bekunden sie ohne merkliche Verminderung bis zu großer Entfernung ein außerordentliches
Vermögen, sich zusammenzuschließen und gegenseitig zu befruchten.
Untersuche wir diese beiden Charakteristika, eines nach dem anderen. (291)
1. Prädominanz des Psychischen über das Somatische in den menschlichen Gruppen
Es ist eine noch offene Frage, die ein eingehenderes Studium verdiente, ob die Bildung der
verschiedenen zoologischen Phyla, die wir katalogisieren, nicht vielmehr auf eine psychische
Zerstreuung als auf eine organische Differenzierung zurückgeht. Sollte das so regelmäßige
Auftreten zum Beispiel von fleischfressenden, pflanzenfressenden, schwimmenden, wühlenden
und so weiter Untergruppen in einer gegebenen Tiergruppe nicht zutiefst der Entstehung und
der Entwicklung gewisser Neigungen, gewisser innerer Tendenzen entsprechen – die Evolution
der Gliedmaßen wäre dabei nur die Auswirkung und der Ausdruck der Evolution der Instinkte?...
Was immer es auch mit diesem noch ein wenig gewagten Vorschlag auf sich hat, niemand kann
bestreiten, daß von den niedersten Stadien des Lebens an jede tierische Stammreihe, wenn sie
nicht wesentlich durch eine Trift psychischer Natur konstituiert wird, das heißt durch kollektive
Evolution einer Art von Temperament, sich zumindest als von einem solchen Temperament
begleitet, gesäumt darstellt. Aus Gründen der Möglichkeit oder der Bequemlichkeit kümmern
die Systematiker sich nur selten um diese innere Seite der Arten, die sie handhaben. Die mit den
Instinkten oder Verhaltensweisen befaßten Naturforscher beginnen, letztere zum Gegenstand
einer Spezialwissenschaft zu machen. Und sie erkennen, daß eine gegebene Hymenopteren-
oder Vogelform zum Beispiel nur vollständig definiert werden kann, wenn man nicht nur ihren
äußeren Aspekt, sondern auch die ihr eigene Weise, zu jagen oder das Nest zu bauen,
berücksichtigt. Spricht man nicht bei gewissen arktischen Nagetieren, den Lemmingen, von zwei
der Form und dem Fell nach fast ununterscheidbaren Gruppen, von denen jedoch die eine
seßhaft (292) ist, während die andere periodisch in riesigen Herden nach Süden auswandert?
Jede lebende Verzweigung setzt sich also in ihrer Gesamtheit genommen sowohl aus
anatomischen als auch psychischen Merkmalen zusammen, die eng miteinander verbunden sind.
Sie hat in gewisser Weise ein Außen und ein Innen, einen Leib und eine Seele. Doch fehlt viel
daran, daß diese Dualität überall gleichmäßig ausgeprägt wäre. Bei den sogenannten niederen
Formen, wo das Zentralnervensystem erst schwach entwickelt ist, ist das Psychische, zumindest
mit unseren Augen gesehen, in die materiellen Determinismen eingetaucht und gewissermaßen
in ihnen untergegangen: Die Art und die Rasse sind vor allem anatomisch. In dem Maße jedoch,
wie parallel zum Wachstum und zur Vervollkommnung des Gehirns die Spontaneität und die
Austauschkapazität beim Lebewesen zunehmen, individualisiert sich die Instinktfranse und
breitet sich um zoologische Zweige herum aus. Die Seele tendiert dahin, über den Leib der Art
und der Rasse zu dominieren. Und schließlich nimmt das Phänomen im Falle der
‹zerebralisiertesten› Gruppe, die auf Erden existiert, der Menschheit, eine greifbare Fülle an. Im
Menschen, bei dem das Tierwesen vom Denken durchdrungen wird, muß theoretisch – und
tatsächlich ist es so – die vitale Verzweigung längst sehr viel mehr psychischer als somatischer
Linien weitergehen. Und diese einfache Beobachtung ermöglicht uns, bereits in einem ersten
aufreizenden Problem klarer zu sehen.
Es ist heutzutage klassisch geworden, Rasse und Nation, Nation und Zivilisation als verschiedene
und heterogene Entitäten einander entgegenzustellen. Wenn man den Theoretikern [vor allem
den Juristen] glauben will, stellte das Netz der kulturellen Einheiten, das sich über die moderne
Welt ausbreitet, eine Art Neubildung dar, die ohne (293) organische Zusammenhänge oder
Bedeutung über den von der Anthropologie studierten ethnischen Komplex hinweggriffe. Rassen
130
und Nationen: zwei sich überdeckende, nicht miteinander übereinstimmende Systeme in
voneinander unabhängigen Ebenen.
Unter biologischen Gesichtspunkt, den ich hier annehme, gibt es diesen angeblichen Gegensatz
nicht. Gewiß steht es den Ethnologen auf Grund der weiter unten studierten Kreuzungen frei,
verschiedene zoologische Stammreihen innerhalb ein und derselben dominierenden kulturellen
oder nationalen Einheit zu verfolgen und zu unterscheiden. Doch diese Anastomose ist nur eine
bereichernde Komplikation, sie kennzeichnet keinen Bruch des Grundphänomens. In der Rasse
sehen wir die Verlängerung des Leibes, in den Nationen die Individualisation der Seele der
nacheinander aus der menschlichen Verzweigung hervorgegangenen Gruppen. Organisch und
evolutiv sind die beiden Entitäten nicht zu trennen: sie bilden ein Ganzes. Die Unterteilung oder
natürliche Einheit der Menschheit ist also weder allein die Rasse der Anthropologen, noch sind
es allein die Nationen oder Kulturen der Soziologen: sie ist ein gewisses, aus beiden
Zusammengesetzes, dem ich in Ermangelung eins Besseren von nun an auf diesen Seiten den
Namen menschlicher Zweig geben werde.
Um eine klarere Vorstellung zu gewinnen, wollen wir Frankreich betrachten. Diese menschliche
Familie besteht offensichtlich aus bestimmten ethnischen Elementen, die durch gleichfalls
bestimmte geographische und klimatische Bedingungen eingefaßt und modelliert sind. Doch mit
aller Evidenz schließt sie auch, an dieses physische und physiologische Substrat gebunden, das
sie dominiert und dem sie seine Einheit verleiht, eine Gruppe von sittlichen Qualitäten,
intellektuellen Eigenschaften und idealistischen Tendenzen ein, die einen besonderen Geist und
ein besonderes (294) Genie bilden. Außerdem ist dieser Komplex nicht unbeweglich. Er wandelt,
entwickelt, differenziert, kräftigt sich schrittweise im Laufe der Geschichte des Landes in
Übereinstimmung mit dem weiter oben im Falle jedes beliebigen zoologischen Zweiges
festgestellten Gesetzes. Diese ganze ethnisch-politisch-sittliche Gruppe muß man auf einmal und
in ihrer Bewegung betrachten und erfassen, wenn man den französischen Zweig, ohne seine totale
biologische Wirklichkeit zu verstümmeln, in Händen halten will. Und durch die kontinuierliche
Ausstrahlung derartiger Zweige verlängert sich in der menschlichen Masse das für die lebende
Materie charakteristische Verzweigungsvermögen und kommt so in ihm zum Ausdruck.
In Wirklichkeit wirken in den gewählten Beispielen die Divergenzkräfte bereits nicht mehr
allein: sie komplizieren sich bereits durch einen besonderen Koaleszenzmechanismus, in dem,
wenn ich nicht irre, die menschliche Bedeutung und der menschliche Wert der Rassen endgültig
sichtbar und klar werden. Doch bevor wir die Untersuchung dieses wesentlichen Phänomens
der Synthese angehen, müssen wir zunächst noch einen weiteren Schritt tun. Wir haben eben die
spezifisch komplexe Natur der in sich selbst betrachteten menschlichen Zweige erkannt. Wir
haben noch, wie weiter oben angekündigt, das nicht weniger spezifische Verhalten und die nicht
weniger spezifischen Eigenschaften derselben Zweige in ihrer Reaktion aufeinander zu
beobachten.
2. Unbegrenzte, wechselseitige Fruchtbarkeit der menschlichen Zweige
Was uns in zu großer Nähe umgibt, hört automatisch auf, uns zu erstaunen. Streben wir nicht,
um einen Gegenstand (295) der Bewunderung in der Natur zu finden, nach den verschwundenen
Formen auszuschauen, anstatt zu bemerken, was es an Unerhörtem in unserer Umgebung in der
Fledermaus gibt, die auf den Membranen ihrer gespreizten Hand gleitet, im Pferd, das auf einem
einzigen Finger läuft, im zweifüßigem Menschen, der denkt…? Durch diese psychologische
Blindheit, die unsere Augen für die Wunder der heutigen Phänomene verschleiert, müssen wir
unsere Gleichgültigkeit angesichts des seltsamen Schauspiels erklären, das unserem Blick durch
die zoologische Struktur der menschlichen Gruppe geboten wird.
131
Bei den vormenschlichen tierischen Formen ist, wie wir oben gesehen haben, eine mehr oder
weniger rasche Isolierung der divergierenden Stammreihen, in die sich die Generationen
zerteilen, die allgemeine Regel. Recht schnell kommt es zum Bruch zwischen den Zweigen, der
durch eine Unfähigkeit der Kreuzung gekennzeichnet ist und der durch die sich daraus
ergebende Isolierung eine Beschleunigung der Divergenz nach sich zieht. Auf diese Weise, so
sagten wir, wird die Rasse zur Art, die Art zur Gattung und so weiter in dem Maße, wie das
Phänomen voranschreitet. Beim Menschen, zumindest wenn man ihn in seinen lebenden
Vertretern betrachtet, scheint sich derzeit nichts Ähnliches zu vollziehen; und immer weniger
scheint etwas anzukündigen, daß irgend etwas Ähnliches in der Zukunft eintreten müsse. Die
zoologische Verzweigung wirkt gewiß hier, wie bei allen anderen Lebewesen, weiter. Doch
möchte man sagen, daß sie in diesem Falle nicht zum Ziel führt, oder genauer, daß sie zu etwas
anderem führt. Zweige zeichnen sich deutlich ab. Somatisch prägen sie sich derart aus, daß sie
einen solchen Umfang erreichen, daß er bei einer gewöhnlichen tierischen Gruppe eine neue Art
charakterisieren würde. Und doch tritt die Trennung auf seiten der Befruchtung nicht ein. Denn
soweit es der Anthropologie (296) bekannt ist, gibt es auf Erden keine einzige menschliche
Gruppe, so primitiv sie auch erscheinen mag, die nicht fähig wäre durch Kreuzung mit den als
am fortschrittlichsten geltenden Typen unbegrenzt fruchtbare Nachkommen hervorzubringen.
Eine Art von Elastizität hält die Kohäsion des Fächers aufrecht, ohne eine sichtbare Gefahr des
Zerreißens. Wie es bei den Blättern gewisser Bäume oder den Geweihen gewisser Hirsche
vorkommt, ist die Verzweigung zur ‹Schwimmhaut› mutiert! Die Nerven sind noch deutlich
sichtbar, jedoch in eine Spreite eingesenkt, in der tausend Anastomosen möglich bleiben. Unter
systematischem Gesichtspunkt stellt die Menschheit den bemerkenswerten Fall einer
wunderbar verbreiteten tierischen Gruppe dar, in der es weiterhin zu Kreuzungen zwischen
Zweigen kommt, die sich normalerweise seit langem voneinander getrennt haben müßten; das
Phänomen fällt übrigens dank den Wechselbeziehungen, die es ermöglicht, mit der immer
deutlicheren Ausprägung einer gemeinsamen psychologischen Atmosphäre zusammen.
C. KOMPLEXITÄT
Von hierher ergibt sich letzten Endes für die unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren
Verzweigung betrachtete menschliche Gruppe folgende Sondersituation. Einerseits besteht jeder
der Zweige, in die sie sich unterteilt, aus zwei verschiedenen Elementen, einem somatischen und
einem psychischen, wobei das letztere dahin tendiert, über das erstere zu dominieren.
Andererseits bleiben die verschiedenen gebildeten Blattnerven unbegrenzt fähig, aufeinander zu
reagieren, sei es durch geschlechtliche Kreuzung, sei es durch wechselseitige sittliche und
geistige Befruchtung ihrer Elemente. Folglich wird eine unermeßliche Zahl (297) von
Verbindungen möglich, und sie verwirklicht sich tatsächlich: Verbindungen, in denen das
Somatische und das Psychische sich vermischen und in variabler Proportion auftreten und so
zur Entstehung von Einheiten äußerst verschiedener Typen führen.
Hier stellen zoologisch deutlich geschiedene Zweige wie die Australier, die Buschmänner oder
die Ainos, wahrscheinlich die Spuren alter Quirle auf dem menschlichen Stamm dar, von denen
die meisten Triebe verschwunden sind oder sich tiefgreifend gewandelt haben.
Dort entsprechen große komplexe Massen, die Weißen, die Gelben und die Schwarzen,
wahrscheinlich einem jüngeren Quirl, der zur Entfaltung gelangt ist.
Und dann heben sich innerhalb dieser großen Einheiten, die in ihren Kontaktzonen weitgehend
ineinander verschmolzen sind, andere Gruppen ab, die aus komplizierten Vermischungen
entstanden sind und in denen die physische Anthropologie sich verwirrt, bei dem jedoch die
psychischen Kriterien gestatten, alle möglichen Zweige zu definieren oder zu vermuten. Bald
132
dominiert der Faktor Boden mit der Idee des Vaterlandes und den aggressiven oder
pazifistischen Charakteristika, die das Gebirge, die Steppe, der Wald oder die Ebene ihren
jeweiligen Bewohnern verleihen. Bald ist es der politische Rahmen, in den sich die Nation
einpaßt, in dem sie sich isoliert und schmiedet – letztere ist manchmal fähig, ihrerseits auf den
rassischen Typ zu reagieren, wie im Falle der Japaner. Bald ist es die Sprache und die Kultur.
Und alle diese verschiedenen Gruppenbildungen greifen aufeinander über und reagieren
aufeinander. Sie kreuzen sich, umhüllen einander und interferieren wie die Wellen auf der
Oberfläche eines Sees. Sie setzen an, scheitern oder setzen sich durch, wie die im Lauf eines
Flusses entstandenen Strudel.
Unvermeidlich wird sich der scharfsinnigste Geist schließlich (298) in diesem in Bewegung
befindlichen Netz verlieren. Doch die Schwierigkeiten der Analyse können nicht dahin führen,
die biologische Bedeutung des Phänomens sowie die grundlegende Identität seines
Mechanismus aus dem Auge zu verlieren. Wir können geteilter Meinung sein über die Geschichte
oder die Stabilität dieser polymorphen Verbindungen, die in der menschlichen Masse andauernd
sich bilden, kämpfen, wachsen oder verschwinden. Wir können ihnen je nach dem Fall die
verschiedensten Qualifikationen oder Werte beimessen. Es bleibt wahr, daß sie in ihrem Kern
das Wirksamsein ein und derselben Eigenschaft des Lebens bekunden: sein
Differenzierungsvermögen in der Ausdehnung – ich möchte fast sagen seinem ‹Aufbrausen›.
Rassen, Vaterländer, Nationen, Staaten, Kulturen, Sprachengruppen…, all diese sich
überlagernden oder nebeneinander stehenden, harmonierenden oder disharmonierenden,
isolierten oder anastomosierten Entitäten sind im selben Grade, wenn auch auf verschiedenen
Ebenen, natürlich: denn sie stellen beim Menschen und nach dem Maße des Menschen
unmittelbare Weiterführungen des allgemeinen Prozesses dar, den die Biologie unter dem
Namen Evolution umfaßt.
Dann aber stellt sich jedem, der einräumt, daß es nicht die alleinige Aufgabe der Wissenschaft
ist, zu rekonstruieren, was war, oder zu entziffern, was ist, daß sie vielmehr vor allem darin
besteht, im Ausgang von der Vergangenheit und der Gegenwart auf die Formen der Zukunft
vorzugreifen, dann stellt sich für ihn die letzte Frage. Wenn wirklich die durch die Entstehung
der verschiedenen uns umgebenden rassischen oder ethnischen Einheiten gekennzeichnete
Verzweigung der Menschheit einer spezifischen und natürlichen Entwicklung entspricht, was
kann dann die Tragweite und wo mag die obere Grenze des Phänomens sein? Alles hat, oder
zumindest kann alles im Bereich der lebenden (299) Dinge einen Sinn annehmen; und nichts
scheint in der Welt unbegrenzt wachsen zu können, ohne auf einen kritischen Punkt der
Transformation zu stoßen. Stellt die so klar erkennbare und in gewissem Sinne derart
übertriebene baumförmige Struktur in der Menschheit lediglich ein letztes Wuchern wilder
Zweige dar, oder sollte sie nicht im Gegenteil einer gerichteten Bewegung entsprechen, die sich
gerade in ihrer Üppigkeit verrät? Inkohärente und unendliche Vermannigfaltigung oder mehr
oder weniger fruchtbare und konvergente Harmonisation? Woran arbeitet das Leben, und
wohin werden wir durch die menschliche Verzweigung mitgerissen?
Von der Antwort auf diese Frage hängt unser ganzes praktisches Verhalten angesichts des
Rassenproblems ab.
III. DAS VERWACHSEN DER MENSCHLICHEN ZWEIGE
An diesem Punkt der Untersuchung angelangt, verlasse ich, wie man begreifen wird, den
unbestreitbaren Boden der Tatsachen, um mich im Gefolge aller Wissenschaft in den
gefährlichen, aber höchst faszinierenden Bereich der Hypothese zu begeben: Hypothese, ein
133
recht schlecht gewähltes Wort, um den überragenden geistigen Akt zu bezeichnen, durch den
der Staub der Erfahrungen Gestalt annimmt und sich am Feuer der Erkenntnis beseelt… Ein
doppeltes Kriterium führt bekanntlich die Schritte des zu dieser synthetischen Phase seines
Vollzugs gelangten Denkens. Zunächst muß die Gesamtschau, bei der man stehenbleibt, die von
ihr zu ordnenden Elemente zusammenfügen, ohne sie zu verfälschen oder zu entstellen. Und
dann muß sich aus der verwirklichten Gruppierung für das Erkennen und für das Tun ein neues
Verständnis- und Konstruktionsvermögen (300) ergeben. Kohärenz und Fruchtbarkeit: die beiden
unnachahmbaren Stilmerkmale und die beiden unwiderstehlichen Zauber der Wahrheit.
Versuchen wir, sowohl die eine wie die andere sichtbar werden zu lassen, indem wir die von den
Forschungen der Anthropologie und der Ethnologie bereitgestellten Fakten interpretieren.
Um dorthin zu gelangen, scheint es mir notwendig, zuvor die in einer gesunden Biologie
handfest begründete Vorstellung anzunehmen, daß das Leben durch ein bei den Lebewesen sich
in Verbindung mit einer immer komplizierteren [und folglich immer unwahrscheinlicheren]
Synthese ihrer Elemente vollziehendes Bewußtseinswachstum in seiner absoluten Richtung und
in seinem absoluten Wert determiniert ist. Diese Regel, in Verbindung mit ihren beiden
unmittelbaren Folgesätzen, nämlich: a] daß der Mensch im Feld unserer Erfahrung durch seine
Denkfähigkeit einen derzeit kulminierenden Punkt der Evolution darstellt; und b] daß jeder
weitere Fortschritt des Lebens, der sich im Menschen verwirklicht, nur mit einem Wachstum
geistiger Natur zusammenfallen kann; diese Regel, so sage ich, scheint der einzige Leitfaden zu
sein, dessen wir uns bedienen können, um uns in dem Wald der lebenden Formen
zurechtzufinden. Ich kann mich hier nicht auf die Einzelheiten ihrer Bewahrheitung einlassen.
Doch kann ich nur weiter vorankommen, wenn ich sie als zugestanden voraussetze.
Nachdem dies klargestellt ist, werde ich einen Ausgangspunkt und eine Einführung zu der
Lösung suchen, die mich bei der Betrachtung eines Faktums anzieht, nämlich des folgenden. Der
Vormarsch der Menschheit, gemessen an einer Zunahme des Vermögens und des Bewußtseins,
hat sich, und das steht außerhalb jeder Hypothese, in bestimmten begrenzten Gegenden der
Erde vollzogen. Gewisse ethnische Gruppen haben sich historisch fortschrittlicher (301) gezeigt
als die anderen. Sie haben den vormarschierenden Flügel der Menschheit gebildet. Doch welche
Faktoren dürfen wir annehmen, denen diese Gruppen ihre Überlegenheit verdankt hätten?
Qualität des ‹Blutes› oder des Geistes? Ein Optimum wirtschaftlicher Hilfsquellen und
klimatischer Bedingungen? Ja, gewiß. Doch können wir auch noch etwas mehr wahrnehmen.
Sehen wir genau zu, und wir werden sehen, daß die Brennpunkte menschlicher Entwicklung
immer mit den Punkten des Zusammentreffens und der Anastomose mehrerer ‹Blattnerven›
zusammenzutreffen scheinen. Die kraftvollsten menschlichen Zweige sind keineswegs jene, bei
denen irgendeine Isolierung die Gene am reinsten bewahrt hätte; sondern ganz im Gegenteil
jene, bei denen die reichste wechselseitige Befruchtung wirksam geworden ist. Vergleichen Sie
nur den Pazifik und das Mittelmeer, wie sie vor einem Jahrhundert waren… Die vermenschlichten
menschlichen Kollektivgruppen erscheinen uns immer letzten Endes als das Produkt nicht einer
Absonderung, sondern einer Synthese. Diese elementare Feststellung scheint mir eine Lösung zum
theoretischen und praktischen Problem der Rassen zu liefern. Wir wollen nämlich die
Beobachtung verallgemeinern, das heißt sie auf die gegenwärtige und vergangene Totalität der
menschlichen Masse ausdehnen. Und eine sehr wahrscheinliche Perspektive schält sich heraus.
Im Leben ist, wie wir gesehen haben, zumindest bis zum Auftreten des Menschen, die das
Schicksal der lebenden Zweige beherrschende Regel die Divergenz. Die einmal geborenen Phyla
entfernen sich voneinander und folgen mehr oder weniger weit ihrem Sonderschicksal. Danach
gelangen sie zum Stillstand und verschwinden.
134
Beim Menschen wirkt derselbe Mechanismus. Die Teilungen setzen an. Die Phyla zeichnen sich
ab. Doch vollzieht sich dann alles so, als ob ein neuer Einfluß ins Spiel käme, (302) der nicht nur
die Zweige daran hinderte, sich zu trennen, sondern darüber hinaus ihre Verschiedenheit
benützt, um durch Kombinationseffekte höhere Bewußtseinsformen zu erzielen. Während, so
könnte man sagen, die tierischen Stammreihen sich locker in einem krümmungslosen Milieu
zerstreuten, verhalten sich die menschlichen Stammreihen so, als ob sie gezwungen wären, sich
auf einer Kugel zu entwickeln. Ausgehend von einem unteren Pol [dem ihres Auftretens]
entfaltet sich ihr Quirl zunächst wie das Bündel der zum Äquator aufsteigenden Meridiane. Doch
diese Bewegung des Auseinanderrückens, in deren Verlauf die Formen sich differenzieren, ist
nur der Beginn der Annäherung, die in der oberen Hemisphäre die auf dem Wege, der sie von
den Polen trennt, entstandenen und gefestigten Elemente untereinander zusammen und in einer
organisch konstruierten Einheit zu wechselseitiger Reaktion bringen wird. Die Divergenz ist
gewahrt mit den Vervollkommnungen, die sie in jedem Zweig für sich mit sich bringt: doch wird
sie darüber hinaus von einer Konvergenzkraft dominiert, die die endlose Zersplitterung, in der
das Ganze verschwinden zu müssen schien, in ein späteres Mittel des Fortschritts verwandelt.
Die Vervielfältigung reift und vollendet sich in der Synthese.
So wandeln auf der Ebene des Menschen nicht mehr nur die individuellen Eigenschaften des
Lebewesens ihre Gestalt: wie das tierische Bewußtsein reflektiertes Denken wird; der
Geschlechtssinn Liebe; die Neugierde Wissenschaft; der unartikulierte Laut Sprache; die
Gesellung Kultur… Die biologische Evolution selbst scheint in ihrem allgemeinen Mechanismus
ihre Gestalt zu wandeln, da sie sich hominisiert. Nicht mehr einfach nur das Emporschießen
eines gewissen, weiter als alle ihm vorhergehenden vordringenden Phylums. Sondern
synthetische Einknospung in sich selbst der ganzen weiteren Folge der Phyla. Eine (303) neue
Taktik, so möchte man sagen, die das Leben erdachte, um sich zu höheren Zuständen der
Komplexität und des Bewußtseins zu erheben, zu deren Verwirklichung die alten Mittel nicht
mehr ausreichten. Synthesen von Gruppen nach den Synthesen von Individuen. Eine lebende
Konstruktion von in der Vergangenheit unbekanntem Typ wäre also um uns im Gange, ohne daß
wir sie recht ermessen könnten.
Wenn diese Sehweise richtig ist, müßte man also damit rechnen, daß die menschlichen Zweige,
nachdem sie, ohne sich jemals vollständig zu trennen, einen gewissen Höchstabstand erreicht
haben, anfangen, sich einander stärker zu nähern als zu divergieren, das heißt beginnen, zu
verwachsen. Ich sage sehr bedacht, verwachsen; und nicht ‹verschmelzen›, was etwas sehr
anderes wäre. In allen Bereichen differenziert die organische Verbindung – sie neutralisiert
nicht – die Elemente, die sie gruppiert. Auf den Fall der Rassen und der Völker angewandt, läßt
dieses Prinzip in der Zukunft eine gewisse Vereinheitlichung der somatischen und psychischen
Merkmale des Menschen voraussehen; doch geht sie mit einem lebenden Reichtum einher, in
dem, auf ihr Höchstmaß gebracht, die besonderen Qualitäten jeder Konvergenzlinie zu erkennen
sind. Die Bildung eines synthetischen Menschentyps im Ausgang von allen im Laufe der
Geschichte aufgetretenen und gereiften Menschheitsnuancen dürfte, wenn meine Hypothese
stimmt, der derzeit auf der Erde im Gange befindliche Prozeß sein.
Ist es wirklich das, was derzeit vorgeht…? Und wenn ja, was können und müssen wir tun, um
dem Anruf eines Schicksals, das durch das Denken in der Tiefe eines jeden von uns seiner selbst
bewußt geworden ist, zu gehorchen und an ihm mitzuwirken? (304)
135
IV. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION UND DIE GEGENSEITIGE
VERPFLICHTUNG DER RASSEN
A. DURCH DEN ZWIST ZUR VEREINIGUNG
Wir wiesen zu Beginn auf die ansteckende Bewegung hin, die in der gegenwärtigen Stunde die
verschiedenen ethnischen Einheiten der Welt sich widereinander aufrichten und abigeln läßt.
Dieser auf eine Periode humanitärer Bestrebungen folgende Antagonismus der Völker, in den
wir uns verstrickt sehen, scheint endgültig all jene Lügen zu strafen, die von einer Einswerdung
der Erde träumten. Abstoßung, Isolierung, Auseinanderfallen: sollte nicht das der brutal von den
Tatsachen aufgedeckte wirkliche Zyklus allen Lebens sein? Die eigentliche menschliche Lage?
Unter dem Gesichtswinkel beobachtet, unter dem wir die Dinge im vorhergehenden Abschnitt
betrachteten, gewinnt das Ereignis, ohne irgend etwas von seiner schmerzlichen Heftigkeit zu
verlieren, eine ganz andere Gestalt. Jene, die an die Existenz eines menschlichen Fortschritts
glauben, stehen entrüstet und verwirrt angesichts des Erwachens der Rassen. Dieses plötzliche
Aufbrechen egoistischer Gewalttätigkeit zerschlägt, so glauben sie, ihre teuersten Hoffnungen.
Doch könnte man nicht im Gegenteil die Ansicht vertreten, es rechtfertige letztere in dem Maße,
wie es eine zu ihrer Verwirklichung notwendige Vorbedingung erfüllt? Vor einigen Jahren
konnten wir allerdings glauben, wir seien endlich auf die Stufe der Synthese gelangt: dorthin, wo
die menschlichen Elemente, da sie in etwa vollendet sind, sich nur mehr dem Spiel der
Kohäsionskräfte zu überlassen hätten. Der Völkerbund… So, wie man sich bei einer Bergtour auf
dem Weg zum Gipfel immer wieder einbildet, man habe das letzte Tal schon (305) hinter sich
gelassen! Doch seien wir ehrlich, was waren vor dreißig oder vierzig Jahren schon die
Materialien wert, mit denen den menschlichen Turm in seiner endgültigen Gestalt zu bauen wir
uns Hoffnung machten? Franzosen, Engländer, Spanier, Italiener, Deutsche, Chinesen, alle
großen Zweige der Erde, waren wir damals wirklich – und sind wir nicht noch weit davon
entfernt? – an die Grenzen dessen gelangt, was die Natur an Vermögen, Genie, Persönlichkeit
spezifisch in jeder unserer Gruppen heraustreten zu lassen sich bemüht? Bekennen wir es:
‹Supranationalisten› dem Namen nach, waren wir noch nicht einmal auf das wahre Maß eines
Vaterlandes zugeschnitten. Wir hielten uns für Menschen, und wir ahnten nicht [wissen wir es
heute wirklich?], was es bedeutet, mit der ganzen Oberfläche eines einzigen menschlichen
Zweiges zu begehren, zu lieben, zu fürchten, zu leiden. Wir beginnen, es jetzt bei uns selbst zu
spüren und es bei unsern Nachbarn festzustellen: vor den letzten Erschütterungen, die die Erde
geweckt haben, lebten die Völker kaum anders als durch die Oberfläche ihrer selbst; eine Welt
von Energien schlief noch in einem jeden von ihnen. Nun, ich stelle mir vor, es sind diese noch
verhüllten Kräfte, die in der Tiefe jeder natürlichen menschlichen Einheit in Europa, in Asien,
überall sich aufrütteln und in diesem Augenblick zum Licht drängen: keineswegs, letzten Endes,
um sich zu bekämpfen und sich gegenseitig zu verschlingen; sondern um sich
zusammenzuschließen und sich gegenseitig zu befruchten. Es braucht voll bewußte Nationen für
eine totale Erde. Wir sind also derzeit den Divergenzkräften ausgesetzt. Doch verzweifeln wir
nicht. Beim Menschen, so haben wir zu erkennen geglaubt, vollzieht sich die Verzweigung nur
mehr in einem Konvergenzmilieu. Ich möchte damit gewiß nicht sagen, wir seien bereits dabei,
die letzte Zubereitung unserer nationalen Existenzen zu erfahren – jene, (306) nach der es für die
Menschheit wirklich nichts mehr gebe, denn ihre endgültig herausgebildeten ethnischen
Strahlen einzubiegen und zusammenzuschließen. In der tatsächlichen Wirklichkeit verwirklicht
sich ein so umfassender Prozeß wie der der Synthese der Rassen nicht in einem einzigen Wurf
wie auf der symbolischen Kugel, die wir uns oben vorgestellt haben. Damit sich über der
menschlichen Differenzierung die Ordnung herausbilde, bedarf es sicherlich eines langen
136
Pendels zwischen Expansionen und Konzentrationen, Auseinanderstreben und Annähern. Wir
stehen hic et nunc in einer Phase äußerster Divergenz, Vorspiel zu einer Konvergenz, wie es sie
auf Erden noch nicht gegeben hat. Das ist alles, was ich sagen möchte. Und das geschieht, wenn
ich recht habe.
Doch, daß ich insgesamt recht habe, scheint mir der allgemeine Zustand der Welt nahezulegen –
wenn wir letztere nur von einem genügend hohen Standort aus beobachten. Derzeit wird unsere
Aufmerksamkeit von dem Sich-Abkapseln und den Reibereien in Anspruch genommen, zu denen
es zwischen den Nationen kommt. Diese Bewegungen vollziehen sich im wesentlichen in unserer
Größenordnung, und sie bedrohen uns unmittelbar: es ist unvermeidlich, daß wir davon
‹überbeeindruckt› sind. Doch, es fehlt viel daran, daß das Phänomen sich auf Schlachtdrohungen
beschränkt und in einer Trennung kulminieren zu müssen scheint. Die Erfahrung von 1914 mit
dem ungewöhnlichen Aufschwung, den der Krieg zum Beispiel der Luftfahrt und dem Rundfunk
gegeben hat, beweist das. Die Waffen, die jedes Volk verzweifelt schmiedet, um sich zu
verteidigen und zu trennen, werden unmittelbar das Eigentum aller anderen; und sie
verwandeln sich in Bande, die die menschliche Solidarität noch ein wenig mehr vermehren. Das
gilt auch von den manchmal für die Industrie revolutionären Erfindungen, die jedes Land zu
finden gezwungen (307) ist, um sein Wirtschaftsleben aufrechtzuerhalten, ohne irgend etwas
außer von sich selbst zu verlangen. Und das gilt schließlich auch von den psychologischen und
sozialen Umstellungen, durch die jede Nation die geistige Vorherrschaft zu entdecken und für
sich zu gewinnen glaubt, durch die sie einzigartig unter allen anderen würde. Was fortschrittlich
und gültig in diesen Entdeckungen oder diesem Erwachen des Bewußtseins ist, wird durch
Ansteckung mitgeteilt und nützt der ganzen menschlichen Familie. Kurz, jede Geste, die wir tun,
um uns zu isolieren, drängt uns mehr zueinander. Oben die Kraft des Geistes, dessen
konvergente ‹Krümmung› unvermeidlich den Strom all dessen zusammendrängt, dem es gelingt,
aufzusteigen. Und unten die Macht der Erde, deren begrenzte Oberfläche unerbittlich die
Schichten der menschlichen Masse um so mehr in sich zusammendrängt, als sie sich ausweiten.
So ist trotz der Zwiste, deren Schauspiel uns beunruhigt und uns traurig macht, der Gedanke,
daß sich in der Welt ein Sich-Sammeln der Menschheit vollzieht – der Gedanke, daß wir, weit
davon entfernt, auseinanderzufallen, uns unaufhörlich zusammenschließen –, so ist dieser
Gedanke nicht absurd. Und mehr noch, außerhalb dieses Gedankens sehe ich keine Deutung, die
sich widerspruchslos auf die Totalität des menschlichen Phänomens ausdehnen lassen könnte.
Die Hypothese, es gebe eine im Gange befindliche menschliche Synthese, ist also befriedigend,
weil sie bis zu Ende in sich selbst und mit den Fakten kohärent ist. Doch sie besitzt auch das
zweite Zeichen aller Wahrheit, nämlich, unbegrenzt fruchtbar zu sein. Erkennt man nämlich an,
eine Verbindung der Rassen und Völker sei das biologisch erwartete Ereignis, damit sich auf
Erden ein neueres und höheres Entfalten des Bewußtseins vollziehe, so definiert man
gleichzeitig in seinen Grundlinien und (308) seiner inneren Dynamik etwas, dessen unser Tun im
höchsten Maße bedarf: eine internationale Ethik.
B. DIE GRUNDLAGEN EINER MORAL DER RASSEN
Es ist schon seit langem gesagt worden: es gibt keine Moral ohne Ideal. Wie könnten die Völker
der Erde dahin gelangen, zu harmonieren, wenn sie sich nicht zuvor darüber verständigen, was
sie zusammen zu tun haben? Und wie fänden sie den Mut und den Schwung, ihre einmal
erkannte Aufgabe zu verwirklichen, wenn ihre Ausführung keinerlei Reiz auf sie ausübte? Ob
man es will oder nicht, auf dem Boden der kollektiven Entitäten, ebenso wie im Bereich der
Individuen, ist die stoische Regel: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem
andern zu», nicht mehr ausreichend. Diese negative Regel, die vielleicht wirksam genug ist, um
137
ein Knirschen der menschlichen Räderwerke zu verhindern, leistet nichts, um den Motor in Gang
zu setzen oder um ihn zu lenken. Sie könnte gültig sein, um in irgendeinem statischen
Universum Frieden zu schaffen. Doch in unseren Augen gibt es nunmehr in der Welt nur mehr in
Bewegung befindliche Gleichgewichtszustände. Zwischen Rassen und Nationen kann sich die
Ordnung nur innerhalb eines Elans herausbilden. Und hier zeigt sich der Vorteil der
Anschauungen, die wir vortragen.
Ein erster Vorteil, der sich aus unserer Lösung ergibt, wenn man sie annimmt, besteht darin, daß
nichts dagegen einzuwenden ist, anzuerkennen, daß die Menschheit, in ihrer konkreten Natur
genommen, wirklich aus verschiedenen Zweigen zusammengesetzt ist. Es gibt Rassen, jedoch
ohne daß es deswegen – theoretisch – einen Antagonismus und ein Problem der Rassen gäbe.
Um dem Problem auszuweichen (309) und in allen ‹die Menschenwürde› zu retten, glauben sich
gewisse Leute verpflichtet, die offenkundigen Unterschiede zu leugnen, die die ethnischen
Einheiten der Erde voneinander trennen. Sie leugnen? Aber weshalb denn? Sind die Kinder ein
und derselben Familie alle stark oder intelligent? Gleich sind die Völker dem biologischen Wert
nach, sofern sie ‹Denkphyla› sind, dazu bestimmt, sich progressiv in irgendeine endgültige
Einheit zu integrieren, die die einzige wahre Menschheit darstellt. Doch sind sie noch
keineswegs gleich auf Grund der Totalität ihrer physischen Gaben und ihres Geistes. Und
verleiht nicht gerade diese Mannigfaltigkeit jedem seinen Wert? Der eine hat dieses, der andere
jenes. Weshalb und wieso könnte man andernfalls von einer Synthese aller sprechen? Hüten wir
uns, aus Ideologie oder Sentimentalität in Rassenfragen den Irrtum des Feminismus oder der
Demokratien in ihrem Anfang zu wiederholen. Die Frau ist kein Mann: und gerade deswegen
kann der Mann auf die Frau nicht verzichten. Der Mechaniker ist kein Athlet, noch ein Maler,
noch ein Bankier: und dank dieser Mannigfaltigkeit funktioniert der nationale Organismus.
Ebenso ist der Chinese kein Franzose und letzterer kein Kaffer oder Japaner. Und das zum
großen Glück für den Gesamtreichtum und die Zukunft des Menschen. Diese Ungleichheiten, die
man manchmal wider alle Evidenz zu leugnen sucht, können so lange verletzend erscheinen, wie
die Elemente statisch und isoliert betrachtet werden. Sie werden annehmbar, ehrenwert und
sogar liebenswert, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt ihrer wesentlichen Komplementarität
betrachtet. Wird das Auge der Hand sagen, es verachte sie? Oder das Rot, es wolle weder Grün
noch Blau auf demselben Bild?
Ist diese funktionelle Mannigfaltigkeit der menschlichen Zweige einmal anerkannt, folgt
unmittelbar zweierlei. Erstens, (310) daß jeder dieser Zweige die Pflicht hat, nicht weiß Gott
welche undefinierbare ursprüngliche Reinheit zu bewahren oder in der Vergangenheit
wiederzufinden, sondern sich auf der seinen eigenen Qualitäten und seinem eigenen Genie
entsprechenden Linie weiter nach vorn zu vollenden. Und zweites, daß er in diesem Bemühen
um kollektive Personalisation bei allen Nachbarzweigen eine umso aufmerksamere
Unterstützung finden muß, als letzere das Glück haben, kraftvoller zu sein. Als Paläontologe
kann ich mir keine Illusionen über die Tatsache und die unerbittlichen Formen der biologischen
Konkurrenz machen. Doch in dieser selben Eigenschaft weigere ich mich absolut, die
mechanischen Gesetze der Auslese brutal in den menschlichen Bereich zu übertragen. Denn
wenn die Natur uns deutlich lehrt, daß es einen universellen Kampf ums Leben gibt, so bringt sie
uns nicht weniger kategorisch bei, daß die Lebenseigentümlichkeiten beim Übergang von einer
Existenzstufe zur anderen nur fortbestehen, indem sie transformiert oder transponiert werden.
Die wechselseitige Ausbeutung und das gegenseitige Ersticken können zwischen infrahumanen
Gruppen die Regel sein, weil diese sich beständig ersetzen und untereinander divergieren. Im
Falle des menschlichen Bündels dagegen muß, wenn letzteres in Übereinstimmung mit unserer
Hypothese nur mehr konvergierend fortschreitet, der brüderliche Wetteifer von innen her an
138
die Stelle der feindlichen Konkurrenz treten, und der Krieg hat nur mehr einen Sinn in bezug auf
Gefahren oder Eroberungen außerhalb des Ganzen der Menschheit.
Entwicklungen eines jeden in einer Sympathie aller. Nuancierte Organisation der geistigen
Energien, die an die Stelle des mechanischen Gleichgewichts der materiellen Kräfte tritt. Das
Gesetz des Teams ersetzt das Gesetz des Dschungels. Wir sind noch weit davon entfernt, diese
heikle, aber (311) vitale Transformation auf der Stufe der Individuen vollzogen zu haben. Ist das
ein Grund, nicht darauf zu hoffen, sie werde sich schließlich zwischen Nationen verwirklichen?
Oder zumindest, um nicht zu erkennen, daß es außerhalb dieses Ideals keinen sich vor den
künftigen Entwicklungen des Geistes auf Erden auftuenden biologischen Ausweg gibt?
Wohlgemerkt, es ist noch nicht alles, den zu erobernden Gipfel ausgemacht zu haben. Er muß
auch erreicht werden. Wie lange bestürmen die Expeditionen schon vergeblich die Gipfel des
Everest? Ist einmal anerkannt und entschieden, daß die Rassen und Nationen sich vereinen
müssen, stellt sich die Wahl des einzuschlagenden Weges, die Frage der anzuwendenden Mittel.
Unendlich komplexe technische Probleme. Wie auf der nicht ausdehnbaren Oberfläche der Erde
zum Besten des Ganzen und eines jeden die Besitz- und Einflußzonen abgrenzen? Wie zwischen
ungleich individualisierten oder lebenskräftigen menschlichen Zweigen die Unterscheidung und
Hierarchie begründen, ohne die es nur Unordnung und Zersplitterung geben kann? Um die
Bewahrung und die Fortschritte ihres eigenen Genies zu gewährleisten, verlangt jede natürliche
Gruppe legitimerweise [diese Worte sind gefährlich, doch was soll man tun?] einen gewissen
Raum und eine gewisse Aussonderung der fremden Beiträge. Schließlich besteht kein
Organismus auf der Welt in anderer Weise… Wie, ohne das Recht der anderen zu verletzen,
dieses Recht jeder Nation auf das Leben befriedigen? Wie der gewählten Anordnung die
Geschmeidigkeit lassen, die ihr erlaubt, sich, ohne Risse zu bilden, beständig neuen Situationen
anzupassen? Und schließlich, in welchem Maße soll man durch all diese Verbesserungen
hindurch erwarten, daß das Gleichgewicht ganz allein durch das natürliche Spiel der sich
gegenüberstehenden Kräfte (312) eintritt, oder aber soll man die Resultante rational in eine
vorgesehene Richtung zwingen? Totalitarismus oder Liberalismus? Hegemonie einer Gruppe
oder Demokratie? Es scheint, unter voller Berücksichtigung der Sachlage können wir auf diese
vielfachen Fragen nur antworten, indem wir der vom Leben seit seinen Anfängen universell
angewandten Methode folgen: ein langsames und geduldiges Tasten. Doch bereits jetzt wissen
wir genug [und das ist schon viel!], um zu sagen, daß dieses Tasten nur unter einer Bedingung
zum Ziel gelangt: daß sich nämlich die gesamte Arbeit unter dem Zeichen der Einheit
verwirklicht. So verlangt es die Natur selbst des im Gange befindlichen biologischen Prozesses.
Außerhalb dieser Atmosphäre der erahnten und ersehnten Vereinigung können selbst die
berechtigtsten Forderungen nur zu Katastrophen führen – wir sehen das nur zu deutlich in
diesem Augenblick.
Und umgekehrt würde in dieser Atmosphäre, würde sie geschaffen, fast jede Lösung ebenso gut
erscheinen wie die andere; jedes beliebige Bemühen würde zum Erfolg führen, zum mindesten
im Anfang. Verfolgen wir es im Ausgang von seinen biologischen Wurzeln, führt uns das Problem
der Rassen, ihres Auftretens, ihres Erwachens, ihrer Zukunft so zu dem Punkt, da wir erkennen,
daß das einzige Klima, in dem der Mensch fortfahren kann, zu wachsen, das Klima der Hingabe
und der Entsagung in einem Gefühl der Brüderlichkeit ist. Wahrlich, bei der Geschwindigkeit,
mit der das Bewußtsein und der Ehrgeiz der Welt zunehmen, wir sie explodieren, wenn sie nicht
lernt, zu lieben. Die Zukunft der denkenden Erde ist organisch an ein Umschlagen der Kräfte des
Hasses in Kräfte der Liebe gebunden.
139
Doch welche Macht ist kraft eben der Hypothese, die uns leitet, allein fähig, dieses Umschlagen
zu bewirken? Aus welcher Quelle werden letzten Endes die menschlichen (313) Zweige ebenso
wie die Individuen die Lust daran schöpfen, einander anzunehmen und zur Einheit in der Freude
mitzuziehen? Aus der Quelle [es gibt keine andere vorstellbare] eines wachsenden
Hingezogenseins zu dem Bewußtseinszentrum, in dem ihre Fasern und ihr Strahlenbündel sich
vollenden müssen, indem sie sich vereinigen. Studiert man die Menschheit in ihrer tiefsten
Physiologie, der ihrer Freiheit, scheint sie entschieden in dem Stadium ihrer Evolution angelangt
zu sein, da sie in keinerlei Hinsicht mehr die ihr durch das Wachstum ihrer inneren Energie
aufgegebenen Probleme bewältigen kann, ohne ihr Zentrum der Liebe und Anbetung zu
definieren.
Viele meiner wissenschaftlichen Kollegen werden, das weiß ich, vor dieser Schlußfolgerung
zurückschrecken. Doch sehe ich nicht, wie sie ihr eher als ich entgehen könnten, sofern sie sich
entscheiden, offen nach vorn zu blicken. Ebenso wie der Mensch [ich hatte Gelegenheit, diesen
Punkt an anderer Stelle zu erklären] den Mut verlieren wird, weiterzubauen und zu suchen,
ebenso wird er nicht die Kraft haben, die inneren Abneigungen zu überwinden, die ihn von den
Freuden der Vereinigung trennen – es sei denn, er wird sich endlich bewußt, mit dem Universum
nicht nur in einem Etwas, sondern in einem Jemand zu konvergieren.
Études, 5. Juli 1939. (314)
XV
DER ORT DES MENSCHEN IM UNIVERSUM
Gedanken über die Komplexität
Welches ist der Ort des Menschen im Universum? Diese heißumstrittene Frage ist offensichtlich
für jeden von uns von vitaler Bedeutung: vital für unser Einsichtsvermögen: «Was sind wir?» –
und vital für unser Tun: «Was sind wir wert? Wohin gehen wir?» – und folglich, «Wie müssen
wir unser Leben bewerten und lenken?»
Sie wissen, weil Sie es haben sagen hören: bis ins sechzehnte Jahrhundert dachte niemand
daran, in Frage zu stellen, daß der Mensch das Zentrum der Schöpfung sei. Der Mensch,
geometrisches Zentrum und raummäßiges Zentrum eines Universums, das aus konzentrisch um
die Erde gezogenen Sphären gebildet wurde: es schien nicht möglich, man könne anders denken.
Und Sie wissen auch, und zwar diesmal aus unmittelbarer Erfahrung: infolge einer Reihe von
Entdeckungen mit denen die Namen Galilei und Darwin verbunden bleiben, ist diese etwas naive
Anthropozentrik unserer Väter im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts rasch
zusammengebrochen – bis zum Übermaß. Im Zeitraum einiger Generationen hat der Mensch
sich zu einem Nichts aufgelöst gesehen – oder zumindest geglaubt – in einem Universum, in dem
die lebende Erde zu einem unbedeutenden Staubkorn in einer Sternenwolke wurde – und in
dem das denkende Wesen nur mehr als ein armseliges Blättchen unter tausend anderen am
unermeßlich großen Baum des Lebens erschien.
Noch vor einigen Jahren konnte die Frage für die Wissenschaft als endgültig in diesem nicht nur
demütigenden, sondern entmutigenden Sinne gelöst erscheinen. Am Menschen (315) war
innerhalb der Natur entschieden nichts besonders Interessantes…
Nunmehr aber schickt das Pendel, nachdem es diesen äußersten Punkt in der Richtung unserer
Dezentration erreicht hat, sich an, in umgekehrter Richtung auf eine berichtigte und mittlere
140
Stellung hin auszuschlagen. Der Mensch, nicht mehr Zentrum einer statischen Welt [das ist
endgültig vorbei], – aber der Mensch indes besonders bezeichnendes oder sogar Hauptelement
einer Welt in Bewegung: das ist die Perspektive, die die Wissenschaft zu sehen beginnt – aus der
Ehrlichkeit ihres Bemühens heraus, über sich selbst hinaus zu gelangen.
In diese dritte, wesentlich moderne Phase der Entdeckung des Menschen durch den Menschen
möchte ich Sie heute einführen – nicht ohne meiner Darlegung zwei wichtige Hinweise
vorauszuschicken.
1. – Erster Hinweis. Es ist zunächst selbstverständlich, daß ich mich im folgenden ausdrücklich,
wie es angemessen ist, auf das Gebiet der Tatsachen beschränke, das heißt auf den Bereich des
Greifbaren und des Fotografierbaren. Da ich als Gelehrter wissenschaftliche Perspektiven
diskutiere, muß ich mich, und ich werde das strikt tun, an das Prüfen und Ordnen der
Erscheinungen, das heißt der ‹Phänomene›, halten. Da meine Aufmerksamkeit den
Zusammenhängen und der Abfolge gilt, die diese Phänomene bekunden, werde ich mich also
nicht mit ihren tieferen Kausalzusammenhängen befassen. Vielleicht werde ich mich bis zu einer
‹Ultraphysik› vorwagen. Doch suchen Sie hier keine Metaphysik.
2. – Zweiter Hinweis. Die Ansichten, die ich Ihnen darlege, sind wie gesagt noch im Entstehen
begriffen. Nehmen Sie sie also noch nicht als allgemein anerkannt oder als endgültig hin. Ich lege
Ihnen also eher Anregungen als Aussagen vor. Mein Hauptziel ist nicht, Sie zu noch in Bewegung
(316) befindlichen Konzeptionen zu bekehren, – sondern Ihnen Horizonte zu öffnen und Sie zum
Denken anzuregen.
Erster Punkt. «Das unendlich Große und das unendlich Kleine» oder «Das verschwindende
Leben.»
Zweiter Punkt. «Das unendlich Komplexe» oder «Das wiedererscheinende Leben.»
Dritter Punkt. «Ein Universum mit drei Unendlichen» oder «Der hervor-ragende Mensch.»
So vorgetragen, müssen diese drei Sätze Ihnen etwas rätselhaft erscheinen. Doch erschrecken
Sie nicht. Wie alles sehr Große ist das, was ich Ihnen aufzeigen möchte, äußerst einfach.
A. DAS UNENDLICH GROßE UND DAS UNENDLICH KLEINE ODER
DAS SICH UNSICHTBAR MACHENDE LEBEN
Um die Gefahr zu ermessen, der der Mensch einen Augenblick lang ausgesetzt war [als
universeller Wert], von den letzten Fortschritten der Wissenschaft erstickt zu werden; – und um
auch zu erfassen, auf welchem Wege er lebendiger denn je aus dieser Bedrohung der
Zermalmung hervorgehen kann, ist es vor allem anderen notwendig, die Dimensionen und auch
die Zonen des Universums so zu betrachten, wie die moderne Physik sie definiert.
Diese Perspektive läßt sich graphisch durch die folgende Reihe darstellen [Figur 1], in der die
wichtigsten bisher identifizierten ‹Einheiten der Materie› nach ihrer linearen Größe angeordnet
sind [nach Max Born, Marcel Boll, Julian Huxley usw. …].
Die einfache Durchsicht dieses Schemas läßt folgende Besonderheiten sichtbar werden: (317)
1. Korpuskularstruktur der Welt
Von unten bis oben stellt sich die Materie auf der Stufenleiter beständig in Gestalt kalibrierter,
von Mal zu Mal größerer Elemente dar, die aber in allen Fällen auf jeder Stufe eine Vielheit
bilden. Man hat darauf hingewiesen: Es gibt Gase von Elektronen, Gase von Atomen, Gase von
141
Molekülen. Es gibt aber auch Gase von Sternen und Gase von Milchstraßen. Man könnte sogar
hinzufügen: es gibt Gase von lebenden Partikeln, es gibt ein Gas menschlicher Partikeln.
2. Existenz dreier Größenordnungen oder –bereiche innerhalb der Welt
Durch ein eigenartiges Zusammentreffen hat der Mensch seiner Größe nach seinen Ort
annähernd in der Mitte der Gesamtreihe [10²]. Unterhalb dieses mittleren Bereichs das Winzige
(318) [10¯²⁰] – und darüber das Unermeßliche [10²⁵]. [Ein perspektivischer Effekt? Als ob unser
Sehvermögen auf beiden Seiten im selben Abstand aufhörte…]
3. Ungeheurer Unterschied der Dimensionen zwischen den diesen drei Bereichen angehörenden
Korpuskeln
Und lassen wir uns hier nicht von diesen bescheidenen zehn Zentimetern täuschen, die zu
großen Potenzen erhoben sind. 10⁶ ergibt eine Million – 10⁹ eine Milliarde – 10¹⁸ eine Milliarde
Milliarden. Die 10²² Zentimeter der Milchstraße bedeuten also eine Billion Billionen Kilometer
oder hunderttausend Lichtjahre52!... Um nun zu den Dimensionen des Elektrons hinabzusteigen,
müssen wir einen Weg derselben Größenordnung in Richtung der Verkleinerung durchlaufen.
Dreihundert Bakterien könnten, so bemerkt Huxley, innerhalb des Punktes aneinandergereiht
werden, den unsere Feder auf ein i setzt. Noch weiter unten wird die Kleinheit
schwindelerregend. In Sandkörner verwandelt, würden die in einem Kubikzentimeter Luft
enthaltenen Moleküle, so bemerkt Boll, eine fünf Zentimeter dicke Schicht auf der 52 (FN 1) P. Teilhard ist hier ein Rechenfehler unterlaufen, der mit seinem langen Aufenthalt im angelsächsischen Sprachraum zusammenhängen mag, wo unsere Milliarde eine Billion ist. 10²² cm = 10¹⁷ km = hundert Millionen Milliarden Kilometer = rund, bei astronomischen Zahlen darf man ‹großzügig› sein, eine Milliarde Milliarden [nicht eine Billion Billionen] Kilometer. Das entspräche aber erst 10 000 Lichtjahren [1 Lichtjahr = rund 10¹³ Kilometer]. Statt 10²² cm sollte es vermutlich 10²³ cm heißen, wobei dann auch eine «Milliarde Milliarden Kilometer» richtig wäre.
142
Gesamtoberfläche Frankreichs bilden… Schwindelerregend, sage ich mit Recht. Der zwischen
dem (319) Unermeßlichen und Winzigen eingepaßte Mensch treibt wirklich, wie Pascal ahnte,
zwischen zwei Abgründen.
4. Doch [und hier ist ein vierter Punkt, von dem Pascal nichts ahnen konnte] diese beiden Abgründe
bilden nicht nur als zwei Extreme der Welt an Größe und an Kleinheit quantitativ untereinander
Gegensätze, sondern auch qualitativ in dem Sinne, daß die grundlegendsten Eigenschaften des
Universums im Unermeßlichen und im Winzigen anders werden, als sie uns im mittleren Bereich
erscheinen
Nehmen wir einige Beispiele.
In diesem guten mittleren Bereich, den wir bewohnen, ändert sich die Masse eines Körpers nicht
mit der Geschwindigkeit; der Raum gehorcht der Euklidischen Geometrie; wir können
unzweideutig von der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse sprechen und mit Gewißheit
[gleichzeitig] die Lage und die Geschwindigkeit eines in Bewegung befindlichen Gegenstandes
bestimmen; das Licht, die Wärme sind definierbare Wirklichkeiten und bilden ein Kontinuum;
schließlich sind die unbeseelten Gegenstände im allgemeinen unbeweglich [kontinuierliche
Phasen].
Was geschieht aber, wenn wir den Bereich wechseln?
Auf seiten des Unermeßlichen entdecken die Vernunft und die Erfahrung zunächst mit
Erstaunen, daß es immer schwieriger und schließlich unmöglich wird, von Gleichzeitigkeit zu
sprechen. Einer einzigen Uhr gelingt es nicht mehr, die Augenblicke für diese gewaltigen Räume
zu bezeichnen. Vielmehr zerfällt die allgemeine Zeit, die wir uns vorstellen, wenn sie auf
Entfernungen von Lichtjahren ausgedehnt wird, in Sonderzeiten für jedes System. Und zugleich
[das ist für unsere Vorstellungskraft noch erstaunlicher] (320) scheint sich eine allgemeine neue
Kurve im Raum selbst abzuzeichnen. Der Raum wird sphärisch. Zwei Parallelen begegnen sich
dort [wie zwei Meridiane], und die Summe der Winkel eines Dreiecks ist nicht mehr gleich zwei
rechten. In dieser Richtung treten wir, wie man sagt, in den Bereich der [verallgemeinerten]
Relativität ein.
Kehren wir uns dem Winzigen zu. Hier ist die Metamorphose der Welt noch verwirrender.
Zunächst werden die Korpuskeln, je mehr sie an Größe abnehmen, normalerweise chronisch
beweglich. Sie kennen keine Ruhe. Und bei den Dimensionen der Atome erscheinen sie von
erschreckenden Geschwindigkeiten [20 000 km pro Sekunde im Falle der Helionen] beseelt. Zur
Beschreibung dieser ultrakleinen Korpuskeln ist es nicht mehr möglich, von Temperatur oder
Farbe zu sprechen –, denn gerade durch ihre Bewegung werden für unsere Sinne die Eindrücke
von Wärme und Licht erzeugt. Es ist nicht mehr möglich, ihnen eine bestimmte Masse
zuzuschreiben, – denn bei den Geschwindigkeiten, mit denen sie sich bewegen, beginnt die
Masse [mit der Geschwindigkeit] merklich zuzunehmen. Es ist sogar nicht mehr möglich
[zumindest von unserem Standpunkt aus], ihnen eine dauerhafte Individualität zu bestimmen –
denn außerhalb flüchtiger Erscheinungen wirken sie nur kollektiv, das heißt statistisch. – Hier
ist der sogenannte Bereich ‹der Quanten›, in dem alle Phänomene in eine Unendlichkeit winziger
Fragmente zersplittern, die untereinander alle gleich und folglich anonym sind und in unseren
Augen ausschließlich von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und der großen Zahlen
beherrscht werden.
Im ganzen verhält sich alles so, als ob an jedem Ende der Welt gewisse Eigenschaften der Materie
sich übersteigerten und dominant würden, die am anderen Ende sich so weit abschwächten, bis sie
in unserer Erfahrung nicht mehr hervorträten. (321)
143
Lassen wir vorläufig [ohne ihn zu vergessen!] diesen wesentlichen Punkt der Heterogenität der
beiden Unendlichen in bezug aufeinander beiseite [er wird uns gleich noch dienlich sein]. Und
beschränken wir uns für den Augenblick auf den abyssischen Charakter des Universums sowohl
über als auch unter uns.
Was ist die erste Wirkung des Erscheinens dieser maßlosen Tiefen auf unseren Geist?
Offensichtlich erweckt es in uns den Eindruck, verschlugen, vernichtet zu werden. Zwischen dem
Unermeßlichen und dem Winzigen eingeklemmt, erscheinen das Leben und die Menschheit
verloren und unbedeutend. Unbedeutend ihrer Zahl und ihrem Umfang nach: Was ist schon die
Milliarde Menschen [10⁹] im Vergleich zu den Hunderten von Milliarden von Milliarden Atomen
[10⁸⁰], die im Universum kreisen? Und auch unbedeutend als Wahrscheinlichkeit: Ist es nicht ein
unwahrscheinlicher Zufall, daß sich unser Planetensystem durch zufällige Annäherung zweier
Sterne gebildet hat und daß auf einem dieser Planeten es den lebenden Organismen gelungen ist,
sich zu bilden und in Evolution zu bleiben? … Und was bleibt da angesichts der kosmischen
Majestäten und Unausweichlichkeiten von unserer Größe und unserer Konsistenz?
«Durch ein für die Evolution des Universums ohne Folgen bleibendes Mißgeschick», sagt
Eddington, «sind einige Materieblöcke dem reinigenden Schutz der Sternenhitze oder der
interplanetarischen Kälte entgangen. Der Mensch ist ein Ergebnis diese zufälligen Mangels an
antiseptischen Vorsichtsmaßregeln.»
«Was ist letztlich das Leben?» fährt Sir Jeans fort. «Sozusagen irrtümlich in ein Universum
fallend, das ganz offensichtlich nicht für es gemacht war; an einen Sandkornsplitter geklammert
bleiben, bis die Kälte des Todes uns der rohen Materie zurückgegeben hat; und während einer
(322) ganz kleinen Stunde auf einer ganz kleinen Bühne aufspielen, während wir sehr wohl
wissen, daß alle unsere Bestrebungen zum schließlichen Scheitern verurteilt sind und daß alles,
was wir geschaffen haben, mit unserem Geschlecht zugrunde gehen wird, während wir das
Universum zurücklassen, als hätten wir nicht existiert… Das Universum steht jeder Art von
Leben gleichgültig [oder sogar aktiv feindlich] gegenüber.»
Schwindelgefühl und Entmutigung.
Das ist unvermeidlich unsere erste menschliche Reaktion auf die Offenbarung der beiden
Unendlichen. Doch dürfen wir wirklich diesem anfänglichen Schock mit intellektueller
Ehrlichkeit nachgeben? Sollte also alles an der Priorität, die das menschliche Bewußtsein seit
jeher dem Geist vor der Materie zuerkannte, wissenschaftlich falsch oder unbegründet sein?
Oder aber sollten wir, um den Wert des Geistes zu retten, gezwungen sein, uns in einen
unmöglichen Dualismus zu flüchten, so als ob Materie und Denken zwei getrennte, einander
koextensive und doch kein gemeinsames Maß habende Universen bildeten?
Um aus dieser paradoxen Lage herauszukommen – um sowohl den physischen Wert des Geistes
angesichts der Materie und den Wert des Physischen angesichts der geistigen Phänomene zu
wahren, schlage ich Ihnen heute vor, im Universum außer der unendlichen Größe und der
unendlichen Kleinheit einen dritten Abgrund in Betracht zu ziehen: den der Komplexität.
B. DAS UNENDLICH KOMPLEXE ODER DAS WIEDERAUFTRETEN
DES LEBENS
Und zunächst, was meine ich, wenn ich von ‹Komplexität› spreche? (323)
Unter Komplexität eines Ganzen verstehe ich nicht nur die Anzahl und die Mannigfaltigkeit der
dieses Ganze bildenden Elemente. Vielmehr denke ich noch mehr an ihre Anordnung. Ohne
144
Ordnung miteinander verbunden, würden die 360 Arten von atomaren Kernen, vom Wasserstoff
bis zum Uran, die heute der Physik bekannt sind, eine Heterogenität bilden und keine
Komplexität. So wie ich sie hier verstehe, ist die Komplexität eine organisierte Heterogenität –
und folglich zentriert. In diesem Sinne ist ein Planet heterogen, aber er ist nicht komplex. – Es
sind also zwei verschiedene Faktoren oder Glieder notwendig, um die Komplexität eines
Systems auszudrücken: der eine ist Ausdruck der Zahl der in dem System enthaltenen Elemente
oder Elementengruppen; der andere, viel schwieriger darzustellende, ist Ausdruck für die Zahl,
die Mannigfaltigkeit und die Enge der zwischen diesen Elementen bei einem Minimum von
Volumen bestehenden Bindungen [die Dichte].
Nach dieser Begriffserklärung wollen wir uns wieder unserer Stufenleiter der kosmischen
Größen [Figur 1] zuwenden und sie, beim Winzigen anfangend, emporsteigen. Dieser Richtung
folgend werden, das wissen wir, die materiellen Korpuskeln immer größer. Doch in welcher
Weise werden sie größer? Indem sie, wie manche Sterne, immer umfangreichere Agglomerate
bilden? … Keineswegs [das wissen wir heute sehr genau] – sondern indem sie sich derart
vereinen, daß sie wirkliche ‹Komplexe› bilden, in denen die Atome sich organisch zu einfachen
Molekülen gruppieren, die einfachen Moleküle zu Supermolekülen, die Supermoleküle zu
Mizellen, die Mizellen zu freien Zellen, die Zellen zu Pflanzen und zu Tieren.
Betrachten wir nunmehr diese verschiedenen Komplexe als solche und versuchen wir, koste es,
was es wolle, ihren Komplexitätsgrad zu messen – indem wir zunächst nur (324) den Faktor
‹Anzahl der miteinander verbundenen Atome› berücksichtigen.
Solange wir uns in der sogenannten ‹anorganischen› Chemie aufhalten, bleibt diese Zahl klein;
und bei den größten Molekülen bleibt sie um Hundert [10²]. In der organischen Chemie dagegen
steigen die Zahlen rasch an. Im Fall der einfachsten Albumine erreichen sie oder übersteigen sie
sogar weit die Zehntausend. Im Fall der filtrierbaren Viren [jener rätselhaften Korpuskeln, von
denen man nicht sagen kann, ob sie noch chemische Moleküle oder Infrabakterien sind] sind wir
bereits in der Größenordnung der Millionen [17 x 10⁶ im Fall des Tabakvirus]. Meines Wissens
hat sich bisher noch niemand daran versucht, die in der einfachsten tierischen Zelle enthaltenen
Atome zu zählen. Schätzen wir, um bescheiden zu sein, daß die Zahl die Milliarden übersteigt
[sagen wir 10¹⁰]. Da der Mensch annähernd aus tausend Billionen Zellen [10¹²] gebildet ist, wird
die Zahl der zur Bildung unseres Körpers gruppierten Atome etwas wie 10²², das heißt, wir
befinden uns bereits in der numerischen Größenordnung der Galaxien!
Doch diese astronomische Zahl, das ist wohl festzuhalten, bringt nur einen ganz kleinen Teil
dessen zum Ausdruck, was ich ‹die Komplexität› eines Ganzen genannt habe. In einer Zelle zum
Beispiel sind die Atome nicht in homogener Weise verteilt [wie z. B. die Radien einer Kugel]:
vielmehr bilden sie ein hierarchisches System korpuskularer Gruppen verschiedener
Ordnungen, in dem mechanische Bindungen osmotische Bindungen überlagern, die selbst
wieder elektronische Bindungen überlagern [um nur diese zu erwähnen]. In einem
Kubikzentimeter Luft, so sagte ich Ihnen, gibt es drei Milliarden Milliarden [3 x 10¹⁸] zufällig
gruppierte Atome. In einem Kubikzentimeter lebender Materie gibt es also Billionen einander
zugeordneter Partikeln [man könnte fast sagen, Billionen (325) von Räderwerken]… Der Geist
steht verwirrt vor dieser Evidenz.
Versuchen wir nunmehr, die Komplexität als Funktion der Größe symbolisch und graphisch
sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck wollen wir wieder die senkrechte Skala der beiden
Unendlichen, die wir bereits kennen, vornehmen und auf eine waagrechte Achse die
korpuskularen Komplexitäten derart auftragen, wie wir sie oben in erster Annäherung geschätzt
haben [d. h. ohne die Zahl der Bindungen zu berücksichtigen]. Danach legen wir für jede
145
Korpuskel den zugleich ihren Dimensionen und ihrer Kompliziertheit entsprechenden Punkt
fest. Wir erhalten so eine zunächst wenig von der Senkrechten entfernte Kurve, die aber bald
fast der waagrechten Achse anliegt. Deuten wir nunmehr diese Kurve. Was lehrt sie uns?53
Als ein erstes wird sichtbar, daß man, um das Universum darzustellen, nicht nur zwei, sondern
[zumindest] drei Unendliche in Betracht ziehen muß. Die bloße Prüfung der Zahlen zeigt das an.
Die in zurückhaltendster Weise geschätzte ‹Komplexität› ist ein ebenso tiefer Abgrund wie das
Winzige und das Unermeßliche. In einem Universum mit nur zwei Unendlichen können die
höheren Lebewesen [der Mensch zum Beispiel] als ‹Mittelwerte› betrachtet werden. In einem
Universum mit drei Unendlichen jedoch heben sie sich von den anderen, nicht komplexen
mittleren Größen ab; sie erhalten die Spitzenstellung eines besonderen Zweiges; und in dieser
Endstellung [in der sie unmittelbar die Abstammungslinie der Atome und Moleküle verlängern]
bilden sie mit demselben Recht wie eine Milchstraße oder ein Elektron ein Extrem.
Sie bilden ein Extrem, sagte ich.
Jetzt aber aufgepaßt! (326)
An den Extremen, so habe ich Ihnen ober erklärt, wechselt das Universum die Gestalt. Sein Stoff
wird zum Sitz neuer Effekte. Sagen, die Tiere, die Menschen stellen auf ihrer Linie ein Ende der
Welt dar, heißt also implizit aussagen, daß sie, hierin dem Winzigen und dem Unermeßlichen
gleich, irgendeine besondere Eigenschaft besitzen müssen, die ihrer besonderen Form des
Unendlichen spezifisch ist. Im Unermeßlichen die Effekte der Relativität, im Winzigen die
Quanteneffekte. In den sehr großen Komplexen, was? …
Was?
Aber warum denn nicht das Bewußtsein und die Freiheit? Und das ist wirklich die Perspektive,
die sich auftut. Jedermann weiß seit jeher, daß die belebte Materie mit Spontaneität, verstärkt
durch psychische Innerlichkeit, begabt ist. Jedermann weiß heute auch, daß diese organische
Materie irrsinnig kompliziert ist. – Weshalb sollte man im Lichte der großen Entdeckungen der
modernen Physik nicht ganz einfach setzen, daß zwei und zwei vier ist?
Mit anderen Worten, weshalb sollte man nicht, das Problem zur Lösung umwandelnd, folgendes
sagen:
«Die ganz träge Materie, die völlig rohe Materie, gibt es nicht. Vielmehr enthält jedes Element
des Universums in einem zumindest infinitesimalen Grad irgendeinen Keim der Innerlichkeit
und der Spontaneität, das heißt des Bewußtseins. In den sehr einfachen und maßlos zahlreichen
Korpuskeln [die sich uns nur durch ihre statistischen Effekte kundtun] bleibt diese Eigenschaft
für uns so unwahrnehmbar, als wäre sie nicht vorhanden. Andererseits wächst ihre Bedeutung
mit der Komplexität – oder, was auf dasselbe hinausläuft, mit dem Grad der ‹Zentrierung› der
Korpuskel auf sich selbst. Von einer atomaren Komplexität in der Größenordnung der Millionen
[Virus] an beginnt sie für unsere Erfahrung zu emergieren. Weiter oben (327) wird sie durch
aufeinanderfolgende Stoßwellen [durch eine Reihe psychischer ‹Quanten›54] evident. Im
Menschen schließlich erreicht sie infolge des kritischen Punktes der ‹Reflexion› die denkende
Form und wird von da an dominierend. – Ebenso wie die großen Zahlen im Winzigen den
Determinismus der physikalischen Gesetze erklären; und ebenso wie die Raumkrümmung im
Unermeßlichen die Gravitationskräfte erklärt; – so läßt in dem dritten Unendlichen die
53 (FN 2) Figur 2, Seite 329. 54 (FN 3) Natürlich wird die spiritualistische Philosophie unter diese Stoßwellen die schöpferischen Pulsschläge stellen müssen, die ihre Prinzipien verlangen.
146
Komplexität [und die ‹Zentriertheit›, die sie zur Folge hat] die Phänomene der Freiheit
hervortreten.»
Wird nicht in dem uns umgebenden Universum auf diese Weise alles klarer?
Und die Sterne, werden Sie mir sagen? Und die Milchstraßen? Sie haben nichts darüber gesagt.
Was wird aus ihnen in dieser Geschichte?
Trotz ihrer korpuskularen Erscheinungsformen bilden die Sterne gewiß nicht eine natürliche
Verlängerung der Abstammungsreihe der Atome. Diese, so haben wir gesehen, kulminiert mit
dem Leben im mittleren Bereich der Welt. Doch sie bilden symmetrisch ein Gegenstück zu dieser
Abstammungslinie auf seiten des Unermeßlichen. Die Sterne, so könnte man sagen, sind die
Laboratorien, das zeugende Milieu, ‹die Gebärmutter› der Atome. Je größer der Stern ist, desto
einfacher ist seine Zusammensetzung. Umgekehrt, je kleiner und abgekühlter [bis zu einem
gewissen Optimum] ein Himmelskörper ist, desto mehr wächst die Reihe seiner Elemente zu
komplexen Gebäuden zusammen. Das ist der Fall der Erde, des einzigen bekannten (328) Sterns,
auf dem wir die höheren Phasen dieser Entwicklung verfolgen können. Unter diesem
Gesichtspunkt stellt sich das Auftreten des Lebens als ein gemeinsamer Effekt der ‹Gase aus
Galaxien› und der ‹Gase aus Elektronen› dar, die aufeinander in den mittleren Dimensionen
reagieren. – Das drückt recht linkisch der obere Ast der ‹Planetisation› aus, der auf der Figur 2
oberhalb der Molekularisationsebene eingezeichnet ist.
147
Eine geschickte Theorie –, sogar eine verführerische Theorie, werden Sie mir weiter sagen. Doch,
was beweist uns, daß diese Theorie besser sei als die andere? Was sagt uns, daß sie wahr ist?
Das habe ich Ihnen noch aufzuzeigen. (329)
C. DAS UNIVERSUM MIT DREI UNENDLICHEN ODER DER
HERVOR-RAGENDE MENSCH
In der Wissenschaft [und auch sonst…] ist der große Wahrheitsbeweis die Kohärenz und die
Fruchtbarkeit. Für unseren Verstand ist eine Theorie um so sicherer, je mehr Ordnung sie in
unser Weltbild bringt – und wie sie sich zugleich fähiger erweist, unser Vermögen zu forschen
und zu bauen weiter nach vorn zu lenken und zu stützen. [Wahre Theorie = die vorteilhafteste.]
Nachdem dies begriffen ist, versetzen wir uns [zumindest vorläufig und als Hypothese] in das
vorgeschlagene Universum mit drei Unendlichen. Tun wir so, als sei es das wahre – und
versuchen wir zu schauen, was geschieht.
Unmittelbar wird eine lange Reihe von Schlußfolgerungen sichtbar, deren engverknüpfte Kette
uns viel weiter, als Sie glauben, in Richtung der Harmonisierung unseres Wissens und der
Lenkung unseres Tuns führt.
In erster Linie zeichnet sich ein natürlicher Zusammenhang zwischen den beiden bisher als nicht
aufeinander rückführbar geltenden Welten der Physik und der Psychologie ab. Materie und
Bewußtsein verbinden sich miteinander: nicht in dem Sinne, daß das Bewußtsein unmittelbar
meßbar würde –, sondern in dem Sinne, daß es organisch, physisch in demselben kosmischen
Prozeß einwurzelt wie jenem, mit dem sich die Physik befaßt.
In zweiter Linie, und zwar gerade auf Grund dieser Tatsache, hört das Bewußtsein auf, ein
zufälliges, wunderliches, abwegiges, akzidentelles Ereignis im Universum zu sein. Es wird im
Gegenteil ein normales und allgemeines Phänomen, das an eine umfassende Trift der
kosmischen Substanz zu immer höheren molekularen Gruppierungen gebunden ist. Das Leben
tritt überall im Universum auf, wo es möglich wird. (330)
Drittens schickt sich das Phänomen Bewußtsein auf Grund eben der Tatsache, daß man es als ein
allgemeines erkennt, an, sich als ein wesentliches, grundlegendes zu setzen. Nicht nur ein
physisches Phänomen, sondern das Phänomen. Wir wußten bereits seit einigen Jahren, daß die
Materie die Neigung hat, nach unten hin durch den Zerfall der atomaren Kerne zu verschwinden.
Nun aber zeigt sich symmetrisch dazu das Leben als der genau umgekehrte Prozeß einer
korpuskularen Zusammensetzung. Dort Sturz in die großen Zahlen in Richtung immer
wahrscheinlicherer Zustände. Hier beharrlicher, unglaublicher, aber unleugbarer Aufstieg zu
den kleineren Zahlen durch das Unwahrscheinliche hindurch. Die beiden Bewegungen sind von
derselben Weite: universell. Während aber die erste der beiden zerstört, baut die zweite auf.
Sollte da nicht die letztere, der Aufstieg des Bewußtseins, die wahre Bahn unseres Universums
durch die Zeit darstellen – die eigentliche Achse der Kosmogenese? …
Und damit [vierte Schlußfolgerung] wird wissenschaftlich die Bedeutung des Menschen größer
und sein Ort präzisiert.
Auf der Molekularisationskurve, so wie wir sie aufgezeichnet haben, ist der Mensch
offensichtlich seiner Größe nach nicht der erste. Der Menge der in seinem Körper
zusammengefaßten Korpuskeln [seiner rohen Molekularzahl] nach bleibt er, das ist klar,
unterhalb des Elefanten oder des Walfisches. Andererseits aber hat in ihm gewiß in den
Tausenden von Millionen Zellen seines Gehirns die Materie heute ihr Maximum an verknüpfter
148
Kompliziertheit, an zentralisierter Organisation erreicht. Chronologisch und strukturell ist der
Mensch unbestreitbar in dem Feld unserer Erfahrung das zuletzt gebildete, das höchst komplexe
und gleichzeitig das zutiefst zentrierte von allen ‹Molekülen›. (331)
Es finden sich noch einige Physiker, die sich über «die Anmaßung des Menschen, sich in der Welt
eine unerklärliche Überlegenheit beizumessen» lustig machen. Ich bin überzeugt, in einer
Generation wird die von den Gelehrten übernommene Einstellung die J. Huxleys sein, der
erklärt, der Mensch ist der höchste, der reichste, der bedeutungsvollste der unseren
Forschungen zugänglichen Gegenstände, weil in ihm für unser Erkennen die kosmische
Evolution derzeitig kulminiert – die durch unsere Reflexion hindurch ihrer selbst bewußt
gewordene Evolution. Die alte Anthropozentrik hatte unrecht, als sie sich den Menschen als
geometrisches und juridisches Zentrum eines statischen Universums vorstellte. Doch ihre
Ahnungen bewahrheiten sich in einer zugleich erhabeneren und demütigeren Weise, sobald der
Mensch [den man in einem von der Physik maßlos vergrößerten Universum ertrunken glauben
konnte] an der Spitze der die Welt mitreißenden kosmischen Molekularisationswelle wieder
auftaucht.
Alles findet seinen Platz, alles nimmt Gestalt an von unten bis oben in der Gegenwart und der
Vergangenheit eines Universums, in dem es einer verallgemeinerten Physik gelingt, die
Phänomene der Strahlung und das geistige Phänomen zu umfassen, ohne sie ineinander zu
verschmelzen. Kohärenz.
Und darüber hinaus erhellt sich alles [wenn auch nur in diffuser Weise – wie es angemessen ist]
in Richtung der Zukunft. Fruchtbarkeit.
Auf diesen entscheidenden Punkt möchte ich noch eingehen, bevor ich zum Ende komme.
Es ist ein offenkundiges Charakteristikum der Molekularisationskurve, so wie sie aufgezeichnet
ist, daß sie nicht geschlossen, nicht zum Stillstand gekommen ist. Darf man annehmen, daß sie,
die gegenwärtig im Menschen endigt, sich noch weiter fortsetzen könne und müsse? Und wie?
(332) Der Mensch ist im Augenblick eine ‹Klimax› im Universum; und auch ein Pfeil in dem Maße,
wie er durch seinen intensiven Psychismus die Wirklichkeit eines Aufstiegs des Bewußtseins
durch die Dinge bestätigt und seine Richtung festlegt. Doch sollte er nicht auch die Knospe sein,
aus der etwas Komplizierteres und Zentrierteres als der Mensch selbst emergieren muß?
Hier taucht eine Möglichkeit auf, zu der ich hier die Beweise und die Einzelheiten nicht
entwickeln kann, bei der es jedoch wesentlich ist, ihren Platz in einer allgemeinen Perspektive
des Universums mit drei Unendlichen, so wie ich es vorgelegt habe, zu bezeichnen.
Beim Menschen haben wir bisher nur das individuelle Gebilde in Betracht gezogen: den Leib mit
seinen tausend Billionen Zellen und vor allem das Gehirn mit seinen tausend Millionen
Nervenkernen. Doch stellt nicht der Mensch, der ein in bezug auf sich selbst zentriertes
Individuum ist [d.h. eine ‹Person›], nicht gleichzeitig in bezug auf irgendeine neue und höhere
Synthese ein Element dar? – Wir kennen die Atome, Summen von Kernen und Elektronen – die
Moleküle, Summen aus Atomen – die Zellen, Summen von Molekülen… Sollte es nicht uns
vorausliegend eine in Bildung begriffene Menschheit geben, Summe organisierter Personen? …
Und ist das nicht übrigens die einzige logische Weise, durch Rekursion [in der Richtung von mehr
zentrierter Komplexität und mehr Bewußtsein] die universelle Molekularisationskurve zu
verlängern?
Das ist die von der Soziologie schon lange gehegte Idee, die heute, nunmehr wissenschaftlich
begründet, in den Büchern der Fachgelehrten [Haldane, Huxley, Sherrington und viele andere]
149
wieder zutage tritt. Phantastisch werden Sie sagen. Doch muß nicht alles, wenn es nicht falsch
sein will, in Richtung der drei Unendlichen phantastisch sein? (333)
Hier darf man sich wohlverstanden nicht in lächerliche Phantastereien verlieren.
Es ist noch unmöglich, sich die Modalitäten oder die Erscheinungsformen vorzustellen, die diese
ungeheure Hyperzelle, dieses Gehirn aus Gehirnen, die auf der Oberfläche der Erde von allem
Geist insgesamt gewebte ‹Noosphäre›, annehmen könnte. Alles, was wir darüber sagen können,
ist, daß innerhalb dieses absolut neuen [und folglich unvorstellbaren] Typs der Biosynthese die
individuellen Freiheiten nur als durch eben die Wirkung ihres wechselseitigen
Zusammenschlusses auf ihr Maximum gebracht vorgestellt werden können. – Doch es wäre
vergeblich und sogar gefährlich zu versuchen, sich die Form der menschlichen Zukunft
vorzustellen. Es ist bereits enorm, die Dimensionen und die Existenz dieser Zukunft voraussehen
zu können. Wir beginnen jetzt zu begreifen, was wir während der Billionen von Jahrhunderten
zu tun haben werden, die die Menschheit vielleicht noch, nach Ansicht der Astronomen, zu leben
hat. Und wir können nunmehr auf Grund gegebener Größen kosmischer Fülle und
Zuverlässigkeit bestimmen, in welcher allgemeinen Marschrichtung wir voranzukommen
versuchen müssen: durch immer mehr Eroberungen zu immer mehr Vereinigung.
Doch wenn wir einmal in diese Richtung aufgebrochen sind, können wir unmöglich
stehenbleiben. Und zwar aus folgenden Gründen:
Wenn man, die Kurve der Komplexitäten emporsteigend, in die höchsten Bereiche des
Bewußtseins gelangt, erwachen nicht nur neue Eigenschaften; vielmehr wird eine besondere
Form von Energie sichtbar; oder genauer: Es zeigt sich eine Art neuer Krümmung, in die sich alle
anderen Formen von Energie einbeugen. – Es ist nämlich nicht genug, daß der Mensch die
erforderliche Kraft zur Verfügung habe, sich über sich selbst hinaus zu synthetisieren. Es (334) ist
auch notwendig, daß er es will. Und deshalb muß er die Lust haben, weiter zu gehen – das heißt,
er muß unter dem Einfluß einer Art innerer ‹Gravitation› durch das Innen nach oben angezogen
werden. Die ‹überdrüssige› Menschheit, die nicht mehr zum Mehrsein angezogene Menschheit,
wird unfehlbar und rasch verlöschen, selbst wenn astronomische Kalorienmengen in ihre Hände
gegeben sind.
Doch was ist nötig, damit wir nicht nur freudig, sondern leidenschaftlich es auf uns nehmen, die
immer schwerere und kompliziertere uns von der kosmischen Synthese abgeforderte Arbeit
weiter voranzutreiben? Welcher Bedingung muß das Universum unbedingt genügen, damit wir
zu immer mehr Bewußtsein hingezogen seien?
Diese Bedingung ist [nach Meinung all derer, die versucht haben, den psychologischen
Mechanismus des Tuns zu vertiefen], daß wir von der Bewegung, die uns nach vorne ruft,
annehmen können, daß sie nicht von vornherein dazu verurteilt sei, zum Stillstand zu kommen
oder zurückzufallen, sondern ihrer Natur nach irreversibel ist. Versprechen Sie einem Menschen
so viele Millionen Jahre, wie Sie wollen. Lassen Sie ihn am Ende dieses Zeitraums einen so hohen
Gipfel [d. h. so übermenschlichen Gipfel] sehen, wie Sie wollen. Wenn von diesem Gipfel, ist er
einmal erreicht, von vornherein feststeht, daß wir ihn wieder hinabsteigen müssen, ohne daß
irgend etwas im Universum von unserem Aufstieg überlebt – nun so erkläre ich Ihnen, dann
werden wir nicht den Mut haben, den Weg zu gehen, und wir werden ihn nicht gehen. Niemals
wird der Mensch sich einverstanden erklären [was Jeans und Langevin auch darüber sagen
mögen], wie ein Sisyphus zu arbeiten.
Es genügt, also nicht, zur Ausgeglichenheit unserer Vorstellungen vom Universum ‹die
Molekularisationskurve› bei der Bildung eines Bewußtseins, und wäre es planetar, (335) enden zu
150
lassen. Es ist andererseits nicht möglich anzunehmen, daß sie sich gleich den Raumlinien
zurückkrümmt und nach rückwärts einbiegt. Vielmehr muß kraft der neuen Bedingungen, die
erst das Auftreten und die Erfordernisse eines reflektierten, der Kritik seiner Zukunft und der
Ablehnung des Fortschritts fähigen Denkens auferlegen, anerkannt werden, daß ihre Bahn
endgültig nach vorn in Richtung eines höchsten Zentrums personalisierender Zentrierung und
Konsolidierung entflieht. – Und hier, da dieses Zentrum der Irreversibilität einmal entdeckt ist,
strahlt das Licht nach hinten zurück und erleuchtet den tiefen Mechanismus des Phänomens. In
einem ersten Schritt konnten wir mit Erstaunen, ohne ihn zu erklären, den beharrlichen Aufstieg
wider den Strom eines Teiles der Welt zu immer unwahrscheinlicheren Zuständen der
Komplexität feststellen. – Jetzt begreifen wir, daß diese paradoxe Bewegung im Vorausliegenden
von einem ersten Beweger getragen ist. Der Zweig steigt nicht von seiner Basis getragen,
sondern an der Zukunft aufgehängt empor. Das macht die Bewegung nicht nur irreversibel,
sondern unwiderstehlich. Unter diesem Gesichtspunkt [nicht mehr der Gesichtspunkt der
einfachen Antezedenzien, sondern der der Kausalität] gewinnt die Evolution für unseren
Verstand und unser Herz ihre wahre Gestalt. Sie ist nicht ‹schöpferisch›, wie die Wissenschaft
einen Augenblick lang hat glauben können; vielmehr ist sie in der Zeit und im Raum für unsere
Erfahrung der Ausdruck der Schöpfung.
Und so erscheint letzten Endes über der wiedergefundenen Größe des Menschen, über der
entdeckten Größe der Menschheit, die die Unversehrtheit der Wissenschaft nicht vergewaltigt,
sondern wahrt, in unserem modernsten Universum wieder das Antlitz Gottes.
Mein Ziel war, als ich diese Zeilen niederschrieb, ich betone (336) das noch einmal, Ihnen neue
Horizonte zu öffnen, Sie zum Nachdenken anzuregen.
Nun, der Gedanke, den ich Ihnen zu überlegen gebe, ist folgender:
«Da nun einmal durch die Hineinnahme des großen Komplexes in die Überlegung die Wand
zertrümmert ist, die für die Wissenschaft das Bewußte vom Unbewegten trennte, überlagert
eine Energetik des Geistes die Energetik der Materie. Das Gleichgewicht der Welt läßt sich nicht
mehr restlos durch die Einsteinschen Formeln ausdrücken [diese gelten nämlich nur für ein
Universum mit zwei Unendlichen]. In einer Welt mit drei Unendlichen aber muß man, um das
ganze Phänomen zu wahren, Größen-Werte des Tuns einführen. Die Welt kann, seitdem sie
menschlich geworden ist, zu mehr Komplexität und Bewußtsein weiterhin nur voranschreiten,
indem sie den geistigen Kräften der Erwartung und der Hoffnung, das heißt der Religion, einen
immer ausdrücklicheren Platz einräumt.»
Und da unter denen, die mir zuhören, viele Christen sind, lassen Sie mich für sie folgendes
hinzufügen:
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts konnte das christliche Weltbild in gewissen Augen
altmodisch und überholt erscheinen, weil es an der Basis seiner Konstruktionen unnachgiebig
festhielt:
1. Am Glauben an einen Gott, personales Zentrum des Universums.
2. Am Glauben an den Primat des Menschen in der Natur.
3. Am Glauben an eine gewisse Totalisation aller Menschen im Schoße ein und desselben
spiritualisierten Organismus.
151
Ist es nicht bemerkenswert, daß durch eben diese drei Charakteristika, die das Christentum als
eine veraltete und überholte Lehre zu kennzeichnen schienen, die wir aber (337) nunmehr alle
drei [zumindest andeutungsweise] in unserem Universum mit drei Unendlichen wiederfinden,
das Christentum jetzt dahin strebt, sich vor unserer Vernunft als die fortschrittlichste Religion
darzustellen?... Und nun noch eine Bemerkung zum Schluß.
Es ist eine der Konsequenzen, so sagte ich eben, der Theorie der drei Unendlichen, daß wir für
die Zukunft zu der Mutmaßung kommen, auf Erden werde sich eine höher organisierte und
zentrierte Form der Menschheit herausbilden. Straft nicht das erschreckende Schauspiel des
gegenwärtigen Kriegs aus der Erfahrung heraus diese Vorhersage Lügen und damit das ganze
System, das sie einführt?
Ich glaube nein.
Es macht meiner Ansicht nach für uns das Leiden und das Ärgernis der Stunde aus, daß wir als
mikroskopische Elemente in der im Gange befindlichen Transformation ertrinken, daß wir sie
im einzelnen erleiden, und von innen her. Die elementaren Stöße dominieren und verbergen uns
den allgemeinen Gang des Phänomens. Die Bäume verbergen uns den Wald.
Doch stellen wir uns einen Beobachter vor, der auf einem anderen Stern die Möglichkeit
gefunden hätte, durch eine Art Spektralanalyse die schrittweise Entwicklung dieser Aureole
denkender Energie um die Erde herum zu verfolgen, der ich den Namen ‹Noosphäre› glaubte
geben zu können. Es steht außer Zweifel, daß für einen derartigen Bobachter unser Planet,
nachdem er seit fünfhundert Millionen Jahren beständig an psychischer Temperatur
zugenommen hat, in diesem Augenblick eine bisher noch nie gekannte Helle immer wachsenden
Bewußtseins erreicht. Denn ganz sicher sind zu keinem Augenblick der dreihunderttausend
Jahre ihrer Geschichte die menschlichen Atome jemals weder zahlreicher noch enger ineinander
eingerollt, noch zu einem derartigen Grad psychischer (338) Spannung emporgehoben gewesen –
in ihrer Totalität. Einengung in einen mörderischen Leib – noch mit Haß geladene Spannung,
leider! – Doch für den fernen Beobachter, den wir uns vorgestellt haben, würden diese inneren
Reibungen und Spaltungen sekundär erscheinen. Was ich ihm zeigen würde, was er in seinen
wissenschaftlichen Berichten festhalten würde, ist ein Schritt nach vorn, ein kritischer Schritt in
der vorausgesehenen Richtung der Superzustände des Bewußtseins und der Supereinheit auf
der Oberfläche der Erde.
Lassen Sie mich mit dieser optimistischen Aussage schließen – die sich nicht auf das Gefühl,
sondern auf die Prüfung der grundlegendsten Bewegungen des Universums stützt:
«Prüft man die Krise, durch die wir hindurchgehen, im Lichte einer allgemeinen Wissenschaft
von der Welt, die den geistigen Energien in einem dritten Unendlichen ihren Platz einzuräumen
versteht, so hat die Krise ein ‹positives Vorzeichen›. Sie zeigt nicht die Charakteristika eines
Zerfalls, sondern die einer Geburt. Erschrecken wir also nicht vor dem, was auf den ersten Blick
eine endgültige und universelle Zwietracht zu sein scheinen möchte. Was wir erleiden, ist nur
der Preis, die Ankündigung, die Vorphase unserer Einmütigkeit.»
Unveröffentlichter, am 15. November 1942 in Peking gehaltener Vortrag. (339)
152
XVI
ZOOLOGISCHE EVOLUTION UND ERFINDUNG
Um uns herum bietet die Menschheit das seltsame Schauspiel einer großen tierischen Gruppe
auf dem Wege immer weiter vorangetriebener [zugleich materieller und psychischer]
Anordnung in sich selbst. Wie soll man dieses Phänomen der Sozialisation deuten? Stellt es
lediglich in der Natur eine zufällige und sekundäre Neugruppierung dar, ohne präzisen
biologischen Wert oder biologische Bedeutung? Oder aber müssen wir im Gegenteil darin die
natürliche und legitime Weiterführung [auf einer höheren Ebene und in einer höheren Ordnung]
derselben Bewegung sehen, die seit immer schon die lebende Materie zu Zuständen wachsender
Komplexität und wachsenden Bewußtseins mitreißt? – Eine, das vergißt man allzuoft, vitale
Frage für den Moralisten und den Soziologen, deren Hauptanliegen es ist, rational den Sinn und
die Gesetze des menschlichen Schicksals zu bestimmen. Aber auch eine grundlegende Frage, das
möchte ich hier aufzeigen, für den Biologen, der sich dem Problem der Transformationen des
Lebens widmet. Versuchen wir in der Tat, uns auf den Standpunkt der zweiten Hypothese zu
stellen – jener nämlich, in der das soziale Phänomen eine Anordnung eigentlich evolutiven und
organischen Werts verraten würde. Mit dieser Perspektive [deren einleuchtende Aspekte ich an
anderer Stelle im Anschluß an viele andere aufzuzeichnen versucht habe] ist uns, das ist klar,
eine ganz besondere wissenschaftliche Forschungsmethode in die Hand gegeben.
Wenn sich nämlich in der menschlichen Kollektivisation [und, so muß man hinzufügen, in den
Autotransformationen, denen seinen eigenen Organismus genetisch und morphogenetisch zu
unterwerfen der Mensch bald fähig (341) sein wird] authentisch der zoologische
Evolutionsprozeß fortsetzt, das heißt, wenn wirklich [wie Julian Huxley geschrieben hat] der
Mensch nichts anderes als die ‹reflexiv› ihrer selbst bewußt gewordene Evolution ist – dann
folgt logisch daraus, daß wir durch die Introspektion uns in die Lage versetzt sehen müssen,
unmittelbar in den Modalitäten selbst unseres Tuns zumindest gewisse Faktoren in voller
Funktion zu erfassen, die bereits früher die Transformation des Lebens beherrscht haben. Und
insbesondere drängt sich dem Geist die Idee auf, daß beim Auftreten neuer zoologischer
Charakteristika den Kräften der ‹Erfindung› vielleicht eine wichtige Rolle eingeräumt werden
müßte. Das bedeutet zum Beispiel, daß wir uns das Auftreten und die Stellung des Flügels oder
der Flosse oder sogar des Auges und des Gehirns nicht bis ins letzte erklären könnten, ohne in
gewissem Grade die psychischen Fähigkeiten und Arbeitsweisen einzuführen, die von unseren
Konstrukteuren ins Spiel gebracht werden, um die zahllosen Apparate aufzubauen, durch die
jeden Tag unser Fortbewegungs-, Aktions- und Sehvermögen ausgeweitet werden. Genügt es
nicht, um zu erfahren, wie das Leben vorgeht [wenn wirklich das Leben in uns am Werke ist],
uns bei der Arbeit zu beobachten?
Wohlgemerkt, zwei Grundschwierigkeiten werden unmittelbar sichtbar, die theoretisch die
praktische Anwendung einer derartigen Schlußweise einschränken. Einerseits beweist, selbst
wenn man anerkennt, daß vom Menschen [dem reflektierten Tier] an der Faktor ‹Erfindung› in
den Schritten der Evolution vorrangig wird, nichts a priori, daß unterhalb des Menschen das
Wirken dieses selben Faktors nicht so schwach sei, daß es sich jeder Beobachtung entzieht.
Andererseits und darüber hinaus gibt uns, selbst wenn man anerkennt, daß bei den
vormenschlichen tierischen Formen das Psychische in beachtenswerter Weise das
Morphologische (342) kontrolliert, nichts die Gewähr, daß dieses Psychische [nicht reflektierter
Art] von dem unsrigen in seinen Modalitäten und seinem Funktionieren nicht derart
verschieden sei, daß jeder Vergleich illusorisch und unfruchtbar bleibt.
153
Es bleibt jedoch die Tatsache, daß durch den Fall des Menschen – und zwar unausweichlich – das
Problem gestellt ist, ob nämlich in dem Mechanismus der zoologischen Evolution nicht den
Bewußtseinseffekten ein Platz offengehalten werden muß. Es wäre angemessen, uns jedesmal
daran zu erinnern, wenn in der Analyse dieser Evolution sich ein Rückstand zeigt, der nicht auf
die gewöhnlichen Faktoren des Zufalls der Vererbung und der Auslese reduzierbar ist. Wirklich,
ist es nicht ein gewagtes Spiel [um nicht zu sagen, ein Widerspruch], durch das bloße Spiel der
Wahrscheinlichkeiten die beständige Trift der organisierten Materie zu immer
unwahrscheinlicheren Formen der Anordnung erklären zu wollen? Das Leben baut
unbestreitbar Automatismen auf, die wir wissenschaftlich begreifen müssen. Doch baut es sie
absolut automatisch auf? Das macht die ganze Frage aus.
Heute wirkt vor unseren Augen die ‹Erfindung› als Faktor einer unbestreitbaren menschlichen
Orthogenese. Wann und in welchen Formen hat diese Verhaltensweise begonnen? Und in
welchen Tiefen in den Schichte des Lebens?
Internationales Kolloquium in Paris unter dem Patronat des Centre national de la Recherche Scientifique, April 1947.
Paléontologie et Transformisme, Albin Michel, 1950. (343)
XVII
DIE SCHAU IN DIE VERGANGENHEIT
Was er zur Wissenschaft beiträgt und was er ihr nimmt
In Richtung des Unermeßlichen ebenso wie des Winzigen – hier mit dem Elektronenmikroskop,
dort mit Hilfe der Riesenteleskope – strebt die moderne Wissenschaft mit allen Kräften, ein
Sehvermögen im Raum zu entwickeln, ein Sehvermögen, von dem für sie alles übrige abhängt.
Weniger bemerkt, weil langsamer und nicht so direkt, jedoch ebenso intensiv und hartnäckig, ist
das von ihr parallel dazu verfolgte Bemühen, die Wahrnehmung der Zeit auf dem einzigen einer
derartigen Forschung sich öffnenden Weg zu vergrößern: in Richtung der Vergangenheit.
Gestern noch konnten der Physiker und der Chemiker mit unbeteiligter oder sogar belustigter
Neugierde die Termitenarbeit betrachten, die von der Legion der Ausgräber [Geologen,
Paläontologen, Archäologen] geleistet wurde, die sich alle auf verschiedenen Ebenen über die
Archive der Erde beugten. Heute beginnt der verborgene Sinn dieser Erforschung [die bei seinen
Urhebern, wie man wohl zugeben muß, eher instinktiv als vorausberechnet war…] sichtbar zu
werden. Mit großem Aufwand an Berechnungen und Techniken wurde im letzten Jahre der
große Spiegel des Palomar-Teleskops gegossen und an Ort und Stelle gebracht, der dazu
bestimmt ist, die unseren Augen zugängliche siderale Tiefe zu verdoppeln. Sollte es sich nicht
ähnlich, wenn man danach fragt, worauf letzen Endes die aufgehäufte Arbeit all jener, die die
Wiederentdeckung der Vergangenheit in Anspruch nimmt, abzielt und wozu sie dient, ganz
einfach um die Zubereitung einer genügend dicken Schicht von Dauer handeln, damit [mit Hilfe
eben (345) dieser Dicke] Besonderheiten und Eigenschaften sichtbar werden, die an einer dünnen
Zeitscheibe unsichtbar oder unbemerkt blieben? – Gegenwärtig stehen uns dank der
Vereinigung der in einem Jahrhundert der Mühe entwickelten stratigraphischen und
radioaktiven Methoden eine Schicht von sechshundert bis tausend Millionen Jahren zur
Verfügung. Welche Modifikationen treten bei dieser Vergrößerung in der Struktur, in der
Tönung des uns umgebenden Universums auf?
Ich werde vor allem auf zwei hinweisen, deren sich ergänzendes Wirken, so scheint mir, immer
bindender unsere Wahrnehmung der verflossenen Zeiten in allen Bereichen lenken muß: die
154
erste ist das Sichtbarwerden der langsamen Bewegungen und die zweite die automatische
Unterdrückung der ersten Glieder jeder Reihe an ihrem Ursprung.
Untersuchen wir nacheinander diese beiden Effekte – der eine erhellend, der andere entstellend
[oder zumindest ‹akzentuierend›], – die eine stark vergrößerte Schau der Vergangenheit in
unserer Vorstellung vom Phänomen bewirkt.
A. DAS SICHTBARWERDEN DER LANGSAMEN BEWEGUNGEN
Trotz des Fließens und der Kürze unserer individuellen Existenzen hat das Universum lange Zeit
in den Augen der Menschen als ein unermeßlicher Gleichgewichtszustand erscheinen können –
selbst die augenscheinlich so vollkommen konstruierte Bewegung der Sterne war nur eine
besondere Form dieser grundlegenden Stabilität. In geringer Dicke untersucht, schien der Dekor
oder Hintergrund unseres individuellen Hin und Her von einer riesigen und homogenen
[sideralen, tellurischen, biologischen] Unbeweglichkeit gebildet – als ob eine gewisse Zahl
rascher Änderungen (346) [unser Leben] oberflächlich auf irgendeinem unbeweglichen Träger
sich abzeichneten und dahinliefen. Der antike Kosmos…
Doch in dem Maße, wie unsere Methoden der Durchdringung und der Rekonstruktion der
verschwundenen Zeiträume sich vervollkommnen, beginnt gerade eben dieser augenscheinlich
unveränderliche Träger oder Rückstand unserer Erfahrung sich zu bewegen: nicht in einem
Block, sondern so, als werde sie Schritt um Schritt in ein System immer längerer Wellen
auseinandergenommen [astronomische, orogene, klimatische, biologische Zyklen], wobei jede
Dickenzunahme in der von der Geschichtswissenschaft zubereiteten Scheibe der Vergangenheit
ermöglicht, einen Rhythmus größerer Amplitude und Langsamkeit aufzudecken. Früher
erschien alles fixiert und fest; jetzt beginnt im Universum alles unter unseren Füßen zu gleiten:
die Gebirge, die Kontinente, das Leben und sogar hin bis zur Materie! Betrachtet man sie aus
genügender Höhe, ist es nicht mehr die Welt, die sich im Kreise dreht: sondern eine neue Welt,
die nach und nach Farbe, Gestalt und sogar das Bewußtsein wechselt. Nicht mehr der Kosmos:
sondern die Kosmogenese…
Eine der größten Überraschungen, die dem Menschen im Laufe seiner Erforschung der Natur
widerfuhren, war die Wahrnehmung, daß er, je weiter er zum Winzigen hinabstieg, desto mehr
in Bereiche äußerster Bewegtheit gelangte. Bei ausreichend mächtigen Vergrößerungen, das
heißt auf der Stufe des Kolloidalen und darunter, löst sich jede Trägheit in Bewegungen von
unerhörter Geschwindigkeit auf. Nunmehr zeichnet sich hier vor unseren Augen ein ähnliches
Phänomen ab, nicht mehr unter dem Mikroskop, sondern durch die mit soviel Geduld
konstruierte komplexe moderne Maschine zur Verdickung der Zeit. Durch einfache Vertiefung
unserer Wahrnehmung der Vergangenheit (347) setzt sich der kosmische Stoff auf allen seinen
Ebenen und bis in seine tiefsten Tiefen in Bewegung; dieses Mal nicht in Form ungeordneter
Stöße, sondern entsprechend einer reichen Mannigfaltigkeit klar definierter Kurven, unter
denen sich zwei besonders interessante Bewegungspaare herausschälen, bei denen einen
Augenblick zu verweilen angemessen ist: die Bewegungen der Orthogenese und der
Vermannigfaltigung; Schwingungsbewegungen und Triften.
1. Orthogenese und Vermannigfaltigung
Das einzige, das ist selbstverständlich, was uns in jeder Dicke die Beobachtung einer ‹Scheibe
der Zeit› freigeben kann, sind nicht die Bewegungen selbst, sondern ihre Spuren. Keine
lebendigen Bahnen also; nicht einmal kontinuierliche Linien; sondern eine Abfolge reihenförmig
verteilter Zustände: so etwas wie eine punktierte Zeichnung. Folglich gelangt der Erforscher der
155
Vergangenheit dahin, seine Aufmerksamkeit auf die Suche und das Studium all dessen zu
konzentrieren, was sich im Laufe der Jahrhunderte in Gestalt diskontinuierlicher Reihen seiner
Prüfung anbietet. Doch auf Grund der Erfahrung zeichnen sich innerhalb der so aufgefundenen
und isolierten Komplexe zwei recht verschiedene Arten der Gruppierung ab. Sehr häufig [wie es
insbesondere durch geologische Überlagerung in verschiedenen Schichten bewiesen wird]
verteilen sich die Glieder der untersuchten Reihen als in der Zeit aufeinanderfolgend. Und dann
kann man gewiß sein, daß die durch die Beobachtung herausgestellte ‹punktierte Linie›
durchaus einem linearen genetischen Prozeß entspricht: Entstehung und Entwicklung einer
Gebirgskette oder eines zoologischen Typs. In anderen Fällen aber kommt es dagegen vor, daß
die der stratigraphischen Prüfung unterworfene Skala (348) der Zustände oder Formen sich als
aus keineswegs in der Dauer auseinandergerückten, sondern annähernd gleichzeitigen Gliedern
gebildet erweist [zum Beispiel der Fall der ‹fächerförmigen› Mutationen, wie sie in den ersten
Anfängen der großen zoologischen Gruppen eintreten]. Und in einem derartigen Falle wird klar,
daß die in Frage stehende Reihe nicht mehr einer Bahn, sondern einer ‹Explosionswelle› der
Formen entspricht: nicht mehr Effekt schrittweisen Wachstums, sondern der fast
augenblicklichen Vermannigfaltigungen. Wurde das Interesse der Historiker der Welt und des
Lebens lange Zeit ausschließlich von der ersten Art der Entwicklungen [Evolutionen
‹orthogenetischer› Art] in Anspruch genommen, wird es jetzt von diesen evolutiven
Phänomenen zweiter Art geweckt und angezogen [Evolution ‹dispersiver› Art], denen letzten
Endes sowohl die Skala der Sterne [rote, blaue; Zwerge, Riesen…] als auch die der chemischen
Elemente ihren Ursprung zu verdanken scheinen [nachdem man es lange Zeit für
wahrscheinlicher gehalten hatte, er sei orthogenetischer Struktur]: keine Stern- oder Atom-
Phyla, sondern -Spektren.
2. Schwingungen und Triften
So wichtig sich die Zerstreuungseffekte in der Vergangenheit erweisen mögen, denen, so könnte
man sagen, die Aufgabe zufällt, durch Vermannigfaltigung das Expansions- und Tastvermögen
der Welt zu fördern, man muß doch letzten Endes auf die differentielle Progression der
verschiedenen Teile der Welt entlang gewisser Vorzugsachsen [d. h. auf die Orthogenesen]
zurückkommen, will man versuchen zu begreifen, was dasjenige bedeutet und wohin es uns
führt, was wir in Ermangelung einer besseren Bezeichnung (349) ‹die Evolution› nennen. Doch
auch hier wieder wird auf Grund der objektiven Prüfung der aus großen Entfernung
beobachteten Tatsachen eine wichtige Unterscheidung innerhalb der – weniger einfachen, als es
zunächst scheinen mochte – Vorstellung selbst der gelenkten, linearen Transformation
eingeführt. Infolge des wesentlichen Mechanismus, kraft dessen, wie wir gesagt haben, die
langsamen Bewegungen sich in der Vergangenheit vor unseren Augen nur in wachsender
Amplitudengröße, und zwar aufeinanderfolgend, herausschälen, war es ganz natürlich, daß der
Blick der Forscher zu Beginn vor allem für die Evolutionen mit einer relativ kurzen Periode
empfänglich war. Daher gibt es in der Geologie so viele Systeme auf der Grundlage eines
Schwingungsmechanismus, sei es mariner Transgressionen oder geosynklinaler Faltungen.
Daher gibt es in der Paläontologie so viele Rekonstruktionen, die sich hauptsächlich dafür
interessieren, die fortlaufende Ersetzung der einen Faunen durch die anderen herauszustellen.
Daher erklärt sich schließlich in der menschlichen Historik der Vorzug, den ein Spengler oder
ein Toynbee dem Wechselspiel der Zivilisationsarten geben. Doch unterhalb dieser
Schwingungen selbst beginnen nun immer längere Wellen dunkel sichtbar zu werden – eine so
tiefe und so langsame Dünung, daß wir letzten Endes nicht mehr sagen können, ob sie noch
periodischer Natur sind oder ob sie nicht eher einzigartige und irreversible Triften verraten:
zum Beispiel hinter den astronomischen Zyklen aller Größenordnungen die vermutete
156
Expansion des Universums; oder durch die oberflächliche Mannigfaltigkeit der geologischen
Zeitalter hindurch das ununterbrochene Auftauchen und Verharren der Kontinentalflächen;
oder unter den Ebbe- und Flutbewegungen der großen zoologischen Einheiten, die die
Biosphäre zusammensetzen, die unwiderstehliche Komplexifikation und Kephalisation der (350)
Nervensysteme… Uns jenseits aller Oberflächenwellen zur Wahrnehmung derartiger
Grundströmungen gelangen zu lassen, sollte nicht das letzten Endes das höchste Ziel und der
höchste Lohn für unser Bemühen sein, so weit wie möglich in die Tiefen der Vergangenheit
einzudringen?
B. DIE UNTERDRÜCKUNG DER URSPRÜNGE
So offenkundig und unwiderleglich auch in immer größerer Zahl die Spuren gerichteter
Bewegung in der Verteilung der über eine wachsende Schicht der Dauer beobachteten Wesen
und Ereignisse sichtbar werden, eine Schwierigkeit oder Anomalie bleibt doch bestehen, an der
sich lange Zeit jeder Versuch stieß, eine kohärente Deutung der Vergangenheit zu geben. An der
gewiß objektiven Wirklichkeit sehr zahlreicher, von in Entwicklung befindlichen
zurückgelassenen Bahnen ist niemandem mehr ein Zweifel erlaubt. Doch, wie soll man dann
erklären, daß eben diese Bahnen, wenn man versucht, sie bis zu ihren Ursprüngen
zurückzuverfolgen, sich weigern, sich miteinander zu verknüpfen und gewissermaßen in der
Luft hängen bleiben? Wenn in einem in Genese befindlichen Universum alles geboren ist, wie
kommt es dann, daß wir von nichts den eigentlichen Anfang finden können?...
Die seltsame, strukturelle Antinomie einer Vergangenheit, die sich einerseits unwiderstehlich
unserer Erfahrung aufdrängt, als habe sie ursprünglich eine fast kontinuierliche Strömung
bilden müssen, und die doch nicht weniger offensichtlich vor unseren Augen in einen Stoß
erstarrter und voneinander getrennter Ebenen zerfällt, schien sich lange Zeit für viele kluge
Köpfe in entscheidender Weise wider jede Idee einer verallgemeinerten Evolution der lebenden
und unbeseelten Materie zu stellen. (351)
Doch für jeden etwas klar sehenden und erfahrenen Biologen oder Historiker ist es heute
durchaus evident, daß der so nachdrücklich eingewandte angebliche Widerspruch zwischen der
Stabilität und dem Fließen im Fluß des Lebens nur ein einfacher optischer Effekt ist, der mit den
inneren Merkmalen eines jeden ‹Anfangs› in der Welt der Phänomene zusammenhängt. Ihrer
Natur nach bildet jede Geburt [sei es individuell oder kollektiv] ein relativ kurzes Ereignis; und
sie endet in allen Fällen mit dem Auftreten gebrechlicher Organismen, die sich durch eine rasche
Entwicklung auszeichnen. Ob es sich um Ontogenese oder Phylogenese handelt, der Embryo
oder das Neugeborene stellt ein Wesen dar, das sich zugleich auf seinem Maximum
morphologischer Veränderlichkeit und an seinem Minimum der Widerstandsfähigkeit gegen
zerstörerische Einwirkungen von innen und außen befindet. Ist es unter diesen
Voraussetzungen nicht im strengen Sinne unvermeidlich, daß innerhalb einer Zeitspanne von
genügend großer Dauer, um die Entwicklung eines tierischen oder pflanzlichen Phylums
sichtbar werden zu lassen, die ersten Phasen dieses Phylums [das heißt gerade eben die
verbindendsten und plastischsten Phasen] automatisch [weil sie nicht genügend lange eine
genügend große Zahl in ihrer Struktur kräftig gefestigter Individuen prägten] aus dem Feld
unserer Erfahrung verschwinden? Durch einfachen selektiven Verschleiß der Zeit strebt der
ursprüngliche wirkliche Ablauf der Dinge von selbst dahin, sich auf eine Reihe stabilisierter
Maxima zu reduzieren. Im Altern erstarren die Spuren der Evolution und ‹atomisieren sich›,
sodaß alles fix und fertig vor unseren Augen aufzutauchen scheint. Das ist die einfache Antwort
157
auf viele Schwierigkeiten, an denen wir uns bei unseren Rekonstruktionsversuchen der
Vergangenheit stoßen.
Im Falle der ältesten Zweige am Baume des Lebens könnte (352) man angesichts dieser Erklärung
allenfalls von einer von den in die Enge getriebenen Transformisten erdachten bequemen
Ausflucht sprechen. Doch erscheint und wirkt im Falle und innerhalb einer zoologischen Gruppe
von so gewiß evolutiver [und morphologischer] Art wie die Menschheit nicht gerade eben
dasselbe Gesetz? Das heißt, sind wir nicht ebenso unfähig, den Ursprung der ersten Griechen
oder der ersten Chinesen wahrzunehmen wie den der Beuteltiere oder der Amphibien? Mehr
noch, und das habe ich bereits viele Male gesagt: ist es im Falle derart unbezweifelbarer
Anfänge, deren unmittelbare Zeugen wir gewesen sind [Automobile, Flugzeuge usw.] nicht
sicher, daß, würden unsere metallenen Maschinen fossilisiert, die Paläontologen der Zukunft
niemals [es sei denn, sie würden irgendein Museum ausgraben!] die rudimentären Typen
vermuten oder zumindest niemals auffinden würden, die der Ausbreitung unserer
vervollkommnetsten, standardisiertesten und folglich am weitesten verbreiteten Apparate
vorausgingen?
Unvermeidlich und ohne Ausnahme löscht der Blick in die zeitliche Ferne zur gleichen Zeit, wie
er die großen Rhythmen des Universums einen nach dem anderen freilegt und hervortreten läßt,
die Spuren und die ursprünglichen Züge ihrer Entstehung aus. Ebenso wie die Erosion, da sie
eine Spalte im Boden angreift, nach und nach ein Tal an der Stelle gräbt, wo zunächst nur ein
nicht wahrnehmbarer Riß war, so verstärkt die Arbeit der Jahrhunderte pausenlos vor unseren
Augen jeden natürlichen Wachstumssprung in jedem beliebigen Bereich der Dinge. Die
Vergangenheit verdicken, heißt also nicht nur sie optisch erschüttern und sie in Bewegung
setzen; es heißt gleichfalls, sie auf dünne Schichten zu reduzieren oder sie zu
‹hyperquantifizieren›. Gewiß hört in der Paläontologie [um nur diesen besonders einfachen Fall
zu nehmen] die Beharrlichkeit (353) der Forscher kaum auf55, dank der dauernden Entdeckung
manchmal sensationeller ‹Zwischentypen› die Ebenen zu vermehren, die sich für unseren Blick,
so weit das Auge reicht, zwischen der Gegenwart und den am weitesten zurückliegenden
Horizonten der Erde staffeln. Doch zwischen diesen Ebenen, so dicht gedrängt sie auch sein
mögen, bleiben große Löcher, und sie werden notwendig immer bleiben. Keine launische
Entstellung der Landschaft, gewiß nicht, denn da die durch den ‹Effekt Zeit› in den
geschichtlichen Reihen geschaffenen Lücken um so größer werden, als es sich um langsamere
und ältere Bewegungen handelt, wird das allgemeine Relief der Perspektive um so mehr
berichtigt und akzentuiert; aber eben doch Lücken… In der Zeit wie im Raum wird das
Trennvermögen unserer vervollkommnetsten Instrumente eine gewisse Grenze nicht
überschreiten können, jenseits deren sich für unser Erkennen immer eine Zone des
Indeterminierten erstrecken wird.
Das Studium des Mechanismus der Ursprünge ist also letzten Endes Sache der Beobachtung
[paradoxe Tatsache!] nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. Eine heikle und
enttäuschende Forschung in dem Maße, wie viele Dinge [und gerade die revolutionärsten, die
innersten und die umfassendsten…] im allgemeinen in unserer Umgebung vor unseren Augen
beginnen, ohne daß wir uns – wenn nicht zu spät oder nachträglich – dessen bewußt sind, was
vorgeht. Aber auch eine zweifach erleichterte Forschung: einmal durch die immer detailliertere
und in unseren verschiedenen Archiven besser fixierte Aufzeichnung all dessen, was auf der
Oberfläche der Erde geschieht; und zum anderen auch [doch dies würde eine besondere
Untersuchung (354) verlangen] durch die Tatsache, daß wahrscheinlich für den Blick des
55 (FN 1) Vergleiche P. de Saint-Seine, ‹Les Fossiles au rendez-vous du Calcul›, Études, November 1949.
158
Naturforschers und des Physikers die die Arten und die Gesellschaften wahrhaft erhellenden
Ereignisse sich nicht ehemals in den Anfängen des Universums vollzogen haben, sondern sich
nach vornhin auf seiten der in Bildung begriffenen Zukunft vorbereiten: nämlich die großen
Anfänge.
Mitteilung auf dem Internationalen Kongreß für Naturphilosophie in Paris vom 17. bis 22. Oktober 1949.
Études, Dezember 1949. (355)
XVIII
EVOLUTION DES EVOLUTIONSGEDANKEN
Im Laufe der letzten Jahre hat sich der Evolutionsgedanke sehr stark weiterentwickelt, so sehr
weiterentwickelt, daß man angesichts der Feststellung bestürzt ist, wie weit die Kritiken, die
heute noch von den ‹Außenstehenden› gegen die Biologen erhoben werden, an der Frage
vorbeigehen können.
Die Aspekte, unter denen sich diese ‹Evolution des Evolutionsgedankens› vollzogen hat, möchte
ich gerne in drei Punkten zusammenfassen. Seit den heroischen Zeiten eines Lamarck und eines
Darwin hat sich, so kann man sagen, der Begriff der zoologischen Evolution: 1. geklärt, 2.
universalisiert und 3. auf den Menschen und die ‹Hominisation› zentriert.
Betrachten wir diese Punkte kurz nacheinander.
1. Seit einem Jahrhundert hat sich der Evolutionsgedanke zunächst geklärt. In den Anfängen war
der Begriff des ‹Transformismus›, wie man sagte, noch völlig von Metaphysik [wenn nicht sogar
von Theologie] durchtränkt. Nunmehr stellt er sich wissenschaftlich nur mehr als eine
authentische Phänomenologie dar – ganz dem Studium eines Prozesses [Kette von
Antezedenzien und Nachfolgenden] gewidmet, ohne Übergriff auf den Bereich der ‹Naturen› und
der ‹Ursachen›.
In Büchern aus jüngster Zeit heißt es noch: «Die Evolution, eine verurteilenswerte Theorie, weil
sie behauptet, das Mehr gehe aus dem Weniger hervor…» Man lasse uns doch ein für allemal in
Ruhe. In dem Maße, wie es möglich ist, in der natürlichen evolutiven Bewegung eine absolute
Richtung in bezug auf den Menschen zu definieren, ist alles, was die moderne Theorie der
Evolution erklärt, daß in der zeitlich-räumlichen Wirklichkeit des Kosmos das (357) Mehr auf das
Weniger folgt. Und dies ist sowohl unbestreitbar als auch nicht verurteilbar.
Ein Prozeß ist keine philosophische Erklärung.
In unserem Erfahrungsuniversum entsteht alles, faßt alles Fuß und wächst in
aufeinanderfolgenden Phasen – alles, einschließlich des Ganzen. Das ist in seinem Wesen das,
was wir in der uns umgebenden Welt heute und offensichtlich für immer sehen.
2. Doch so begriffen und erklärt hat sich der Evolutionsgedanke [dies ist mein zweiter Punkt],
während er seinen Weg machte, unaufhörlich universalisiert.
Die lokal im Kielwasser der Zoologie aufgetretene Evolution hat, indem sie Schritt um Schritt
durch die Nachbarbereiche hindurch an Boden gewann, schließlich alles erobert. In den
konservativen Kreisen macht man weiterhin die Naturforscher für diese perverse Theorie
verantwortlich. Doch in immer wachsendem Maße sind die ganze Kernphysik, die ganze
Astrophysik, die ganze Chemie heute auf ihre Weise ‹evolutiv›. Und zumindest im gleichen Maße
die ganze Geschichte der Zivilisation und der Ideen.
159
Machen wir also ein für allemal mit der naiven, heute völlig überholten Vorstellung von der
‹Evolution, eine Hypothese› Schluß. Nein, weit genug begriffen ist die Evolution schon und seit
langem keine Hypothese mehr – noch auch nur eine einfache ‹Methode›: tatsächlich stellt sie
eine neue und allgemeine Dimension des Universums dar, die folglich die Totalität der Elemente
und der Beziehungen des Universums betrifft. Keine Hypothese also, sondern eine Bedingung,
der von nun an alle Hypothesen genügen müssen. Für unseren Geist der Ausdruck für den
Übergang der Welt vom Zustand ‹Kosmos› in den Zustand ‹Kosmogenese›.
3. Und schließlich tendiert der Evolutionsgedanke, nachdem er in dieses Stadium der
Universalisierung gelangt ist, (358) nunmehr dahin [wenn ich mich nicht täusche…], einen
weiteren entscheidenden Schritt zu tun, da er durch eine konvergente Vielzahl von Fakten dahin
gebracht wird, sich auf den Menschen und die Hominisation als Achse auszurichten und zu
konzentrieren.
Begreifen wir das recht.
Anfänglich, das heißt vor einem Jahrhundert, hatte der Mensch sich zunächst als einen einfachen
Beobachter und dann nach Darwin als einen einfachen Zweig der Evolution betrachtet. – Doch
nunmehr beginnt er gerade infolge dieser Eingliederung in die Biogenese wahrzunehmen, daß
der Haupttrieb des Baumes des irdischen Lebens durch ihn hindurchgeht. Das Leben
vermannigfaltigt sich nicht auf gut Glück in alle Richtungen. Vielmehr läßt es eine absolute
Marschrichtung auf die Werte wachsenden Bewußtseins erkennen; und auf dieser Hauptachse
ist der Mensch das fortgeschrittenste Glied, das wir kennen.
Seit Galilei konnte es scheinen, der Mensch hätte jede Vorzugsstellung im Universum verloren.
Unter dem wachsenden Einfluß der vereinten Kräfte von Erfindung und Sozialisation ist er
nunmehr dabei, die Spitze wieder einzunehmen: nicht mehr in der Stabilität, sondern in der
Bewegung; nicht mehr in der Eigenschaft eines Zentrums, sondern in Gestalt des Pfeiles der im
Wachstum begriffenen Welt. Neoanthropozentrik, nicht mehr der Position – sondern der
Richtung in der Evolution.
Bulletin de l’Union Catholique des Scientifiques Français, Juni/Juli 1950 [Diskussion über: Das religiöse Denken
angesichts des Faktums der Evolution].
Anmerkung der Herausgeber
Es schien uns interessant, neben diese Mitteilung drei maßgebliche Meinungen über die Evolution zu
stellen, die später ausgesprochen wurden: (359)
«[…] Es ist fast überflüssig, zu sagen, die einzige, natürliche Ordnung, die man in der Zoologie und in der
Botanik annehmen kann, gründe auf der Phylogenese, was dazu führt, die bisher in den Fachbüchern
übliche Darstellung vollständig zu modifizieren; an die Stelle der vertikalen Listen mit Verklammerungen
muß man das Bild eines verzweigten Strauches setzen, der die evolutive Bewegung wiedergibt.» Lucien
Cuénot: L’Évolution biologique. Paris, Masson, 1951.
«[…] Kurz, man kann die Evolution für ein Faktum halten, sofern man ein Ereignis für ein Faktum halten
kann, dem niemand beigewohnt hat und das man nicht reproduzieren kann. Um die Evolution zu leugnen,
müßte man anerkennen, daß ein schelmischer Schöpfer seine Schöpfung geschickt ‹montiert› habe, in der
Absicht, der menschlichen Vernunft die transformistische Idee aufzudrängen.» Jean Rostand: Les grands
courants de la Biologie. Paris, Gallimard, 1951.
«[…] Das Prinzip der Evolution ist nichts andere als die wissenschaftliche Methode selbst, die auf alle sich
in der Zeit entwickelnden Wirklichkeiten jeder Natur angewendet wird. Es ist das einzige uns zur
Verfügung stehende Mittel, zu versuchen, das Gesetz ihrer Entfaltung und Abfolge zu erfassen, welches
auch immer ihr ontologisches Substrat sein mag. Ohne es könnte man nur einen beschreibenden Katalog
der Dinge zusammenstellen, ohne zu versuchen, sie zu begreifen.» Abbé Henri Breuil: Bulletin de
160
Littérature Ecclésiastique, veröffentlicht durch das Institut Catholique von Toulouse mit Unterstützung
des Centre National de la Recherche Scientifique, 5. Januar 1956. (360)
XIX
AUFZEICHNUNG ÜBER DIE AKTUELLE WIRKLICHKEIT
UND DIE EVOLUTIVE BEDEUTUNG EINER
MENSCHLICHEN ORTHOGENESE
Man hat häufig und mit gutem Recht schreiben können, die Entwicklung der experimentellen
Forschung erweise sich in unserer Umgebung immer mehr als ein Bemühen, in der Natur immer
kleinere Einheiten aufzudecken. Doch müßte man nicht mit ebensoviel Grund sagen,
symmetrisch zu diesem beständigen Vordringen in die Richtung des unendlich kleinen
Korpuskularen charakterisiere und beseele die Entwicklung der modernen Wissenschaft die
Erforschung der sehr großen strukturellen Bewegungen, die die Welt in ihren größeren
natürlichen Unterteilungen oder sogar in der Fülle ihres Gesamtstoffes betreffen?
Unter diesem Gesichtspunkt gelangen auf jedem Fall gewisse anscheinend partikulare oder
lokale Phänomene von Zeit zu Zeit dahin, in unseren intellektuellen Konstruktionen eine
dominierende Bedeutung anzunehmen, sofern sie uns anhand eines schmalen, aber
ultrasensiblen Zipfels erlauben, eine neue universelle Trift der Dinge zu erfassen. So in der
Astrophysik die Rötung des Lichtes ferner Milchstraßen, die [vielleicht] eine
schwindelerregende Expansion des Sideralen im Raum verrät.
So in der Biologie die [weniger bemerkten] Ultra-Sozialisation und Ultra-Reflexionseffekte, in
denen entschieden beim Menschen – das möchte ich auf diesen wenigen Seiten nachdrücklich in
Erinnerung rufen – eine noch lebendige Grundtendenz der Materie durchzuscheinen beginnt,
sich immer enger und immer bewußter in sich selbst anzuordnen. (361)
Doch um dies recht zu begreifen, wollen wir zunächst einige biologische Termini [oder genauer,
einige biologische Funktionen] erläutern, die allzuhäufig im Laufe der Diskussion verwechselt
werden, wenn es sich um Evolution handelt.
A. VORAUSGESCHICKTE DEFINITIONEN, ARTBILDUNG,
PHYLETISATION UND ORTHOGENESE
1. Artbildung
Für die moderne Biologie hat die ‹Art› bekanntlich jede metaphysische Bedeutung verloren, um
nur mehr eine untereinander fruchtbare Gruppe von Individuen darzustellen, deren
morphologische Variationen sich statistisch um einen mittleren Typ gruppieren [der der
Maximum-Ordinate einer einfachen Gaußschen Kurve entspricht].
In dieser Sicht entspricht das Phänomen der Speziation [oder Artbildung] dem sekundären
Auftreten [durch Mutation] von einem oder mehreren statistischen Zentren morphologischer
Gruppierung irgendwo innerhalb einer so strukturierten Population: die repräsentative
Häufigkeitskurve zeigt nunmehr mehrere Maxima, die sich unter dem Einfluß noch dunkler
Faktoren [zum Beispiel der geographischen Isolierung] biologisch voneinander trennen können
– so, als ob die anfängliche Art durch Spaltung eine oder mehrere neue Arten geboren hätte.
161
Auf den ersten Blick ein bloß dispersives Phänomen; und es führt zumindest anscheinend in
jedem Falle zur Herausbildung einer stabilisierten Population. (362)
2. Phyletisation
Beobachtet man die ein und dieselbe Art zusammensetzenden Individuen in ihrer numerischen
Verteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt, so gruppieren sie sich statistisch, so sagten wir, um
eine mittleren, für die Art repräsentativen Typ. Betrachten wir nunmehr über eine genügend
große Zeitlänge die Summe aller durch aufeinanderfolgende Spaltungen aus einer bestimmten
Art [oder aus einer natürlichen Gruppe von Arten] hervorgegangenen Arten. – Verteilen sich
diese verschiedenen Tochterarten rein zufällig gleichmäßig in alle Richtungen um die
Mutterart?... Nein, antwortet klar und universell die Erfahrung. Vielmehr streben sie unter dem
Effekt der großen Zahlen ihrerseits dahin, sich innerhalb eines gewissen ‹Streukegels› zu
gruppieren: Typ Equus, Typ Felis und so weiter. Wiederum hier, das heißt nicht mehr auf der
Ebene des Individuums, sondern der Art, zeichnet sich ein statistisches Maximum ab. Über eine
genügend große Zahl von Fällen und über genügend große Zeitabstände beobachtet, läßt die
lange Zeit wiederholte Speziation Gesamtausrichtungen entstehen: Phyletisationseffekt, sagen
wir – oder, was auf dasselbe hinausläuft, Effekt der Orthogenese: wobei dieses letztere Wort hier
nichts anderes bezeichnet als das Auftreten einer statistisch ausgerichteten Verteilung in der
Zeit bei verwandten Arten56. In diesem Grad von Allgemeinheit begriffen, ist die [von den
Biologen so erbittert umstrittene!] Orthogenese, wie man sieht, ein durchaus einfacher und
evidenter Begriff – denn er sagt nur das aus, was nach allgemeiner Ansicht das (363) Gefüge der
Biosphäre an unbestreitbar ‹Faserigem› und ‹Strahligem› enthält57.
Wirklich schwierig – und wirklich interessant – wird es erst, wenn man einen Schritt weiter geht
und sich fragen muß:
1. zunächst, ob [und in welchem Umfang] die unbestreitbar gerichtete Additivität der
‹artbildenden› Mutationen entsprechend bestimmten Vorzugsrichtungen [Phyla] ihren Sitz hat:
a] entweder in einer besonderen Struktur des äußeren Milieus, innerhalb dessen sich die
aufeinanderfolgenden Mutationen vollziehen: passive Orthogenese oder Ortho-Selektion.
b] oder aber im Gegenteil in einer innern [unbewußten oder bewußten] Präferenz des
Lebewesens, lieber die eine als die andere Richtung einzuschlagen: aktive Orthogenese oder
Ortho-Elektion.
2. Und dann [zweite, weniger häufig ausdrücklich ausgesprochene, aber vielleicht noch
kritischere Frage], ob nicht in dem Gattungsbegriff ‹Orthogenese› oder ‹Phyletisation› zwei
ungleich wichtige und tiefe [wenn auch biologisch zusammenwirkende] Prozesse zufällig
durcheinandergebracht wären:
a] ein Prozeß der Spezialisation, der zur Entstehung immer divergenterer und differenzierterer
Formen führt.
56 (FN 1) In Wirklichkeit gruppieren sich die jede Art zusammensetzenden Individuen morphologisch in einer Gaußschen Kurve bereits auf Grund eines [elementaren] Orthogeneseeffekts. Doch erst in der Phyletisation tritt auf Grund der vergrößernden Wirkung der Dauer das Phänomen in aller Klarheit hervor. 57 (FN 2) Niemand würde heute daran denken, zu behaupten, die zoologischen Phyla hätten nichts ‹Genetisches›, das heißt, sie entsprächen einer einfachen intellektuellen Anordnung einer genügend großen Zahl zufällig in alle Richtungen vermannigfaltigter Elemente: wie etwa das Spiel, die Sandkörner oder die Kieselsteine eines Strandes der Größe oder der Gestalt nach in Reihen zu ordnen.
162
b] und ein anderer Prozeß der Komplexifikation [oder Komplexität], der seinerseits allen
Richtungen der Spezialisation folgend [mit mehr oder weniger Erfolg, aber in allen Fällen] immer
zentriertere und zerebralisiertere zoologische Typen ans Licht bringt. (364)
Mit diesen verschiedenen Begriffen [die gleichzeitig Fragen sind] ausgerüstet, wollen wir zur
Untersuchung des menschlichen Phänomens zurückkehren und uns ihr zuwenden.
B. FORTBESTEHEN UND BESCHLEUNIGUNG EINER
KOMPLEXITÄTS-ORTHOGENESE IN DER HEUTIGEN
MENSCHHEIT
Die Tatsache, daß die in ihren zoologischen Wurzeln und ihrem fossilen Trieb untersuchte
menschliche Gruppe sich als ein Element [oder genauer, als eine Spitze] eines Phylums darstellt,
wird nicht mehr bestritten und ist übrigens niemals ernstlich bestritten worden. Ob man sie
unmittelbar von den Anthropoiden abstammen läßt – oder ob man es vorzieht, sie als einen
Schwesterzweig in bezug auf letztere zu betrachten –, die Hominiden haben in jedem Fall
historisch und morphologisch ihren Ort am Ende einer langen Reihe von Speziationen [oder,
wenn man so sagen darf, einer großen Population von Arten], die vom Eozän bis ins Pliozän
statistisch eine Spur bilden: die Trift vollzieht sich entlang einer mittleren Hauptachse
wachsender ‹Anthropisation› [Globulisation des Schädels, Verkürzung des Gesichts, Freistellung
der Hände, Zunahme der Körpergröße usw.]. – Selbst innerhalb der Unterfamilie ist in ihren
Anfängen [unteres Quartär] noch eine Bewegung der Orthogenese klar ausgeprägt, die [vor
einigen fünfzigtausend Jahren] zum Auftauchen des Sapiens im Kern eines wahrscheinlich sehr
komplizierten Bündels von Prä- [oder Para-]hominiden führte.
Über diese Frage einer Evolution des Menschen in der Vergangenheit sind, ich wiederhole das,
sich alle Biologen und Paläontologen im Grunde einig, trotz der Verschiedenheit der Begriffe. –
Dagegen beginnen die Meinungen auseinanderzugehen (365) oder sich sogar leidenschaftlich zu
bekämpfen, wenn der Augenblick kommt, zu entscheiden, ob, ja oder nein, gerade eben der
Homo sapiens bei dem Differenzierungsgrad, zu dem er derzeit gelangt ist, noch plastisch ist und
noch irgendeiner organischen Bewegung der Ultrahominisation unterliegt.
Schenkt man einer ganzen Reihe von Gelehrten [und nicht den geringsten: K. W. Gregory, Vandel
usw.] Glauben, so muß man in diesem Punkt eine negative Antwort geben. Denn, so sagen die
Vertreter dieser ersten Schule, ist es nicht schließlich evident, daß, anatomisch gesprochen, der
Mensch in eine Sackgasse geraten ist, aus der sich zu befreien [wenn man einige geringe in
Richtung einer wachsenden Brachykephalie und einer ausgeprägteren Verkürzung des Gesichts
noch zu erwartende Fortschritte ausklammert] ihm unmöglich ist?
Der Mensch an einen toten Punkt gelangt…
Darf ich noch einmal mehr darauf hinweisen, wie schlecht eine derartige Perspektive [sosehr sie
auch bei jenen in Gunst stehen mag, denen aus allen möglichen Gründen daran liegt, nicht zu
sehen, daß um sie herum die Welt und noch weniger der Mensch anfangen sich zu bewegen] mit
der außerordentlichen Vitalität einer tierischen Gruppe zusammenstimmt, die durch alle ihre
Charakteristika im Gegenteil als in voller Expansions- und Organisationskraft stehend
ausgewiesen wird? Während niemals auf Erden eine derartige Menge lebender Materie einen
derartigen Gärungszustand erreicht hat, sollten ausgerechnet in dieser kochenden
[menschlichen] Masse, so möchte man uns glauben machen, die Kräfte der Artbildung plötzlich
aufgehoben sein… Nicht möglich!
163
Um in der gegenwärtigen Situation des planetaren Lebens klar zu sehen, ist, wenn ich mich nicht
täusche, der Augenblick gekommen, die oben eingeführte Unterscheidung (366) zwischen den
beiden Orthogenesen der Spezialisation und der Komplikation zu Hilfe zu nehmen.
Daß im Menschen die osteologische Differenzierung an ihre Grenze gelangt sei – das mag sein.
Daß aber in ihm der wesentliche Lebensprozeß von Komplexität-Bewußtsein auf seiner
Maximalhöhe angelangt sei, das ist etwas ganz anderes – und daran darf man aus zwei
Hauptgründen ernsthaft zweifeln.
Einerseits nämlich, ohne die Ebene der Individualanatomie zu verlassen, beweist nichts [weit
davon entfernt], daß in der Substanz unserer Gehirne nicht noch bedeutende evolutive
Verfügbarkeiten [weiter vorangetriebene Anordnung der Nervenfasern] in Reserve gehalten
würden.
Und andererseits noch weit mehr, wenn man [indem man unter dem Druck der Tatsachen die
Begrenzung des Bereichs des Biologischen auf die zellularen Gruppierungen aufgibt] sich endlich
entscheidet, die psychogenen58 Anordnungen von Individuen in sozialen Systemen als im
eigentlichen Sinne ‹organisch und natürlich› anzusehen – ist dann nicht anstatt des berühmten
‹toten Punktes›, von dem man so viel spricht, ein außerordentliches evolutives Aufschießen in
der gegenwärtigen Struktur und dem aktuellen Verhalten der menschlichen Gruppe ablesbar? –
Ein ganzes Phylum [nicht weniger!], dessen sämtliche Fasern – sowohl die alten als auch die
entstehenden – anstatt sich durch den Effekt divergierender Speziation zu isolieren, rasch in sich
konvergieren und sich in sich einrollen, wie ich bereits häufig geschrieben habe, und zwar unter
dem zugleich geometrischen und psychischen Druck eines Denkens, das sich im geschlossenen
Raum in sich selbst reflektiert. (367)
Wie kann man angesichts eines derartigen Aufbruchs an der Wirklichkeit und der Natur dessen
zweifeln, was vorgeht?
Eine höhere Form der Zerebration, wahrhaftig, – dieses Mal nicht mehr elementar, sondern
kollektiv – in der nicht nur die untergeordnete und sekundäre Natur der Orthogenese der
Spezialisierung in bezug auf die Orthogenese der Komplexität voll sichtbar wird59; in der sich
nicht nur die Weiterführung um uns herum einer organischen Einknospung der Welt in sich
selbst verrät; sondern in der sich auch durch Intensivierungs- und Vergrößerungseffekt der
Mechanismus und die Triebkräfte der Evolution unverhüllt zeigen.
C. MENSCHLICHE ORTHOGENESE UND EVOLUTIONSKRÄFTE
Oben [im Abschnitt der Definitionen] habe ich beiläufig auf die Alternative hingewiesen, vor der
a priori der Biologe steht, der sich der unbestreitbaren Wirklichkeit einer Phyletisation der
lebenden Materie gegenübergestellt sieht.
Auf welcher Seite, so sagte ich, nach der Erklärung und dem Sitz des Phänomens suchen? Eher
[mit den Neo-Darwinisten] in dem automatischen und blinden Wirken irgendeines äußeren
Regulativs oder ‹Prüfungsweges›? Oder aber sollten sie im Gegenteil [wie die Neo-Lamarckisten
behaupten] nicht eher in dem Wirken irgendeines anordnenden inneren Faktors zu suchen sein,
58 (FN 3) Unter dem Ausdruck ‹psychogene Anordnungen› verstehe ich mit Bewußtseinszunahme einhergehende Komplexitätszunahmen. 59 (FN 4) Tatsächlich könnte man sagen, im Menschen [und das macht vielleicht seine evolutive Einzigartigkeit aus] falle die Spezialisationsorthogenese mit der Komplexitätsorthogenese zusammen: in ein und derselben gemeinsamen Achse der ‹Zerebration›.
164
der fähig wäre, (368) eine gewisse Kategorie von günstigen Gelegenheiten augenblicklich zu
erfassen und präferentiell zu addieren?
Zu dieser Frage [die anscheinend spekulativ – jedoch für unsere Lebensführung wichtiger ist, als
wir häufig glauben] bringt, das ist eine sehr beachtenswerte Beobachtung, die einmal anerkannte
Existenz einer ‹menschlichen Orthogenese der Sozialisation› eine entscheidende Antwort bei.
Denn schließlich, wenn einerseits wissenschaftlich anerkannt wird, daß die technisch-
psychische Organisation der menschlichen Gruppe eine authentische Weiterführung der
zoologischen Evolution darstellt; und wenn es andererseits nicht zu leugnen ist, daß diese
Organisation in ihrem aktivsten und sensibelsten Teil [ich meine im Bereich der reflektierten
Forschung und Erfindung] eine innerlich geplante Operation ist: dann muß man sich der Evidenz
stellen. Wie überwiegend auch die Rolle der äußeren Kräfte des Zufalls beim Auftreten der
Phyletisation der anfänglichen und niederen Formen des Lebens für den Blick unserer
Erfahrung sein mag, – zumindest vom Menschen an läßt der Einfluß gewisser innerer
Präferenzkräfte die Maske fallen, emergiert und strebt dahin, in den Vordergrund der Biogenese
zu treten.
Mit anderen Worten, und um einen oben verwendeten Ausdruck wieder aufzugreifen, seit dem
Menschen und im Menschen [in dem Maße, wie letzterer sich durch kollektive Zerebration
ultrahominisiert] tendiert der Ortho-Selektions-Mechanismus immer mehr dahin, in der
Expansion und Akzentuierung des Phänomens Leben auf der Oberfläche der Erde den Ortho-
Elektions-Effekten Platz zu machen.
Seit dem Menschen tendiert die einfache Evolution nach und nach dahin, zur Auto- [oder Self-]
Evolution zu mutieren. Mit dieser praktischen Konsequenz:
Unter thermodynamischem Gesichtspunkt fühle ich mich (369) nicht der Aufgabe gewachsen
[vielleicht wird uns hier die Kybernetik helfen], die Natur und die Gesetze dessen zu erörtern,
was man in der Natur die spezifische Anordnungsenergie nennen könnte.
Welches ist numerisch die Differenz zwischen der Energie zweier aus denselben mehr oder
weniger gut künstlich angeordneten Gegenständen zusammengesetzter Systeme? Mit anderen
Worten: worin und weshalb unterscheide sich die für die Erfindung und die Durchkonstruktion
einer Uhr oder eines Flugzeugs erforderliche Leistung von der einfachen materiell verrichteten
Arbeit der Herstellung und Montage ihrer verschiedenen Räderwerke?
Ich werde hier nicht versuchen, das zu präzisieren. Daß aber unter dem Autoevolutionsregime
eine derartige ‹anordnende› Energieform [Erfindungs- oder Kombinationsenergie] auftritt und
[trotz ihrer unglaublichen Winzigkeit an ‹Erg› oder ‹Kalorien›] im Gang der Welt eine immer
entscheidendere Rolle zu spielen beginnt, – was gewiß ist – und was genügt, um den Ingenieuren
von morgen eine ganze Reihe unerwarteter Probleme zu stellen: und zwar sowohl auf dem
Gebiet der Vermehrung und optimalen Ausnutzung als auch der Unterhaltung und Erhaltung der
psychischen Evolutionskräfte.
Wie – denn darauf läuft schließlich alles hinaus – wie soll es gelingen, im autoevolutiven
Menschen nicht nur das Vermögen, sondern, noch tiefer greifend als das, die Lust zu wahren und
zu steigern, in sich und um sich herum den Stoff der Welt anzuordnen und superanzuordnen?
Das ist, so nehme ich an, weit mehr als die Frage von Krieg und Frieden, das Grundproblem, dem
es bestimmt ist, in der Zukunft das beherrschende Anliegen der Menschheit zu werden.
Mit Hilfe welchen Glaubens und welcher Anziehungskraft soll in einem Universum, das sich nach
und nach durch (370) Komplexität-Bewußtseinseffekt in sich organisch-psychisch sammelt, die
165
Vollendung einer Zentrationsorthogenese [‹Ortho-Zentration›] gewährleistet werden, deren
Fortschritt sich in der immer deutlicheren Herausstellung des ‹autozentrischen› Aspekts
unmittelbar auswirken?
Eine ganze neue und verallgemeinerte Energetik, in der längs der Achse wachsender
korpuskularer Anordnungen zwischen Kräften der Materie und Kräften des Geistes, ohne sie
durcheinanderzuwerfen, ein dynamischer Kontakt hergestellt wird.
Ineditum, Paris, 5. Mai 1951. (371)
XX
HOMINISATION UND SPEZIATION
EINFÜHRUNG – DAS GEGENWÄRTIGE UNBEHAGEN DER
ANTHROPOLOGIE
Trotz der wachsenden Zahl ihrer Anhänger hat die Anthropologie viel Mühe, eine wirkliche
Wissenschaft zu werden. Und zwar deshalb, weil sie, in Widerspruch zu dem, was das Wesen der
Wissenschaft ausmacht, den Menschen weiterhin von vorn als einen einzigartigen und isolierten
Gegenstand angeht [wenn nicht sogar per descensum im Ausgang von philosophischen oder
sentimentalen Prinzipien] – anstatt ihn, wie es richtig wäre, per ascensum anzugehen, indem sie,
dem natürlichen und genetischen Laufe dessen folgend, was wir heute ‹die Evolution› nennen,
im Ausgang vom ‹Korpuskularen› zu ihm aufstiege.
Derzeit vegetiert die Wissenschaft vom Menschen, weil sie immer noch nur ein mit technischen
Termini geschmückter Humanismus ist. Andererseits aber erwartet sie, um den Humanisten zu
entrinnen, nur etwas, was durchaus möglich ist, und zwar, daß endlich eine Verbindung
energetischer Natur hergestellt werde, die von unten nach oben zwischen physischem
Phänomen und menschlichem Phänomen den Strom in Gang brächte.
Mehrfach habe ich bereits60 die Auffassung vorgetragen, eine derartige Verbindung werde durch
den evidenten ‹Komplexitäts-Bewußtseins›-Prozeß geliefert, der ‹transversal› zur Entropie
durch das Spiel der großen Zahlen unwiderstehlich einen Bruchteil der Materie erfaßt und (373)
dazu bringt, sich in sich selbst gleichzeitig anzuordnen und zu verinnerlichen; die menschliche
Sozialisation wäre unter diesem Gesichtspunkt61 nur eine höchste Phase in der
‹Komplexifikation› und der ‹Bewußtwerdung› der Biosphäre.
Ich möchte hier, denselben Gedanken unter einem etwas anderen Blickwinkel
wiederaufgreifend, die absolut natürliche Art und Weise nachdrücklich herausstellen, in der
[was auch immer noch allzu viele Anthropologen dagegen haben mögen!] das einzigartige
irdische Ereignis der Hominisation in der anatomischen und kulturellen Totalität seiner
Merkmale organisch im Bereich des Denkenden die biologischen Phänomene der Artbildung
weiterführt.
Diese Feststellung hat eine doppelte Wirkung: erstens unsere Vorstellungen darüber zu
präzisieren, was es in der zoologischen Gruppe, zu der wir gehören, sowohl an Grundlegendstem
60 (FN 1) Vergleiche zum Beispiel: Die phyletische Struktur der menschlichen Gruppe, Das Auftreten des Menschen, Seite 180; und Die Reflexion der Energie, Revue des Questions Scientifiques, Oktober 1952. 61 (FN 2) Wie durch ihre psychogenen Wirkungen [planetare Intensivierung der Reflexion innerhalb des Menschseins] bewiesen.
166
und Allgemeinstem als auch umgekehrt an Einzigartigstem gibt; und zweitens in uns in
erneuerter Gestalt im Hinblick auf diese Gruppe den Sinn für die Art zu wecken.
A. DIE TIERISCHE SPEZIATION – ALLGEMEINHEIT DES
PROZESSES UND FUNKTIONSWEISE
Zu den zahllosen in Bewegung befindlichen Partikeln, die das Atom bilden, kommt, so haben die
Physiker entdeckt, unausweichlich die Funktion ‹Welle› hinzu.
In gleicher Weise, so beginnen die Biologen zu begreifen, verbindet sich mit der Vielzahl von
Individuen, die ein und dieselbe lebende Gruppe bilden, notwendig die Funktion ‹Art› [Spezies].
(374)
Einerseits gibt es im Universum keine isolierten lebenden Partikeln [es kann sie nicht geben],
sondern nur Populationen.
Und andererseits ist eine Population außerhalb einer Speziationsströmung in der Erfahrung
nicht vorstellbar.
Lassen wir hier [er gehört nicht zu meinem Thema] den ersten dieser beiden Sätze beiseite, in
dem faktisch einfach [zunächst auf der Stufe der Zelle, dann auf der Vielzeller-Ebene] die
wesentliche Korpuskularität des Stoffes des Universums weitergeführt wird. Konzentrieren wir
statt dessen unsere Aufmerksamkeit auf das, was ich ‹Speziation› nannte.
Die Speziation. – Worin besteht genau diese besondere biologische Funktion, die, vor einigen
Jahren noch schlecht identifiziert, im Begriffe ist [auf Grund der weiter vorangetriebenen
Analyse der Phänomene der Mikro- und Makroevolution], sich für uns als eine grundlegende und
universelle Eigenschaft der organisierten Materie darzustellen?
In erster Annäherung heißt für einen Teil lebender Materie sich speziieren [oder einfacher
neutral ‹speziieren›] sich statistisch in eine gewisse Zahl Anhäufungen zerteilen, von denen jede
durch eine bestimmte Zusammenstellung von gemeinsamen Merkmalen definiert ist. Die
einfachsten wissenschaftlichen Handbücher sind bereits voll von diesen ‹Glockenkurven›, wo
man innerhalb einer genetisch verbundenen Population die Individuen sich numerisch um einen
mittleren Typ [Scheitel der ‹Glocke›] gruppieren sieht, wie die Einschüsse um das Zentrum einer
Schießscheibe. Auf dieser ersten Stufe einfacher quantitativer Verteilung könnte man vielleicht
noch sagen, die Art sei nicht nur statistisch, sondern auch statisch; wenn nämlich die für die
Gruppe repräsentative Kurve sich auch bei beständiger Vermehrung der Beobachtungen
berichtigbar (375) oder sogar leicht oszillierend zeigt, so bleibt sie doch im großen und ganzen
unbeweglich und sich selbst gleich.
Einerseits kommt es kraft der sogenannten Mutations-Phänomene [Modifikation der Gene in den
Chromosomen] periodisch vor62, daß die Artkurve sich verdoppelt und so durch in
Erscheinungtreten eines neuen Scheitels eine neue Art entstehen läßt63.
Und andererseits zeigt die aufeinanderfolgende Reihe so hervorgebrachter Tochterarten,
verfolgt man sie über eine genügend lange Zeit [paläontologische Zeiträume], die
bemerkenswerte Eigenschaft, sich entsprechend den wachsenden Werten einer Gruppe
62 (FN 3) Aus dunkeln Gründen, wenn sie gewiß auch an das Spiel der Reproduktion und der Vermehrung der Individuen innerhalb eines jeden statistischen Haufens gebunden sind. 63 (FN 4) Zumindest potentiell – die Spaltung vollendet sich nur, wenn die Überlebensbedingungen für die Mutanten sich günstig erweisen.
167
bestimmter Eigenschaften aneinanderzureihen: die aufeinanderfolgenden Mutationen
zerstreuen sich nicht zufällig, sondern verstärken einander additiv64.
Also endgültig:
anhaltende Anhäufung biologisch benachbarter Individuen in kreuzungsfähigen Populationen;
periodische und fortschreitende Segmentierung dieser Anhäufungen (376) unter der Wirkung
chromosomatischer Veränderungen;
kumulative Intensivierung im Laufe der Zeit von bestimmten Charakteristika entlang jeder Kette
der nacheinander individualisierten Anhäufungen…
Je besser und je weiter wir die lebende Materie kennen, umso weniger erscheint sie uns, kraft
eben ihrer korpuskularen Natur, in Zukunft außerhalb dieser drei Determinanten eines
gewissen ‹speziierenden› Prozesses vorstellbar, dessen erstaunliches Charakteristikum es ist [so
widersprüchlich die Worte unter sich auch erscheinen mögen!], das Atomare unwiderstehlich in
Richtung immer höherer, das heißt immer unwahrscheinlicherer Anordnungen aufsteigen zu
lassen65.
Aus kosmischer Notwendigkeit ist jede lebende Partikel, je lebendiger sie ist [und der Mensch
kann sich folglich dem weniger entziehen als jedes andere Tier], der Speziation unterworfen.
B. DIE SPEZIATION BEIM MENSCHEN – FORTBESTAND DES
GRUNDMECHANISMUS UND BESONDERHEITEN
Es kommt immer noch vor, daß einem gesagt wird [und zwar von Spezialisten in menschlichen
Fragen], die Menschheit sei nur ein Wort oder ein Begriff, dem objektiv in der Natur nichts
Bestimmtes entspreche.
Man müßte sich doch endlich einmal entscheiden, zu begreifen, daß eine derartige Behauptung
seit dem Aufkommen (377) der Biologie und der Genetik [sie war zur Zeit des Universalienstreits
noch möglich] in der heutigen Welt keinen Sinn mehr hat.
In seiner natürlichen Wirklichkeit genommen, kann der Mensch nicht mehr, in keiner Weise
mehr, als eine abstrakte Entität oder als willkürlich in dem Kontinuum der tierischen Formen
vorgenommener Einschnitt behandelt werden. Vielmehr stellt er ebenso wie die Hunde und die
Katzen zumindest am zoologischen Himmel einen statistisch gruppierten Haufen von
untereinander verwandten und annähernd gleichen Individuen dar.
Zumindest, ich wiederhole das, ist der Mensch eine Art unter den anderen. Und das würde für
sich allein genügen, alle jene ‹zuschanden zu machen›, die noch versuchen, das Studium des
menschlichen Phänomens vom Nominalismus oder vom Konzeptualismus aus anzugehen.
Doch, so scheint es, es liegt noch mehr vor. Und an diesem präzisen Punkt wird das von der
Evolution der modernen Anthropologie gestellte Problem in seinem ganzen Umfang sichtbar.
64 (FN 5) Ich werde hier nicht die Frage aufgreifen, ob man nicht zusätzlich zu dieser ‹Orthogenese› durch Aufstapelung aufeinanderfolgender Mutationen eine andere tiefere Additivität in Betracht ziehen müsse, die durch eine beständige Akzentuierung gewisser Charakteristika [Verstärkung der Gene] im Inneren selbst der Art gekennzeichnet wäre. – Merken wir auf alle Fälle an, daß die Orthogenese, auf diesen Additivitätsbegriff zurückgeführt [außerhalb jeden Rückgriffs auf eine ‹Finalität›], ein wesentliches und primäres Attribut der Speziation ist. 65 (FN 6) Die Versöhnung der beiden in den Prozeß eingeschlossenen Vorstellungen von Determinismus und Indeterminismus ist wahrscheinlich in einem Effekt der großen Zahlen in Verbindung mit einer ‹angeborenen› [und folglich wissenschaftlich unerklärlichen] Präferenz des Weltstoffes für höhere Komplexitäts- und Bewußtseinszustände zu suchen.
168
Der Mensch ist nicht nur [um meine Formulierung wieder aufzugreifen] eine Art wie die
anderen, sondern auch und vor allem eine Art, die mehr ist als die anderen:
a] zunächst, weil er eine Art darstellt, die biologisch [in das Reflektierte] durchgestoßen ist;
b] weiter, weil in ihm infolge dieser Emergenz die Speziation in einem neuen Stadium wirkt
[dem ‹Kulturellen›];
c] und schließlich weil innerhalb dieses neuen, dem Leben eröffneten Feld oder Bereich die Art
dahin tendiert, vom Anhäufungszustand zur Form zentrierter Einheit überzugehen
[Akkulturations- und Konvergenzphänomene].
Untersuchen wir nacheinander diese drei aufeinanderfolgenden Schritte einer menschlichen
Ultra-Speziation, heute noch heiß umstrittene [oder systematisch übersehene] (378) ‹Schritte›, bei
denen es jedoch unausweichlich scheint, daß unter dem vereinten Druck der Evidenzen der
Erfahrung und der Erfordernisse unseres Tuns über ihre Wirklichkeit in kurzer Frist Einigkeit
erzielt wird.
1. Der Durchstoß in das Reflektierte
Viel zahlreicher als die oben erwähnten Nominalisten oder Konzeptualisten [und für die
Entwicklung einer wirklichen Wissenschaft vom Menschen noch viel schädlicher als diese] sind
die ‹Konfusionisten›, die unter Mißbrauch des Wortes Intelligenz [oder vielleicht, weil sie es
einfach nicht wirklich begreifen] ständig wiederholen66, ein einfacher Gradunterschied [und kein
Unterschied der Natur] trenne die menschliche Psyche von der der Anthropomorphen; und im
übrigen beurteilten wir ganz allgemein auf Grund einer anthropomorphen Illusion unsere
‹Säugetiere›-Form der Erkenntnis als qualitativ der der Insekten oder vielleicht sogar der der
Bakterien überlegen.
Spezifizität oder Nichtspezifizität des Menschseins im Bezug zum einfachen Lebendigen.
Zu diesem fundamentalen Punkt [an dem sich derzeit die Zukunft der Anthropologie
entscheidet] ist es, so scheint mir, bereits jetzt möglich – wenn nicht sogar notwendig –,
wissenschaftlich wie folgt Stellung zu beziehen.
Einerseits – wir wissen das alle auf Grund unmittelbarer innerer Erfahrung – ist der Mensch ein
psychologisch mit der Eigentümlichkeit begabtes Tier, nicht nur zu wissen, sondern zu wissen,
daß es weiß.
Andererseits – die Tatsache ‹sticht in die Augen› – erweist (379) der Mensch [und zwar er allein
unter den Lebewesen], weil er reflektiert ist, sich als fähig, ein autonomes biologisches Netz
planetarer Ausmaße zu weben67.
Beim gegenwärtigen Stand und in der heutigen Sprache der Wissenschaft scheint mir68 eine
derartige Situation einfach keine Erklärung zu haben, es sei denn, man erkennt an:
1. daß es im Leben [wie im Falle jeder anderen veränderlichen Größe der Welt] eine gewisse
Zahl von aufeinanderfolgenden möglichen Stufen gibt;
66 (FN 7) Im Anschluß leider an den großen Darwin selbst in Descent of Man [zitiert by Leslie A. White, The Science of Culture, Seite 22]. 67 (FN 8) Das ich ‹die Noosphäre› [oberhalb der Biosphäre] zu nennen pflege. 68 (FN 9) Mir und glücklicherweise auch vielen anderen mit mir. Vergleiche zum Beispiel Leslie A. White, The Science of Culture [New York, Farrar & Straus, 1949]. Nach White ist die Spezifizität des Menschseins in dem Vermögen zu suchen, zu ‹symbolisieren›: ein unmittelbarer [meiner Ansicht nach jedoch lediglich sekundärer] Effekt der Reflexion.
169
2. daß gegen Ende des Tertiärs infolge irgendeiner neuropsychischen Transformation69 der
Mensch [als erstes und als einziges der Tiere70] eine dieser Stufen überschritten hat. Ein Sprung,
der auf seine Weise das Antlitz der Erde ebenso modifizierte und erneuerte, wie es eine
Milliarde Jahre früher die Emergenz der ersten lebenden Proteine getan hatte…
Im Menschen, entschließen wir uns, das anzuerkennen, geht durchaus die Evolution, dieselbe
Evolution weiter, jedoch durch einen kritischen Punkt der Speziation hindurch, der die neue Art
das biologische Stockwerk – und ihr Verhalten – wechseln läßt. (380)
2. Speziation und Kultur
Der Mensch eröffnet, weil er reflektiert [und folglich planetar] ist, eine neue Lebensform: ein
Leben zweiten Grades oder ein Leben zweiter Ordnung – wenn man das vorzieht. Offensichtlich
hat sich unter dem Einfluß einer ungenauen Bewertung dieser Erneuerung die ‹isolationistische›
Atmosphäre herausgebildet, in der, wie ich zu Beginn sagte, die Anthropologie noch dahinsiecht.
Die Menschheit: nicht nur eine andere Art Leben, sondern eine andere Welt; – eine geschlossene
und sich selbst genügende kleine Welt, die das große Spiel nach ihren besonderen Regeln spielt
und insbesondere endgültig den verknechtenden Gesetzen der Speziation entkommen ist.
Nehmen wir auf gut Glück ein Lehrbuch der Anthropologie. In neun von zehn Fällen ist dort
lediglich die Rede vom Homo sapiens. Und in zehn von zehn Fällen wird gesagt oder
stillschweigend vorausgesetzt, daß seit zumindest zwanzigtausend Jahren dieser Homo sapiens
zoologisch eine Art Unveränderliche darstelle, über die nur an der Oberfläche, das heißt ohne
biologische Wurzeln, die sogenannten ‹Sozialisations›-Kräfte oder -Wellen laufen.
Nun, an dieser Stelle muß gesagt werden, daß sich bei den modernen Anthropologen gewiß
irgendwo ein zu berichtigender Sehfehler verbirgt.
Seit Jahrtausenden dauert die Menschheit. Sie dauert nicht nur, vielmehr verstärkt und
intensiviert sie sich unaufhörlich vor unseren Augen in beschleunigtem Rhythmus. Was heißt
das anderes, als daß sie kraft eines der gewissesten und universellsten Gesetze der kosmischen
Substanz auf die eine oder andere Weise fortfahren muß, sich zugleich organisch und statistisch
zu komplexifizieren, denn, so riefen wir oben in Erinnerung, für eine lebende Gruppe ist sich
fortpflanzen und sich verzweigen genau dasselbe. (381)
A priori können wir auf Grund der alleinigen Tatsache, daß er überlebt [und sogar super-lebt]
gewiß sein, daß der Mensch entsprechend irgendeiner noch schlecht identifizierten Modalität
dabei ist, mehr denn je in eben diesem Augenblick vor unseren Augen zu ‹speziieren›.
Und wo denn, was man auch dazu sagt, wenn nicht in ‹kultureller› Form im Bereich seiner
Sozialisation?
Seit einigen Jahren hat sich der Begriff Kultur nach und nach herausgeschält, und er hat sich
schließlich mit eigenartiger Dringlichkeit dem Blick der Ethnologen aufgedrängt. ‹Kultur›, das
heißt technisch-wirtschaftlich-geistiger Komplex, frei und individuell in seinen konstitutiven
Elementen und in seinen Anfängen, jedoch rasch in seinen Entwicklungen supra-individuell und
sozusagen autonom. Sichtlich stehen die Anthropologen verwirrt und verlegen vor dem, was
‹das Eigenleben› dieser lokalen Zusammenballungen von Methoden, Gebräuchen und Ideen zu
sein scheint, die, sind sie einmal aufgetreten, dauern, wachsen und sich untereinander anziehen
69 (FN 10) Ein Ereignis, dessen Existenz gewiß ist, wenn es auch noch nicht in seinem Mechanismus definierbar ist. 70 (FN 11) ‹Als erstes und als einziges›; denn, wenn eine andere lebende Form vor ihm diese Chance gehabt hätte, hätte sie die Noosphäre gewebt, und der Mensch wäre niemals auf der Erde aufgetreten.
170
oder abstoßen in der Weise physischer Vortices oder lebender Organismen. Sie beschreiben;
doch letzten Endes bleibt für ihren Blick und in ihren Anwendungen das Phänomen ‹in der Luft
hängen›.
Weshalb, bei dieser Sachlage – und weil wir wissen, daß es beim Menschen gewiß irgendwo
Speziierendes gibt –, weshalb dann nicht ganz einfach, trotz des entschiedenen Widerstandes
der Leader [fast lauter Nichtbiologen] auf dem Gebiet der Humanwissenschaften, anerkennen
und zugeben, daß natürliche Evolution und kulturelle Evolution ein und dasselbe sind – in dem
Maße, wie letztere die unmittelbare Weiterführung und Akzentuierung des allgemeinen
Phänomens organischer Evolution in hominisiertem Milieu darstellt? Im Menschen wird durch
psychologischen Effekt der Reflexion das Technisch-Geistige additiv [kumulativ] (382) in einem
Grade, wie er niemals, nicht einmal von den Insekten, annähernd erreicht wurde. Und
gleichzeitig erobert die Speziation den Bereich des Psychischen und bricht in einem neuen Raum
neu auf71.
Und damit ist unser Problem gelöst.
Kulturelle Differenzierung = hominisierte Speziation
Weit davon entfernt, konfusionistisch oder verbal zu sein, wie man ihr vorwirft, bringt diese
Gleichung [oder Identität] in unsere Perspektiven gewiß eine kohärente und fruchtbare
Einfachheit.
Einerseits definiert sie, in etwa wie die berühmten Gleichungen von Lorenz oder Einstein für die
Physik, vom Standpunkt der Biologie aus die evolutive Einheit des Universums.
Dann öffnet sie durch die grundsätzlichen Analogien, die sie nahelegt und legitimiert, den Weg
zu neuen Forschungen innerhalb der denkenden Schicht der Erde.
Schließlich [und, so könnte man sagen, vor allem] liefert sie uns, wie wir sehen werden, eine
erwartete Erklärung und einen notwendigen Mut, angesichts des vor unseren Augen
aufsteigenden außerordentlichen Phänomens der menschlichen Totalisation. (383)
3. Der Mensch: eine Art, die konvergiert
Ich erwähnte es oben beiläufig. Die verschiedenen im Laufe der menschlichen Geschichte
aufgetretenen kulturellen Einheiten zeigen nicht nur ein bemerkenswertes Vermögen des
Selbstwachstums; vielmehr reagieren sie auch beständig aufeinander – gemäß einem Prozeß,
dem die Anthropologen den Namen Akkulturation gegeben haben, jedoch ohne daß sie weder
von der Fülle noch der allgemeinen Richtung des in Frage stehenden Phänomens etwas zu ahnen
scheinen.
Für die Spezialisten der Ethnologie beschränkt sich die Akkulturation praktisch auf die zwischen
zwei indianischen Stämmen oder aber zwischen einer Eingeborenenbevölkerung und einem
europäischen Durchdringungszentrum zum Tragen kommenden Kontaktwirkungen. Diese
Wirkungen werden übrigens nur lokal studiert und meistens nur unter dem Gesichtspunkt des
ethnisch schwächsten, das heißt am leichtesten ‹metamorphosierten› Elements.
71 (FN 12) Diese Ausweitung der Speziation auf das Kulturelle schließt wahrscheinlich beim Menschen die mögliche [natürliche oder sogar ‹künstliche›] Rekurrenz der chromosomatischen Mutationen nicht aus [doch das ist eine andere Geschichte]. Bis auf weiteres scheint das Kulturelle die Gene nicht zu modifizieren – denn seine spezifische Vererbungsform ist offensichtlich nicht chromosomatischer, sondern edukativer Natur.
171
Doch ganz offensichtlich geht etwas ganz anderes [und das ist durchaus etwas anderes!] mit den
Jahrhunderten im Schmelztiegel der menschlichen Zivilisation vor sich.
Einerseits verknüpfen sich allmählich [und zwar mit einer Geschwindigkeit, die sich zusammen
mit der Schnelligkeit des Austausches beschleunigt] die Akkulturationswirkungen unaufhörlich
miteinander, bis sie ein planetares Netz bilden.
Und andererseits treten ebenso unaufhörlich innerhalb dieses Kontinuums gewisse
dominierende Gruppen auf, zwischen denen der Akkulturationsprozeß in einer höheren
Größenordnung wieder weitergeht – und jedesmal zu einer zahlenmäßigen Reduzierung und zu
einer kraftmäßigen Intensivierung der sich gegenüberstehenden kulturellen Zentren führt. (384)
Betrachten wir diesen außerordentlichen Konzentrationsprozeß [von dem die Anthropologie
noch nicht zu ahnen scheint, daß er ihr ein Problem stellt…]; und rücken wir ihn in die Nähe der
oben aufgestellten und anerkannten Gleichung:
Kulturation = Speziation
Hier scheint wiederum eine [und nur eine] Deutung dessen möglich, was vorgeht: eine paradoxe
Deutung, das gebe ich zu, – doch muß in der Wissenschaft das Wahre, um wahr zu sein, nicht
außerordentlich sein? Und sie liegt darin, anzuerkennen, daß beim Menschen infolge einer
gewissen ‹agglutinierenden› Eigenschaft der Additivität im reflektierten Milieu die Speziation
[wohlgemerkt, ohne aufzuhören, beständig neue Triebe wuchernd hervorzubringen] nicht mehr
divergierend, sondern konvergierend weitergeht. Der Mensch ist nicht nur statistisch und
genetisch gesprochen eine gute Art. Er ist sogar nicht nur eine zoologische Art, die in einen
neuen Bereich ausgebrochen ist.
Vielmehr stellt er noch spezifischer im Felde unserer Erfahrung den einzigen Fall einer Art dar,
die [weil sie gleichzeitig – und zwar das eine durch das andere – reflektierter Natur und
planetarer Ausdehnung ist] unwiderstehlich72 dahin strebt, sich in sich selbst materiell und
psychologisch zu verknüpfen, bis sie im streng biologischen Sinne einen einzigen
Superorganismus definierter Natur bildet.
Wirklich für unsere Vernunft eine bemerkenswerte Ausweitung und Bestätigung des
kosmischen Komplexitäts-Bewußtseins-Gesetzes!
Aber auch, das wollen wir abschließend bemerken, eine wertvolle Hilfe, die gerade im kritischen
Augenblick uns (385) in moralischen Nöten in der Tiefe unserer selbst gegeben wird.
C. DAS MENSCHLICHE ERWACHEN DES SINNS FÜR DIE ART
Durch Hominisationseffekt, das heißt, indem sie in den Bereich des Reflektierten eindringt,
unterliegt die zoologische Gruppe, zu der wir gehören, in ihrer Struktur einer tiefgreifenden
Transformation. Bei den uns umgebenden Tieren ist das Individuum offensichtlich schlecht von
jenen getrennt, die ihm vorhergehen oder ihm folgen, und von jenen, die es umgeben:
angeborenes Ko-Bewußtsein und Primat der Reproduktion; als ob das Individuum weniger lebte
als die Art. Beim Menschen dagegen strebt infolge einer raschen Akzentuierung der psychischen
Autonomie in jedem denkenden Element das Phylum in gewisser Weise und auf den ersten Blick
dahin, sich zu ‹granulieren› oder sogar auseinanderzufallen: als ob das Individuum dahin
tendierte, isoliert für sich allein zu leben. Und deswegen scheint es durchaus so, daß wir auf
diesem Wege zu dem Punkt gelangt sind, an dem wenig von dem Sinn für die Art in uns
72 (FN 13) Gerade eben unter Einwirkung der Kräfte und mit der Irreversibilität der Speziation.
172
fortbesteht, wie wir letzteren in seiner tierischen Form erahnen und definieren können. Das
bringt für unser inneres Gleichgewicht zwei schwere Gefahren mit sich:
a] Uns erstens jeden für sich in der Tiefe seiner selbst schwebend, richtungslos oder sogar
entzweit [weil entspannt] zu lassen.
b] Und die zweite liegt in der Tatsache, daß auf den ersten Blick nichts dem ‹absurden›
kulturellen Maëlstrom einen Sinn zu geben scheint, in den wir hineingenommen sind – und
dessen bisher klarste Wirkung weit weniger zu sein scheint, uns zu ultra-hominisieren als uns zu
zermalmen oder uns zu mechanisieren. (386)
‹Charybdis› eines ziellosen, weil auseinanderlaufenden, Lebens; und ‹Scylla› einer kollektiven
und entpersonalisierten Existenz…
An dem Punkt der Hominisation, an den wir gelangt sind, scheint es immer evidenter, daß das
einzige Ereignis, das fähig ist, uns siegreich die beiden Klippen des Dilemmas durchfahren zu
lassen, und auf das wir hoffen können, das Auftreten eines psychischen Flusses in der Welt sei
[ein Elan, eine Leidenschaft, ein Glaube…], der machtvoll genug wäre, um die emanzipierte
Vielzahl der menschlichen Moleküle zugleich in sich selbst [auf der individuellen Stufe] und
untereinander [auf der planetaren Stufe] frei zu rekohärieren.
Und hier wird der energetische [man könnte sagen heilbringende] Wert eines Erwachens
unseren Geistes zu den gewaltigen Phänomenen der menschlichen Konvergenz voll sichtbar.
Denn schließlich, wenn wir aus handfesten wissenschaftlichen Gründen endlich dahin gelangen,
anzuerkennen [einmal ernstlich und ein für allemal], daß die denkenden Korpuskeln, weit davon
entfernt, sich von Natur aus abzustoßen, kosmisch auf eine Art Anordnung polarisiert sind, in
der jede von ihnen bestimmt ist, durch den Effekt kollektiver Reflexion das wahrhafte Ziel ihrer
selbst zu finden – dann würde die uns heute noch als materialisierend und versklavend
erscheinende Totalisation, die uns so sehr erschreckt, sich automatisch in irgendeine anziehende
Einmütigkeit verwandeln, ‹verklären›.
Um die geistige Einheit in der Tiefe eines jeden Menschen und [was uns unwahrscheinlich
erscheinen mag73] die geistige Einheit zwischen allen Menschen insgesamt gleichzeitig, und zwar
das eine durch das andere, zu bewirken, (387) brauchte es nicht mehr [und braucht es nichts
weniger] als die noch erwartete Schaffung eines Sympathiefeldes planetarer Größenordnung.
Nun, gerade ein derartiges Feld wird uns durch einen erneuerten Sinn für die Art bereitgestellt,
das jedem Individuum das Bewußtsein gibt, nicht nur ein Glied in einer Kette darzustellen,
sondern ein in irgendein in personalisierender Einswerdung befindliches System integrierbares
Element.
Allerdings gilt das nur unter einer Bedingung [die ich hier nicht weiter entwickeln werde, um
mich nicht – zu Unrecht – der Metaphysik bezichtigen zu lassen], und zwar, daß für die
konvergente Art neuen Typs, zu der wir gehören, der höchste Punkt der Speziation, auf den wir
tendieren, zugleich ein Durchbruchspunkt sei74: kein Ende, das vorauszusehen in uns die Lust
töten würde, zu superleben, sondern ein Neubeginn in etwas ganz Neuem.
Ein Theorem der reinen Energetik, wenn man es recht bedenkt; in dem das bis zum Ende
vorangetriebene Studium der Genese der lebenden Formen in unerwarteter Weise auf das
‹existentialistische› Problem in seinem eigentlichen Wesen trifft.
73 (FN 14) Obwohl das im Grund genau dasselbe ist. 74 (FN 15) Ins Irreversible. Vergleiche ‹Die Reflexion der Energie› [Revue des Questions Scientifiques, Oktober 1952]. Œvres de P. Teilhard de Chardin, Band VII, Seite 333.
173
Revue Scientifique, November/Dezember 1952. (388)
XXI
EINE VERTEIDIGUNG DER ORTHOGENESE IM
ZUSAMMENHANG MIT DEN SPEZIATIONSFIGUREN
A. GENETIK UND PHYLETIK
Dank der seit einem halben Jahrhundert in der Biologie durchgeführten umfassenden
experimentellen Forschungen können wir sagen, die lebende Materie speziiert: das heißt, wird
sie den Fortpflanzungsmechanismen überlassen, die sie vermehren, zerstäubt sie sich nicht
einfach in eine Wolke isolierter Individuen, vielmehr sammelt sie sich auf Grund des Spiels der
großen Zahlen nach und nach um einen oder mehrere dominierende Typen; – jede so gebildete
Gruppe weist nach einer bestimmten Zeit die Eignung auf, sich ihrerseits [mit oder ohne
Mutation, jedoch immer auf Grund statistischer Auswirkungen] in neue zoologische Einheiten zu
spalten.
Über diesen Anfangs- und Elementar-Mechanismus der Entstehung der Arten werden die
Generationen weiterhin noch viel entdecken und uns lehren. Was sie aber absolut nicht leisten
können [da sie nicht, wie es möglich wäre, mit den ‹Jahrmillionen› experimentieren können],
und das zu versuchen allein die Paläontologie in der Lage ist, ist die Bestimmung der von den
sehr lange Zeit auf ein und dasselbe Quantum lebender Materie einwirkenden
Speziationskräften hervorgebrachten Figuren.
Im großen und ganzen ist sich in der Wissenschaft alle Welt darin einig, anzuerkennen, daß die
so gebildete Zeichnung wesentlich aus verzweigten und divergierenden Segmenten besteht.
Doch über die innere Struktur und die fortschreitende Transformation dieser Phyla – oder vor
allem über ihre wechselseitigen Zusammenhänge und die Gesetze [wenn es solche gibt…] ihrer
Aufeinanderfolge (389) und ihrer Gesamtverteilung in der Biosphäre, ist unser Wissen noch
zersprengt oder rudimentär. Trotz einer gewaltigen Menge angehäuften Materials und in Umlauf
gesetzter Ideen ist es noch nicht gelungen, eine dieses Namens würdige Phyletik zu formulieren,
wie es in Weiterführung der modernen Genetik nötig wäre.
Und weshalb? Wenn nicht vielleicht deshalb, weil wir uns immer noch nicht entschließen, in der
Biologie den Effekten gerichteter Intensivierung denselben Wirklichkeitsgrad [oder sogar einen
höheren Wirklichkeitsgrad] wie den Effekten einfacher Vermannigfaltigung der Merkmale in den
geschichtlichen Entwicklungen der Evolution zuzuerkennen.
Müßte nicht, um sich endgültig als Wissenschaft zu begründen [das heißt letzten Endes, um sich
mit den allgemeinen Gesetzen der Energetik zu verknüpfen und in Einklang zu bringen], die
Paläontologie anstatt zu versuchen [wie sie es derzeit vergeblich versucht], jede Vorstellung von
einer ‹Richtung› in der Genese der Arten auszuschließen, sich im Gegenteil darum bemühen, die
sogenannten ‹Orthogenese›75-Kräfte oder -Faktoren voll und ganz in ihre Konstruktionen zu
integrieren?
75 (FN 1) Dieses [so umstrittene] Wort wird hier selbstverständlich in seinem allgemeinsten etymologischen Sinn der gerichteten Transformation gebraucht [in welchem Grade und unter welchem Einfluß auch immer sich ‹die Richtung› bekundet].
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Diese Idee wächst seit langem in mir, und ich möchte sie hier – ein weiteres Mal – zum Ausdruck
bringen.
B. PHYLETISCHE PHÄNOMENE DER VERMANNIGFALTIGUNG
Im Ausgang vom anfänglichen [durch die Genetik klar erwiesenen] Auftreten gewisser
elementarer Zentren der (390) Sammlung und Differenzierung innerhalb jeder in Vermehrung
begriffenen Population wäre es offensichtlich die theoretisch unmittelbarste und einfachste
Weise, die Fortschritte der Spezialisation zum Ausdruck zu bringen und zu erklären, könnte man
letztere auf reine Verstärkungs- und Absonderungseffekte zurückführen.
Man kann sich leicht vorstellen, daß unter dem lange anhaltenden und vergrößernden Einfluß
des Milieus, der Ernährungsweise, der geographischen Entfernung und so weiter die von den
Biologen im Laboratorium experimentell erkannten und reproduzierten elementaren Fasern
sich nach und nach zu dichteren und zu immer divergenteren Bündeln vereinigten. Von daher
erklären sich die seit langem in allen zoologischen Abhandlungen unterschiedenen
morphologischen ‹Ausstrahlungen›: auf dem Lande lebende, schwimmende, wühlende, fliegende
Formen; – pflanzenfressende, insektenfressende, fleischfressende Typen; – spezifische
kontinentale Faunen und so weiter…
Das ganze Geheimnis der tierischen Morphogenese so auf einen reinen
Zerstreuungsmechanismus zu reduzieren, wäre um so interessanter, als damit gleichzeitig der
Übergang vom Mikro- zum Makrophänomen [das heißt von der Genetik zur Phyletik] auf dem
Gebiete der Speziation sich durch eine Art unmittelbare ‹Integration› vollziehen könnte. Im
Kleinen oder im Großen derselbe Automatismus. Eine verführerische Sehweise, gewiß, deren
Reiz wahrscheinlich einen großen Anteil an der gegenwärtigen Tendenz der Neo-Darwinisten
hat [insbesondere in den Vereinigten Staaten]76, in der Geschichte der Lebensformen nur ein
umfassendes, planetar ausgeweitetes Phänomen bis zum Extrem vorangetriebener
Vermannigfaltigung sehen zu wollen. (391)
Eine hauptsächlich [wenn nicht gänzlich] dispersive Evolution, die von keiner grundlegenden
Polarisation [keiner grundlegenden Krümmung] des Stoffes der Dinge getragen würde…
Das ist genau die als ‹neu› [doch müßte man nicht sagen ‹rückschrittlich›?] ausgegebene
Perspektive, wider die vorzugehen mir wichtig erscheint, und zwar durch Reintegration eines
gewissen ‹Präferentiellen› im Kern des ‹Aleatorischen› – wenn man die Größe des
Lebensphänomens in seiner Totalität retten will.
C. PHYLETISCHE PHÄNOMENE DER INTENSIVIERUNG
Ob nun, oder ob nicht – wie ich eben sagte – ein Geist der Nachahmung [oder sogar ein
Eingeschüchtertsein] angesichts der Erfolge der Genetik der Grund dafür ist, eines ist klar, und
zwar, daß seit etwa zwanzig Jahren ein Paläontologe, ‹der auf sich hält›, nur mehr mit
Verlegenheit oder Verachtung das früher klassische Wort Orthogenese ausspricht.
Diesem Begriff sind wohlgemerkt [wie auch dem Bebriff der Evolution selbst], und ich bin der
erste, das anzuerkennen, ursprünglich spezielle Bedeutungen beigelegt worden, die uns heute
unannehmbar erscheinen: eine sozusagen magische Linearität der Phyla, die gewisse,
entschieden überholte, vitalistische oder finalistische Konzeptionen voraussetzt.
76 (FN 2) Siehe zum Beispiel: Patterns of Evolution, von Horace E. Wood, Transactions of the New-York Academy of Sciences, 1954, Seiten 324-336.
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Doch gibt es zwischen Berichtigen und Verwerfen einen Unterschied…
Nun, wenn man wissenschaftlich dem gewaltigen Gebäude der lebenden Formen gerecht
werden will, wie es sich nach und nach durch die geologischen Zeiten hindurch über fast (392)
eine Billion Jahre vor unseren Augen herausschält, ist es da wirklich möglich, sich mit ‹Zahlen›
zufriedenzugeben? Oder muß man nicht unausweichlich auf die eine oder andere Weise
Vektoren zu Hilfe nehmen – das heißt ipso facto wieder ‹Orthogenese› ins Spiel bringen?
Das erscheint mir gewiß, und zwar mit zwei zunehmenden Graden der Evidenz: ob wir nun die
verschiedenen von der Paläontologie rekonstruierten Phyla eins um das andere und in ihren
Einzelheiten betrachten [Formen-Orthogenese] – oder vor allem ob wir uns so weit erheben, um
in ihrer Totalität [Grund-Orthogenese] die Welle zu beobachten, die die Hülle für die Summe der
für die Gesamtheit der Biosphäre in jedem Augenblick konstitutiven Phyla bildet.
1. Formen-Orthogenese. Oder: Über die morphologische Akzentuierung der tierischen Arten
Wiederum im Laufe der letzten zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre und dank einer wachsenden
Zahl systematischer Ausgrabungen, die an besonders sensiblen Punkten der Evolution angesetzt
wurden77, ist es den Paläontologen gelungen, die tierischen Stammreihen [vor allen Dingen der
Säugetiere] mit einer derartigen Genauigkeit zu analysieren, daß die Phyla unter dieser
Behandlung den Eindruck erwecken könnten, sie zerstäubten. Man sehe sich die (393) Tafel der
Rüsseltiere nach Osborn oder die der Oreodontiden nach Schultz und Falkenbach oder die der
Rhinozerotiden nach Horace E. Wood an: und es möchte auf den ersten Blick scheinen, in dieser
Buschung benachbarter Formen, die alle voneinander unabhängig sind, verschwinde die
Orthogenese wie eine Illusion von dem Augenblick an, da man versucht, sie aus der Nähe zu
betrachten. Doch ist es nicht gerade [und zwar ebenso wie in dem Fall eines mit der Lupe
untersuchten Gemäldes] in der Phyletik ein entstellendes Vorgehen, wenn man die Linien aus zu
großer Nähe betrachtet? – Bei den starken Vergrößerungen, das ist klar, wird die
Vermannigfaltigung der Züge übertrieben, und sie tendiert dahin, die fortschreitende
Akzentuierung der Merkmale in der Phylogenese zu verdecken. Doch diese Akzentuierung
existiert um nichts weniger, und sie wird unfehlbar in der Gesamtlinienführung wieder sichtbar,
sofern man zu ihrer Beobachtung den notwendigen Abstand nimmt.
Was kommt es letzten Endes darauf an, ob die Genealogie der Equidae, anstatt wie früher durch
nur zwei oder drei Linien dargestellt werden zu können, in unseren Augen die Struktur eines
Bündels aus mehr oder weniger kurzen und diskontinuierlichen Fasern angenommen hat? Von
dem Augenblick an, da über diese Fasern hinaus das Bündel weiter existiert, indem es sich im
großen und ganzen vom Typus Hyracotherium zum Typus Equus verlängert, funktioniert die
Orthogenese weiter [wenn man sie auch unter den Namen ‹Trend› oder ‹Ortho-Selektion›
verbirgt]. Sie ist nicht exorzisiert – und sie kann nicht exorzisiert werden. Letzten Endes
dominiert in der Phylogenese der am besten bekannten Gruppen nicht die Zerstreuung, sondern
die Kanalisation der Formen.
Ein Beweis dafür, daß die chromosomatischen Merkmale, verfolgt man sie über eine Makrolänge
der Zeit, nicht die (394) trägen und ‹isotropen Körner› sind, als die die Genetiker sie ausgeben
möchten, sondern daß sie tatsächlich elementare Vektoren, sehr kurze gerichtete Segmente
77 (FN 3) Ich denke hier an die erstaunlichen Sammlungen, die nach und nach in den beiden Laboratorien von Ch. Frick in New York zusammengetragen, präpariert, katalogisiert und in Figuren gebracht wurden: Oreodontiden, Cameliden, ‹cynoide› Fleischfresser usw. stellen sich in Gattungs- und Artgarben dar… Das derzeit vielleicht reichhaltigste Material auf der Welt für ein Studium der in voller Frische in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Emersionspunktes erfaßten Phyla.
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darstellen, die additiv immer in ein und derselben Vorzugsrichtung auf die komplexe
‹Topographie› des geographischen und biologischen Milieus reagieren, in das sie
hineingenommen sind.
Nichts ‹Mystisches› [was auch immer mein Freund H. E. Wood dazu sagen mag] wird durch die
Anerkennung dieses Phänomens ins Spiel gebracht, das unwiderstehlich an jenes andere ganz
materielle eines Flusses erinnert, der nach und nach sein Bett nach den Erfordernissen des
Geländes schafft, durch das er fließt!
Doch, wie in dem hier gewählten Beispiel eines Flusses, der sein Bett gräbt [gleich welcher
Größe und welcher Gestalt das in Betracht gezogene Becken ist], ein und dieselbe Schwerkraft
überall und immer auf das abfließende Wasser einwirkt; – existiert nicht ebenso im Falle der
‹speziierenden Materie› [d. h. will man die Bildung irgendeines beliebigen Phylums erklären] ein
und derselbe wirkende Grundfaktor – muß man nicht unvermeidlich seine Existenz annehmen?
2. Grund-Orthogenese. Oder: die kosmische Komplexitäts-Bewußtseins-Trift
Überträgt man die zahllosen, heute von der Paläontologie erkannten Phyla in ein und dasselbe
Schema, so verteilen sie sich unweigerlich, was man auch unternimmt, entsprechend einer
Vielzahl in alle Richtungen gelenkter Strahlen: jedes Phylum kann so begreiflicherweise durch
einen bestimmten Azimut definiert werden, der seine Position und seine Richtung in bezug auf
das ganze System bestimmt. (395)
Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen, daß das Leben in seinen Tastversuchen sich wie
eine sich ausbreitende Welle verhält. Wirklich, es scheint alles versucht zu haben. Doch, ist es
nicht eben, wenn man es recht bedenkt, noch viel bemerkenswerten, daß es, jedem beliebigen in
Betracht gezogenen Azimut folgend, beständig in derselben Richtung versucht hat – das heißt, in
Richtung von mehr Anordnung und Psyche, gleichzeitig das eine durch das andere?...
Allgemeine ‹Komplexitäts-Bewußtseins›-Trift78, die den korpuskularen Stoff des Universums
global [welches auch immer seine Vermannigfaltigung im einzelnen sein mag] zu immer
unwahrscheinlicheren Zuständen der Organisation und der Verinnerlichung mitfortreißt… Für
diese noch namenlose Bewegung kosmischen Umfangs [eine der thermodynamischen Entropie
komplementäre, wenn nicht sogar sie kompensierende Bewegung] zeigen die Paläontologen erst
ein mäßiges Interesse – tatsächlich ein weit geringeres Interesse als die Physiker79. Doch
gleichwohl, ist es nicht – da sie doch [ich meine die Paläontologen] als die ersten die Existenz des
Phänomens entdeckt haben und sie als die einzigen weiterhin über seine geschichtlichen
Eigentümlichkeiten unterrichten können – ist es nicht ihre Hauptaufgabe, ihre Entdeckung bis
ins letzte auszuwerten?
Ob man will oder nicht, die Paläontologie ist und wird immer (396) mehr die Wissenschaft von der
Orthogenese werden, wobei letztere zugleich in ihrer allgemeinen Grundtrift und in den
verschiedenen Zweigen betrachtet wird, in die sie sich unterwegs bricht.
Und von diesem Standpunkt aus möchte ich mir entschieden auf seiten einer immer weiter
vorangetriebenen vergleichenden Untersuchung zwischen allgemeiner Speziation und
78 (FN 4) Eine vor allem, wie zu erwarten, in den jüngsten und aktivsten Bereichen der Biosphäre [Wirbeltiere] ausgeprägte Trift, die sich dort bequem in Funktion der Entwicklung und der Konzentration der Nervensysteme messen läßt; eine faktisch jedoch bereits in der Atomisation der Energie und in der Molekularisation der Atome erkennbare Trift. 79 (FN 5) Siehe zum Beispiel Schrödinger [E.], What is Life? [Cambridge 1945]; Blum [Harold F.], Time’s Arrow and Evolution [Princeton University Press, 1951]; Meyer [François], Problématique de l’Évolution [Paris 1954]…
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Hominisation in der Verlängerung der Geophysik und der Geochemie das Aufkommen und die
Entwicklung einer wirklichen ‹Geobiologie› vorstellen.
Unbestreitbar vollzieht sich in der Biogenese alles so, als ob der Mensch [trotz einer Menge
akzidenteller Merkmale, die ihn inmitten der andern Tiere zu ‹Einem unter den Anderen›
machen] auf Erden ein einzigartiges Phylum darstelle, entlang welchem die beiden
Orthogenesen, die Form- und die Grund-Orthogenese, wie wir sie oben im Ausgang von rein
phänomenalen Kriterien definiert haben, sichtlich [in Richtung einer maximalen Zerebration]
zur Deckung kommen.
Für uns geht es nunmehr darum, diese bedeutsame natürliche Koinzidenz wissenschaftlich zu
nutzen.
Einerseits ist im Lichte dessen, was in uns selbst im Bereich der reflektierten Transformationen
und Erfindungen vorgeht, in der gegenwärtigen und vergangenen Natur die Bildung, die
Verteilung und das Verhalten der verschiedenen Phyla innerhalb der Biosphäre zu deuten.
Und andererseits ist umgekehrt unter Verlängerung der von der Paläobiologie aufgezeichneten
Kurven zu versuchen, das zu erraten, was sich in uns unter dem doppelten Schleier der
technischen Sozialisation und der Ko-Reflexion self-evolutiv vollzieht.
Der Mensch erleuchtet von innen den kosmischen Mechanismus der Orthogenese, und die
Orthogenese erhellt umgekehrt von außen die zoologische menschliche Zukunft. (397) Das sind,
wenn ich mich nicht täusche, auf ihre Essenz gebracht, die Funktion und das Programm, die der
gegenwärtige Stand unseres Wissens der Paläontologie von morgen aufgibt.
Ineditum, Januar 1955.
P. Teilhard de Chardin hatte diese Seiten im Hinblick auf eine Mitteilung auf dem Symposium niedergeschrieben, das
Professor Jean Piveteau für April 1955 vorbereitete. (398)