Reinhard Rittner
Hans Roth und Rudolf Bultmann âoder das Ringen um moderne Theologie1)
I.
In Ahlhorn erinnert eine StraĂe an Hans Roth. Aus dem Ersten Weltkrieg schwerverwundet, aber hoch dekoriert heimgekehrt2), hat der Pfarrerssohn aus Neuenkir-chen in Leipzig, Marburg und MĂŒnster studiert und 1923 und 1925 die Examina ab-gelegt. Im FrĂŒhjahr 1927 wurde er in die neu errichtete Pfarrstelle eingefĂŒhrt undhat gut 30 Jahre in Ahlhorn gewirkt3). Der Theologiestudent hatte 1921 bei RudolfBultmann Neues Testament gehört und hat die Verbindung zu seinem Landsmannauf dem Marburger Katheder aufrecht erhalten. Seine Lebensgeschichte und theolo-gische Biographie beginnt inmitten der tiefen UmbrĂŒche in Kirche und Gesellschaftam Anfang dieses Jahrhunderts. 1914 hatte der Krieg unter der begeisterten FĂŒh-rung aller gesellschaftlichen und intellektuellen Eliten begonnen. Das Ende 1918war nicht nur eine militĂ€rische Katastrophe. BĂŒrgergesellschaft und Arbeiterschaft,Adel und lĂ€ndliche Lebenswelt waren in vieler Hinsicht tief zerrissen. Wer dieKunst in Dichtung, Malerei oder Musik aus dieser Zeit studiert, begegnet einemganzen Szenario von BrĂŒchen in den kleinen und groĂen Welten. Die Novemberre-
Oldenburger Jahrbuch 100, 2000 ââââââââââââââââââââ 137
Anschrift des Verfassers: Pfarrer Reinhard Rittner, Dr.-Theodor-Goerlitz-StraĂe 5,26127 Oldenburg.
1) Vortrag auf dem Pfarrkonvent Wildeshausen am 3. Juni 1998 in Wardenburg, fĂŒr den Druck ĂŒber-arbeitet und mit Anmerkungen versehen. Vgl. jetzt auch vom Ver f .: Die Oldenburger Pfarrer und die dialektische Theologie, in: Rolf SchĂ€fer/Joachim Kuropka /Reinhard R i t tner /HeinrichSchmidt , Oldenburgische Kirchengeschichte, Oldenburg 1999, S. 676-680.
2) Archiv des PrĂ€sidiums der Bekenntnissynode Oldenburg (zit. A.Bk.Ol.) B 6/92: âHohenzollern Haus-orden mit Schwerternâ, weil unter Roths Anleitung eine Division vor der Vernichtung bewahrtwurde, er selbst aber schwere Verletzungen erlitt. Dieser Orden wurde âv.a. im 1. Weltkrieg als beson-dere Auszeichnung verliehen.â Meyers EnzyklopĂ€disches Lexikon, Bd. 12, Mannheim 1980, S. 167.Vgl. auch Helene Brauer-Dede , Frau Pastor, hrsg. v. Klaus Dede , Oldenburg 1986, S. 106.
3) Hans Roth (1896-1958, Kirchenrat 1951) steht âheute noch in Ahlhorn in hohem Ansehenâ: Brauer-Dede (s. Anm. 2), S. 48. Wintermann hebt â etwas apologetisch â Roths Engagement âum die Heraus-arbeitung rechter evangelischer VerkĂŒndigung sowie um die Abwehr mannigfacher gegen die Kirchezu Unrecht erhobener VorwĂŒrfeâ hervor. Gerhard Wintermann , Art. Hans Roth, in: Hans Fr ied lu.a. (Hrsg.), Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg (zit. BHGLO), Olden-burg 1992, S. 610. Vgl. auch Wolfgang BĂŒs ing , Das Geschlecht Roth aus Wunsiedel, in: Oldenburgi-sche Familienkunde 6, Heft 3/4, 1964, S. 140 f.
volution 1918 beendete die Epoche der Kaiser, Könige und FĂŒrsten und setzte inStaat und Gesellschaft einen neuen Anfang. Ăber Ziele, MaĂstĂ€be und Formen be-stand alles andere als EinmĂŒtigkeit.In Kirche und Theologie war der Kulturprotestantismus ausgereizt. Zugleich schiender Boden gelockert fĂŒr die Theologierevolution unter FĂŒhrung von Barth, Bult-mann und Gogarten. Die ausgebrannten Frontheimkehrer und das ausgehungerteHinterland verlangten eine neue PlausibilitĂ€t in Fragen der Religion. Dies bildeteden Humus fĂŒr die neue theologische Bewegung. Hans Roth hat bei den WortfĂŒh-rern der dialektischen Theologie Feuer gefangen. Von ihm und Rudolf Bultmann istein Briefwechsel ĂŒberliefert, in dem hauptsĂ€chlich der junge Theologe die FederfĂŒhrt4). Es ist bemerkenswert, daĂ sich der aus Oldenburg stammende Professorum den Studenten und jungen Pfarrer seelsorglich bemĂŒht und seine theologischeArbeit unterstĂŒtzt hat. Zu den FrĂŒchten gehört Roths literarische TĂ€tigkeit, seine Bi-bliographie zĂ€hlt ca. 26 Titel.
Das Ćvre Bultmanns ist Legion5). Herkunft, wissenschaftliche Positionierung undWirkungsgeschichte interessieren nicht nur die Bultmann-Schule, sondern als her-ausragende Gestalt der neueren Theologiegeschichte ist er lĂ€ngst ForschungsobjektfĂŒr zahlreiche Dissertationen und Habilitationen. Dabei sind etliche wissenschafts-geschichtliche Fragen ungeklĂ€rt. Ich nenne nur das VerhĂ€ltnis von liberaler unddialektischer Theologie6), die Differenzierung unter den WortfĂŒhrern der neuentheologischen Richtung, das Jesusbuch7) und die Debatte um die Entmythologisie-rung8).Dem Regionalhistoriker sei erlaubt, das Augenmerk auf Herkommen und die zeit-lebens gepflegte Verbindung ins Oldenburger Land zu legen. Die kleine Region imNordwesten Deutschlands findet Beachtung, wenn weltlĂ€ufiger Blick sie streift. Daskann der SelbstgenĂŒgsamkeit abhelfen und die ProvinzialitĂ€t in Grenzen halten.Rudolf Bultmann waren die hiesigen MentalitĂ€ten und Milieus bekannt. Sein Vater,Arthur Kennedy Bultmann (1854-1919), zuletzt Pfarrer an der Oldenburger Lam-bertikirche, war einst vom konservativen zum liberalen Protestantismus âkonver-tiertâ9), signifikant ist sein heftig umstrittener Vortrag âStaat â Kirche â Religion âSchuleâ vor den âFreunden der Christlichen Weltâ, gedruckt ausgerechnet im Ol-
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4) NachlaĂ Rudolf Bultmann (1884-1976), UniversitĂ€tsbibliothek TĂŒbingen. Ein gedrucktes Verzeichnisist in Vorbereitung. â Der Briefwechsel Roth-Bultmann wurde von Elisabeth Stoevesandt geb. Roth,Basel, dem Bultmann-NachlaĂ ĂŒbereignet. Verf. dankt ihr und Prof. Antje Bultmann Lemke, Fayette-ville, NY/USA, fĂŒr die freundliche Zustimmung zur Auswertung und Publikation.
5) Vgl. Walter Schmi tha l s , Art. Rudolf Bultmann, in: Theologische RealenzyklopĂ€die (zit. TRE), 7,1980, S. 387-396; Eberhard Hausch i ld t , Art. Rudolf Bultmann, in: Wolf-Dieter Hausch i ld (Hrsg.),Profile des Luthertums, GĂŒtersloh 1998, S. 91-115.
6) Vgl. GĂŒnter K le in , Rudolf Bultmann â ein unerledigtes theologisches VermĂ€chtnis, in: Zeitschrift fĂŒrTheologie und Kirche (zit. ZThK) 94, 1997, S. 177-201. Ferner: Wilfried HĂ€r le , Art. Dialektische Theo-logie, in: TRE 7, 1981, S. 683-696.
7) Vgl. Walter Schmi tha l s , Ein Brief Rudolf Bultmanns an Erich Foerster, in: Bernd Jasper t (Hrsg.),Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, Darmstadt 1984, S. 70-80, bes. 71 f. Anm. 3; ferner WalterSchmi tha l s , 75 Jahre: Bultmanns Jesus-Buch, in: ZThK 98 (erscheint 2001).
8) Vgl. Walter Schmi tha l s , Zum Problem der Entmythologisierung, in: ZThK 92, 1995, S. 166-206. 9) Vgl. Nachruf Oldenburgisches Kirchenblatt (zit. OlKiBl) 25, 1919 (Mai 14), 51; Martin Evang , Rudolf
Bultmann in seiner FrĂŒhzeit, TĂŒbingen 1988, S. 107 f.
denburgischen Schulblatt in der Kampfzeit 191910). Ăber mehrere Onkel und Vet-tern blieben Bultmanns pastörlich-theologische Kontakte erhalten. Die Namen Bult-mann, Dannemann, Pleus, Ramsauer, Trentepohl stehen fĂŒr oldenburgische Pasto-rengeschlechter, die untereinander verwandt und verschwĂ€gert waren und sind. Zuden familiĂ€ren traten diejenigen Verbindungen, die ĂŒber die neue theologische Be-wegung oder das Studium bei Bultmann geknĂŒpft worden sind. Eine davon fĂŒhrtezum Pastor von Ahlhorn, genauer zum Pfarrer von GroĂenkneten II11), denn selb-stĂ€ndige Kirchengemeinde wurde Ahlhorn erst 1964.
II.
Der Beitrag trĂ€gt den Untertitel âdas Ringen um moderne Theologieâ. Das substan-tivierte Verb deutet auf einen unabgeschlossenen Vorgang, der mit MĂŒhen verbun-den und im Ergebnis offen ist. Es geht um Theologie, also um einen Denk-, Verste-hens- und ĂbersetzungsprozeĂ, mithin um ein lebendiges Geschehen, schlieĂlichsollen keine dogmatischen Formeln repristiniert werden. Das Evangelium soll fĂŒrdie Gegenwart reflektiert, den Zeitgenossen verkĂŒndigt und plausibel gemachtwerden. Die historische Betrachtung wendet sich Lebenswelten der zwanziger unddreiĂiger Jahre zu. Die Distanz könnte den Nachvollzug spannend machen, weilBegriffe und Personen nicht festgezurrt sind, sondern die theologische Arbeit kannunter den damals aktuellen Herausforderungen beobachtet werden. Dabei gilt dieVorgabe, daĂ diese Vermittlung dem Christentum als âdenkender Religionâ (C. H.Ratschow) stets neu aufgegeben ist.In der Geschichtswissenschaft ist der Begriff âmodernâ seit geraumer Zeit gelĂ€u-fig12). Die Sozialgeschichte resĂŒmiert die sprachlichen Nuancen. Drei Bedeutungs-varianten werden hervorgehoben. Einmal heiĂt modern âgegenwĂ€rtigâ, der Gegen-begriff lautet âvorherigâ. Modern sind hier Konzepte, GegenstĂ€nde oder Personen,die sich gegenĂŒber bisherigen Erscheinungsweisen gewandelt haben. Ihre Moder-nitĂ€t haben sie darin, daĂ eine bleibende GröĂe ein neues, ein modisches Aussehenbekommen hat. Zum anderen hat modern die Bedeutung von âneuâ, der zugehö-rige Gegenbegriff wĂ€re âaltâ oder âantikâ. Im Unterschied zur ersten Bedeutung,bei dem innerhalb des Wandels KontinuitĂ€t besteht, geht es hier um Ablösung, tief-greifende VerĂ€nderung, Revolution, DiskontinuitĂ€t. Etwas Altes lĂ€uft aus, einNeues beginnt. SchlieĂlich ist noch von der dritten, einer spezifisch neuzeitlichenBedeutung zu reden, nĂ€mlich modern im Sinne von âvorĂŒbergehendâ, der Gegen-begriff lautet âewigâ. Hier werden Wandel und VerĂ€nderung so intensiv erfahren,
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10) Oldenburgisches Schulblatt 44, 1919, S. 21-27. Auch als Sonderdruck.11) Nach Michael Guse (Die oldenburgische Kirchengemeinde GroĂenkneten im Kirchenkampf, Wiss.
Hausarbeit in der 1. StaatsprĂŒfung fĂŒr das Lehramt fĂŒr die Sekundarstufe II, Bonn 1983, S. 44) wurdedie 2. Pfarrstelle 1926 eingerichtet, weil die Kirchengemeinde GroĂenkneten mit einer GröĂe von etwa150 km2 nicht mehr durch einen Pfarrer zu versorgen war.
12) Die folgenden Begriffsbestimmungen erfolgen im Anschluà an Hans Ulrich Gumbrecht , Art. Mo-dern. ModernitÀt, Moderne, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kose l l eck (Hrsg.), Ge-schichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131, bes. S. 96.
daĂ die Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft erlebt wird. Man kann auch sa-gen, Gegenwart wird zu einer Funktion von Zukunft. Hier sprudelt die Quelle allerVisionen und Utopien. Die Zeiterfahrung ist derart intensiviert, daĂ die einzelnenStadien nur noch als ĂbergĂ€nge, gleichsam transitorisch verstanden werden. DasBleibende bekommt demgegenĂŒber göttliche QualitĂ€t. Die EinschĂ€tzung der Mo-derne geschieht unter dem EinfluĂ mentaler Faktoren. So ist geradezu zwangslĂ€u-fig, daĂ in den jeweiligen Lebenswelten MentalitĂ€ten, Lebensalter und Erfahrungenzum Zuge kommen. Insofern ist SubjektivitĂ€t unumgĂ€nglich. Aber gerade damitheben jene TradierungsvorgĂ€nge an, die das Leben spannend und Geschichte inter-essant machen. Das kann man schon in der Generationenfolge einer Familie beob-achten. Die Sozialgeschichte sichtet mit Hilfe der Semantik den jeweils empirischenBestand.In welchem Sinn ist nun von moderner Theologie die Rede? â Pastoren, Religions-lehrer, Kirchenleute, engagierte Christen stehen heutzutage unter einem erheb-lichen PlausibilitĂ€tsdruck. Traditionsbindungen haben ihre SelbstverstĂ€ndlichkeitverloren. Davon ist auch die Theologie selbst betroffen. Viele sehen wenig Sinn imTheoriediskurs, das Studium mit ausufernden Spezialissima scheint fĂŒr die Aufga-ben und Nöte des Pfarramts nicht hinreichend vorzusorgen. Manchmal wird auchder Anschein erweckt, als wĂ€re die Aneignung der richtigen Theorie schon die Be-herrschung der Praxis. Es gehört nur ein wenig Erfahrung dazu, um auf Interaktio-nen und andere Faktoren zu achten und mit ein biĂchen Praxis die Theorie wiederin Frage zu stellen13).Vergangene und gegenwĂ€rtige UmbrĂŒche sind zugleich eine je neue Chance, umunvoreingenommen zu fragen, was in den Grundfragen des Lebens glaubwĂŒrdigund tragfĂ€hig ist. Ohne Verstand und Vernunft ĂŒberzubewerten â Rudolf BultmannreprĂ€sentiert das Programm âGlauben und Verstehenâ. Dabei wird das Ăberkom-mene kritisch bedacht nach dem Motto âPrĂŒfet alles, und das Gute behaltetâ (1.Thessalonicher 5,21). Insofern meint modern nicht modisch, angepaĂt oder kurzat-mig, sondern angemessen und dem derzeitigen Erkenntnis-, Wissens- und Entwick-lungsstand entsprechend. Es sind also die biblische Botschaft und der Mensch derGegenwart in Beziehung zu setzen, nichts anderes soll âRingen um moderne Theo-logieâ heiĂen. Die Korrespondenz Roth â Bultmann aus der ersten HĂ€lfte unseresJahrhunderts bietet dafĂŒr ein Paradigma.
III.
Noch eine andere KapazitĂ€t ist ĂŒber Oldenburg hinausgewachsen. Nur ein Jahr Ă€l-ter als Bultmann ist Karl Jaspers (1883-1969)14), beide waren SchĂŒler des AltenGymnasiums Oldenburg. Sein aus dem Jeverland gebĂŒrtiger Vater leitete eine Bank,die Mutter stammte aus einer alten Butjadinger Familie, ein Onkel war Theodor
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13) Vgl. Bultmanns Hermeneutik im Johanneskommentar: Brief vom 26. Juni 1927 (s. u. Abschnitt V.).14) Vgl. Kurt Sa lamun, Art. Karl Jaspers, in: BHGLO, S. 351-354.
Tantzen, Oldenburgs MinisterprĂ€sident nach dem Ersten und nach dem ZweitenWeltkrieg. Karl Jaspers gehörte in das groĂbĂŒrgerlich-liberale und bodenstĂ€ndig-konservative Milieu mit jenem UnabhĂ€ngigkeitsbewuĂtsein, das man im Oldenbur-ger Land nicht selten trifft. Er studierte Medizin, habilitierte sich in Psychologieund wirkte schlieĂlich als Professor fĂŒr Philosophie in Heidelberg und Basel. SeinĆvre fĂŒhrte ihn von der âPsychologie der Weltanschauungenâ (1919) ĂŒber die Exi-stenzphilosophie (um 1930) zur politischen Philosophie der 50er/60er Jahre.In der Philosophischen Autobiographie resĂŒmiert Jaspers seine Schulzeit um dieJahrhundertwende mit dem Satz: âIch strĂ€ubte mich, mir vernunftwidrig scheinen-den Anordnungen in blindem Gehorsam zu folgenâ15). Der offenbar etwas renitenteSchĂŒler wollte ĂŒberzeugt werden, Gebote oder Anweisungen des Direktors genĂŒg-ten ihm nicht. Seine liberal-aufgeklĂ€rte MentalitĂ€t tat sich auch schwer mit derâkirchlichen Religionâ. Das Elternhaus âignorierteâ sie, Religions- und Konfirman-denunterricht hinterlieĂen keine tiefer gehenden EindrĂŒcke. Negative Erfahrungenmit Pfarrern und kirchlichen Gepflogenheiten hĂ€tten â wie Jaspers sagt â âderWahrhaftigkeit wegenâ zum Kirchenaustritt fĂŒhren mĂŒssen, doch die bloĂe Negie-rung der Tradition könnte ungĂŒnstige Wirkungen haben. So unterlieĂ Jaspers die-sen Akt auf Empfehlung seines Vaters, beschritt aber konsequent den Weg zumâphilosophischen Glaubenâ, kurz charakterisiert als Autonomie und Wahrhaftigkeitim Gegensatz zu Fremdbestimmung und Dogmatismus.Der Philosoph oldenburgischer Abstammungveröffentlichte 1931 das vielbeachtete BĂ€nd-chen âDie geistige Situation der Zeitâ16). EsmuĂ nachdenklich stimmen, daĂ darin Reli-gion und Kirche dem ersten Anschein nachnicht vorkommen. Doch im Abschnitt ĂŒberdie Philosophie entdeckt man bemerkens-werte Beobachtungen: âDas Zeitalter hat dieglaubenslosen, von dem Apparat eingestampf-ten Menschen hervorgebracht; die Religion, inkirchlichen Organisationen vortrefflich tra-diert, scheint doch in ihnen keinen schöpferi-schen Ausdruck aus eigener Gegenwart mehrzu finden ...â Das ist ein phĂ€nomenologischesUrteil auf dem Hintergrund von Vitalismusund Existenzphilosophie. Technik und Na-turwissenschaften, Industrialisierung und Ur-banisierung haben die neuzeitlichen Lebens-bedingungen grundlegend verĂ€ndert. JaspersvermiĂte in der zeitgenössischen Lebenswelt,daĂ die menschlichen Grundfragen noch
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Abb. 1: Karl Jaspers (1883-1969).
15) Karl J aspers , Philosophische Autobiographie, erw. Neuausgabe MĂŒnchen 1977, S. 9.16) Sammlung Göschen Nr. 1000, Berlin 1931. 1932 erschien die neubearbeitete 5. Auflage. Zitiert wird im
folgenden nach dem 8. Abdruck der 5. Auflage: S. 129-134.
mittels Religion gelöst oder bewĂ€ltigt wurden. Er schreibt daher weiter: âDie Reli-gion besteht zwar fort, verwaltet von Kirchen und Konfessionen, aber im Massen-dasein oft nur noch als Trost in der Not, als Gewohnheit geordneter LebensfĂŒhrung,nur selten noch als wirksame Lebensenergie. WĂ€hrend Kirche als politische Machtwirksam ist, scheint der religiöse Glaube in Gestalt des einzelnen Menschen immerseltener zu werden. Die groĂen Traditionen der Kirchen sehen heute in ihrer Be-wuĂtheit oft aus wie ein Wiederherstellen der eigenen unwiederbringlichen Ver-gangenheit unter weitherziger Nutzung moderner Gedanken.â Jaspers ordnet dasReligiöse richtig dem Bezirk der inneren LebenskrĂ€fte zu, also einer LebensfĂŒhrungaus den Kraftquellen des Glaubens. Diesen Zusammenhang von Religion und Ge-sellschaft kann er in seinem Umkreis nicht wahrnehmen. Die kirchliche Arbeit er-
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Abb. 2: Titelblatt des Jubi-lĂ€umsbandes âSammlungGöschen Band 1000â.
scheint ihm als museales Ambiente. So ist es folgerichtig, daĂ die Religionsgemein-schaften in der Zeitanalyse nur noch eine Marginalie abgeben.Wohlgemerkt, es handelt sich um Einsichten eines Zeitgenossen aus dem Jahre1930. Die Kirchen existieren zwar, sind auch politisch tĂ€tig, haben aber zur moder-nen Welt in der Breitenwirkung keine kreative Beziehung. Das erschreckende Er-gebnis dieser Bestandsaufnahme ist Jaspersâ Feststellung einer âseelische(n) Ver-kĂŒmmerung UnzĂ€hligerâ. Man denke zur Veranschaulichung an die GroĂstadtlite-ratur der zwanziger Jahre, an Alfred Döblins âAlexanderplatzâ oder an Bert BrechtsâDreigroschenoperâ: Franz Biberkopf oder Meckie Messer sind Figurationen mo-dernen Lebens. Dichter und Denker sind Seismographen fĂŒr die Befindlichkeit inder Gesellschaft. Und Jaspers nahm auch schon deutlich die Stimmen der VerfĂŒh-rung wahr. Ihr Programm lautete: âzurĂŒck aus der BewuĂtheit zur UnbewuĂtheit desBlutes, des Glaubens, der Erde; der Seele, des Geschichtlichen und des Fraglosenâ.Wir könnten auch sagen: zurĂŒck in den Stand der UnmĂŒndigkeit, zurĂŒck vor dieAufklĂ€rung, und zwar auf Kosten von SelbstĂ€ndigkeit und Wahrhaftigkeit. Wirwissen inzwischen, wohin Antimodernismus und Antihistorismus17) gefĂŒhrt haben.Die Zeitanamnese von Jaspers wurde im Kirchlichen Jahrbuch 193218) aufgegriffen.Hermann Sasse notierte zustimmend: âAn der Richtigkeit seiner Diagnose kannkein Zweifel bestehen.â Das tragische Dilemma am Ende der ersten deutschen Re-publik und die âKrisis aller Religionâ faĂte der spĂ€ter verkannte lutherische Theo-loge in die skeptische Frage: âIst dieser Ruf [sc. der VerfĂŒhrung] nicht stĂ€rker, dieVerfĂŒhrung nicht viel gröĂer, als der Professor der Philosophie anzunehmen ge-neigt ist? Gibt es fĂŒr die Massen der Arbeitslosen, fĂŒr die hoffnungslose, ent-tĂ€uschte junge Generation unserer Zeit, gibt es fĂŒr die Millionen, die sich in dengroĂen politischen Bewegungen der Gegenwart sammeln, noch philosophischeMöglichkeiten?â Abgesehen davon, daĂ die Alarmglocke âWir brauchen dichnicht!â aus der Gegenwart stammen könnte, ist der dritte Weg der Philosophie zwi-schen Atheismus und Religion ein zwar ehrbares Ansinnen, im Machtkampf vonPolitik und Ideologien, von Wirtschaft und Gesellschaft jedoch nur ein Eiland fĂŒreinzelne, sozusagen fĂŒr Robinson Crusoe.Der kleine Exkurs ĂŒber Karl Jaspers ist in mehrfacher Hinsicht von Belang. Kriti-sche Zeitgenossenschaft19) ist auch unmittelbar möglich! Und zwar unvoreinge-nommen und unparteiisch! Das sollte Kirchenleute zu Beobachtung, Analyse undAustausch an den anderen Schnittstellen der Zeitgeschichte ermutigen. Sodann nö-tigt der Philosoph zum Perspektivenwechsel. Man kann doch nicht ignorieren, wie
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17) Vgl. Kurt Nowak , Die âantihistoristische Revolutionâ. Symptome und Folgen der Krise historischerWeltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Horst Renz /Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.),Troeltsch-Studien, Bd. 4: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche ErnstTroeltschs, GĂŒtersloh 1987, S. 131-171.
18) Kirchliches Jahrbuch 1932, hrsg. v. Hermann Sasse , GĂŒtersloh 1932. Zitate: S. 3 f.19) Das ist das vornehme Ziel der Pfarrerfortbildung! Vgl. âDie GrundsĂ€tze fĂŒr die Ausbildung und Fort-
bildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKDâ (1988), in: Werner Hass iepen/Ei-lert Herms (Hrsg.), Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung im GesprĂ€ch, Stutt-gart 1993, S. 13-80, bes. S. 77. Vgl. vom Verf., âKraft zu Beweglichkeit und kritischer Zeitgenossen-schaftâ. Die Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer, in: Rolf SchĂ€fer/GĂŒnther Raschen (Hrsg.),150 Jahre oldenburgische Kirchenverfassung, Oldenburg 1999, S. 144-156.
der junge Jaspers Kirche erfahren und welche Konsequenzen er in ErwĂ€gung gezo-gen hat. Und es kann unmöglich dabei bleiben, daĂ einerseits Kirchenkritiker Selbst-bestimmung und Wahrhaftigkeit in Anspruch nehmen und andererseits Kirchenmit-glieder fremdbestimmt und unaufrichtig dastehen. Das ist eine Karikatur von Reli-gion und Kirche! Hier muĂ vom religiösen Kern das VerhĂ€ltnis von Glaube und Le-ben, von Theologie und Ethik dargelegt werden. Und schlieĂlich die sog. kirchlicheReligion. Das ist das Merkmal des Christentums im 20. Jahrhundert, der freiwilligeoder der erzwungene RĂŒckzug aus der Ăffentlichkeit mit den Begleiterscheinungenvon Binnenzentrierung, Kirchensprache und geschlossener Gesellschaft. Konse-quenz kann darum nur sein: Das âRingen um moderne Theologieâ hat sich den Zeit-strömungen zu stellen und den rauhen Winden der Moderne auszusetzen, um vomUrsprung der Religion an der Gegenwartsgestalt des Christentums zu arbeiten.
IV.
Wie soll man sich das kirchliche Leben im Oldenburg der zwanziger Jahre vorstel-len? Nach der VolkszĂ€hlung von 1925 waren im Landesteil Oldenburg 323.006 Ein-wohner evangelisch, das entsprach einem Anteil von 73 % der Bevölkerung. Dieetwa 90 Kirchengemeinden hatten 111 Pfarrstellen. Ein Viertel davon war nicht be-setzt, zum einen aus finanziellen GrĂŒnden, zum anderen, weil es an Nachwuchsmangelte. Etwa 90 Pfarrer versorgten die Gemeinden der Landeskirche. Mitte der zwanziger Jahre stand in der Pfarrerschaft ein Generationswechsel an.Mit Hans Roth kamen diejenigen Theologen ins Amt, die in Krieg und Revolution,in Republik und Inflation wichtige Lebenserfahrungen gesammelt haben. Das wa-ren bis 1925 immerhin 24, mithin ein Viertel der Pastoren. Die Pfarrer kamen einer-seits zu praktischen Fragen in den Pfarrkonferenzen der 10 Kirchenkreise zusam-men. Daneben gab es seit 1833 den Generalpredigerverein, vorwiegend fĂŒr berufs-stĂ€ndische Fragen. Ihm gehörten nahezu alle Pfarrer an. Theologische Fragen be-handelten die beiden Predigervereine, der liberale und der konservative, ihre Mit-glieder wurden die weiĂen und schwarzen Pastoren20) genannt.Die Kirchenverfassung von 1920 (KV) gab dem kirchlichen Leben den Ă€uĂeren Rah-men. Im Oberkirchenrat als kollegialem Leitungsorgan (KV § 103) wirkten unterLeitung von PrĂ€sident D. Dr. Heinrich Tilemann (1877-1956) als weiterer Theologeder Geheime Oberkirchenrat Heinrich Iben (1864-1947) sowie die Juristen Oberkir-chenrat Gustav Ahlhorn (1886-1971) und nebenamtlich der im Rechtskampf der Be-kennenden Kirche bedeutende Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Flor (1882-1938). DieLandessynode trat in der Regel alle drei Jahre zu Beratungen zusammen und hattezwischen den Tagungen den 1918 eingerichteten SynodalausschuĂ als stĂ€ndige Ver-tretung. Das VerhĂ€ltnis von Kirche und Schule kam unter den neuen staatskirchen-
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20) Bultmann hatte keine Bedenken, vor beiden Richtungen zu sprechen: Schreiben vom 16. Juni 1925. Erbehandelte das Thema âDer christliche Sinn von Glaube, Liebe, Hoffnungâ am 9. September 1925 imEvangelischen Predigerverein âvor etwa 50 Hörern aus Kreisen von Pfarrern und StudienrĂ€ten inglĂ€nzender Weise auf der Linie der Theologie seiner Freunde, der Dialektiker Barth und Gogartenâ.OlKiBl 31, 1925 (Sept. 16), S. 89.
rechtlichen Gegebenheiten erst allmĂ€hlich zur Ruhe. Ende 1924 wurde ein neuesGesangbuch eingefĂŒhrt. Unter Anleitung des Oldenburger Pastors Erich Hoyer(1880-1943) empfing die liturgische Arbeit in der Landeskirche krĂ€ftige Impulse.Der Kindergottesdienst verdankte dem genannten Lambertipfarrer viele Anregun-gen. Das Oldenburger Sonntagsblatt, der Landesverein fĂŒr Innere Mission, der Gu-stav-Adolf-Verein und andere Initiativen bemĂŒhten sich ĂŒber Gottesdienste undpastorale Begleitung hinaus um das evangelische Christentum in der Region.FĂŒr das kirchliche Leben in Oldenburg ist seit alters her die Schere zwischenMarsch und Geest signifikant, also zwischen den wohlhabenden ViehzĂŒchtern undden Ă€rmeren, Ackerbau betreibenden Landwirten neben der Stadtbevölkerung mitDienstleistungen und ein wenig Industrie. âGemeinden mit regerem gottesdienstli-chem Leben und fester kirchlicher Sitte sind fast nur auf der Geest und insbeson-dere in der Diaspora des MĂŒnsterlandes zu findenâ, und der Beobachter fĂ€hrt fort:âvor allem die Marschgemeinden sind das unkirchlichste Gebiet Niedersachsensâ21).Das ist am deutlichsten am Gottesdienstbesuch spĂŒrbar. An gewöhnlichen Sonnta-gen konnte die Beteiligung auf 0,3 % sinken. Stellt man sich das konkret im KreisWildeshausen vor, so betrug der Kirchenbesuch rechnerisch in GroĂenkneten (3.967Gemeindeglieder) 13, in Huntlosen (1.015) 3 und in Wildeshausen (3.083) 10 Kirch-gĂ€nger. Doch das mĂŒĂte geprĂŒft werden, denn die sog. Unkirchlichkeit im Olden-burger Land ist ein zwar beliebtes, zuweilen auch bequemes Interpretationsschema.Die andere Testfrage lautet daher, wie die Amtshandlungen frequentiert wurden.Dabei wird man auf eine vergleichsweise intakte Volkskirche stoĂen. Interessant istauch der Vergleich der Beteiligung an Kirchenwahlen. Betrug sie bei den Wahlenzur verfassunggebenden Landeskirchenversammlung 1919 im Durchschnitt 10,2 %,so verzeichneten GroĂenkneten mit 40,4 %, Huntlosen mit 32,2 % und Wildeshau-sen mit 30,5 % erstaunliche Ergebnisse, mithin eine BestĂ€tigung fĂŒr die Kirchlich-keit der Geest, die sie auch pietistischen Impulsen verdankt.Anfang 1927 schilderte Hans Roth seine neue TĂ€tigkeit in Ahlhorn: Hier gibt es er-heblich mehr zu tun als in [Oldenburg-]Eversten: 5 Stunden Konfirmandenunterricht; 6 Stunden Religionsunterricht am Realgymnasium in Cloppenburg, wodurch allein fast 2 volle Tage der Gemeindearbeit verloren gehen (vor allem durch Vorbereitung auf Kirchen-geschichte, die ich immer sofort wieder vergesse). Zweimal im Monat hier Predigt, in einemKapellenraum [im Hamborner Kinderheim] ... eine Kapelle haben wir hier noch nicht,hoffen aber, irgendwann eine zu bekommen. Pfarrhaus gibtâs auch noch nicht, soll aber ge-baut werden. VorlĂ€ufig ist hier die 2. Pfarrstelle ausgeschrieben. Wir wohnen im Waldheim(3 Zimmer). â Zweimal im Monat muĂ ich auswĂ€rts predigen: in GroĂenkneten ... und inCloppenburg22). Das Provisorium fĂŒr die Pfarrfamilie wurde bald durch einen Pfarr-hausneubau (1927/28) beendet, der Kirchbau lieĂ sich erst 1954 verwirklichen. Mansieht am Arbeitsanfall: Die ausgedehnte FlĂ€chengemeinde und die beiden Ă€lterenNachbarkollegen sollten VerstĂ€rkung und Entlastung erhalten.
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21) Wilhelm Lueken , Art. Oldenburg, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 19302, Sp.688-691.
22) An Bultmann am 3. Januar 1927. Zur Zitation: AbkĂŒrzungen werden um der besseren Lesbarkeitwillen aufgelöst, offensichtliche Schreibfehler stillschweigend korrigiert und die Rechtschreibungleicht modernisiert.
Der neue Pfarrer von Ahlhorn trat seinen Dienst an, als die wirtschaftlichen Schwie-rigkeiten im lĂ€ndlichen Bereich kulminierten23). Die Nahrungsmittelversorgung imErsten Weltkrieg hatte die Landwirtschaft ausgesaugt. Die Folgejahre brachtenkeine Erholung, im Gegenteil: politische Krisen, Inflation und WirtschaftspolitikstĂŒrzten die Landwirte in immer gröĂere AbhĂ€ngigkeiten. Erhebliche Preisschwan-kungen, Verschuldungen, Zwangsversteigerungen und die Steuerlast brachten dasFaĂ zum Ăberlaufen. Die Protestwelle schwabbte Anfang 1928 vom MĂŒnsterlandĂŒber Ahlhorn und Wildeshausen auf den Oldenburger Pferdemarkt mit 30-40.000Teilnehmern. Hinzu kamen die Aversion gegen die ungeliebte Republik und die po-litische Agitation der Rechtsparteien. Deutschnationale, Landvolkbewegung undschlieĂlich die NSDAP erzielten im heutigen Landkreis Oldenburg lange vor Hit-lers MachtĂŒbernahme ĂŒberwĂ€ltigende Wahlergebnisse. Der verlorene Krieg, derunselige Vertrag von Versailles und der Pluralismus von Weimar bildeten die men-tale Ablehnungsfront der Oldenburger Landbevölkerung. Da Pastor Hans Roth le-bensgeschichtlich selbst davon betroffen war, dĂŒrfte dies seine unermĂŒdliche Aus-einandersetzung mit den völkisch-nationalen Ideologien angetrieben haben24).
146 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
23) Vgl. âDie Notlage der Landwirtschaft und die Protestbewegung des Landvolksâ bei Klaus Schaap ,Die Endphase der Weimarer Republik im Freistaat Oldenburg 1928-1933, DĂŒsseldorf 1978, S. 27-39,und ââDas Landvolk steht auf!â â Krise der Landwirtschaft und politische Radikalisierung am Endeder Weimarer Republikâ bei Werner Meiners , Menschen im Landkreis Oldenburg 1918 bis 1945. Po-litische Entwicklung â Ereignisse â Schicksale, Oldenburg 1995, S. 34-48.
24) Siehe Abschnitt VI.
Abb. 3: Pfarrhaus Ahlhorn 1926/27.
V.
Hans Roth hat bei der dialektischen Theologie Feuer gefangen25). Das soll nunknapp dargestellt werden.Am 17. Juli 1923 â das 1. Examen liegt ein Vierteljahr zurĂŒck â schreibt der jungeTheologe an den Marburger Landsmann: Seit vielen Wochen quĂ€le ich mich mit einerAuseinandersetzung mit Barth etc. Ich finde viel Anerkennenswertes, aber auch Paradoxesim absurden Sinne ... Barths Dialektik finde ich z.T. ganz dem Wesen des Glaubens entspre-
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 147
25) Ebenso seine Freunde GĂŒnther Dede (1891-1942) sowie Edmund Haake (1897-1945). â Vgl. GĂŒntherDede , Die Kirche im Wirbelsturm der Zeit, in: OlKiBl 37, 1932 (Juli 3), S. 43-47. Ferner Brauer-Dede (wie Anm 2), und Edmund Haake , Der Christ in heutiger Zeit, in: Verhandlungen der Kreis-synoden im Jahre 1929, Oldenburg 1929, S. 120-143.
Abb. 4: Christus-Kirchein Ahlhorn, 1954 erbautvon Gerhard Langmaack,Architekt, Hamburg.
chend . Aber neu26) ist diese Dialektik nicht ...Man kann bei Barth jedes echte dialektische Bei-spiel in eine rationale und irrationale Seite schei-den. Bis soweit verstehe ich die Dialektik: Ja undNein sind menschliche Möglichkeiten, die auf diegöttliche âMitteâ zwischen ihnen nur hindeutenkönnen. Aber unverstĂ€ndlich ist mir... der bloĂ di-alektische (nicht metaphysische) Gegensatz vonGott und Welt ... Wir bemerken: Das Eindrin-gen in Barths Theologie, hier in den âzwei-tenâ Römerbrief27) und den Vortrag âDasWort Gottes als Aufgabe der Theologieâ28), istein beschwerliches Unterfangen. Roth wurdezwischen Zustimmung und UnverstĂ€ndnishin- und hergerissen. Die neue Dialektikscheint keine Erkenntnismethode im Sinneherkömmlicher Metaphysik oder Theologiezu sein29). Vielmehr soll die besondere Sache,nĂ€mlich Gott, Offenbarung und Glaube, âre-volutionĂ€râ30) expliziert werden.
Roth schreibt: Barth polemisiert gegen das âreligiöse Erlebnisâ ... Dabei bleibt ja richtig,daĂ diese Erlebnisse immer ânur begleitendâ sind, keine âewige Auszeichnungâ bedeuten.Barth kennt selber das religiöse Erlebnis. Mag er es ablehnen, daĂ es sich beim Glauben umeine âĂberhöhung, Vertiefung und Bereicherung des Diesseits durch das Jenseitsâ31) ...handelt ...: was ist denn der âAusblick auf den silbernen Rand von Erlösung und Verge-bung, der die finstere Wolke unseres Daseins umgrenztâ32), anderes als âreligiöses Erleb-nisâ, anderes als eine âVertiefungâ... und âBereicherungâ (denn der silberne Rand ist einplus!) des Daseins?33). Roths eng beschriebene DIN-A3-Bögen, vier Seiten an derZahl, enden mit dem Seufzer: Barth könnte oft klarer sein. â Der junge Theologemöchte verstehen, sucht AnschluĂ an die neue Bewegung, aber Eigenwilligkeit, Po-lemik und flieĂende Begriffe hindern ihn. Die Verifikation des Glaubens stellte sicheben wie die PrĂ€dikation Gottes âganz andersâ dar. Der ungestillte Hunger nachPlausibilitĂ€t fragt nur â wie?
148 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
26) Im Original hervorgehoben.27) Karl Bar th , Der Römerbrief. Zweite Aufl. in neuer Bearbeitung, MĂŒnchen 1922. Vgl. Eberhard
Busch , Karl Barths Lebenslauf, MĂŒnchen 19783, S. 129-135. â Roth benutzte auch Bultmanns Rezen-sion in: Christliche Welt (zit. ChW) 36, 1922, Nr. 18-21 (jetzt in: JĂŒrgen Mol tmann [Hrsg.], AnfĂ€ngeder dialektischen Theologie, Teil 1, MĂŒnchen 19662, S. 119-142).
28) Karl Bar th , Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: ChW 36, 1922 (Nov. 23), Nr. 46/47, S. 858-873.
29) Vgl. Detlef I l lmer, Artes liberales, in: TRE 4, 1979, S. 156-171, bes. S. 163.30) Vgl. Kurt Nowak , Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft
vom Ende der AufklĂ€rung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, MĂŒnchen 1995, S. 212ff. Vgl. dazu dieRez. vom Verf.: Luth. Monatshefte 8, 1997, S. 45.
31) Römerbrief (wie Anm. 27), S. 119. Dort im Plural.32) Ebd., S. 43.33) Im Zitat (s. Anm. 31) spricht Barth vom âDiesseitsâ, Roth schreibt handschriftlich âDaseinâ!
Abb. 5: Hans Roth (1896-1958).
Die Antwort lieĂ auf sich warten. Ein drei-viertel Jahr spĂ€ter geht Bultmann ausfĂŒhrlichauf Roths Fragen ein. Ich freue mich, daĂ Sieauch in der Auseinandersetzung mit Barth (undGogarten) stehen. Auch ich beschĂ€ftige mich sehrmit ihnen und ebenso unsere Theologenschaft ...Barths âDialektikâ ist der Versuch, so von Gott zureden, daĂ Gott weder als âGegebenheitâ analogden Naturobjekten, noch als das Auf- oder Un-Ge-gebene eines Idealismus erscheint ... Bultmannverweist dazu auf seinen Aufsatz âDie libe-rale Theologie und die jĂŒngste theologischeBewegungâ34), in dem der letztgenannte Satzals Gliederungsprinzip fĂŒr die Kritik an derliberalen Theologie dient. Er fĂ€hrt fort: Barth meint mit der âNotâ, derâBedrĂ€ngnisâ etc. doch keine âpsychologische Be-stimmtheitenâ (wie Sie schreiben), sondern die ob-jektive Situation des Menschen, die er vielleichtgar nicht kennt. Das Bild vom âsilbernen RandeâdĂŒrfen Sie doch nicht pressen; der âsilberne Randâ ist doch kein Plus, keine Bereicherungdes menschlichen Daseins. Gerade weil das Erblicken des âsilbernen Randesâ, wenn es immenschlichen Dasein verwirklicht wird, in der Tat eine âBereicherungâ des Daseins ist, istja bei Barth die Skepsis gegen alles, was Religion heiĂt, so groĂ; denn der eigentliche Sinndes Glaubens ist ja nie mit der Religion identisch; diese ist immer nur etwas am Menschen,eine bestimmte Region der menschlichen Angelegenheiten, wĂ€hrend der Glaube das Ge-stelltsein des ganzen Menschen vor Gott ist. Im Glauben als menschliche BewuĂtseinstatsa-che stellt sich das, was im Glauben gemeint ist, nicht dar. Und man kommt nicht um dieParadoxie herum, daĂ im Glauben etwas behauptet wird, was als âmenschliche Möglich-keitâ nicht stattfinden kann. Daher auch Luthers paradoxer Satz: wir glauben, daĂ wir glau-ben. â Es ist freilich zuzugeben, daĂ die theologische Verarbeitung dieser Fragen erst in denAnfĂ€ngen steht ... (4. April 1924).Was Bultmann mit Barth eint und von den liberalen Theologen trennt, ist die Radika-litĂ€t und KompromiĂlosigkeit in der Sachfrage â obwohl gerade Bultmann die eige-nen theologischen Lehrer mit ihrer âErziehung zur Kritik, d.h. zur Freiheit und Wahr-haftigkeitâ35) weiterhin hochschĂ€tzte. Diese Einstellung steht im engen Zusammen-hang mit Elternhaus, oldenburgischer MentalitĂ€t und liberalem Gelehrtenmilieu.Doch woran Roth sich rieb, an Barths âLust der Negationâ36), am Garaus des Her-kömmlichen, an der fehlenden Verifikation, an der miĂverstĂ€ndlichen Position â in
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 149
34) In: Rudolf Bu l tmann , Glauben und Verstehen, I, TĂŒbingen 19645, S. 1-25, bes. S. 18 f. Der oben zi-tierte Satz ist die Gliederung fĂŒr die Kritik an der liberalen Theologie: âGott ... bedeutet die totaleAufhebung des Menschen, seine Verneinung, seine Infragestellung, das Gericht fĂŒr den Menschenâ(S. 18, bei Bultmann kursiv hervorgehoben).
35) Ebd., S. 2. Vgl. K le in (wie Anm. 6).36) Nowak (wie Anm. 30), S. 214. Vgl. Hege l s âRaserei der Negationâ.
Abb. 6: Rudolf Bultmann (1884-1976).
diesen Hinsichten halfen ihm die Hinweise des geschĂ€tzten Lehrers nur wenig wei-ter. Die Darstellung, die Position ist allemal schwerer als die Kritik, die Negation.Noch einmal kreuzten 1924 die Briefe zwischen Oldenburg und Marburg. Der Pro-fessor rĂ€umte ein, daĂ das UnverstĂ€ndliche auch ihm selbst zu schaffen mache. FĂŒrmich war es sehr förderlich, daĂ ich die Probleme mit meinem philosophischen Kollegen Hei-degger ... durchsprechen konnte. Er ist auch von Kierkegaard beeinfluĂt und hat von da denZugang zu Barth und Gogarten gleich gefunden. Und er gibt Roth einen weiterenDenkanstoĂ: Ein theologisches Reden von Gott kann nur die Aufdeckung der Bestimmtheitmeiner eigenen Existenz sein, und ist nur wahr, wenn dies Reden selbst ein Vorgang meinerdurch Gott bestimmten Existenz ist. Es kann sich also nie in allgemeingĂŒltigen SĂ€tzen, all-gemeinen Wahrheiten bewegen, sonst ist die existentielle Situation verlassen ... (12. August1924). Man ahnt vermutlich, welch theologiegeschichtlich berĂŒhmter Aufsatz sichhier zu entwickeln beginnt.Im FrĂŒhjahr 1925 kam der ehemalige Absolvent auf Einladung der Freunde des hu-manistischen Gymnasiums zu einem Besuch nach Oldenburg37). Dabei wollte ersich auch mit seinen jungen Freunden treffen. Roth bat ihn um einen kleinen Vor-trag im Kandidatenkreis, etwa unter dem Titel: Wie der Mensch in der Bibel und in derheutigen Moderne âgesehenâ wird (22. Februar 1925). Er meinte auch, Bultmann aufdas hiesige Milieu vorbereiten zu mĂŒssen. Barths expressiver Sprachgestus und dieneue Theologiebewegung wĂŒrden von einem gröĂeren Publikum nicht verstanden.Die Deutungsmuster, gerade unter Lehrern und Akademikern in Oldenburg, wĂ€rennoch die alten: âGlaubenâ ist ihnen gleich âfĂŒr wahr haltenâ (oder âvertrauenâ); der Sinndes Lebens liegt im idealen Handeln und Gesinnt-Sein, die Transzendenz Gottes lehnen sie(als Pantheisten) ab, ebenso die Ewigkeit als ĂŒberzeitliche Wirklichkeit ... Eine Postkarte aus Marburg vermeldete am 25. Februar 1925: Gerade der Inhalt IhresBriefes macht mir Lust, ... das Thema âWelchen Sinn hat es, von Gott zu reden?â zu wĂ€h-len. Wir kennen die geschliffenen Distinktionen, die den Oldenburger von seinemSchweizer Kampfgenossen â mit Verlaub gesagt â angenehm unterscheiden. Ver-steht man unter âvon Gottâ reden âĂŒber Gottâ reden38), so hat solches Reden ĂŒberhauptkeinen Sinn ... Man kann ĂŒber Gott sinnvoll so wenig reden wie man ĂŒber Liebe39) redenkann ... von Gott reden, ist nicht nur Irrtum und Wahn, sondern ist SĂŒnde40) ... die Bestimmt-heit unserer Existenz durch Gott ... bedeutet zugleich den Anspruch41) Gottes auf uns, sodaĂjedes sich auĂerhalb Gottes stellen eine Verleugnung des Anspruchs Gottes auf uns, also Gott-losigkeit, SĂŒnde wĂ€re ... Von Gott reden als aus42) Gott reden kann offenbar nur von Gottselbst gegeben werden43). Eine klassische Formulierung der Offenbarungstheologie!
150 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
37) Bei der âVereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiumsâ referierte Rudolf Bultmann am21. MĂ€rz 1925 ĂŒber âDie Frage nach Mensch und Menschentum in der hellenistischen Zeitâ in Olden-burg. In der Regionalzeitung Nachrichten fĂŒr Stadt und Land wurde am 17. MĂ€rz 1925 dazu eingela-den. Am 25. MĂ€rz erschien dort ein Bericht ĂŒber den Vortrag.
38) Die letzten drei Wörter sind im Original hervorgehoben.39) Im Original hervorgehoben.40) Im Original hervorgehoben.41) Im Original hervorgehoben.42) Im Original hervorgehoben.43) Bul tmann , Glauben und Verstehen, I (wie Anm. 34), S. 26-28.
Der Marburger Theologe referierte am Mittwoch, 25. MĂ€rz 1925, in Oldenburg.Roth bemĂŒhte sich um den Abdruck des Vortrags im Standesorgan der hiesigenPfarrerschaft, im Oldenburgischen Kirchenblatt. Der Referent hatte dafĂŒr allerdingsschon die Theologischen BlĂ€tter auserkoren. Dort erschien der Beitrag ohne jeg-lichen Hinweis auf die Genesis im Juni 1925. Werner Meiners hat im Band âMen-schen im Landkreis Oldenburg 1918-1945â ein Foto distinguierter Herren publi-ziert, datiert auf Sonntag, 29. MĂ€rz 1925. Dort sieht man den Marburger Neutesta-mentler im Pfarrhaus Ganderkesee unter Freunden und Verwandten. Da bei Vetter
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 151
Abb. 7: Hans Roth an Rudolf Bultmann am 22. Februar 1925 (Ausschnitt):âLieber Herr Professor! Ihr Vetter Peter B[ultmann] hat Ihnen hoffentlich geschrieben u. Siegefragt, ob Sie uns an einem Kandidaten-tag im MĂ€rz einen Vortrag halten wollen (etwa inAbwandlung Ihres Vortragsthemas: wie der Mensch in der Bibel und in der heutigen Moderneâgesehenâ wird). Wir haben vor einigen Wochen zuerst wieder eine Kand.-Tagung gehabt. Au-Ăer [GĂŒnther] Dede, Peter B., [Edmund] Haake und mir waren nur noch Ass.pred. [Hugo]Schmidt (auch AnhĂ€nger der SchlĂŒchterner Jugendbewegung) und Hilfsprediger [Rudolf]Schwarze (am Elis.stift) da. Ich versuchte, in einem die Debatte einleitenden Referat die peri-pheren (Soziales, Sittliches etc.) und die eine zentrale Aufgabe der Kirche (VerkĂŒndigung desEvgl.) darzustellen, unter starker Heranziehung von Gogarten ,Kirche u. ihre Aufgabeâ (aus,Zw. den Zeitenâ) und ,Die Kircheâ (in ,Relg. Entscheidungâ), dabei Gogartens Schema ,Volks-kirche-Bekenntniskircheâ folgend. Schmidt u. Schwarze waren mehr fĂŒr die peripheren Aufga-ben der Kirche, die sie aus dem Glauben ableiteten: Schmidt zitierte Bodelschwinghs Leitwort:,Uns ist Barmherzigkeit widerfahren, darum werden wir nicht mĂŒdeâ. Die Debatte zeigte, daĂman nicht ĂŒber die Aufgabe der Kirche reden kann, ohne ...â
152 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
Abb. 8: Rudolf Bultmann an Hans Roth am 25. Februar 1925 (Postkarte):âLieber Herr Roth! Auf Ihren Brief, fĂŒr den ich herzlich danke, will ich heute in Eile nur so vielantworten: wie ich schon meinem Vetter schrieb, werde ich gerne in Ihrem Kreise einen Vortraghalten. Gerade der Inhalt Ihres Briefes macht mir Lust, dabei das Thema ,Welchen Sinn hat es, vonGott zu reden?â zu wĂ€hlen. Dabei wĂŒrden die grundsĂ€tzlichen Fragen, die Sie berĂŒhren, zur Spra-che kommen. Als Tag schlage ich Mittw. d. 25. MĂ€rz vor; ich werde wohl am 19. oder 20. nach Ol-denb. kommen (am 21. soll ja der Vortrag bei den Freunden des hum. Gym. stattfinden). - Zu Ih-rem Brief im ĂŒbrigen nur das eine, was die Losung betrifft: ,Uns ist Barmherzigkeit widerfahren...â. Wer redet hier? offenbar die Christen, aber nicht die Pfarrer. Wenn man also nach den Aufga-ben der Kirche, qua Kirche (d.h. als Gemeinschaft derer, die das Wort zu verkĂŒndigen hat), fragt, sohat m.E. jenes Wort auszuscheiden. Freilich ist in dieser Argumentation ja ein bestimmter Begriffvon Kirche vorausgesetzt, auf den die Debatte dann zurĂŒckgehen mĂŒĂte. â Mit besten GrĂŒĂenauch an Ihre Gattin Ihr R. Bultmann.â
Fritz Bultmann, dem âroten Pastorâ, hĂ€ufiger Fortbildungskurse stattfanden, ver-mute ich, daĂ Rudolf Bultmann den Vortrag dort ebenfalls gehalten hat44).Die Debatte um die dialektische Theologie wuchs in Oldenburg schnell ĂŒber denpersönlich-privaten Briefwechsel hinaus. Als der Neuender Pfarrer Carl Bamberger(1893-1979)45) sich kritisch mit ihr auseinandersetzte, entspann sich im Oldenburgi-schen Kirchenblatt ein heftiger Disput zwischen ihm und Hans Roth. Was Bamber-ger nicht wissen konnte: der verborgene Sekundant des Barth-Apologeten war keingeringerer als Rudolf Bultmann. Die weitere Wirkungsgeschichte kann hier nichtdargestellt werden. Interessant ist aber doch, wie die beschauliche Provinz am ho-hen theologischen Diskurs Anteil nahm.Mit einigen Hinweisen soll noch die Rezeption der dialektischen Theologie ange-deutet werden. Anfang 1927 schreibt Roth an Bultmann: Was uns OldenburgischenâBarthianernâ dringend not tut, wĂ€re einmal ein Kursus ĂŒber das Predigtproblem46). Dar-unter leiden wir und werden nicht damit fertig. Dede [1891-1942, Pfarrer in Neuenburgund Blexen, Roths enger Freund] klagt besonders, daĂ er nun gar nicht mehr wisse, wiezu predigen sei. In diesem Kursus mĂŒĂten auch praktische VorschlĂ€ge gemacht werden, Be-handlung bestimmter âThemataâ (Ostern etc.). Was hilft uns alle âErkenntnisâ, wenn wirsie nicht ĂŒbermitteln können? Ich gerate immer wieder in den Moralismus hinein, als ob dieErfĂŒllung des Anspruchs des NĂ€chsten möglich47) wĂ€re (3. Januar 1927).Am 21. Mai 1927 beklagte sich Roth bei Bultmann: Ich finde es etwas grausam, daĂ Siedas Reden âvon glaubens- und liebesstarken Persönlichkeitenâ48) aus der Predigt heraus ha-
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 153
44) Meiners (wie Anm. 23), S. 81.45) Carl Bamberger war die letzten Amtsjahre, nÀmlich von 1955 bis 1960, Pastor in Sandkrug, Pfarrstelle
Hatten II.46) Im Original hervorgehoben.47) Im Original hervorgehoben.48) Rudolf Bu l tmann , Zur Frage der Christologie, in: Glauben und Verstehen, I (wie Anm. 34), S. 111.
Abb. 9: Erstdruck von Bultmanns Vortrag in den Theol. BlÀttern Juni 1925.
ben wollen ...: wenn wir das nicht einmal mehr dĂŒrfen, was bleibt uns dann noch viel? Wo-her dann den Stoff nehmen? Kann denn nicht auch das Beispiel Luthers oder Bodel-schwinghs fĂŒr uns Gericht, Anspruch, Aufforderung sein? Bultmann antwortete schonam 26. Juni: In meinem Johanneskommentar bemĂŒhe ich mich, die exegetischen Fragen alsaktuelle theologische Fragen zu behandeln. Aber eine âpraktische Auslegungâ in dem ĂŒb-lichen Sinn, d.h. also RatschlĂ€ge fĂŒr die âAnwendungâ des Textes, wird der Kommentarnicht erhalten. Es ist vielmehr ein Hauptinteresse (was gerade an Joh, am Thema des Ver-hĂ€ltnisses von Glaube und Liebe, geklĂ€rt werden kann), daĂ es ein abgeschlossenes Verste-hen, das man dann wie eine gelernte Theorie âanwendenâ kann, nicht gibt; daĂ vielmehr al-les Verstehen nur aus einer lebendig bewegten Existenz herausgewonnen werden kann undals existentielles Verstehen immer zugleich eine Entschlossenheit ist, die â wenn sie echt istâ im Handeln sich bewĂ€hrt, sodaĂ sich das Verstehen im Handeln vollendet, im Lieben erstder volle Sinn des Glaubens sich erschlieĂt. â Wir bemerken, auch mit Bezug auf denAnfang dieser AusfĂŒhrungen: Bultmanns Hermeneutik weiĂ sich einig im gemein-samen Anliegen der âDialektikerâ, geht aber bei âGlauben und Verstehenâ eigen-stĂ€ndige Wege. Und entsprechend soll es bei den Nachfahren sein. Es ist schon et-was dran an dem Bonmot: âBarth hatte JĂŒnger, Bultmann aber SchĂŒler.â
VI.
Es ist bekannt, aber nicht leicht nachzuvollziehen, warum der Landstrich zwischenWeser und Ems frĂŒhzeitig vom völkisch-ideologischen Bazillus befallen wurde. EinLehrer aus Butjadingen forderte bereits 1921 im Oldenburgischen Schulblatt: âWirdĂŒrfen fortan nicht mehr unsern Gottesbegriff aus dem alten (!) Testament entwik-keln, sondern aus der Religion der Germanenâ49). Damit braute sich ein Gemischvon germanischen, rassischen, völkischen, nationalistischen und anderen quasireli-giösen Ideen zusammen, mit dem die Ludendorffer, die Tannenberger und schlieĂ-lich die Nationalsozialisten ihr ideologisches SĂŒppchen kochten. Nur â was im Di-minutiv scherzhaft klingt, entpuppte sich bald als riesige Vernebelung und Verblen-dung mit verheerenden Folgen. Man wundert sich noch immer, daĂ selbst die gebil-deten Eliten nicht immun waren. Es scheint so, als hĂ€tte die harte ökonomische undpolitische RealitĂ€t im Staat von Weimar die Suche nach immateriellen Werten beför-dert und â wie Jaspers sagte â zur âUnbewuĂtheit des Blutes, des Glaubens, derErde; der Seele, des Geschichtlichen und des Fraglosenâ gefĂŒhrt. Aber im Strudelder Zeit sind selbstĂ€ndige und unvoreingenommene Gedanken eben nicht jeder-manns Ding.Hans Roth entwickelte sich zum Analytiker und Kritiker der zeitgenössischen Ideo-logien im rechten Spektrum50). Seine Bibliographie enthĂ€lt neben der Apologie
154 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
49) Zitiert nach Gerhard Ramsauer , Kirche und Nationalsozialismus in Tossens. Kirchenkampf 1933-1945 in einem Marschendorf des Oldenburger Landes, Oldenburg 1997, S. 23. Ramsauer hat ver-dienstvollerweise âDas ideologische Umfeldâ erschlossen und dargestellt: S. 16 ff.
50) Vgl. Brauer-Dede (wie Anm. 2), S. 48: âHans Roth war ein fleiĂiger Arbeiter, der mit nie ermĂŒden-der Emsigkeit Belegstellen suchte und fand und deshalb ganz genau Bescheid wuĂte ...â, ein âpinge-lige(r) Wissenschaftlerâ (S. 106).
Barths viele darauf bezogene Schriften und AufsĂ€tze. Sie sind zumeist aus VortrĂ€-gen hervorgegangen. Um ein Beispiel anzufĂŒhren: Als die NSDAP schon ĂŒberwĂ€lti-gende Wahlergebnisse zu verzeichnen hatte, referierte der Ahlhorner Pastor im Ge-neralpredigerverein ĂŒber âKirche und jĂŒngste völkische Bewegungâ. Er hielt dieHervorhebung der weiĂen Rasse wissenschaftlich fĂŒr unzulĂ€nglich und theologischfĂŒr illegitim, weil sie âdie EmpfĂ€nglichkeit der Menschheit fĂŒr die Wahrheit desEvangeliums leugnet. Dieses RassengebĂ€ude erweist sich im Lichte der Wissen-schaft als Fehlkonstruktion, als zu schwerer Oberbau auf schwankender Grundlage.Und vor allem: soll Gott nicht die Rasseneigenart, wo es erforderlich ist, ĂŒberwindenkönnen? Und ist nicht SelbstĂŒberwindung durch die Kraft des Glaubens bei jedemMenschen auf Erden nötig?â51). Wir bemerken: Der universale und zugleich egali-
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 155
Abb. 10: Titelblatt âDieMitarbeit der evangelischenKirche ...â.
51) Hans Roth , Kirche und jĂŒngste völkische Bewegung. Vortrag im Oldenburger Generalpredigerver-ein am 7. Mai 1931, in: OlKiBl 36, 1931, S. 33-38 u. 43-46, Zitat: S. 45. Vgl. zum Problem aus heutigerSicht vom Verf. (Hrsg.): Volk â Nation â Kirche (Bekenntnis. Fuldaer Hefte 35), Hannover 1998.
tĂ€re Zug des christlichen Glaubens hinderte den Theologen, auf die Rassenideolo-gie zu verfallen. Dieses Denkmuster erwies sich als so resistent, daĂ die NSDAPund die von ihr gestellte Regierung 1932 erfolglos gegen den Auftritt eines farbigenPastors in der Oldenburger Lambertikirche kĂ€mpften52).In der Folgezeit scheute Roth nicht die öffentliche Auseinandersetzung mit Rosen-bergs âMythus des 20. Jahrhundertsâ. GegenĂŒber Bultmann stöhnte er: Den betr. My-thus ... zu lesen, ist allerdings nur bei erheblichen Opfern an Zeit möglich. Aber wenn daswahr ist, was der Reichsbote kĂŒrzlich schrieb ...: DaĂ bei religiösen Debatten der Studentenjegliches Dogma abgelehnt wĂŒrde (wobei diese sich ĂŒber ihre eigene groĂe dogmatische Ge-bundenheit wohl nicht klar sind), reicht bis zur völligen Ablehnung des Christentums ĂŒber-haupt, und zwar âweit mehr, als die Ăffentlichkeit es ahntâ: dann sind solche Zeitopfer nö-tig. Sonst gleitet der studierende Volksteil in völkischen Atheismus (31. Juli 1934).Seine Beobachter haben Roths wirkliche Position und die kirchliche Lage unzutref-fend eingeschĂ€tzt, im Jahr zuvor hatte Roth nĂ€mlich an Bultmann geschrieben: DieâDeutschen Christenâ haben sich im Kirchenkreis Wildeshausen bisher noch nicht betĂ€tigt,werden es wohl bald tun. Hier bei uns, wo beim gröĂten Teil der Bevölkerung Kirche und Volksich nicht53) auseinandergelebt haben, dĂŒrfte eine Vortragswelle wohl nicht viel schaffen kön-nen. Ich habe es bisher schon fĂŒnfmal abgelehnt, Kreisleiter der D. C. zu werden ... (19. Sep-tember 1933)54). Roth schloĂ sich statt dessen dem Pfarrernotbund und der Beken-nenden Kirche an und wirkte unermĂŒdlich mit Referaten und Impulsen in der Lan-deskirche. Er gehörte der illegalen PrĂŒfungskommission an. Die KirchengemeindeGroĂenkneten wurde 1936/37 ein Brennpunkt des Kirchenkampfes, weil die 1. Pfarr-stelle wiederbesetzt werden muĂte, die Oldenburgische Bekenntnissynode hier tagteund durch den westfĂ€lischen PrĂ€ses Koch Ordinationen durchgefĂŒhrt wurden55).Da Widerstand, Widersetzlichkeit bzw. Resistenz ein strittiges Thema der Zeitge-schichte56) ist, sei abschlieĂend der Brief Roths an Bultmann vom 28. Juli 1947 ange-
156 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
52) Vgl. Schaap (wie Anm. 23), S. 230 ff; und Klaus Scho lder , Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1,Frankfurt 1977, S. 229 ff. â Roths Einstellung zum NS-Staat erhellt seine innere Zustimmung zu Bult-manns ungewöhnlichem Semesterbeginn am 2. Mai 1933. Im Juni erschien der Vorlesungstext in denTheologischen BlĂ€ttern, Roth schrieb an Bultmann, er habe ihn âmit groĂer Freude gelesenâ (19. Sept.1933). Vgl. mit EinschrĂ€nkungen: Wichmann von Meding , Rudolf Bultmanns Widerstand gegendie Mythologisierung der christlichen VerkĂŒndigung mit einem Anhang: Bultmanns Vorlesungseinlei-tung vom 2.5.1933, in: Theologische Zeitschrift 53, 1997, S. 195-215.
53) Im Original hervorgehoben.54) Dazu regte möglicherweise Roths Schrift âDie Mitarbeit der evangelischen Kirche an der BekĂ€mpfung des
Versailler Diktatsâ (Berlin-Steglitz 1932) an. An Bultmann schreibt Roth dazu: âEs muĂte mal geschriebenwerden, weil in den letzten Jahren unaufhörlich von allen Antichristen völkischer Art und auch von Theo-logen etc. ... behauptet wurde: die Kirche habe nichts Ernstliches gegen die Erpressungsschande von Ver-sailles getanâ (19. Sept. 1933). Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1, Göttingen 19842, S.6 f. u. 528 f. â Brauer-Dede erwĂ€hnt einen â den einzigen â Streit ihres Mannes GĂŒnther Dede mit HansRoth wegen dessen kurzzeitiger Mitgliedschaft in der SA (wie Anm. 2, S. 106 f). DafĂŒr lieĂ sich kein Nach-weis ermitteln. Roth war jedoch Mitglied der NSDAP seit 1. Mai 1933 (Mitgliedsnummer 3 051 149); Ende1936 wurde er durch eine einstweilige VerfĂŒgung des Ortsgruppenleiters aus der NSDAP ausgeschlossen(Quelle: Berlin Document Center, jetzt Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde).
55) Vgl. Guse (wie Anm. 11) sowie Meiners (wie Anm. 23), S. 72 u. 142-144. 56) Vgl. Karl-Ludwig Sommer, Bekenntnisgemeinschaft und bekennende Gemeinden in Oldenburg in
den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Evangelische Kirchlichkeit und nationalsozialisti-scher Alltag in einer lÀndlichen Region, Hannover 1993. Dazu die Rezension von Hans-WalterKrumwiede , Widerstand und Anpassung der Bekennenden Kirche Oldenburgs (1933-1945), in:JGNKG 91, 1993, S. 263-284. Ferner vom Verf., Rezension Sommer, in: OJb 95, 1995, S. 189-191.
fĂŒhrt: Im Oktober vorigen Jahres bekam ich von der Kirchenkanzlei SchwĂ€bisch GmĂŒndmeine Personalkarte aus der Kartothek zur Schwarzen Liste der Gestapo: danach hatte ich1939 die Nr. 10.827: S.D. (Sicherheitsdienst) steht auf der Karte. HĂ€tte Hitler gesiegt, sowĂ€re mein Los wohl eindeutig gewesen. Der Grund war wohl der: 1936-38 hielt ich mehrereVortrĂ€ge in Oldenburger Kirchen gegen Rosenberg (Mythus; DunkelmĂ€nner und Rompil-ger), in Gegenwart der mitschreibenden Gestapo (z.B. Lamberti-Kirche Oldenburg und inRastede)57). Sowenig AnlaĂ zur Heroisierung besteht, so sollten aber auch die Risi-
Hans Roth und Rudolf Bultmann ââââââââââââââââââââ 157
Abb. 11: Hans Roth an Rudolf Bultmann am 28. Juli 1947 (Ausschnitt):âLieber Herr Professor! Vielleicht schrieb ich Ihnen zuletzt nach dem Tode meiner ersten Frau. Dasist schon 5 Jahre her. Inzwischen (1943) habe ich mich wieder verheiratet, unsere jĂŒngste, Elisabeth,ist jetzt 3 Jahre alt. Kloppenburg, der damals allgem. Redeverbot hatte, hat sie getauft. Doch Persön-liches etc. wĂ€re ja ,unendlichâ viel zu erzĂ€hlen. Nur soviel noch: unser Haus blieb bis auf die Schei-ben u. Ziegel unversehrt, alle Granaten fielen (Mitte April 1945) in den Garten, keine ins Haus.Nur 10 HĂ€user hier wurden zerstört. â Meine zweite Frau ist eine geb. Hermann aus Bremen: einBruder ihres verstorb. Vaters ist Prof. D. Hermann â Greifswald. â Im Oktober vorigen Jahres bekamich von der Kirchenkanzlei SchwĂ€b. GmĂŒnd meine Personalkarte aus der Karthothek zur SchwarzenListe der Gestapo: danach hatte ich 1939 die Nr. 10.827: S.D. (Sicherheitsdienst) steht auf der Karte.HĂ€tte Hitler gesiegt, so wĂ€re mein Los wohl eindeutig gewesen. Der Grund war wohl der: 1936-38hielt ich mehrere VortrĂ€ge in Old. Kirchen gegen Rosenberg (Mythus; DunkelmĂ€nner und Rompil-ger), in Gegenwart der mitschreibenden Gestapo (z.B. Lamberti Kirche Oldb. und in Rastede) ...â
57) Brauer-Dede (wie Anm. 2) berichtet S. 107, daĂ Roth ânur deshalb vom KZ verschont blieb, weil erdie Protektion des Reichserziehungsministers genoĂâ. Bernhard Rust (1883-1945), PreuĂischer (1933)bzw. Reichs- und PreuĂischer Minister fĂŒr Wissenschaft, Kunst und Erziehung (ab 1934), war im 1. Weltkrieg Kriegskamerad von Hans Roth.
ken und die Zivilcourage im totalitĂ€ren System nicht unterschĂ€tzt werden, d.h. dastatsĂ€chliche Verhalten gewĂŒrdigt werden. Ăberblickt man die diesbezĂŒglichen ĂuĂerungen Roths, so nehmen sie im Unter-schied zur Rezeption Barthscher Theologie einen schmalen Raum in der vorliegen-den Korrespondenz ein. Man muĂ schon sagen: Dieses Gebiet quasireligiöser Aus-einandersetzung hat sich der ehemalige Marburger Student aus aktuellem AnlaĂselbst erarbeitet und dabei Theologie und Kirche tapfer vertreten. Die braune Fluthat er nicht verhindern können, aber er konnte im ideologischen Sumpf Schneisenvermessen, um wenigstens einigen Zeitgenossen die Sicht fĂŒr schmale Wege zu ver-mitteln. Trotz aller Verstehensschwierigkeiten hat der Ruf zur Sache, den die Glok-ke der dialektischen Theologie weittönend angeschlagen hatte, Roth zu einer profi-lierten Position verholfen. Was Theologie und Geschichtswissenschaft, was neueKirchengeschichte und Systematik erst neuerdings in den Blick nehmen, nĂ€mlichdie zunehmende Ausdifferenzierung und Transformation des Religiösen58), dafĂŒrwaren weder Roth noch seinen Lehrern die Augen aufgetan.
VII.
Die Korrespondenz zwischen Hans Roth und Rudolf Bultmann lud zur Spurensu-che in der Kirchengeschichte der Region59) ein. Sie förderte das BemĂŒhen vonPastoren und Professoren um das Heimischwerden des Evangeliums unter ihrenZeitgenossen zu Tage. Es ist ein historisches Paradigma, dem im âfröhlichen Wech-selâ andere folgen werden. AbschlieĂend werden die Einsichten gebĂŒndelt, um dieAufgaben der Gegenwart vielleicht deutlicher zu sehen.Die theologischen Lehrer auf dem Katheder der zwanziger Jahre haben hohe An-sprĂŒche bzw. MaĂstĂ€be aufgestellt. Vom Ernst bzw. von der Tiefendimension desWortes Gottes kann es schwerlich PreisnachlĂ€sse geben, nicht Theologie oder Kir-che im Angebot oder Ausverkauf. Aber es muĂ nachdenklich stimmen, wie die da-mals junge Generation der Theologen die vornehmste Aufgabe der Kirche, nĂ€mlichdie VerkĂŒndigung des Evangeliums, als Predigtnot empfunden hat. Die Proklama-tion hehrer Kriterien ging parallel mit der Polemik gegen Erlebnis und Erfahrung,gegen die liberale Theologie und den Kulturprotestantismus. Man geht nicht fehl inder EinschĂ€tzung, daĂ hier zuweilen mit heiĂer Nadel gestrickt und der PulsschlagkĂŒnstlich auf erhöhter Frequenz gehalten wurde. Das ist im Alltag des Lebensschwer durchzuhalten. Damit stellt sich die Aufgabe der Vermittlung, die Proble-matik der Weitergabe des Glaubens. Die Frage nach der PlausibilitĂ€t kann nichtunterdrĂŒckt werden. Theologisch kommt hinzu, daĂ der evangelische Glaube in
158 âââââââââââââââââââââââââââ Reinhard Rittner
58) Vgl. Kirche und Religion, bes. Die Unkirchlichen und die Religion bei Thomas Nipperdey, Deut-sche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, MĂŒnchen 19933, S. 428-530, bes. S. 507 ff. Vgl. auch Kurt Nowak :âWer sich mit der Beschreibung der organisierten Religion und ihrer wechselnden PegelstĂ€nde be-gnĂŒgt, gleicht einem spielenden Kinde, das Wasser in verschiedene GefĂ€Ăe umfĂŒlltâ (FAZ 27. Juni1997).
59) Vgl. Rolf SchĂ€fer, Ortskirchengeschichte und allgemeine Kirchengeschichte â Gedanken zu einer oftverkannten Wechselbeziehung, in: JGNKG 95, 1997, S. 385-389.
der Begegnung geweckt wird, wie es die Emmausgeschichte so trefflich erzĂ€hlt (Lu-kas 24,13 ff.). Die fehlende Verifikation in der Erfahrung bleibt ein Defizit in der Theologiebewe-gung der 20er/30er Jahre. Das hat sich erst unter dem EinfluĂ â oder soll man sa-gen: unter der Dominanz? â der sog. Humanwissenschaften in den 60er/70er Jah-ren geĂ€ndert â allerdings mit der bedenklichen Folgeerscheinung, daĂ Theorie undReflexion zurĂŒckgetreten sind zugunsten der kirchlichen Praxis. Psychologisch istdie Kehrseite zu hoher AnsprĂŒche die Empfindung von tatsĂ€chlichem oder ver-meintlichem Versagen. Die fehlende Balance zwischen BestĂ€tigung und MiĂerfolgist wenig ersprieĂlich fĂŒr das Leben und Arbeiten, auch in kirchlichen LebenslĂ€u-fen.Hans Roth war ein Vorreiter in der Auseinandersetzung mit dem Pluralismus derReligionen und Weltanschauungen. Daran fĂŒhrt auch in der Gegenwart kein Wegvorbei. Man darf nicht dem âMythos der HomogenitĂ€tâ (K. Nowak) erliegen, er hatdie braune und die rote Diktatur mental vorbereitet. Die Pluralisierung und Indivi-dualisierung der Lebenswelten gehört zu den Gegebenheiten der offenen Gesell-schaft. Warum soll sich vom religiösen Kern nicht auch darin eine zeitgemĂ€Ăe Ge-stalt des Christentums entwickeln lassen?Eingangs wurde der Begriff der Moderne differenziert. Die ĂŒber WahlkĂ€mpfe hin-ausreichende Modernisierung in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft ist unaus-weichlich. Lebens- und weltgeschichtlich ist dies mit Entwicklung und KontinuitĂ€tsowie mit UmbrĂŒchen und DiskontinuitĂ€t verbunden. Solche BrĂŒche können fried-lich oder gewalttĂ€tig sein. Was wirklich trĂ€gt und etwas taugt zum Leben, politisch,wirtschaftlich, kulturell, religiös, muĂ bedacht, ausprobiert und weitergegeben wer-den. Die verflossenen Ideologien sollten miĂtrauisch machen gegenĂŒber Strömun-gen und MĂ€chten, die Menschen nur benutzen oder instrumentalisieren fĂŒr ihreZiele. Die Historiographie stĂ€rkt dabei die notwendige Skepsis gegenĂŒber Personenund Programmen, Theologie und Kirche bringen das nĂŒchterne christliche Men-schenbild ein und ermutigen zu Menschenfreundlichkeit in Politik, Wirtschaft, Kul-tur und Gesellschaft.
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