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544 Dr. Franz Fischer~

XXV.

Eine interessante ]Iemmungsbildung des kleinen Gehirns.

Yon

Dr. Franz Fischer in Heidelberg.

(Hierzu Taf. YIII~ Fig. 1.)

I c h theile in den folgenden Zeilen eineu Fall yon Hemmungsbil- dung des kleinen Gehirus mit, der viel Interessantes bietet. Zugleich glaube ich durch diese VerSffentlichung eine Pflicht zu erf~iUen, wenu ieh das Material, alas geeigne~ ist, alas schwierige Kapitel der Anatomie und Physiologie des Gehirns aufzukl~ren, nicht verloren

gehen lasse.

G u s t a v G e i s s l e r , Geometer~ 31 Jahre alt, trat am 11. October 1873 in das st~dtische Spiral zu Pforzheim unter den Erscheinungen hochgradiger Lungen- und Kehlkopfphthise ein. Eine Anamnese konnte nieht mehr auf- genommen werden~ da Patient kaum mehr sprechen konnte und ausserdem an hoehgradiger Dyspnoe litt. Die objective Untersuchung ergab ehronische ulce- rSse Pneumonie beider Lungen, sowie eitrige ZerstSrung beider Giessbecken- knorpel. Am 16. d. hi. erfolgte das letale Ende und die Autopsie best~,tigte die Diagnose vollkommen. Allein ausserdem ergab sieh noch ein ganz merk. wfrdiger Befund nach Er0ffnung der SchhdelhShle.

Sch~,del: Der Sch~tdel ist yon normaler Configuration. Das Sch~'del- dach nach hinten stark gewSlbt, nach vorne etwas abgeflacht. Der hintere Theft des Schgdelraums yon verhhltnissm~ssig grossem Volumen. Die Kno- ehen des Sch~,dels sind mit Ausnahme einzelner Theile des Schuppen- theils des ttinterhauptbeins yon mitflerer Dicke. Von der Stirnnaht ist keine Andeutung mehr zu erkennen, dagegen sind die fibrigen N~hte iiberall gut ausgebildet und zeigen keine Anomalien in ihrem Yerlauf. Insbesondere muss ich darauf hinweisen~ class die Lambdanaht und die

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Warzenn~the in allen ihren Theilen gut entwickelt sind und keine Spur yon YerknOcherung zeigen.

Die beiden Gruben f~ir das kleine Gehirn sind volls~ndig asymmetrisch. Die linke Grube ist viel kleiner als die rechte, und zwar ist diese Asymmetrie dadurch bedingt, dass die linke crista occipitalis interna viel welter unten yon der yon oben nach unten verlaufenden Crista abgeht als die rechte. Es stossen somit an der protuberantia oceipitalis interna die tJeiden horizontalen Cristae nicht mit der senkrechten zusammen.

Oberhalb der horizontalen Crista liegen die foveae superiores, die die I:tinterlappen des grossen Gehirns aufnehmen. Von diesen beiden foveae superiores ist die linke viel grSsser als die rechte, weil tier Raum, den die fovea inferior sinistra weniger hat, der fovea superior sinistra zu. kommt.

Die Knochenmasse der Hinterhauptssehuppe ist etwas dicker, als die der fibrigen Sch~delknochen. Ausserdem sind an den Seitentheilen aller vier Cristae deutliche Auflagerungen yon Knochensubstanz. Am st~rksten sind diese Knochenauflagerungen entwickelt an den Theilen der Cristae, die die fovea inferior sinistra begrenzen, also an der linken Seite des unteren Schen- kels der senkrechten Crista und am unteren Theft der horizontaten Crista sinistra.

G e h l r n : Das g rosse G e h i r n ist etwas OdematSs, bietet ausserdem keine bemerkenswerthen Ver~nderungen dar. Gyri und Sulci gut ausgebildet. Die einzelnen Windnngen nicht sehr breit. u yon mittlerer Weite. Pia und Dura normal. Das k l e i n e G e h i r n fMlt durch seine abnorme Klein- heit auf. Es ist sowohl im Yerh~ltniss zum grossen Gehirn als auch absolut zu~ Die beiden L~ngsdurchmesser sind jedenfalls bedeutend verktirzt, wie auch aus der Abbildung sogleich ersichflich ist. Auch besteht eine Ver- klirzung des Breitendurchmessers der linken Hemisphere, w~hrend die rechte Hemisph~tre ann~hernd normale Breitenmaasse ergiebt. Der Dickendurehmesser ist dagegen entschieden gr~sser als gewShnlieh. Er unterseheidet sich ferner dadurch yon dam eines normalen Kleinhirns, dass er nieht successive abnimmt. sondern fast fiberall derselbe bleibt. Die ganze Gestalt des Kleinhirns ist dadurch eine ganz eigenthfimliche, und wird besser durch die Abbildung als dureh eine Besehreibung ilhstrirt.

Die Maasse ffir die einzelnen Durchmesser des Kleinhirns haben immer nur sehr relativen Werth, well man bei der Messung keine bestimmten Aus- gangspunkte hat. Dennoch versuche ich, Zahlenwerthe anzugeben~ damit man wenigstens ann~hernd ein Bild yon dem VerhMtnisse der einzelnen Durch- messer zu einander bekommt. Wir erhalten folgende Werthe:

grSsster L~ngsdurchmesser rechts 3,SCtm., links 3 Ctm. , Breitendurchmesser , 4,5 , , 3 , , Dickendurchmesser , 4 , ,, 3 ,,

Ffir das normale Kleinhirn nimmt man nachstehende Zahlenwerthe an:

gr~sster L~ngsdurchmesser 5 Ctm. , Breitendurchmesser 10 ,, Diekendurchmesser 4 ,

54G Dr. Franz Fischer,

Das Gewicht dieses Kleinhirns betragt 78 Grin. D~bei ist z u bemerken, dass erst das schon in Alcohol erh~rtete Pr~parat gewogen wurde. D~er Mittelwerth des Gewiehtes des normalen Kleinhirns ist 150 Grin. Es besteht ~omit jedenfalls auch eine u der Masse dieses Kleinhirns,

Die Zahlenwerthe ftir die Breitendurehmesser zeigen uns ferner eine Asym- metrie beider Hemisph~ren an. Die rechte Hemisphiire ist 1,5 Ctm. breiter als die linke.

Eine ganz besondere Bedeutung aber gewinnt an unserem Praparat der V e r l a u f d e r e i n z e l n e n L ~ p p c h e n. Diese~im Ganzen etwas plump und wenig zahlreich, sind auf der unteren Fli~che der rechten tIemisphare voll- st~ndig vertical angeordnet, ebenso auf einen Theil der unteren Fli~che der linken tiemisphhre, an weleher sie gegen die Peripherie zu mehr die hori- zontale Riehtung annehmen. Auf der oberen F]ache ist der Yerlauf beider- seits wieder horizonta]~ wenn auch nicht ganz so, wie am normalen Kleinhirn. Die Einsehnitte zwischen den beiden L~tppchen sind liberall in gleichem Grade ausgebildet und tiefere Sulci treten auf der unteren Flaehe nirgends auf. In Folge dessen ist auch die Unterscheidung der einzelnen Lappen der unteren Fli~che nicht mSglich. Linkerseits besteht nur eine geringe Andeutung dieses Lappenbaus, w~hrend recbts gar nichts davon zu erkennen ist. Die tiefe deutlich hervortretende Furehe der rechten Hemisph~re~ wie sie die Figur zeigt, ist kiinstlich gemacht. Die Floeke ist beiderseits gut ausgebildet, links etwas kleiner und mehr lateralw~rts gelegen als rechts. Auch die Grenz- scheiden zwischen oberem und unterem Abschnitt der Hemisph~ren, der suleus horizontalis magnus ist beiderseits ausgebildet. Auf der oberen Fl~che ist der lobus quadrangularis vom lobus semilunaris posterior dureh den sulcus superior getrennt. Der Montieulus erscheint bier sehr breit und massig~ aber van so geringer Ausdehnung in die L~nge, dass selbst noch der untere Theil des Wurms auf dieser Flaehe hervortritt. Dieser ist ganz nach rechts ge, legen. Zu beiden Seiten des Monticulus laufen die Flachen nicht schr~g ab- warts als declive, sondern jede Flache bildet eine Concavitat.

Der Wurm ist, wie oben bemerkt, mehr in die Breite als LUnge ent- wickelt und sein unterer Theil erscheint nicht wie gewShnlich auf der unteren Fli~che in dem Ausschnitt zwischen beiden Hemisph~ren.

Erwahnen will ich noch die Asymmetric des verliingerten Mark's, der Briicke, der crura eerebelli ad pontem.

l~ach dieser kurzen Ausciuanderse~zung der anatomischen Ver-

h~l~nisse werden wir uns fragen, wodurch, wie und warm, ist diese

Anomalie zu S~ande ffekommen. Ft i r die Beantwortung der ersten

zwei F ra f fen fehlen uns alle Anhaltspunkte. Die eigen~htimliche Ge-

stalt des Cerebellums, ganz besonders aber die concave superficies

superior kSnnten uns zu dem Gedanken verleiten, dass ein Druck yon oben eingewirk~ habe. Al le in welcher Natur dieser Druck war, ist nieht zu bestimmen. Die Knochenauflagerungen an den genanntea

Cristae sind so gering, dass yon diesen der Druek nich~ ausgegangeu

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sein kanu. Die N~ihte sind alle gut entwickelt, und die Lambdanaht uud Warzenn~hte nicht verkuSchert. Also ist aueh eine frfihzeit!ge VerknSeherung auszusehliessen. Es b]eibt nuu nur noeh fibrig aa ei~e Cyste oder Geschwulstmasse oder an ein Exsudat z u denkeu. Doeh auch diese Momente sind auszusehliessen, da die Autopsie in dieser Beziehung vollst~ndig negative Resultate ergab. Es muss daher, da wir aus nahe liegendeu Gr~inden nicht aunehmen kSnnen, dass uns bier eine Hemmungsbildung vorliegt, die in der ursprfinglicheu An- lage begr[indet war, die Frage nach der Ursaehe dieser Anomalie im Bau des Cerebellums unbeantwortet bleiben. Dass iudess schou in sehr frfiher Zeit, jedenfalls zur Zeit der Entwickelung" des kleiuen Gr hirns diese Anomalie sieh bildete, das beweist die gleichzeitige asymme- trische Bildnng der fovea eerebelli und die vertieale Stellung der L~ppchen.

Was die verticale Stellung der L~ppehen betrifft, so mSehte ieh darauf aufmerksam maehen, dass unser Pr~parat in dieser ttiusicht das Wuudt'sehe Gesetz fiber die Ursachen der Gehirnfurchung be- st~tigt, oder, um reich anders auszudrfieken, dass naeh diesem Gesetze die L~ppehen vertical gestellt seia mussten. W u u d t entwickelt in seinem Werke*) der physiologisehen Psyehologie for die Ursaehen der Gehirnfurchung das Gesetz, dass die Riehtung der grSssten Spannung auf der Richtung der grSssten Waehsthumsenergie senkrecht stehe. Er iibertr~.g t dieses Gesetz anch auf das Waehsthum und die Faltung des Kleinhirns und erkl~rt diese folgendermassen: ,,Am kleinen Gehirn fiberwiegt bedeutend wahrend seiner ganzen Eutwickelung das L~ngenwachsthum. Seine grSsste Oberfl~chenspannung muss daher in der trausversalen Richtung stattfinden. Nun muss aber die FMtung in der Riehtung der gr6ssten Spannung erfolgen uud in der That ist das kleine Gehirn in trausversaler Richtung gefurcht." Auf unseren Fall angewendet wiirde das Gesetz lauten: Das Breitenwaehsthum war das st~rkere, die gr6sste Oberflaehenspannung muss daher in der L~ngsriehtung stattgefunden haben, und da die Faltung der Richtung der grSssten Spannung folgt, so musste die Faltung der L~uge naeh sieh ausbilden.

Aus dem Leben des Mannes konn~e ich dutch vielfache Nach- forschnngen nichts herausbringen, was ffir die Epicrise zu verwerthen gewesen w~re. StSrungen in den Gehbewegungen sollen hie bemerkt worden seiu.

*) Leipzig 1873.

548 Dr. F. Fischer, Eine: interessante Hemmungsbitdung des kleinen Gehirns.

Zum S(:hlusse spreche ich noch dem Director des st/~dtischen Spirals zu F'forzheim, tIerrn Dr. G i s s l e r , meinea w~rmsfen Dank ffir di3 f:eundliche Ueberlassung des Prgparates aus.

H e i d e ] b e r g ~ Juni 1874.

Erklgrung der Abbildung (Tafel VIII).

F igu r 1. Untere 171ache des in Alcohol erhi~rte~en kleinen Gohirns in natfirlicher GrOsse mit Brticke und verl~ngertem Mark.


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