Diplomarbeit
Ergebnisse von Pierre- Robin- PatientInnen im Jugend- oder Erwachsenenalter
eingereicht von
Josip Tomic
06.12.1988
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktor der gesamten Heilkunde
(Dr. med. univ.)
an der
Medizinischen Universität Graz
ausgeführt an der
Universitätsklinik für Zahn-, Mund-, und Kieferheilkunde
Klinische Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
unter der Anleitung von
Herrn Univ. Prof. DDr. Günter Schultes,
Herrn Univ. Prof. Dr. Hans Kärcher und
Frau DDr. Lucia Gerzanic
Graz, am 01.10.2013
1
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Graz, am 01.10.2013
2
Danksagungen Meine Dankbarkeit gilt Herrn Ao. Univ. Prof. Dr. Hans Kärcher, der mir diese Ar-
beit in erster Linie ermöglicht hat.
Ein herzliches Dankeschön geht auch an Herrn Univ.-Prof. DDr. Günter Schultes
für seine fachlichen Ratschläge.
Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Frau Univ.- Ass. DDr. Lucia
Gerzanic für die tatkräftige Unterstützung und Betreuung bei der Erstellung meiner
Diplomarbeit.
Auch möchte ich mich im Besonderen bei meiner Familie bedanken, die mich nicht
nur finanziell, sondern auch moralisch sehr unterstützt und auch ständig ein sehr
großes Interesse an meiner Arbeit gezeigt hat.
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Zusammenfassung Kernfrage und Zielsetzung Beinahe jeder Aspekt der Pierre- Robin- Sequenz ist umstritten. Die Kontroverse beginnt bereits bei den Diagnosekriterien der klassischen Triade. Auch das adä-quate, therapeutische Management ist zurzeit unter Fachleuten nicht klar definiert. Ziel dieser Arbeit ist deshalb die Untersuchung der erhobenen Daten der Grazer MKG- Chirurgie mittels deskriptiver Statistik und eine Gegenüberstellung dieses Datenmaterials mit Daten internationaler Publikationen, umso eine vertiefende Darlegung der verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Aspekte zu erreichen und dadurch zu einem besseren Verständnis dieser Erkrankung beizu-tragen. Methodenwahl Aus den Operationsbüchern der Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie wurden 1010 Einträge mit Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte aus einem Zeitraum von 1989 bis 30.11.2012 gesammelt. Das erforderliche Datenmaterial der gesuchten Spaltträ-gerInnen wurde aus diversen Datenarchiven und den elektronischen Datenbanken der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie zusammengetragen. Das Untersuchungskollektiv umfasste eine Stichprobe mit 10 Pierre- Robin- Se-quenz PatientInnen, wobei nur PatientInnenfälle bei gesicherter Diagnose einge-schlossen wurden. Die Daten der vorliegenden Arbeit wurden mittels des Tabel-lenkalkulationsprogrammes Excel in mehreren Arbeitsmappen erfasst. In erster Linie handelte es sich dabei um die Dokumentation und/ oder Quantifizierung von diversen Variablen. Ergebnisse Von 1010 SpaltträgerInnen hatten 10 die Pierre- Robin Sequenz(PRS), das ent-spricht 0,1% der in diesem Zeitraum behandelten SpaltträgerInnen. Die Ge-schlechtsverteilung entspricht mit fünf Patienten und fünf Patientinnen einem Ver-hältnis von 1:1. Zwei (20%)hatten eine Syndrom- assoziierte und acht PatientIn-nen (80%) eine isolierte PRS. Insgesamt haben sieben (70%) eine assoziierte Malformation aufgewiesen, darunter waren am häufigsten Extremitäten-, kardiale und ophthalmologische Fehlbildungen. Neun (90%) hatten eine Gaumenspalte, wohingegen nur einer keine Gaumenspalte hatte. Die häufigste, isolierte Palato-schisis war eine Weich- und Hartgaumenspalte. Eine postnatale Versorgung mit Tübinger Gaumenplatte wurde bei vier (40%) unternommen. Im Mittel betrug das Alter zur Zeit der Primäroperation 10 (9,88) Monate. Bei zwei musste eine Trache-otomie durchgeführt werden und sechs (60%) wiesen prä- bzw. postoperative Komplikationen auf. Im Verlauf kamen eine normale Kindesentwicklung bei fünf PatientInnen, eine Wachstumsstörung bei zwei PatientInnen, eine psychomentale Retardierung bei einem Patienten, Ernährungsprobleme bei zwei und eine verzö-gerte Sprachentwicklung bei drei PatientInnen vor.
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Abstract Background The aspect of the Pierre Robin Sequence is beginning with the diagnosis of the classical triad to developing an adequate therapeutical management among others, which is rather not currently clearly defined by specialists in this field. Therefore this study aims at examining the collected data from the department of maxillofacial surgery of Graz with descriptive analysis and comparing it with data from international publications, gaining a deeper insight into the diagnostic and therapeutic aspects and thus contributing to a better understanding of this life-threatening disease and its implications to an appropriate clinical management. Methods We analyzed data from 1010 patients, which were listed with the diagnosis of cleft lip and palate between 1989 and November 2012. The data was collected from various archives and computer files of the department of maxillofacial surgery of Graz. Data of ten patients with the Pierre Robin Sequence was obtained and sec-tioned in the spreadsheet Microsoft Excel. This retrospective study reviews the collected data and its dependencies on various factors among these patients, con-sidering only patients with a diagnosis of Pierre robin Sequence. Results From a data pool of 1010 entries with cleft palate and lip a total of ten patients were diagnosed with the Pierre Robin Sequence, corresponding to 0, 1%. Of the 10 patients five were boys and five were girls, leading to a well- balanced gender ratio of 1:1. Two of these patients (20%) had the Pierre Robin Sequence associat-ed with a syndrome and eight had an isolated Pierre Robin sequence. Seven (70%) had congenital anomalies with or without a named genetic disorder. Addi-tionally the most common were cardiac, eye and hand anomalies. Nine (90%) un-derwent a palatoplasty due to a cleft palate and only one (10%) showed no cleft palate. Moreover the most common cleft palate included the soft and hard palate. Four (40%) underwent primary treatment with a Tübingen soft palate plate. The overall mean age at palatoplasty for the nine patients was 10 months, with a range of 3 to 15 months. Two patients required tracheotomy and six patients showed preoperative and postoperative complications respectively. The child development was normal in five patients over time, but two patients showed failure to thrive, one patient suffered from mental retardation, two patients had feeding problems and three patients were afflicted with speech and language disorders.
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Inhaltsverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung .............................................................................. 1
Danksagungen ................................................................................................ 2
Zusammenfassung ......................................................................................... 3
Abstract ........................................................................................................... 4
Inhaltsverzeichnis .......................................................................................... 5-6
1. Einleitung .................................................................................. 7-29 1.1. Diagnose Pierre- Robin- Sequenz .................................................. 8-11 1.2. Klassifikation der LKG- spalten ................................................... 12-13 1.3. Craniofaziale Syndrome.............................................................. 13-18 1.3.1. Syndrom- assoziierte PRS ................................................. 14-15
1.3.2. Stickler- Syndrom ............................................................... 15-16
1.3.3. Velokardiofaziales- Syndrom .............................................. 16
1.3.4. Fetales- Alkohol- Syndrom ................................................. 16-17
1.3.5. Treacher- Collins- Syndrom ................................................ 18
1.4. Ätiopathogenese der Pierre- Robin- Sequenz (PRS) ................ 18-20 1.5.Atemwege im Neugeborenen bzw. Säuglingsalter .................... 20-27 1.5.1. Atemwegsobstruktion bei der Pierre- Robin- Sequenz ....... 20-22
1.5.2. Komplikationen ................................................................... 22-23
1.5.3. Mechanismen ..................................................................... 23-24
1.5.4. Evaluierung ........................................................................ 24-25
1.5.5. Ernährungsprobleme .......................................................... 25-27
2. Therapeutische Interventionen ............................................ 28-42 2.1. Nicht- chirurgische Maßnahmen ................................................ 28-35 2.1.1. Bauchlage ............................................................................. 28-29
6
2.1.2. Tübinger Gaumenplatte ........................................................ 29-30
2.1.2.1. Technik ............................................................................ 30
2.1.2.2. Grazer Fallbericht ............................................................ 31-32
2.1.2.3. Vorteile ............................................................................ 32-33
2.1.2.4. Komplikationen ................................................................ 33
2.1.4. Nasopharyngeale Intubation ................................................. 33-35 2.1.3. CPAP- Maske ....................................................................... 35 2.2. Chirurgische Maßnahmen .......................................................... 36-42 2.2.1. Glossopexie .......................................................................... 36-40
2.2.1.1. Präoperatives Management ............................................ 36
2.2.1.2. Technik ............................................................................ 36-37
2.2.1.3. Indikation ......................................................................... 37-38
2.2.1.4. Komplikationen ................................................................ 38-39
2.2.1.5. Postoperatives Management ........................................... 39-40
2.2.2. Die mandibuläre Distraktionsosteogenese (MDO) ................ 40-41
2.2.2.1. Technik ............................................................................ 40-41
2.2.2.2. Indikation ......................................................................... 41
2.2.2.3 Komplikationen ................................................................. 41
2.2.3 Palatorhaphie ......................................................................... 42
Material und Methoden............................................................. 43
Ergebnisse ................................................................................ 44-50
Diskussion ................................................................................ 51-53
Glossar und Abkürzungen ....................................................... 54
Abbildungsverzeichnis ............................................................ 55-56
Tabellenverzeichnis ................................................................. 57
Literaturverzeichnis ................................................................. 58-63
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Einleitung
Die Pierre- Robin- Sequenz, der bekannteste Eigenname in der Medizin wird
auch Robin- Anomalie oder Pierre Robin Syndrom bezeichnet. Die Sequenz
besteht aus der charakteristischen Triade Mikrognathie, Glossoptose und
Gaumenspalte, die erstmals vom Pariser Zahnarzt Pierre Robin 1923 und 1932
beschrieben wurde. Die Mikrogenie, eine ausgeprägte Mandibulahypoplasie
führt zur Verlagerung der Zunge nach dorsokranial und damit konsekutiv zur
Fusionsstörung der Gaumenfortsätze während der Fetalzeit. Dadurch entsteht
die mediane Spalte am weichen Gaumen. Die Robin- Anomalie kommt isoliert
als auch mit zahlreichen Fehlbildungen bzw. Syndrom- assoziiert vor.
Gleich nach der Geburt entwickeln die Neugeborenen durch das Zurücksinken
der Zungenbasis in den Laryngopharynx eine akute Atemwegsobstruktion, die
unbehandelt zum Erstickungstod führen kann. Die Mechanismen der Obstruk-
tion sind hinlänglich endoskopisch untersucht worden und konnten somit zu ei-
ner Steigerung des Behandlungserfolges führen. Die adäquate Zuteilung der
Säuglinge mit Pierre- Robin- Sequenz je nach Obstruktionsmechanismus zu
den entsprechenden therapeutischen Maßnahmen, hat zu einer deutlichen
Verbesserung der respiratorischen Situation beigetragen.
Eine weitere gravierende Folge der Atemwegsobstruktion stellt die erschwerte
Ernährung der Patienten mit Pierre- Robin- Sequenz dar, welche zur Wachs-
tumsstörung, (engl. „FFT“, „failure to thrive“) führen kann.
Den theoretischen Kern der Diplomarbeit stellen die Diagnose, die Ätiopatho-
genese, das klinische Bild, die Klassifikation, die Folgeerscheinungen, das
schwierige, therapeutische Management und die Nachbehandlung der isolier-
ten bzw. Syndrom- assoziierten Pierre- Robin- Sequenz dar.
Die therapeutischen Interventionen beinhalten nicht- chirurgische und chirurgi-
sche Maßnahmen. Die nicht- chirurgischen Maßnahmen bestehen aus der
Bauchlage, der endopharyngealen und der endotrachealen Intubation und die
chirurgischen aus der Zungenlippenadhäsion (TLA, engl. „tongue lip adhesi-
on“), der mandibulären Distraktionsosteogenese (MDO), einem Verfahren zur
Distraktion der Mandibula nach vorhergehender Osteotomie, der Gaumenplas-
tik und als Ultima Ratio der Tracheostomie.
8
Des Weiteren werden die morphologischen Charakteristika der häufigsten,
craniofazialen Syndrome, welche mit der Pierre- Robin- Sequenz assoziiert
sind, verglichen.
Die zahlreichen, therapeutischen Interventionen werden unter eingehender Be-
rücksichtigung des interdisziplinären Vorgehens mit dem Schwerpunkt auf ef-
fektiven, chirurgischen Verfahren beschrieben. Die diversen nicht- chirurgi-
schen und chirurgischen Maßnahmen werden im Detail an Hand ihres Nutzen-
risikoprofils, der Indikation, der Technik, den Komplikationen und den Lang-
zeitergebnissen geschildert.
Dabei kommen nicht nur etablierte, sondern auch innovative Therapiekonzepte
wie die Tübinger Gaumenplatte zur Sprache. Überdies werden einzelne Fälle
aus der klinischen Erfahrung präsentiert.
Zu dem beinhaltet diese Arbeit eine Auseinandersetzung mit den ätiologischen
und pathogenetischen Aspekten des Pierre Robin Phänotyps. Die Mechanis-
men der Atemwegsobstruktion und ihre Implikationen für die Therapie, die
Komplikationen wie Ernährungsprobleme und Wachstumsstörung, die Evaluie-
rung der oberen Atemwegsobstruktion mittels Nasopharyngoskopie im Säug-
lingsalter werden ausführlich beschrieben.
1.1. Diagnose Pierre- Robin- Sequenz
Die klassische Triade der Pierre- Robin- Sequenz besteht aus Mikrognathie und
bzw. oder Retrognathie, Palatoschisis und der Glossoptose. Die Inzidenz ist stark
variabel und reicht von 1: 8500 bis 1: 20000 Geburten. (Bush PG, 1983 und
Printzlau A, 2004). Manche Autoren berichten sogar von 1: 2000 (Bodmann et al.,
2003).
Die Palatoschisis ist in den meisten Fällen durch eine posteriore U- förmige Spalte
am weichen bzw. harten Gaumen charakterisiert. Es kann aber auch eine V- för-
mige Gaumenspalte vorliegen. (Leiber B, 1997)
9
Die Glossoptose (Abb. 1), das Zurückfallen der Zunge in den Oro- bzw. Hypopha-
rynx führt zur oberen Atemwegsobstruktion, die das erste klinisch auffällige Zei-
chen darstellt, aber nicht in allen Fällen gleich nach der Geburt vorliegen muss.
Die Atemwegsobstruktion, die Dyspnoe bzw. Apnoe und periodisch zyanotische
Attacken sind meist durch die Glossoptose bzw. Retrognathie, können aber auch
durch einen hypotonen Pharynx, eine Laryngomalazie, Spalten im Larynx und la-
ryngeale Gewebsnetze bedingt sein. Die Komplikationen der kontinuierlichen
Atemwegsobstruktion sind Wachstumsstörungen, Pectus excavatum, eine ver-
minderte Lungenfunktion und plötzlicher Kindstod (Chen, 2012).
Pierre Robin (1923) beschrieb die Glossoptose als Verursacher der oberen Atem-
wegsobstruktion, „chute de la base de langue, gêne respiratoire“ .und beobachtete
die Symptomatik ohne Gaumenspalte, die lediglich in 65% der Fälle vorhanden ist
(Gorlin RJ et al., 1971).
Eine Diagnose ist essentiell für eine korrekte Behandlung. Dabei ist es auch wich-
tig, die Sequenz vom Syndrom zu unterscheiden und laut Shprintzen (1992) trifft
darauf das Folgende zu:
Abb. 1: Breite U- förmige Gaumenspalte mit deutlicher Glossoptose. (Entnommen von Thieme V. et al, 2005)
Abb. 2: Mikro- bzw. Retrognathie. (Entnommen von Thieme V. et al, 2005)
10
„So wie in der Infektiologie der Nachweis des richtigen Erregers für eine gezielte
Behandlung von zentraler Bedeutung ist, muss auch in der Dysmorphologie der
primäre Verursacher zuerst gefunden werden, um den PatientIn gezielt und effek-
tiv behandeln zu können.“
PatientInnen mit einem Syndrom haben multiple Anomalien, die alle auf eine, ein-
zige Pathogenese zurückzuführen sind.
In einer Sequenz zeigen die PatientInnen genauso multiple Anomalien, allerdings
werden diese Anomalien sekundär durch eine einzige Anomalie verursacht. Im
Falle der Pierre- Robin- Sequenz ist die Mikrognathie die primäre Anomalie, wel-
che die Gaumenspalte und die Atemwegsobstruktion bedingt. (Shprintzen, 1992)
Die Ursachen der Mikrognathie sind sehr heterogen. Die Pathogenese und der
Phänotyp sind sehr variabel. Dabei spielen unter anderem teratogene, genetische
und mechanische Einflüsse eine ursächliche Rolle.
Die häufigsten Syndrome bei PatientInnen mit PRS sind das Stickler und das ve-
lokardiofaziale Syndrom, die 33% der PatientInnen mit der Syndrom- assoziierten
PRS zugrunde haben. Deswegen ist nach Diagnosestellung der PRS eine oph-
thalmologische und Fluoreszenz in situ Hybridisierung des Chromosoms 22 bei
allen PatientInnen indiziert (Elzen AP et al., 2001).
Die Atemgeräusche während der Ernährung des Säuglings und in Ruhe werden
mittels Stethoskops auskultiert. Der Säugling wird überwacht und die Pulsoxymet-
rie zeichnet permanent die Sauerstoffsättigung auf. Eine fiberoptische Nasopha-
ryngoskopie dient der Identifizierung des exakten Mechanismus der Atemwegsob-
struktion und der Beurteilung der Mundhöhle, des Epi-, Oropharynx bzw. Hy-
popharynx und der Schluckfunktion. Eine orthodontische und eine HNO- ärztliche
Beurteilung sollten auch erfolgen.
11
Das cephalometrische Röntgenbild zeigt eine Mikrognathie und eine Retrognathie,
der Unterkiefer ist verkleinert und nach posterior verlagert. Weiters zeigt die
Mandibula einen verkürzten Corpus mandibulae, einen verkürzten Ramus
mandibulae und ein verzögertes Wachstum. (Chen, 2012).
Vor allem bei der Syndrom- assoziierten PRS sind typische Veränderungen er-
kennbar. Das Stickler- Syndrom zeigt eine Mandibula mit einer charakteristischen
Morphologie. Der Ramus mandibulae ist deutlich verkürzt und der Corpus
mandibulae zeigt eine Einbuchtung, die im Englischen als „antegonial notching“
bezeichnet wird.
Das velocardiofaciale- Syndrom zeigt hingegen eine retrognathe Mandibula mit
einem anatomisch, normalgroßen Corpus und Ramus. Die Platybasie, eine Abfla-
chung der Schädelbasis kommt auch als phänotypisches Merkmal bei diesem
Syndrom vor und kann bei der dadurch entstehenden Rückverlagerung des tem-
pero- mandibulären Gelenkes beteiligt sein und damit zusätzlich zu einer retrusi-
ven Mandibula führen. (Arvystas M, Shprintzen RJ, 1984)
Von den PatientInnen mit Pierre- Robin- Sequenz hatten über 80% ein Syndrom.
Nach Elzen AP et al. (2001) hatten hingegen beinahe zwei Drittel (63.5%) der
StudienteilnehmerInnen mit PRS ein isoliertes PRS ohne Syndromassoziation und
über ein Drittel (36.8%) eine PRS mit Syndromassoziation.
Abb. 4: Ein PRS Patient mit deutlicher mandibulärer und maxillärer Hypoplasie. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Abb. 3: Ein PRS Patient mit mandibulärer Hy-poplasie. (Entnommen von Evans et al., 2011)
12
1.2. Klassifikation der LKG- Spalten
Die Nomenklatur der Lippen- Kiefer- Gaumenspalten bezieht sich auf die Embryo-
logie, die anatomischen Merkmale und erfolgt nach der internationalen Klassifika-
tion, die am Kongress der Internationalen Gesellschaft für Plastische und Wieder-
herstellungschirurgie in Rom 1967 festgelegt wurde, in vier Gruppen (Tabelle 1).
PatientInnen mit PRS zeigen keine Lippen- oder Kieferspalten, sondern der Defekt
liegt am harten bzw. weichen Gaumen. Diese Gaumenspalte gehört der dritten
Gruppe, den Spaltformen des hinteren (sekundären) embryonalen Gaumens an.
Allerdings sind nicht alle PRS PatientInnen von einer Gaumenspalte betroffen.
Gruppe 1: Spaltformen des vorderen (primären) embryonalen Gaumens
• Lippe uni- und bilateral
• Kiefer uni- und bilateral
Gruppe 2: Spaltformen des vorderen und hinteren (primären und sekundären)
Gaumens
embryonalen Gaumens
• Lippe uni- und bilateral
• Kiefer uni- und bilateral
• harter Gaumen uni- und bilateral
• weicher Gaumen median
Gruppe 3: Spaltformen des hinteren (sekundären) embryonalen Gaumens
• harter Gaumen uni- und bilateral
• weicher Gaumen median
Gruppe 4: Seltene Gesichtsspalten
Tabelle 1: Internationale Klassifikation der LKG- Spalten. (Entnommen von Horch et al.,
2006)
13
Die isolierte Gaumenspalte ist in der Mittellinie zu finden. Der harte und weiche
Gaumen sind doppelseitig gespalten und besitzen keine Verbindung mit dem Vo-
mer. Es kann eine totale, eine subtotale oder eine submuköse Gaumenspalte mit
Uvula bifida vorliegen. Die totale Gaumenspalte reicht bis ans Zwischenkiefer her-
an und ist breit und bogenförmig.
Die subtotale Spalte reicht bis ans Foramen incisivum heran und ist schmal und
spitz. (Horch et al., 2007)
Die verschiedenen Spaltformen und ihre Häufigkeit sind in Tabelle 2 zu finden.
Spaltformen Häufigkeit
Velumspalte 15 (17,2%)
Velum mit partieller Hartgaumenspalte 34 (39,1%
Vollständige Hart- und Weichgaumenspalte 37 (42,5%)
Submuköse Velumspalte 1 (1,2%)
Tabelle 2: Spaltformen bei 87 Kindern mit Pierre-Robin-Sequenz. (Entnommen von
Thieme V. et al, 2005)
1.3. Craniofaziale Syndrome
Die Syndromhäufigkeit bei PRS PatientInnen schwankt zwischen einem Drittel und
83 %. Mehr als 80 % der PRS PatientInnen haben nach Jones KL (1988) eine
Syndrom Assoziation. Cohen (1979) schlägt aufgrund der schwierigen Diagnostik
statt Robin Sequenz die Bezeichnung Robin Komplex vor. Bei PRS PatientInnen
können sowohl singuläre Fehlbildungen, als auch weitere multiple Anomalien syn-
dromalen oder nichtsyndromalen Charakters vorliegen.
Die häufigsten Syndrome sind das Stickler- Syndrom, das velocardiofaziale- Syn-
drom, das Fetale- Alkohol- Syndrom und das Treacher- Collins- Syndrom (Tabelle
3). Einzelne Autoren berichten von über 100 verschiedenen Syndromen.
14
Zu den nichtsyndromalen Fehlbildungen gehören VSD, ASD, PDA, Hernien und
organspezifische Fehlbildungen wie Ohrmuscheldysplasie, Mikroglossie, Hydro-
zephalus, Hufeisenniere, usw. Außerdem sind auch komplexe Malformationen
keine Seltenheit (Thieme V. et al, 2005).
Syndrom Häufigkeit
Stickler- Syndrom 34
Velocardiofaziales- Syndrom 11
Fetales- Alkohol- Syndrom 10
Nicht klassifizierbare Syndrome 10
Treacher- Collins- Syndrom 5
Bilaterales, femorales Dysgenesie Syndrom 2
Distale Arthrogrypose 2
Larsen- Syndrom 2
Diverse Syndrome (Miller- Dieker- Syndrom
Spondyloepiphyseales- Dysplasie- Syndrome
Nager- Syndrom
Beckwith- Wiedemann- Syndrom
Adam- Sequenz)
7
Isolierte nichtsyndromale PRS 17
Tabelle 3: Die Syndromhäufigkeit von 100 PRS PatientInnen. (Entnommen von
Shprintzen, 1992)
1.3.1. Syndromassoziierte Pierre- Robin- Sequenz (PRS)
Die häufigste Diagnose der Syndrom- assoziierten PRS ist das Stickler- Syndrom,
das in etwa einem Drittel der Fälle auftritt. Von den vier häufigsten Diagnosen ei-
nes PRS mit Syndromassoziation aus einem Kollektiv von 100 Patienten waren 65
Prozent aller PatientInnen mit PRS betroffen. Dazu haben das Stickler- Syndrom
15
(34%), das Velocardiofaziale- Syndrom (11%), das Fetale- Alkohol- Syndrom
(10%) und diverse Malformations- Syndrome (10%), die zu keinem spezifischen
Syndrom zugeordnet werden konnten, gezählt. Allein etwa 17% waren Patienten
mit isolierter PRS.
Die Anzahl der PatientInnen ohne Syndrom Assoziation ist stark variabel. Wenn
die Diagnosekriterien geändert werden, kommt es auch zu einer Änderung der
Inzidenz der isolierten PRS. Wenn beispielsweise die Atemwegsobstruktion als
fakultatives Kriterium angewandt wurde, ist der Prozentsatz der isolierten PRS
gesunken. Diese Daten zeigen eine starke Syndromassoziation der PatientInnen
mit PRS. ‚Die Prävalenz der Syndrome ist auch deutlich höher bei PatientInnen
mit PRS als bei anderen SpaltträgerInnen, Patienten mit Lippenspalten oder
Gaumenspalten.
Die Mehrzahl der PatientInnen mit PRS hat in der Regel zwei strukturelle Anoma-
lien und zwar die Mikrognathie und die Gaumenspalte. „Wenn zwei Anomalien
zusammen vorkommen, lautet ein allgemeines Prinzip der Dysmorphologie, das
diese einen Bezug zueinander haben. Die meisten Syndrome zeigen mehr als
zwei Anomalien, so haben über 80 % der PatientInnen mit PRS zu dem noch zu-
sätzliche Anomalien.“ (Shprintzen, 1992)
1.3.1. Stickler- Syndrom
Dieses Syndrom wird durch eine Störung des Bindegewebes verursacht und wird
häufig mit dem Marshall Syndrom verwechselt. Eine autosomal- dominante Verer-
bung liegt in den meisten Fällen vor.
Das Typ II Kollagen, das im Knorpel, dem Glaskörper und dem Nucleus pulposus
vorkommt, wird vermehrt produziert und abnorm angehäuft. Klinisch zeigen sich
orofaziale und ophthalmologische Veränderungen, Taubheit und Arthritis. Die oph-
thalmologischen Veränderungen wie hohe Myopie und Abhebung der Retina sind
pathognomonisch. Des Weiteren zeigen diese PatientInnen ein flaches Mittelge-
sicht, eine kurze Nase, eine Gaumenspalte und Mikrognathie. Vereinzelt kann
auch eine Mitralklappeninsuffizienz vorliegen. Die Gelenkshypermobilität nimmt
mit dem Alter ab und die Osteoarthritis entsteht typischerweise in der dritten bzw.
vierten Lebensdekade. Eine frühe augenärztliche Untersuchung ist auf indiziert.
16
Des Weiteren sollte ein HNO- Arzt wegen der Beurteilung des Hörvermögens zu
Rate gezogen werden. Auch eine orthopädische Behandlung ist wegen der früh
eintretenden Arthritis auf jeden Fall notwendig. (Snead MP, Yates JR., 1999)
1.3.2. Velokardiofaziale Syndrom
Dieses autosomal dominant vererbte Syndrom ist bekannt auch unter dem Namen
Shprintzen Syndrom. Allerdings entsteht die Mutation in den meisten Fällen de
novo. Es besitzt Ähnlichkeit mit dem DiGeorge- Syndrom, das auch durch eine
Deletion am Chromosom 22 verursacht wird. Cytogenetische- und molekulargene-
tische Verfahren, die zur diagnostischen Anwendung kommen, sind FISH, MLPA
und CGH array. Die klinischen Zeichen sind Retrognathie, ein in die Länge gezo-
genes Gesicht mit einer markanten Nase und eine Gaumenspalte. Weiters haben
diese PatientInnen häufig eine Otitis media und eine velopharyngeale Insuffizienz,
die durch die schwache pharyngeale Schlundmuskulatur bedingt ist und die
Sprachbildung beeinträchtigen kann. Zu dem zeigen die meisten PatientInnen
zahlreiche, kongenitale Herzfehler wie VSD, eine Transposition der Aorta bzw. des
Truncus pulmonale und die Fallot´sche Tetralogie. Außerdem treten Lernschwä-
che und mentale Retardierung in bis zu 40 % der Fälle auf und bis zu einem Drittel
der Fälle Schizophrenie und paranoide Wahnvorstellungen. Ein chirurgisches Ma-
nagement ist häufig notwendig, um die velopharyngeale Insuffizienz und damit die
Sprachbeeinträchtigung zu beseitigen. (McDonald-McGinn DM, 2011)
1.3.3. Fetales Alkohol Syndrom
Die Inzidenz des FAS oder Alkoholembryopathie beträgt in den USA 1-3: 1000
Lebendgeburten und entsteht durch die Toxizität des Alkohols und seiner Metabo-
liten in utero zu verschiedenen Zeiten der Embryo- bzw. Fetogenese. Bereits ge-
ringe Mengen können teratogen wirken, deswegen wird Schwangeren eine strikte
Alkoholabstinenz empfohlen.
Die charakteristischen craniofazialen Veränderungen sind kurze palpebrale Fissu-
ren, ein flaches Mittelgesicht, ein glattes und flaches Philtrum, und eine dünne
17
obere Lippe. Weiters können epikanthale Falten, eine niedrige nasale Brücke, ge-
ringgradige Ohranomalien, eine kurze Nase und eine Mikrognathie vorkommen.
10% der PRS PatientInnen haben ein Fetales Alkoholsyndrom (Tabelle 3). Außer-
dem können diverse Defekte wie okuläre, cardiovaskuläre, hepatische, renale,
muskuläre und skelettale Anomalien vorliegen. Die organischen Defekte werden
als „ARBD“ bezeichnet, „alcohol- related birth defects“. Auch zahlreiche, neurolo-
gische Störungen werden in Zusammenhang mit Alkoholkonsum beschrieben und
als „ARND“ bezeichnet. (Chen, 2005)
Abbildung 5: Verkürztes Wachs-tum eines FAS Patienten. (Ent-nommen von Chen, 2005)
Abbildung 6: Die charakteristi-schen Gesichtszüge eines FAS Patienten. (Entnommen von-Chen, 2005)
18
1.3.4. Treacher- Collins- Syndrom
Dieses Syndrom wird auch als Franceschetti- Syndrom oder mandibulofaziales-
Syndrom bezeichnet. Es liegt eine autosomal dominante Vererbung mit variabler,
genetischer Penetranz vor.
Diese PatientInnen haben Fehlbildungen am Unterkiefer und am Gesichtsschädel.
Es treten typischerweise eine Unter- und Oberkieferhypoplasie, eine Ohrmuschel-
dysplasie wie Mikrotie und Gehörgangsatresie mit Taubheit auf. (Chen, 2005).
1.4. Ätiopathogenese der Pierre- Robin- Sequenz (PRS)
Die Ätiopathogenese ist nach dem heutigen medizinischen Stand noch nicht voll-
ständig geklärt. Sadewitz VL (1992) schildert Folgendes: „Die Hypoplasie der
Mandibula entsteht während der Embryonalzeit etwa zwischen der siebenten und
elften Woche postkonzeptionell. Die Zunge nimmt eine hohe Position im Nasopha-
rynx ein und drückt gegen die Schädelbasis. Normalerweise beginnt zu dieser Zeit
der Embryogenese das mediale Wachstum der palatinalen Wülste, das in der elf-
ten Woche mit der Verschmelzung in der Mittellinie und Entstehung der Raphe
mediana endet. Die Zunge der Patienten mit PRS erlebt hingegen keinen Deszen-
sus. Erstens ist die Mandibula in ihrem Wachstum eingeschränkt, zweitens kann
die Manibula eine starke Retroposition einnehmen und drittens verhindert die
Zunge selbst durch Obstruktion die Fusion der beiden Gaumenhälften. Zu einem
späteren Entwicklungszeitpunkt nach der Embryogenese können die palatinalen
Wülste nicht mehr miteinander verschmelzen, auch wenn die Zunge nicht mehr im
Weg ist. Eine U- förmige Gaumenspalte entsteht, welche nur auf eine mögliche
Obstruktion der Zunge schließen lässt.“
Die Entstehung der Mandibulahypoplasie ist multifaktoriell und hängt von der
Struktur, der Form und der Funktion ab. Die potentiellen Ursachen sind laut Cohen
(1976) Folgende:„Das Oligohydramnion, die verminderte Amnionflüssigkeit im Ute-
rus kann zur Beeinträchtigung der Position und Entwicklung des fetalen Kopfes
führen. Der Kopf des Fetus ist dabei flektiert, sodass das Kinn auf der Brust liegt
und das Mandibulawachstum dadurch behindert wird.
19
Dieselbe Kopffehlhaltung kann bei Mehrlingsschwangerschaften, wie Zwillings-
und Trillingsschwangerschaften, bei Fehlbildungen des Uterus, wie unicornem
Uterus oder bei Uterustumoren, bei abnormer Implantationsstelle der Zygote oder
bei kleinem Uterus. Die Mandibula ist hierbei intrinsisch normal, aber durch exter-
ne Faktoren wird sie deformiert. Die intrinsische Mandibulahypoplasie kommt bei
zahlreichen, kongenitalen Fehlbildungssyndromen vor. Das Stickler- Syndrom ist
das häufigste Malformationssyndrom und kommt bei etwa einem Drittel der Pati-
enten mit PRS vor. Die hypoplastische Mandibula der Patienten mit Stickler- Syn-
drom zeigt einen verkürzten Ramus und einen konkaven Eindruck im Corpus
mandibulae, das oft als „antegonial notching“ bezeichnet wird. Eine Vielzahl an
Syndromen kann zu einer Hypoplasie der Mandibula führen, sei es chromosomal
oder sei es teratogen bedingt.
Neurologische bzw. neuromuskuläre Ursachen für eine hypoplastische Mandibula
sind myotone Dystrophie und die Arthrogrypose. Die Arthrogrypose zeigt multiple
Kontrakturen im Bereich des Nackens, aber auch an den Extremitäten und führt
zudem noch zum abnorm flektierten Kopf, der per se das Wachstum der Mandibu-
la einschränken kann. Die Wachstumsstörung der Mandibula kann bei jedem Syn-
drom, das neurologisch bzw. neuromuskulär auffällig ist, auftreten. Der Fetus übt
normalerweise intrauterin die Bewegung der Mandibula. Wenn die Fähigkeiten zur
Bewegung eingeschränkt sind, kann die Zunge auch nicht aus ihrer Lage zwi-
schen den palatinalen Wülsten herauskommen, die Fusion der Wülste ist damit
gestört und eine Gaumenspalte resultiert. Störungen des Bindegewebes wie das
Larsensyndrom oder das Multiple Pterygium Syndrom, auch als Popliteales-
Pterygium- Syndrom bezeichnet können auch zur Wachstumsbeeinträchtigung der
Mandibula führen. Diese Syndrome mit Bindegewebsveränderungen können nicht
nur zur abnormen Kopfposition, sondern auch zur Bewegungseinschränkung des
Fetus führen.“
Es gibt Aberhunderte verschiedener Ursachen für die Entstehung der Pierre- Ro-
bin- Sequenz und deshalb kann diese Sequenz nicht als eine spezifische Krank-
heitsentität betrachtet werden. Außerdem zeigen über ein Drittel der Patienten mit
PRS eine oder mehrere assoziierte Anomalien. Diese Anomalien ergeben in der
Regel keine Diagnose eines bekannten Syndroms, wohingegen nur für 25% der
Fälle mit Anomalien ein anerkanntes Syndrom diagnostiziert werden kann. (Co-
hen, 1976)
20
1975 hat es weniger als 150 diagnostizierte Syndrome mit einer Gaumenspalte
gegeben. Nach Sadewitz (1992) sind über 400 verschiedener Syndrome bekannt.
Eine genaue Diagnostik der Syndrome jedoch ist für eine gute Patientenversor-
gung unabdingbar.
1.5. Die Atemwege im Neugeborenen bzw. Säuglingsalter
1.5.1. Atemwegsobstruktion bei Pierre- Robin- Sequenz (PRS)
Die Glossoptose ist nicht die einzige Ursache für eine obere Atemwegsobstrukti-
on. Es gibt zahlreiche Mechanismen, die eine Atemwegsobstruktion verursachen
können.
Der kongenitale Stridor ist inspiratorisch hörbar, weil die Einengung oberhalb der
oberen Thoraxapertur liegt. Die Atemgeräusche sind von einem ziehenden, juch-
zenden oder schnarchenden Charakter. Neugeborene bzw. Säuglinge mit PRS
haben kein adäquates Atemzugvolumen und keine suffiziente Atmung. Differenti-
aldiagnostisch sind der Krupp, die Epiglottitis, die Laryngomalazie, die Rekurren-
sparese, Tonsillenhyperplasie, etc. zu bedenken. (Speer et al., 2004)
Bereits Robin (1934) hat das „Glossoptotische- Syndrom" beschrieben. Die
Wachstumsstörung und die häufigste Todesursache sind auf die respiratorische
Insuffizienz zurückzuführen. Die Zungenbasis drückt auf die Epiglottis und führt
damit zum Verschluss der Glottis (Abb. 7).
21
Abbildung 7: Eine CT Aufnahmen, die eine Typ 1 Atemwegsobstruktion zeigt. (Entnom-men von Evans et al., 2011)
Die Zungenbasis drückt auf die Epiglottis und bildet dadurch eine Art Ventilme-
chanismus, die Expiration ermöglicht, aber Inspiration verhindert.
Bei der Entstehung der Atemwegsobstruktion spielt auch der Oropharynx eine
Rolle. Der Pharynx kann demnach nicht dem vorherrschenden, negativen Unter-
druck standhalten. Ein neuromuskulärer Mechanismus hält physiologisch den
Pharynx offen. Die Aktivität des M. genioglossus hält die Atemwege offen. Bei Pa-
tientInnen mit PRS hat dieser Muskel durch die Retrognathie der Mandibula eine
verkürzte Achse, wodurch der M. genioglossus in seiner Bewegung eingeschränkt
ist. Auch bei PatientInnen mit Schlaf Apnoe Syndrom wird eine Beteiligung des M.
genioglossus, dessen Aktivität nachts physiologisch abnimmt, diskutiert.
Der Schweregrad der Atemwegsobstruktion jedoch korreliert nicht mit dem Schwe-
regrad der Mikrognathie. Das liegt an dem individuellen Aktivitätsmuster des M.
genioglossus. Außerdem zeigen einige PRS PatientInnen mit Glossoptose keine
Hypoplasie der Mandibula. Außerdem können PatietInnen mit moderater Mikrog-
nathie eine schwere Atemwegsobstruktion mit Ernährungsproblemen zeigen,
wenn neurologische Begleiterkrankungen wie generalisierte Hypotonie vorliegen.
Die neurologische Entwicklung in den ersten Wochen postnatal ist für die oropha-
ryngeale Funktion entscheidend.
22
Der Grad der bestehenden, neuromuskulären Dysfunktion und die progressive
neurologische Entwicklung spielen bei der Verbesserung der Atemwegssituation
eine große Rolle. (Sher et al., 1992) Der operative Gaumenspaltverschluss kann
auch zu einer erneuten Einengung der oberen Atemwege, trotz einer postoperati-
ven Phase der Stabilisierung führen. Eine geringe Hypoxie liegt bei einem kurzzei-
tigen Sauerstoffabfall bis 90% vor und zeigt eine gute Remission, ein Abfall unter
90 bis 85% ist eine moderate Hypoxie und erfordert die Insertion eines nasopha-
ryngealen Tubus mit Sauerstoffgabe. Eine schwere Hypoxie unter 85 % führt zur
Reintubation. Das liegt daran, dass PRS Kinder eine grenzwertig kompensierte
Funktion und damit eine latente Obstruktion aufweisen. Nach dem Trauma der
Spaltoperation können sie deswegen wieder dekompensieren. Eine exzessive
postoperative Zungenschwellung stellt eine seltene Komplikation dar. Überdies
wächst der Unterkiefer im ersten Lebensjahr nicht und damit geht ein weiterer sta-
bilisierender Faktor verloren. Zu dem haben PRS Kinder mit zusätzlichen kongeni-
talen Anomalien ein erhöhtes Risiko nach der Gaumenspalteoperation eine obere
Atemwegsobstruktion zu entwickeln. Deswegen muss bei der Risikoabschätzung
die postnatale Situation, die adäquate Atmung in Bauchlage, das Trinkverhalten,
das Vorliegen von kongenitalen Anomalien und die chirurgische Sicherung der
Atemwege durch TLA, MDO oder Tracheotomie berücksichtigt werden. Die meis-
ten postoperativen Komplikationen traten innerhalb der ersten 48 Stunden auf,
deswegen ist in diesem Zeitraum ein sorgfältiges Monitoring mit Kontrolle der
Sauerstoffsättigung entscheidend. (Thieme V. et al., 2005)
1.5.2. Komplikationen
Die obere Atemwegsobstruktion kann zur Aspiration, Erbrechen, Ernährungsprob-
leme, Wachstumsstörung, Apnoe, respiratorischer Insuffizienz, Koma und zum
Tod führen. Die Aspiration kann eine Pneumonie verursachen. Erbrechen tritt häu-
fig durch Verschlucken von Luft und nachfolgender Magenaufblähung auf und er-
höht das Risiko der Aspiration. Manometrische Untersuchungen haben einen ne-
gativen Druck im Pharynx, der bei mehrmaligem Saugen und Atmen zunimmt, ge-
zeigt.
23
Ein Unterdruck von über 60 mm Hg, der bei Inspiration und bei der Ernährung des
Säuglings entsteht, saugt die Zungenbasis in den Hypopharynx und führt so zur
oberen Atemwegsobstruktion. Die obstruktive Apnoe tritt während des Schlafes,
aber auch beim/ bei der wachen PatientIn auf. ist die Apnoe bei PatientInnen mit
PRS häufiger während des Schlafes, in Rückenlage, beim Schreien und bei der
Fütterung aufgetreten. Die Atemwegsobstruktion kommt nicht bei allen PRS Pati-
entInnen vor. Einige PatientInnen zeigen funktionell normale Atemwege während
des Schlaf- und Wachrhythmus. Wiederum andere PatientInnen entwickeln nur
nachts eine obstruktive Schlafapnoe. Diese PatientInnen atmen laut und erschwert
während sie wach sind und zeigen auch leichte Ernährungsprobleme. PatientIn-
nen, die keine adäquate Ventilation weder während des Schlafes noch während
sie wach sind, aufrechterhalten können, sind am schwersten von der Atem-
wegsobstruktion betroffen. Weiterhin kann die Atemwegsobstruktion bei Infektio-
nen der oberen Atemwege zunehmen, da es entzündungsbedingt zum Schleim-
hautödem und der Hypertrophie des Lymphgewebes kommt. Dadurch kann auch
bei PatientInnen, die nur während des Schlafes eine Apnoe gezeigt haben, eine
Atemwegsobstruktion ganztags auftreten. Außerdem ist auch mit Langzeitkompli-
kationen wie plötzlichen Kindstod zu rechnen. Eine hohe Zahl an PRS PatientIn-
nen ist aufgrund von obstruktiver Apnoe im späten Kindsalter bzw. im Jugendalter
verstorben. (Sher et al., 1992)
1.5.3. Mechanismen
Die vier Mechanismen der oberen Atemwegsobstruktion nach Sher et al. (1986)
können auch miteinander überlappen. Der Pharynx wird endoskopisch, fiberop-
tisch untersucht.
Typ 1: Die anteroposteriore Obstruktion besteht aus der Rückverlagerung des
Dorsum linguae, wobei die Zunge mit der posterioren Pharynxwand in Kontakt
steht. Hierbei handelt es sich um eine echte Glossoptose.
Typ 2: Die Zunge hat hier keinen Kontakt mit der posterioren Pharynxwand, son-
dern drückt auf den weichen Gaumen, sodass der weiche Gaumen von beiden
Seiten, einerseits vom Velum und andererseits von der Zunge eingequetscht wird.
24
Typ 3: Die mediale Kontraktion der lateralen Pharynxwand zeigt auch keinen Zun-
genkontakt.
Typ 4: Diese Obstruktionsart ist sphinkterisch und die Bewegungen der Pha-
rynxmuskulatur erfolgen in alle Richtungen. Dabei ist kein Zungenkontakt vorhan-
den.
1.5.4. Evaluierung
Die Atemwegsobstruktion muss zu jeder Zeit, beim wachen bzw. schlafenden Pa-
tienten und bei der Fütterung überprüft werden. Die therapeutische Intervention
hängt vom Schweregrad der Atemwegsobstruktion ab. Es gibt zahlreiche Ursa-
chen der oberen Atemwegsobstruktion. Die Stelle an der die Obstruktion im Pha-
rynx auftritt, ist variabel. Es zeigen sich nicht nur Unterschiede zwischen verschie-
denen Syndromen, sondern auch bei PatientInnen mit ein und demselben Syn-
drom. Die endoskopische Nasopharyngoskopie identifiziert die Stelle an der die
Obstruktion stattfindet. Sher et al. (1986) haben vier Mechanismen der Atem-
wegsobstruktion bei PatientInnen mit craniofazialen Anomalien beschrieben. Die
Typ 1 Obstruktion spricht sehr gut auf die Glossopexie an, wohingegen die Typ 2
Obstruktion kein Therapieansprechen auf die TLA zeigt. Auch die Typ 3 und Typ 4
Obstruktionen zeigen kein Ansprechen. Deswegen sollten nur Typ 1 Obstruktio-
nen mittels Glossopexie therapiert werden. Bei allen anderen Obstruktionsformen
und nach erfolgloser, nasopharyngealer Langzeitintubation über acht Wochen ist
die Tracheotomie indiziert. Nach Beseitigung der Atemwegsobstruktion haben die
meisten PatientInnen auch eine erleichterte orale Ernährung. Die Atemwege wer-
den endoskopisch und klinisch postoperativ regelmäßig überprüft. Dabei wird wäh-
rend der Endoskopie der nasopharyngeale Tubus entfernt. Wenn bei Inspiration
die Atemwege nicht kollabieren, wird der nasopharyngeale Tubus für 48 Stunden
entfernt. Während dieser Zeit wird der Säugling auch weiterhin über eine naso-
gastrale Sonde ernährt.
Wenn der Säugling jedoch in der Lage ist seine Atemwege während des Schlafes
bzw. Wachens offen zu halten, erfolgt die Umstellung auf eine Ernährung per os.
Die nasopharyngeale Intubation ist nicht mehr notwendig, wenn der Säugling wei-
terhin unter oraler Ernährung keine Zeichen der Atemwegsobstruktion mehr zeigt.
25
Die Verbesserung der Atemwegssituation ist auf die voranschreitende neurologi-
sche Entwicklung des Säuglings, das Unterkieferwachstum und das allgemeine
Wachstum der Atemwege zurückzuführen.
1.5.5. Ernährungsprobleme
Die Gedeih- bzw. Wachstumsstörung (FTT) tritt sehr häufig bei PatientInnen mit
einer Lippen- Kiefer- Gaumenspalte auf. Bei PatientInnen mit PRS ist die Inzidenz
der „FTT“, „failure to thrive“ am höchsten und lag nach einer Studie bei 100%.
(Pandya Ankur N. et al., 2001) Nach einer anderen Studie hatten aber nur ein
Viertel aller PRS PatientInnen Ernährungsprobleme und das eingeschränkte
Wachstum war vor allem bei männlichen Säuglingen unter 10 Monaten und mit
einem isolierten PRS am höchsten. (Elzen AP et al. (2001)
Die Primäroperation, der Verschluss der Gaumenspalte ist für den Säugling belas-
tend und mit einem gesteigerten Energiebedarf verbunden, deswegen ist beson-
ders in den ersten sechs Monaten bei PatientInnen mit Gaumenspalte eine adä-
quate Ernährung nötig, um das normale Wachstum und die neurologische Ent-
wicklung, die zu dieser Zeit ihren Höhepunkt hat, zu erhalten.
Die Ernährungsprobleme führen zu einer Gewichtsabnahme und einem Wachs-
tumsdefizit.
Weiters haben PatientInnen mit LKG- spalte vor allem in den ersten sechs Mona-
ten eine Gewichtsabnahme aufgrund der Ernährungsprobleme. Viele der Patien-
tInnen zeigten weiterhin auch nach sechs Monaten eine Wachstumsstörung.
Trotz des aufwendigen, multidisziplinären Managements bestehend aus einem
Pädiater, einem Anästhesisten, einem Chirurgen der Mundkiefergesichtschirurgie,
einem Logopäden, etc. haben eine hohe Anzahl an Patienten im klinischen Verlauf
an Hand der Wachstumskurven Gedeihstörungen gezeigt.
Das Gewicht und das Gestationsalter zur Zeit der Geburt werden mit dem Gewicht
und Alter zur Zeit der Primäroperation verglichen. Die Gedeihstörung wird mit Hilfe
der Wachstumskurven, die in der Pädiatrie gebräuchlich sind, nachgewiesen.
26
Dabei wird die Wachstumsstörung bei Kindern unter zwei Jahren als Gewicht zwi-
schen der dritten und der fünften Perzentile oder als ein Abfall des Gewichts in
zwei Hauptperzentilenkurve oder als Gewicht unter 80% des Idealgewichts für das
vorliegende Alter definiert.
32% der Säuglinge mit unilateraler Lippen- Kiefer- Gaumenspalten, 38% der
Säuglinge mit bilateraler Lippen- Kiefer- Gaumenspalten und 49% der Säuglinge
mit isolierter Gaumenspalte waren von der Gedeih- bzw. Wachstumsstörung be-
troffen.
Weiters konnte eine höhere Inzidenz der Wachstumsstörung nicht nur bei Vorlie-
gen einer isolierten Gaumenspalte, sondern auch bei einer Assoziation mit Syn-
dromen oder Anomalien gezeigt werden. Das Geschlecht oder die geographische
Lage hatten keinen Einfluss. Männliche und weibliche Probanden waren gleicher-
maßen betroffen.
Die Inzidenz der Wachstumsstörung bei PatientInnen mit isolierter Lippenspalte
war vergleichbar mit der Inzidenz der gesunden Neugeborenen. PatientInnen mit
kombinierter LKG- spalte hatten ein besseres Wachstum als beispielsweise Pati-
entInnen mit isolierter Gaumenspalte. Der Schweregrad der Gaumenspalte
scheint eine große Rolle bei der Entstehung von Wachstums- bzw. Gedeihstörun-
gen zu spielen. Die Inzidenz der Wachstumsstörung bei PatientInnen mit PRS lag
bei 100%. Deswegen wurden weitere therapeutische Maßnahmen getroffen, die
aus einer speziell geschulten Krankenschwester und einer verschärften Überwa-
chung bestanden. Außerdem wurden die Atemwege der PatientInnen mit PRS
regelmäßig kontrolliert und bei Bedarf eine nasogastrale Sondenernährung einge-
leitet.
Die Krankenschwestern haben die Ernährung des Säuglings unterstützt, das Stil-
len überwacht und die Eltern über die richtige Ernährungsweise eines Neugebore-
nen mit Lippen- Kiefer- Gaumenspalte beraten. Zu dem haben diese Kranken-
schwestern regelmäßige Besuche innerhalb der ersten drei Wochen gemacht und
konnten dadurch die Ernährung des Neugeborenen überwachen, das Ab- bzw.
Zunehmen des Gewichts registrieren und bei Bedarf einen Pädiater oder MKG-
Chirurgen hinzuziehen. Eine signifikante Abnahme der Inzidenz bei PatientInnen
mit PRS konnte aufgrund der Ernährungshilfe und des genauen Atemwegsmana-
gements erzielt werden.
27
PatientInnen mit PRS verbrauchen viel Energie für die Atmung, deshalb haben
diese PatientInnen keine oder kaum Energiereserven für das normale Wachstum
und für die normale Entwicklung. Oft ist bei diesen PatientInnen auch eine
nasopharyngeale Beatmung notwendig. Die Rate der Wachstumsstörung bei die-
sem PatietInnengut ist von 100% auf 40% gesunken. Weiters hat diese Studie
auch ein besseres Wachstum der PatientInnen mit kombinierter Lippen- Kiefer-
Gaumenspalte als bei PatientInnen mit isolierter Gaumenspalte gezeigt. Die
Wachstumskurven der PatientInnen mit kombinierter Lippen- Kiefer- Gaumenspal-
te waren parallel zu oder haben sogar die oberen Perzentilen gekreuzt. (Pandya
Ankur N. et al., 2001)
28
2. Therapeutische Interventionen
2.1. Nicht- chirurgische Maßnahmen
2.1.1. Bauchlage
Bereits Robin (1934) hat die Bauchlage als vorteilhaft fürs Atemwegsmanagement
beschrieben. Nach Takagi und Bosma (1960) führt die Bauchlage zu einer Ver-
besserung der Schluckfunktion und einer besseren Koordination von Bewegungen
der Zungen- bzw. Schlundmuskulatur. Sie wiesen allerdings daraufhin, dass diese
Verbesserungen nicht allein auf die Position des Säuglings, sondern auch auf die
cervikale Extension zurückzuführen sind. Die Zunge hat in Bauchlage des Säug-
lings eine normale Position im Bezug auf den Pharynx und während des Schlu-
ckens eingenommen. Es ist zu einer Erweiterung des Hypopharynx und Epipha-
rynx durch die Vorverlagerung der ventralen Pharynxwand und durch die Zunah-
me des anteroposterioren Durchmessers gekommen.
Andere Autoren wie Cogswell und Easton (1974) konnten durch die Spirometrie
eine Abnahme der Resistenz des Atemflusses in Bauchlage im Vergleich zur Rü-
ckenlage zeigen.
Es besteht eine hohe Mortalitätsrate (64%) und eine hohe Komplikationsrate bei
PRS PatientInnen, die allein nichtchirurgisch behandelt wurden. Die Mehrzahl die-
ser PatientInnen hat eine Aspirationspneumonie entwickelt und im Verlauf eine
Störung des Wachstums und fehlende Gewichtszunahme gezeigt.
Wiederum andere Autoren wie Marques et al. (2001) haben über PRS PatientIn-
nen, die allein mit Hilfe der Bauchlage und vereinzelt mit Sondenernährung mittels
nasogastraler Sonde therapiert wurden, berichtet. Dabei sind keine Todesfälle
aufgetreten. Ihre Studie hat gezeigt, dass mildere und sogar einige schwere Fälle
mit PRS durch die Bauchlage ausreichend therapiert werden konnten.
Nach Sher et al. (1992) ist die Bauchlage in der Langzeittherapie nicht effektiv.
29
Die obstruktive Apnoe ist meist stumm. Die klinischen Zeichen sind interkostale,
suprasternale bzw. substernale Einziehungen (Pectus excavatum). Es kommt zu
keinem lauten Schnarchen. Der inspiratorische Stridor ist nicht oder nur spora-
disch vorhanden. Außerdem können die sub- bzw. suprasternalen Einziehungen in
Bauchlage nicht erkannt werden. Die interkostalen Einziehungen sind zudem auf
der Vorderseite des Thorax stärker ausgeprägt als am Rücken.
Deswegen kann eine obere Atemwegsobstruktion verkannt werden, da sich der
Thorax des Neugeborenen bzw. des Säuglings bewegt, obwohl keine ausreichen-
de Ventilation und kein Gasaustausch stattfinden.
2.1.2. Tübinger Gaumenplatte
Die Tübinger Gaumenplatte stellt nach Anette von Bodman (2003) ein innovatives
Therapiekonzept bei PatientInnen mit PRS dar und wurde an der Tübinger Kinder-
klinik entwickelt.
Aufgrund der charakteristischen Triade der Sequenz Mikrognathie, Gaumenspalte
und Glossoptosis haben einige PatientInnen mit PRS eine Obstruktion der oberen
Atemwege. Es gibt verschieden Methoden für das Management der Atemwege,
aber es gibt noch keine Standardtherapie. Die Behandlungsmöglichkeiten wie die
Glossopexie, die mandibuäre Distraktionsosteogenese, die nasopharyngeale Intu-
bation oder die Tracheotomie zeigen keine befriedigenden Ergebnisse und ziehen
viele Komplikationen nach sich.
Abb. 8: Die modifizierte Gaumenplatte mit pha-ryngealem Bügel. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
30
Die gängige Gaumenplatte, eine kieferorthopädische Maßnahme verdeckt nur die
Gaumenspalte, sodass das Trinkenlernen ermöglicht wird, aber sie beseitigt nicht
die Atemwegsobstruktion. Die Atemstörung führt bei vielen PatientInnen mit PRS
zu rezidivierender Hypoxämie, einem gestörten Schlaf, Ernährungs- und Gedeih-
störungen, psychomotorischer Retardierung und in einigen Fällen zum plötzlichen
Kindstod.
Die Tübinger Gaumenplatte mit integriertem, velaren Sporn, der von hinten auf
den Zungengrund drückt, verlagert die Zunge und den Unterkiefer nach vorne und
erweitert den Pharynx. Die Atemwege werden dadurch mechanisch freigehalten
und sogar das Unterkieferwachstum wird stimuliert. Außerdem werden nach Bro-
sch et al. (2004) das Schluckfunktion, die Belüftungsfunktion der Eustachischen-
tube und in Folge die Hörfähigkeit verbessert.
Des Weiteren können initial an der Platte bei schweren Atemwegsobstruktionen
laut Bodman et al. (2003) Bügel angebracht werden, um ein Abheben der Platte
vom Oberkiefer zu verhindern.
2.1.2.1. Technik
Die Tübinger Gaumenplatte wird mittels Endoskops angepasst und nächtliche Po-
lysomnographien werden vereinzelt durchgeführt. Unter einer mehrwöchigen Be-
handlung ist mit einer Besserung der Atemstörung zu rechnen. Das zeigt sich in
einem Rückgang der Hypoxiehäufigkeit. Die Sauerstoffsättigung nimmt wieder zu,
der Apnoeindex (Anzahl der obstruktiven Apnoen pro Stunde) und der pCo2 sin-
ken. Außerdem nimmt der Neugeborene trotz gleicher Kalorienzufuhr wieder an
Gewicht zu.
Diese Therapieform ist weniger belastend als chirurgische Maßnahmen wie die
Glossopexie, die MDO und hat den Vorteil, dass die anatomische Enge im Hy-
popharynx akut und auch längerfristig behoben wird, da das Unterkieferwachstum
stimuliert wird.
31
2.1.2.2 Grazer Fallbericht
Auch an der Grazerklinik wurde erstmals nach Gerzanic et al. (2012) ein Neuge-
borenes mittels Tübinger Gaumenplatte erfolgreich behandelt (Abb. 8). Kurz nach
der Geburt ist es zu einer schweren Atemwegsobstruktion mit einer schweren Hy-
poxie gekommen. Das Neugeborene wurde daraufhin mittels nasopharyngealer
Intubation stabilisiert (Abb. 9). Der anwesende Pädiater hat einen Verdacht auf
PRS geäußert und das Neugeborene ist daraufhin auf die Intensivstation verlegt
worden. Es ist wiederholt zu einem Sauerstoffsättigungsabfall unter 80 % gekom-
men.
Die hinzugezogenen Kieferchirurgen haben die Tübinger Gaumenplatte empfoh-
len. Nach der CT- Aufnahme und der Abdrucknahme wurde die Platte im dentalen
Labor hergestellt und eingesetzt (Abb. 10).
Abb. 9: Ein Neugeborenes mit PRS vor Einsetzung der Tübinger Gaumenplatte. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
Abb. 10: Zwei Wochen nach Einsetzung der Tübinger Gaumenplatte. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
32
Abb. 11: Fünf Monate nach Einsetzung der Tübinger Gaumenplatte. (Entnommen von Gerzanic L. et al. 2012)
Daraufhin erfolgte die endoskopisch Anpassung der Platte am fünften Tag post
partum. Daraufhin war die Sauerstoffsättigung wieder in der Norm und dem Neu-
geborenen ist es wieder klinisch besser gegangen.
Die Tübinger Gaumenplatte wurde in diesem Fall gut vertragen und wurde zwan-
zig Stunden pro Tag nach einer Behandlungszeit von zwei Wochen vom Neugebo-
renen toleriert. Es wurden wiederholt endoskopische Kontrollen durchgeführt, um
die Lage der Platte zu überprüfen.
Nach drei Monaten wurde eine Velopharyngoplastik, der chirurgische Verschluss
des weichen und harten Gaumens durchgeführt (Abb. 11).
2.1.2.2. Vorteile
Dieser Fall zeigt deutlich, dass eine akute, schwere Atemwegsobstruktion mit ge-
ringer Sauerstoffsättigung mittels Tübinger Gaumenplatte erfolgreich behandelt
werden kann. Außerdem führt die Platte nach Einführung zu einer sofortigen Ver-
besserung der Position der retrognathen Mandibula, mechanisch zu einer kon-
stanten Freilegung der Atemwege und im Verlauf zu einer sichtlichen Gewichtszu-
33
nahme. Weiters wird die Schluckfähigkeit verbessert und das Wachstum des Un-
terkiefers längerfristig stimuliert. Zu dem konnte im vorliegenden Fall der Ver-
schluss der Gaumenspalte zu einem frühen Zeitpunkt, bereits nach drei Monaten
erfolgen.
2.1.2.3. Komplikationen
Im Großen und Ganzen ist die Tübinger Gaumenplatte minimal invasiv, sicher und
bereitet keine erheblichen, technischen Probleme. Es können vereinzelt Druckstel-
len auftreten, die bei regelmäßige endoskopischer Kontrolle und genauer Anpas-
sung der Gaumenplatte verhindert werden können.
Überdies bereitet das Management einen geringeren Aufwand als das Manage-
ment der chirurgischen Maßnahmen wie TLA, MDO oder Tracheotomie und ist
auch für das Neugeborene akzeptabeler.
2.1.3. Nasopharyngeale Intubation
Die nasopharyngeale Intubation dient dem sofortigen Schutz der Atemwege und
ist eine erfolgreiche therapeutische Maßnahme bei PRS PatientInnen, die in
Bauchlage keine Verbesserung zeigen. Der Nasopharyngeale Tubus führt zur
Aufhebung des negativen Drucks im Pharynx während akuter obstruktiver Episo-
den. Zudem kann das Neugeborene bzw. der Säugling über eine nasogastrale
Sonde ernährt werden.
34
Abb. 12: Ein NPA bei einem PRS Neugeborenen. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Abb. 13: Atemwegsmanagement mittels NPA. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Den größten Nutzen hat das Neugeborene innerhalb der ersten Lebenstage, da
sich in dieser Zeit die größte Gefahr für die Entstehung lebensgefährlicher Atem-
wegsobstruktionen zeigt (Stern et al. 1972.). Weiters konnte Stern et al. (1972)
zeigen, dass einige Maßnahmen des Atemwegsmanagements wie die en-
dotracheale Intubation in den ersten Lebenswochen im Vergleich zum späteren
Einsatz nach einem Monat postpartum eine erhöhte Morbidität aufweisen.
Außerdem kommt es zur Verbesserung der zyanotischen Episoden, des Elektro-
kardiogramms und der arteriellen Blutgase unter nasopharyngealer Intubation. Die
Wachstumsstörungen, die eine deutliche Korrelation mit der respiratorischen Situ-
ation zeigen, konnten auch behoben werden. Die NPI ist bei den jüngsten PRS
PatientInnen am effektivsten. (Sher et al., 1992) Die maximale Einsatzzeit hat acht
Wochen betragen, wobei vier Wochen empfohlen werden. Ältere PatientInnen
35
über einem Monat konnten zwar auch mittels nasopharyngealem Tubus behandelt
werden, haben aber im Verlauf noch eine chirurgische Intervention wie die
Glossopexie oder die Tracheotomie gebraucht.
2.1.4. CPAP- Maske
Die nichtinvasive respiratorische Unterstützung basiert auf dem kontinuierlichen
positiven Atemwegsdruck. Nach der Studie von Leboulanger N. et al. (2010) konn-
ten 9% der PRS PatientInnen mittels nichtinvasiver Ventilation erfolgreich behan-
delt werden. Dabei wurde die obere Atemwegsobstruktion beseitigt, das Atem-
muster und die Atemarbeit haben sich deutlich verbessert.
Außerdem war die Tracheostomie in keinem einzigen Fall notwendig und ein
Wechsel auf orale Ernährung konnte bald erfolgen.
36
2.2. Chirurgische Maßnahmen
2.2.1. Glossopexie
Die „TLA“ war lange Zeit die chirurgische Methode der Wahl beim Atemwegsma-
nagement von PRS PatientInnen. Diese Methode hat allerdings im Laufe der Zeit
aufgrund der zahlreichen Komplikationen an Popularität eingebüßt. Nichtsdestot-
rotz stellt dieses Verfahren eine gute Alternative zur Tracheotomie.
2.2.1.1. Präoperatives Management
Die Operation erfolgt erst wenn der Säugling einen entsprechenden Gewichtszu-
wachs zeigt, der die nötige energetische Reserve zeitigt, um den Eingriff auch
überstehen zu können. Der Eingriff erfolgte in den meisten Fällen im Alter von
neun Tagen bis vier Monaten.
Die endotracheale Intubation wird durch die Mikrognathie und das Vorhandensein
von etwaigen mit PRS assoziierten Syndromen erschwert.
Der Larynx kann niedriger und in einer weiter anterioren Position stehen, wodurch
die unbehinderte Sicht auf die Glottis erschwert wird.
Deshalb ist die endotracheale Intubation problematisch, besonders bei wachen
und unruhigen Patienten. Eine Sedierung vor der Narkose ist jedoch absolut kont-
raindiziert, da die Obstruktion der oberen Atemwege durch die folgende Relaxati-
on der Zunge und der pharyngealen Muskulatur zunimmt. Deswegen sollte ein
erfahrener pädiatrischer Anästhesist vor der Operation konsultiert werden.
2.2.1.2. Technik
Nach erfolgreicher endotrachealer Intubation wird das Operationsgebiet mit Xylo-
cain und Adrenalinzusatz in einer Verdünnung von 1: 200000 infiltriert. Der Adre-
37
nalinzusatz führt zur Vasokonstriktion, dadurch zu einer geringeren Blutungsnei-
gung und Verlangsamung des Abtransportes des Wirkstoffes. Folgende Gewebsa-
reale werden infiltriert: die bukkale Mukosa des Labium inferius, die alveoläre Mit-
tellinie, die vordere Zungengrenze und die Unterseite der Zunge.
Zuerst wird am Zungenrücken eine Naht befestigt, um durch Ziehen eine leichtere
Vorverlagerung der Zunge zu erzielen.
Die gingivale Mukosa vertikal inzidiert und mittels Raspatoriums von der posterio-
ren Mandibulafläche abgehoben. Der M. genioglossus, der meist verkürzt ist,
wodurch er die Protraktion der Zunge erschwert, wird stumpf abpräpariert, sodass
die Zunge dadurch noch mehr gelöst wird und nach vorne fällt. In manchen Fällen
ist das Frenulum zu kurz und wird mittels Z- Plastik verlängert oder es ist nur ein
dünnes Band, das einfach durchgeschnitten wird.
Die Schnittführung auf der Zunge erfolgt an der vorderen Zungengrenze und me-
dian an der Unterseite der Zunge, sodass eine T- förmige Inzision entsteht. Der
Schnitt reicht demnach von der Zungenspitze bis zum Frenulum. Das Pendant an
der Gegenseite, der Seite der Befestigung, also an der Unterlippe und dem Alveo-
larknochenkamm stellt ein verkehrtes „T“dar, wobei die horizontale Inzision zwi-
schen den Kommissuren erfolgt.
Zwei nicht resorbierbare Nähte werden durch den vertikalen Schnitt in die Zun-
genmuskulatur gesetzt, und zwar in Höhe des Alveolarknochenkamms. Die Enden
der Nähte werden mit Hilfe einer Ahle um die Mandibula geschlungen, sodass sie
unter der Haut zu liegen kommen. Nun werden die Nähte verknüpft, wodurch die
Zunge nach vorne auf den Alveolarknochenkamm verlagert wird. Abschließend
wird die freiliegende Muskulatur der Zunge und der Lippe vernäht, wobei die Näh-
te subkutan positioniert werden. (Ravelo V., Argamaso, 1992)
2.2.1.3. Indikation
Die Zungen- Lippen- Adhäsion scheitert prinzipiell nicht an der Technik, sondern in
den meisten Fällen eher an falscher Indikation. Deshalb muss im Vorfeld der Ope-
ration der Mechanismus der Obstruktion mittels Nasopharyngoskops eruiert wer-
den. Das erfolgreiche chirurgische Management hängt wesentlich vom Typ der
Obstruktion ab.
38
Bei der Überprüfung der Atemwege wird auf die Beseitigung der Obstruktion durch
Vorverlagerung der Zunge geachtet. Erst bei Erreichen eines positiven Ergebnis-
ses ist die TLA indiziert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Machbarkeit einer
festsitzenden Befestigung der Zunge ohne Langzeitkomplikationen und die Rever-
sibilität der Adhäsion. (Ravelo V., Argamaso, 1992)
2.2.1.4. Komplikationen
Die Mandibula des Säuglings ist klein und in diesem frühen Entwicklungsstadium
noch zum Großteil knorpelig angelegt und stark frakturgefährdet. Deshalb ist bei
Handhabung der Instrumente größte Vorsicht geboten und starke Kraftausübung
an der Mandibula zu vermeiden. Malrotationen der mandibulären Inzisoren treten
häufig auf. Die Sprachentwicklung wird nicht beeinträchtigt, da die Trennung der
TLA frühzeitig erfolgt. Des Weiteren können Wundinfektionen, Abszesse, Verlet-
zungen der Wharton´schen Ausführungsgänge und Wunddehiszenz auftreten. Die
Wunddeshiszenz ist bei Patienten aufgetreten, die sehr früh und aggressiv oral
ernährt worden sind. Zudem konnte eine leichte Eindellung am mandibulären Al-
veolus in einigen Fällen beobachtet werden. Überdies kommen bei anderen Tech-
niken Komplikationen wie die Zungenlazeration und Hautnekrosen an der Stelle
des Knopfes vor. Die Zungenlazeration entsteht durch den starken Druck der Zun-
ge auf die Nähte und die unveränderte Aktivität der Zunge kann zum Aufgehen der
Nähte führen. Außerdem bleibt die Zunge weiterhin mobil, sodass auch bei An-
wendung der Glossopexie die Zunge nichtsdestotrotz durch den negativen Unter-
druck nach posterior gezogen werden kann, die Spannung auf die Nähte zunimmt
und damit die Dehiszenz begünstigt wird. (Ravelo V., Argamaso, 1992) In dieser
Studie kam es durch die oben beschriebene Technik zur erfolgreichen Abheilung
bei allen Patienten. Es wurden keine Todesfälle während und direkt nach der Ope-
ration beobachtet.
Bei allen Patienten konnte eine vollständige Beseitigung der Atemwegsobstruktion
erzielt werden. Die Narben an der Zunge, der Lippe und unter dem Kinn stellten
keine ästhetischen oder funktionellen Probleme dar.
39
Die TLA ist demnach eine leicht durchführbare Operation, die den Krankenhaus-
aufenthalt verkürzt, die Pflege erleichtert, eine hohe Erfolgsrate aufweist und keine
Langzeitkomplikationen zeigt.
2.2.1.5. Postoperatives Management
Ein Nasopharyngealer Tubus stellt einen sicheren, offenen Atemweg her und er-
möglicht außerdem noch das schnelle Absaugen von Sekreten in den oberen
Atemwegen. Er wird für zwei bis drei Tage an Ort und Stelle belassen.
Nach der Operation wird der Patient in Bauchlage gelagert und wenn er aufwacht,
kann er in sitzende Position gebracht werden.
Die Ernährung erfolgt über die nasogastrale Sonde für fünf bis sieben Tage, um
starkes Saugen zu vermeiden und dadurch eine bessere Wundheilung zu erzielen.
Sobald die orale Ernährung den Tagesbedarf eines Säuglings an Kalorien deckt,
kann der Patient nach Hause entlassen werden, in den meisten Fällen etwa nach
sieben bis zehn Tagen. Die Eltern erhalten noch Informationen über die richtige
Ernährungsweise. Der Säugling wird in regelmäßigen Abständen wiederbestellt,
um die Entwicklung an Hand des Gewichts, der Größe und des Kopfumfanges
altersentsprechend zu überprüfen.
Mittels Nasopharyngoskops wird ein offener Atemweg im Alter von sechs und
neun Monaten routinemäßig beurteilt. Erst bei absoluter Sicherheit eines Vorlie-
gens offener Atemwege, kann die Trennung der Glossopexie erfolgen.
Wenn in dieser Zeit intermittierende Apnoen, Stridor oder andere respiratorische
Probleme auftreten, muss die Loslösung der Zunge von der Lippe aufgeschoben
werden.
Der beste Zeitpunkt für die Lösung der TLA ist bei Durchführung der Palatorha-
phie, somit können zwei Operationen in einem Eingriff zusammengefasst und
dadurch das Risiko einer Allgemeinnarkose und der Aufenthalt im Spital verringert
werden.
Die Palatorhaphie wird für gewöhnlich im Alter von zwölf Monaten in Angriff ge-
nommen, auch bei zusätzlichen Erkrankungen wie der chronischen Otitis media
kann die Operation vorgezogen werden. (Ravelo V., Argamaso, 1992)
40
Der Großteil der Patient wird zeitlebens eine morphologisch, abnorme oder ret-
rognathe Mandibula beibehalten und nur in den wenigsten Fällen wird die
Mandibula ihre normale Größe erreichen. Deswegen ist das Wachstum der
Mandibula kein Kriterium bei der Festlegung des adäquaten Termins für die Tren-
nung der TLA.
Die meisten PRS PatientInnen (48 von 53 PatientInnen) wurden postpartum mit-
tels nasopharyngealer Intubation therapiert. Mehr als die Hälfte wurde weiter mit-
tels TLA therapiert und die übrigen haben keine weitere Intervention gebraucht.
Nur bei den Wenigsten war eine sofortige endotracheale Intubation oder eine
Tracheotomie indiziert. Die Tracheotomie war aufgrund laryngealer Obstruktion
oder anatomischer Normvarianten notwendig.
2.2.2. Die mandibuläre Distraktionsosteogenese (MDO)
Die mandibuläre Distraktionsosteogenese, das häufigste chirurgische Verfahren
bei der Beseitigung der oberen Atemwegsobstruktion bei PRS PatientInnen ist
eine chirurgisch- orthopädische Maßnahme. Mit ihrer Anwendung wird die
Mandibula verlängert, um den Zungengrund, dessen vordere, muskuläre Fasern
an der Mandibula befestigt sind, nach vorne zu bringen. Dadurch wird der Raum
zwischen Pharynx und Zungenbasis vergrößert und die Atemwegsobstruktion be-
seitigt.
Das Prinzip beruht auf der Spannung, welche zur Anregung der Osteoblasten und
damit zum appositionellen Knochenwachstum führt. (Sesenna Enrico et al., 2012)
2.2.2.1. Technik
Zuerst wird eine kleine Hautinzision zwei Zentimeter unter dem Margo inferior der
Mandibula, am Kieferwinkel gesetzt. Nach stumpfem Abpräparieren des Gewebes
bis zum Kieferknochen wird der M. masseter subperiostal abgetrennt. Als Nächs-
tes wird der Mandibulaknochen an der markierten Linie mittels Fissurbohrers und
Meißels durchtrennt. Die Vorrichtung wird beidseits in vorgebohrten Löchern mit-
tels Schrauben fixiert. Der M. masseter wird in seine Ausgangslage zurückversetzt
41
und am M. pterygoideus internus angenäht. Nun beginnt eine frühe Einheilungs-
phase, die sogenannte Latenzphase. Danach wird die Vorrichtung aktiviert.
Die Aktivierung der Distraktionsvorrichtung erfolgt kontinuierlich zwei Millimeter
pro Tag über einen Zeitraum von zehn Tagen. Nach zwei Monaten wird die Vor-
richtung entfernt, da sich der neu gebildete Knochen zu dieser Zeit bereits konso-
lidiert hat.
Es folgen fünf Tage Antibiotikagabe und Ernährung mit weicher Kost. Nach der
Aktivierungsphase wird die Vorrichtung für zusätzliche vier bis sechs Wochen an
Ort und Stelle belassen, bis zum Erreichen einer vollständigen Ossifikation.
Verschiedene Arten von Distraktionsgeräten stehen zur Verfügung, einerseits ex-
terne und anderseits interne, letztere führen zu einer besseren Compliance bei
den Patienten. Allerdings müssen beide Geräte in einem zweiten Eingriff in Allge-
meinnarkose entfernt werden. (Sesenna Enrico et al., 2012)
2.2.2.2. Indikation
Die Osteodistraktion stellt eine Alternative zu den häufig angewandten Verfahren
bei der Beseitigung der Atemwegsobstruktion bei Mikrognathie dar und wird des-
halb nur bei sehr schweren Fällen von PRS mit starker Atemwegsobstruktion an-
gewandt, um die risikoreiche Tracheotomie zu vermeiden.
2.2.2.3. Komplikationen
Die MDO ist bei professioneller Handhabung relativ sicher und hat ein gutes kos-
metisches Ergebnis, dennoch können vereinzelt Folgeerscheinungen wie Verlet-
zung von N. alveolaris inferior, Infektionen, Schädigung der Zähne und ihrer Al-
veolen, Lösung der Verankerungsschrauben und Narbenbildung auftreten.
(Sesenna Enrico et al., 2012)
42
2.2.3. Palatorhaphie
Bei einer isolierten Gaumenspalte erfolgt die Verschlussoperation mit einem hal-
ben Jahr. Bei Spalten des harten und weichen Gaumens zeigte der zweizeitige
Gaumenverschluss die besten Ergebnisse. Zuerst wird der weiche Gaumen ver-
schlossen und vor dem Schuleintritt der harte Gaumen. Das Wachstum des Schä-
dels ist dann zum größten Teil abgeschlossen. Die Schleimhaut zur Deckung des
Defekts wird von den Spalträndern und vom harten Gaumen mobilisiert. Um aus-
reichend große Schleimhautlappen zu gewinnen muss ein ausgedehntes Gau-
menareal gewählt werden. Dabei kann es zur Verletzung der A. palatina kommen
und zur Minderversorgung des darunterliegenden Knochens. Außerdem können
Narbenzüge postoperativ die Entwicklung des Gaumens beeinträchtigen. Es kön-
nen verschiedene Schleimhautlappen wie Umschlaglappen, Brückenlappen und
Stiellappen gewählt werden. (Schroll, Watzek, 1998)
43
Material und Methoden
Die gesuchten Datensätze wurden zuerst aus verfügbaren Operationsbüchern der
Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie aus einem Zeitraum von 1989 bis 30.11.2012
gesammelt. Nach Sichten und Interpretieren des Datenmaterials hinsichtlich Vor-
handenseins von Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte konnten etwa 1010 Einträge
verzeichnet werden. Das Untersuchungskollektiv die Pierre- Robin- Sequenz Pati-
entInnen wurden in weiterer Folge selektiert. Es wurden nur Fälle bei gesicherter
Diagnose von PRS eingeschlossen. Es handelte sich dabei um 0,1% der in die-
sem Zeitabschnitt behandelten 1010 SpaltträgerInnen. Die Geschlechtsverteilung
entspricht mit 5 Patienten und fünf Patientinnen einem Verhältnis von 1:1.
Die PatientInnenakten wurden aus diversen Datenarchiven der Universitätsklinik
für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie zusammengetragen. Die vorhandenen Daten
wurden mittels des Tabellenkalkulationsprogrammes Excel verarbeitet. In erster
Linie handelte es sich dabei um die Dokumentation und/ oder Quantifizierung von
Geschlecht, Spaltformen, assoziierten Syndrome, nichtsyndromalen Kombinatio-
nen von Fehlbildungen und Funktionsstörungen, Alter zur Zeit der Primäroperati-
on, prä- bzw. postoperativer Komplikationen, Tracheotomien, Tübinger Gaumen-
platten und Kindesentwicklung.
Die statistische Auswertung und Interpretation wurden durch die Mitarbeit der
Biostatistikerin Dipl.-Ing. Irene Mischak unterstützt.
Dieses Studiendesign hat nichtexperimentelle Messinstrumente umfasst. Dabei
sind rein deskriptive Verfahren zur Anwendung gekommen. Einerseits ist diese
Fallstudie nicht repräsentativ und auch nicht systematisch, da Kontrollgruppen
fehlen und die Krankheit sehr selten ist, andererseits eignet sich die Fallserie gut
für die Beschreibung der natürlichen Krankheitsverläufe und macht auf neue Ge-
sundheitsprobleme aufmerksam.
44
Ergebnisse
Die vorhandenen Daten wurden mittels des Tabellenkalkulationsprogrammes
Excel verarbeitet. Es wurden 10 Datensätze zusammengetragen und Geschlecht,
Spaltformen, assoziierten Syndrome, nichtsyndromalen Kombinationen von Fehl-
bildungen und Funktionsstörungen, Alter zur Zeit der Primäroperation, prä- bzw.
postoperativer Komplikationen, Tracheotomien, Tübinger Gaumenplatten und Kin-
desentwicklung hin untersucht. Es wurden nur Fälle bei gesicherter Diagnose von
PRS eingeschlossen.
Von den 10 PRS PatientInnen hatten acht (80%) eine Hart- und Weichgau-
menspalte, einer (10%) eine Velumspalte (Abb. 14) und einer (10%) hatte über-
haupt keine Gaumenspalte. Zu dem lag eine bilanzierte Geschlechtsverteilung im
Verhältnis von 1:1 vor, fünf PRS PatientInnen waren männlichen und fünf weibli-
chen Geschlechts. Außerdem reichte das Alter der PatientInnen von einem Jahr
bis zwanzig Jahre.
Abb. 14: Die Häufigkeit von Spaltformen bei 10 PatientInnen mit PRS (1989- 2012).
45
Des Weiteren hatten sieben (70%) PRS PatientInnen eine assoziierte Fehlbildung
und drei (30%) haben keine Fehlbildungen aufgewiesen. Fünf (50%) PRS Patien-
tInnen hatten nichtsyndromale Kombinationen von Fehlbildungen und Funktions-
störungen, einer (10%) wies eine vereinzelte, kongentiale Herzffehlbildung (ASD)
auf und ein Patient (10%) zeigte nur eine Funktionsstörung (Hypakusis) (Tabelle
4).
Nichtsyndromale Kombinationen von Fehlbildungen und Funktionsstörun-gen(n=5) Schlafapnoe, PAD, Aortenisthmusstenose, Hernia inguinalis, Tracheadislokation, La-ryngomalazie, Nystagmus, Ptose, Hypakusis, HNOCM, Chylothorax, penile Hypospadie, Kryptorchismus, otopalatodigitales Syndrom (n=1)
Schlafapnoe, ASD, Sinus- coronarius/ venosus Defekt (n=2)
Syndaktylie bds., prominente Helix, Hydronephrose bds., Mittelohrdysplasie bds. (n=3)
Strabismus, Nierendysplasie (n=4)
Hypakusis, GERD, ASD, Di-George-Syndrom, Optikusatrophie, Nystagmus (n=5)
Tabelle 4: Assoziierte Fehlbildungen und Funktionsstörungen bei 5 (50%) von 10 Patien-
tInnen mit Pierre- Robin- Sequenz (1989-2012).
Kardiale und ophthalmologische Fehlbildungen waren am häufigsten vertreten.
Eine genaue Auflistung aller assoziierten Fehlbildungen und Funktionsstörungen
im Hinblick auf ihre Organmanifestation findet sich in Abb. 15.
46
Abb. 15: Die Häufigkeit (%) assoziierter Fehlbildungen und Funktionsstörungen im Hin-
blick auf ihre Organbeteiligung.
Überdies zeigten allein zwei (20%) ein definiertes Syndrom, wie in Abb. 16 veran-
schaulicht wird.
Abb. 16: Die Häufigkeit (%) der Syndrom Assoziation der Pierre- Robin- Sequenz .
47
Drei (30%) hatten postnatal eine bakterielle Sepsis und daher wurde eine inten-
sivmedizinische Betreuung veranlasst. Alle drei zeigten multiple Fehlbildungen
bzw. Funktionsstörungen und zwei mussten während ihres Aufenthalts auf der
intensivmedizinischen Abteilung einer Tracheotomie unterzogen werden, um eine
Atemwegssicherung mit ausreichender Beatmung zu gewährleisten (Abb. 17).
Abb. 17: Die Häufigkeit (%) der Tracheotomie.
Die Primäroperation, ein Gaumenspaltverschluss wurde bei neun PRS PatientIn-
nen durchgeführt. Dabei reichte das Operationsalter von frühestens drei Monaten
bis spätestens 15 Monaten (Tabelle 5). Im Mittel beträgt das Alter zur Zeit der
Operation 10 (9,88) Monate.
48
Operationsalter (in Monaten) (n=9) 3 (n=2)
8
10
11 (n=2)
14 (n=2)
15
Tabelle 5: Alter zur Zeit der Primäroperation in Monaten.
Von den 10 PRS PatientInnen wurden vier (40%) postnatal mit einer Tübinger
Gaumenplatte versorgt (Abb. 18).
Abb. 18: Die Häufigkeit (%) der postnatalen Versorgung mit Tübinger Gaumenplatte.
49
Von den neun operierten PatientInnen zeigten vier keine prä- bzw. postoperativen
Komplikationen. Die einzelnen prä- bzw. postoperativen Komplikationen sind nach
ihrer Häufigkeit in Abb. 19 aufgelistet.
Abb. 19: Die Häufigkeit der prä- bzw. postoperativen Komplikationen.
Zu dem zeigten fünf (50%) PatientInnen im klinischen Verlauf ein normales Ess-
und Trinkverhalten, altersentsprechende Sprachentwicklung und ein normales
Wachstum, zwei hatten eine Wachstumsstörung, drei eine verzögerte Sprachent-
wicklung, zwei Ernährungsprobleme und einer wies eine psychomentale Retardie-
rung auf, wie auf Abb. 20 ersichtlich ist.
50
Abb. 20: Die Kindesentwicklung von 10 PatientInnen mit Pierre- Robin- Sequenz.
51
Diskussion
Die Pierre- Robin- Sequenz besteht aus der klassischen Triade Mikrognathie, Pa-
latoschisis und Glossoptose mit Atemwegsobstruktion. Nichtsdestotrotz ist die De-
finition dieser Sequenz nicht einfach. Es gibt zahlreiche, verschiedene Definitionen
in der Fachliteratur. Deswegen ist die Inzidenz stark variabel und reicht von 1:
8500 bis 1: 20000 Geburten. (Bush PG, 1983 und Printzlau A, 2004). Manche Au-
toren berichten sogar von 1: 2000 (Bodmann et al., 2003). Cohen (1979) schlägt
sogar aufgrund der schwierigen Diagnostik statt Robin Sequenz die Bezeichnung
Robin Komplex vor.
Die PatientInnen haben in der Regel eine isolierte Gaumenspalte ohne Beteiligung
des Kiefers oder der Lippe. Manche Autoren bezeichnen die Triade als Mikrogna-
thie, Glossoptose und Atemwegsobstruktion ohne die Palatoschisis einzubeziehen
(Evans et al. 2011 und Bodmann et al., 2003). Die Gaumenspalte ist demnach ein
fakultatives, klinisches Diagnosekriterium, die nach einer Studie von Gorlin RJ et
al., 1971 lediglich in 65% der Fälle vorhanden war. Auch das Datenmaterial der
Grazer MKG- Chirurgie weist einen Pierre- Robin- Sequenz Patienten ohne Pala-
toschisis auf. In der Mehrzahl der Fälle liegt eine Spalte vor, meist im Bereich des
Weich- und Hartgaumens. Seltener kommen Velumspalten oder submuköse
Gaumensegelspalten vor (Abb. 14). Thieme V. et al. (2005) kommt zu einem ähn-
lichen Ergebnis (Tabelle 2). Aus einem Zeitraum von 1976 bis 2000 konnten 87
Fälle erhoben werden, das entsprach 4,8% der 1809 SpaltträgerInnen. Die häu-
figste Spaltform war auch in der Studie von Thieme V. et al. (2005) die Hart- und
Weichgaumenspalte (42,5%). Zudem war die Velumspalte mit 17, 2% nach der
Spalte des Velums mit partieller Hartgaumenspalte mit 39,1% die dritthäufigste
und die submuköse Velumspalte mit 1,2% die seltenste Spaltform.
Ein neues Therapiekonzept bei der Behandlung von Säuglingen mit Pierre- Robin-
Sequenz wurde an der Kinderklinik in Tübingen entwickelt. Dabei handelt es sich
um die sogenannte Tübinger Gaumenplatte. Sie besitzt einen velaren Sporn, der
zur Vorverlagerung des Zungengrundes, zur Erweiterung des Pharynx und damit
zum Rückgang der Hypoxiehäufigkeit führt. Auch an der Grazer Klinik wurde diese
Gaumenspalte erfolgreich angewandt. Vier (40%) der 10 PatientInnen aus dem
52
Untersuchungskollektiv wurden postnatal mit einer Tübingen Gaumenplatte ver-
sorgt.
Die Pierre- Robin- Sequenz ist mit verschiedenen Syndromen assoziiert, wobei die
Häufigkeit der Syndrom Assoziation stark variiert und in der internationalen Fachli-
teratur die Meinungen darüber eklatant auseinandergehen. Von den PatientInnen
mit Pierre- Robin- Sequenz hatten nach Arvystas M, Shprintzen RJ (1984) über
80% ein Syndrom. Laut dieser Studie waren die häufigsten Syndrome bei Patien-
tInnen mit Pierre- Robin- Sequenz das Stickler- (34%) und das velokardiofaziale-
Syndrom (11%) (Tabelle 3). Nach Elzen AP et al. (2001) hatten hingegen beinahe
zwei Drittel (63.5%) der StudienteilnehmerInnen mit Pierre- Robin- Sequenz ein
isoliertes Pierre- Robin- Sequenz ohne Syndrom Assoziation und nur etwa ein
Drittel (36.8%) eine Pierre- Robin- Sequenz mit Syndrom Assoziation.
Weitere assoziierte Syndrome sind unter anderem das Fetale- Alkohol- Syndrom,
das Treacher- Collins- Syndrom, das bilaterale, femorale- Dysgenesie- Syndrom,
die distale Arthrogrypose, das Larsen- Syndrom, das Miller- Dieker- Syndrom, das
Spondyloepiphyseales- Dysplasie- Syndrome, das Nager- Syndrom, das Beck-
with- Wiedemann- Syndrom, um nur einige zu nennen. Nach Sadewitz (1992) sind
über 400 verschiedener Syndrome bekannt. Von den 10 Pierre- Robin- Sequenz
PatientInnen der Grazer MKG- Chirurgie haben lediglich zwei (20%) ein Syndrom
gezeigt, und zwar das otopalatodigitale Syndrom und das DiGeorge- Syndrom
(Abb. 16).
Über 80 % der PatientInnen mit Pierre- Robin- Sequenz haben zu dem noch zu-
sätzliche Anomalien (Shprintzen, 1992). Wir konnten sieben (70%) Pierre- Robin-
Sequenz PatientInnen mit wenigstens einer assoziierten Fehlbildung bzw. Funkti-
onsstörung und drei (30%) ohne Fehlbildungen verzeichnen. Fünf (50%) Pierre-
Robin- Sequenz PatientInnen hatten nichtsyndromale Kombinationen von Fehlbil-
dungen und Funktionsstörungen, einer (10%) wies eine vereinzelte Herzffehlbil-
dung (ASD) und einer (10%) zeigte nur eine Funktionsstörung (Hypakusis) (Tabel-
le 4). Auch wir konnten damit zeigen, dass die Mehrzahl (70%) der Pierre- Robin-
Sequenz PatientInnen von einer oder mehreren Fehlbildungen betroffen ist, aber
nur die wenigsten ein definiertes Syndrom aufweisen. Deswegen ist auch eine
Einteilung der PatientInnen in Fälle mit Syndrom- assoziierter oder isolierter Pier-
re- Robin- Sequenz fraglich.
53
Nach Thieme V. et al. (2005) wiederum waren nur 54% von assoziierten Malfor-
mationen betroffen, darunter waren 25,3% mit zwei oder mehr kongenitalen Fehl-
bildungen und Funktionsstörungen.
Die häufigsten Malformationen haben das Herz, die Extremitäten und die Augen
betroffen. (Leiber B., 1997) Diese Ergebnisse treffen auch auf die 10 Pierre- Ro-
bin- Sequenz PatientInnen der Grazer MKG- Chirurgie zu (siehe Abb. 19).
Die Kindesentwicklung verlief bei den 10 Pierre- Robin- Sequenz PatientInnen, die
an der MKG- Chirurgie in Graz in Behandlung waren sehr unterschiedlich. Die
Hälfte (50%) der PatientInnen zeigte keine Beeinträchtigungen, das heißt ein nor-
males Ess- und Trinkverhalten, eine altersentsprechende Sprachentwicklung und
ein normales Wachstum.
Eine Wachstumsstörung kam lediglich bei zwei PatientInnen vor, darunter war ei-
ner der beiden PatientInnen mit Syndrom- assoziierter Pierre- Robin- Sequenz
Des Weiteren hatten zwei Ernährungsprobleme, wobei einer eine nasogastrale
Sondenernährung erhielt, drei hatten eine verzögerte Sprachentwicklung und einer
eine psychomentale Retardierung.
Nach einer großangelegten Studie von Pandya Ankur N. et al., (2001) haben je-
doch alle Pierre- Robin- Sequenz PatientInnen eine Wachstumsstörung gezeigt.
Die Wachstumsstörung ist auf einen erhöhten Energiebedarf aufgrund der Atem-
wegsobstruktion zurückzuführen und erhöht auch das Infektionsrisiko, die Hei-
lungstendenz, die postoperative Komplikationsrate und in weiterer Folge die Spra-
chentwicklung.
54
Glossar und Abkürzungen
Abb. Abbildung
ARBD alcohol- related birth defects (engl.)
ARND alcohol- related neurologic defects (engl.)
ASD Atriumseptumdefekt
Bds. Beidseits
bzw. beziehungsweise
CGH Comparative genomic hybridization (engl.)
Engl. Englisch
et al et aliud (lat.)
etc. et cetera (lat.)
FAS Fetales Alkoholsyndrom
FISH Fluoreszenz in situ Hybridisierung
GERD Gastrooesophageal reflux disease (engl.)
HNOCM Hypertrophe nichtobstruktive Cardiomyopathie
Lat. Latein
LKG Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte
M. Musculus (lat.)
MDO Mandibuläre Distraktionsosteogense
MKG Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie
MLPA Multiple ligation- dependent probe amplification (engl.)
PDA persistierender Ductus Arteriosus
PONV Postoperative nausea and vomiting (engl.)
Pp pages (engl.)
PRS Pierre- Robin- Sequenz
TLA Tongue Lip Adhesion (engl.)
usw. und so weiter
VSD Ventrikelseptumdefekt
55
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Breite U- förmige Gaumenspalte mit deutlicher Glossoptose.
(Entnommen von Thieme V. et al, 2005)
Abbildung 2: Mikro- bzw. Retrognathie. (Entnommen von Thieme V. et al, 2005)
Abbildung 3: Ein PRS Patient mit mandibulärer Hypoplasie. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Abbildung 4: Ein PRS Patient mit deutlicher mandibulärer und maxillärer
Hypoplasie. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Abbildung 5: Verkürztes Wachstum eines FAS Patienten. (Entnommen von Chen, 2005)
Abbildung 6: Die charakteristischen Gesichtszüge eines FAS Patienten. (Ent nommen von Chen, 2005)
Abbildung 7: Eine CT Aufnahme, die eine Typ 1 Atemwegsobstruktion zeigt.
(Entnommen von Evans et al., 2011)
Abbildung 8: Die modifizierte Gaumenplatte mit pharyngealem Bügel. (Entnom men von Gerzanic L. et al., 2012)
Abbildung 9: Ein Neugeborenes mit PRS vor Einsetzung der Tübinger Gaumen platte. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
Abbildung 10: Zwei Wochen nach Einsetzung der Tübinger Gaumenplatte. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
Abbildung 11: Fünf Monate nach Einsetzung der Tübinger Gaumenplatte. (Entnommen von Gerzanic L. et al., 2012)
Abbildung 12: Ein NPA bei einem PRS Neugeborenen.(Entnommen von Evans et al., 2011)
56
Abbildung 13: Atemwegsmanagement mittels NPA. (Entnommen von Evans et al., 2011)
Abbildung 14: Die Häufigkeit von Spaltformen bei 10 PatientInnen mit PRS(1989-
2012).
Abbildung 15: Die Häufigkeit (%) assoziierter Fehlbildungen und Funktionsstö
rungen im Hinblick auf ihre Organbeteiligung.
Abbildung 16: Die Häufigkeit (%) der Syndrom Assoziation der Pierre Robin Se
quenz .
Abbildung 17: Die Häufigkeit (%) der Tracheotomie.
Abbildung 18: Die Häufigkeit (%) der postnatalen Versorgung mit Tübinger Gau
menplatte.
Abbildung 19: Die Häufigkeit der prä- bzw. postoperativen Komplikationen.
Abbildung 20: Die Kindesentwicklung von 10 PatientInnen mit Pierre- Robin- Se
quenz.
57
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Internationale Klassifikation der LKG- Spalten(Horch,
2006)
Tabelle 2: Spaltformen bei 87 Kindern mit Pierre-Robin-Sequenz(V. Thieme et al,
2005)
Tabelle 3: Die Syndrom Häufigkeit von 100 PRS PatientInnen ( Shprintzen,
1992)
Tabelle 4: Assoziierte Fehlbildungen und Funktionsstörungen bei 5 (50%) von 10
PatientInnen mit Pierre- Robin- Sequenz(1989-2012).
Tabelle 5: Alter zur Zeit der Primäroperation in Monaten.
58
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