7/14/2019 Josef Pieper - Über den Glauben
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JOSEF PIEPER
ÜBER DEN GLAUBEN
EIN PHILOSOPHISCHER TRAKTAT
Neuausgabe 2010.
Erstmals erschienen bei Hegner, Leipzig 1935.
© Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 2010.
INHALTSVERZEICHNIS
I ......................................................................................................................................................................................... 2 Die wahre Bedeutung der Grundworte, obwohl im menschlichen Sprachgebrauch «immer schon» anwesend,
ist nicht leicht zu ermitteln. Gegenüber der Perfektion allzu präziser Definitionen empfiehlt sich Misstrauen.
– Die Grundformen der Stellungnahme: Zweifeln, Meinen, Wissen, Glauben. – Zwei Elemente des Begriffs
«Glauben»: der Sachverhalt zeigt sich nicht, und er wird dennoch vorbehaltlos als wahr und wirklich
akzeptiert. – Eigentlicher Wortgebrauch zeigt sich darin, dass kein Ersatzwort möglich ist. – Der
grundrisshaft vollständige Begriff: Glauben heißt, auf das Zeugnis von jemand anders hin etwas für wahr
halten.
II ....................................................................................................................................................................................... 8
Die Zusammengehörigkeit des sachhaften und des personalen Elementes: aliquid et alicui credere. –
Entscheidend ist die Zuwendung zum Zeugen. Vermeintliches Glauben. – Glaube im strikten Sinn kann unterMenschen weder gefordert noch geleistet werden. «An» jemanden glauben. – Die Bedingung, die erfüllt sein
muss, wenn Glaube als sinnvoller menschlicher Akt möglich sein soll.
III .................................................................................................................................................................................. 10
Glauben kann man nur, wenn man will. Nicht die Wahrheit des Sachverhalts ist das Bestimmende, sondern
die Einsicht, dass es gut sei, zu glauben. Die Rolle des Willens im Glauben. Weder der Glaubensakt selbst
noch der geglaubte Sachverhalt ist das Gewollte. Der primäre Akt des Willens: Lieben. «Wir glauben, weil wir
lieben». Der Glaubende bejaht den Zeugen und sucht seine Gemeinschaft, kraft deren er dann mit den Augen
des Wissenden sieht.
IV ................................................................................................................................................................................... 14
Wenn es keinen Wissenden gibt, kann es auch keinen Glaubenden geben. Glaube ist etwas Zweites.
Anderseits ist der unvollkommene Zugang zur Wirklichkeit besser als gar kein Zugang. – Die
Glaubwürdigkeit des Zeugen sowie die Tatsächlichkeit und der Sinn seiner Aussage müssen gewusst werden
können. Dieses Wissen allerdings kommt weithin unter den Bedingungen der Person-Erkenntnis zustande.
V .................................................................................................................................................................................... 18
Weil der Glaube aus der Freiheit entspringt, ist er ein in besonderem Maße unaufhellbares Phänomen. – Das
Beieinander von Gewissheit und Ungewissheit. «Denk-Unruhe» trotz unbedingter Zustimmung: cumassensione cogitare. Glaube stillt nicht, sondern entfacht das Verlangen. – Dennoch Festigkeit des
Wirklichkeitskontaktes. Glaube als «Licht».
VI ................................................................................................................................................................................... 21Glaube als «Annehmung der Grundsätze einer Religion» [Kant]. Res divina non visa. Der Zeuge ist Gott selber.
– Zwischenbemerkung über die philosophische, psychologische, historische und theologische Betrachtung
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des Glaubens. – Offenbarungsglaube ist keine Entfaltung und Fortsetzung von «Glauben überhaupt». Die
natürlichen Hindernisse des Offenbarungsglaubens. «Wo das Wissen genügt». – Glaube ist nicht erwartbar,
wenn nicht Gott als personales, der Rede fähiges Wesen und wenn nicht der Mensch als ein von Natur zu
Gott hin offenes Wesen gedacht wird. In welchem Sinn ist Unglaube «wider die Natur» des Menschen? –
Kritik und Huldigung angesichts des Ganzen der Wahrheit.
VII ................................................................................................................................................................................. 27Der Glaubensbegriff von Karl Jaspers, repräsentativ für einen ganzen Typus des modernen Denkens. Die
Elemente dieses Begriffes. Wem wird geglaubt? Glaube als «Zerstörung der menschlichen Freiheit». Das
Zögern, die überlieferten Inhalte preiszugeben, und die Weigerung, sie glaubend anzunehmen. – Vorsicht im
Gebrauch der Vokabel «Unglaube». Der eigentliche Widerpart des Glaubens: Unaufmerksamkeit. – Die
besondere Schwierigkeit des Wissenden. Der Wissende und der Märtyrer.
VIII ................................................................................................................................................................................ 30
Glaube setzt die Tatsächlichkeit von Offenbarung voraus. Die moderne Erfahrung der «Abwesenheit» und
des «Schweigens» Gottes: der «bekümmerte Atheismus». – Die Möglichkeit und die Unmöglichkeit, das
Offenbarungsgeschehnis vorzustellen. Der göttliche Mitteilungsakt und die Kundwerdung des Mitgeteilten –
durch Lehre und Überlieferung. Stufen des Anteilhabens: fides implicita. – Einige Bedingungen, an welche diezulängliche Beantwortung der Frage nach der Tatsächlichkeit von Offenbarung geknüpft ist. Anderseits:
unabsehbare Möglichkeiten der Vergewisserung. Stellvertretende Gestalten: Augustinus, Pascal, Newman.
IX ................................................................................................................................................................................... 34
Ist es «gut», zu glauben? – Glaube im mitmenschlichen Umgang ist nicht schon einfachhin «Tugend». Was der
Offenbarungsglaube für das Gutsein des Menschen bedeutet, zeigt sich erst, wenn der Inhalt der Offenbarung
bedacht wird: Gott selbst teilt sich mit; die Analogie im menschlichen Bereich: «Ich liebe dich». – Glaube
heißt Teilhabe nicht allein am Wissen Gottes, sondern an der göttlichen Wirklichkeit selbst.
Anmerkung ............................................................................................................................................................... 37
Wer lernen will, muss glauben.
Aristoteles (11)
I
Wer eigentlich bestimmt, was unter «Glauben» zu verstehen sei? Wem könnte es zustehen,darüber zu befinden, welches die «wahre» Bedeutung dieses und anderer Grundworte der
Menschensprache sein soll? – Niemand natürlich, kein Einzelner jedenfalls, und wäre er noch so
genial, vermag so etwas zu bestimmen und festzusetzen. Es ist bereits vorweg bestimmt. Und
von diesem immer schon Gegebenen muss alle Erörterung ausgehen. Vermutlich haben Platon,
Aristoteles, Augustin, Thomas genau gewusst, was sie taten, wenn sie an den Anfang jeweils die
Befragung des Sprachgebrauchs setzten: Was meinen die Menschen, wenn sie «Freiheit» sagen
oder «Seele», «Leben», «Glück», «Liebe», «Glaube»? Offenbar haben die Ahnherren der
abendländischen Philosophie dies nicht für einen bloßen didaktischen Kunstgriff gehalten; sie
sind vielmehr der Meinung gewesen, ohne solche Anknüpfung an die wirklich gesprochene
Menschensprache müsse das Denken einfachhin unverbindlich werden, bodenlos undphantastisch.
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Man soll allerdings nur ja nicht die Ermittlung des im lebendigen Sprechen der Menschen
wahrhaft Gemeinten für eine leichthin zu meisternde Sache halten. Vieles spricht im Gegenteil
dafür, dass es nahezu unmöglich ist, die Bedeutungsfülle vor allem der Grundworte ganz und gar
auszuschöpfen (13) und präzis zu umschreiben. Vielleicht geht es über die Kraft des individuellen
Bewusstseins, sie auch nur einigermaßen ungeschmälert gegenwärtig zu halten; wozu als die
andere Seite der Münze zu gehören scheint, dass der Einzelne mit dem, was er unbefangen anWorten gebraucht, mehr zu meinen pflegt, als er jemals bewusst realisiert.
Mag sein, dass sich dies zunächst wie eine romantische Übertreibung anhört. Doch lässt sich
zeigen, dass es nicht so ist. Jedermann zum Beispiel meint genau zu wissen, was ein so
alltägliches Wort wie «Ähnlichkeit» bedeutet. Er wird etwa sagen, mit Ähnlichkeit sei «die
Übereinstimmung in mehreren Merkmalen» gemeint, «im Unterschied zur Gleichheit, der
Übereinstimmung in allen Merkmalen». Und was sollte wohl auch gegen eine so präzise
Kennzeichnung, die übrigens einem bekannten philosophischen Wörterbuch1 entnommen ist,
einzuwenden sein? Dennoch, sie ist falsch; sie ist zum mindesten unvollständig. Es fehlt ein
wesentliches Bedeutungselement. Das freilich kommt, so scheint es, nur dem zu Gesicht, der denlebendigen Sprachgebrauch befragt. Zum lebendigen Sprachgebrauch aber gehört nicht allein,
was die Menschen tatsächlich sagen; es gehört dazu auch das ausdrücklichNicht -gesagte; es
gehört auch dies (14) dazu, dass bestimmte Worte in einem bestimmten Zusammenhang nicht
verwendet werden können. So hat Thomas von Aquin einmal zu bedenken gegeben2: man könne
zwar sinnvollerweise von der Ähnlichkeit eines Menschen mit seinem Vater sprechen;
wohingegen es offenbar unsinnig und unzulässig sei zu sagen, der Vater sehe seinem Sohne
ähnlich. Worin sich zeigt, dass der Begriff «Ähnlichkeit» ein Bedeutungselement enthält, das in
der eben angeführten, so exakt scheinenden Definition [«Übereinstimmung in mehreren
Merkmalen»] schlichthin übersehen und verschwiegen ist, nämlich das Element der Herkunft
und Abhängigkeit. Wer aber wollte behaupten, dies zunächst Verborgene sei ihm von Anfangunverkürzt und ausdrücklich präsent gewesen? – Man lässt sich also, darüber sollte niemand
sich wundern, auf ein möglicherweise äußerst schwieriges Unternehmen ein, wenn man
versucht, die ungeschmälerte Bedeutung eines Grundwortes zu ermitteln – seine,
wohlzubedenken, von jedem mündigen Menschen dennoch wirklich gemeinte Bedeutung.
Solche Vorüberlegungen sind vonnöten, damit man gefeit sei gegen das Verführerische, das
in der Perfektion allzu präziser Definitionen liegen mag. Wenn man etwa gesagt bekommt:
Glaube bedeute einfach soviel wie «gefühlsmäßige Überzeugung»3 (15) oder auch die
«praktische» Gewissheit in Bezug auf Sachverhalte, die «theoretisch» nicht begründbar seien;
oder wenn es heißt: unter Glauben sei ein «objektiv» zureichendes und zugleich «objektiv»
unzureichendes Fürwahrhalten zu verstehen4 – dann tut man gut daran, solche verdächtig
exakten Kennzeichnungen zunächst einmal mit einigem Argwohn und Misstrauen aufzunehmen.
Was alles aber meinen Menschen wirklich, wenn sie vom Glauben sprechen; welches ist die
wahre, runde, komplette Bedeutung dieses Begriffs? Das also ist die erste Frage, mit der wir es
im Folgenden zu tun haben.
1 Johannes Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe [Hamburg 21955], S. 19.2 I, 4, 3 ad 4; I d. 28, 2, 2.3 Vgl. etwa David Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand 5, 2.4 Als «objektiv» und «theoretisch» unzureichendes Fürwahrhalten definiert Kant den Glauben. Der
Richtigkeit dieser Kennzeichnung ist er dabei so sicher, dass er sagt, er werde sich mit einer weiterenErläuterung «nicht aufhalten». Vgl. Kritik der reinen Vernunft [hrsg. R. Schmidt, Philosophische Bibliothek,Leipzig 1944], S. 741 f.
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Jemand gibt mir eine Nachricht zu lesen, die er selber für einigermaßen verwunderlich hält;
und nachdem ich sie zur Kenntnis genommen habe, fragt er mich: Glaubst du das? – Was
eigentlich will er von mir hören? Er will hören, ob ich der Meinung bin, dass die Nachricht
«stimmt»; er will wissen, wie ich mich dazu «stelle», ob ich die Meldung (16) für wahr , das heißt,
ob ich den darin berichteten Sachverhalt für wirklich halte. Es ist klar, dass es außer «Ja» und
«Nein» verschiedene mögliche Antworten gibt. Ich könnte etwa sagen: Ich weiß nicht, ob esstimmt; ich finde, es kann ebensogut nicht stimmen. Oder meine Antwort könnte so lauten: Ich
vermute, die Meldung ist zutreffend; ich meine, es hat mit ihr seine Richtigkeit – obwohl auch
das Gegenteil mir nicht als völlig ausgeschlossen erscheint. Es wäre ferner denkbar, dass ich
entschieden mit «Nein» antworte. Dies «Nein» freilich könnte mehreres bedeuten. Es könnte
bedeuten, dass ich die Nachricht für unwahr halte, für einen Irrtum, für eine Lüge, für eine
«Ente». Möglicherweise aber könnte ich mit dem «Nein» auch das Folgende meinen: Du fragst
mich, ob ich das glaube; nein, ich « glaube» es nicht; ich weiß nämlich, dass es stimmt; ich habe,
was da berichtet wird, mit meinen eigenen Augen gesehen; ich bin zufällig «dabeigewesen».
Endlich aber könnte meine Antwort sein: Ja, ich glaube, dass die Nachricht wahr ist, das heißt,
dass es sich so verhält, wie es da geschrieben steht. Das freilich werde ich vielleicht erst sagen,nachdem ich mich noch rasch vergewissert habe, wer für den Bericht als Autor zeichnet oder
auch, in was für einer Zeitung die Nachricht erschienen ist.
Eine erste annähernde Kennzeichnung müsste demnach so lauten: Glauben heißt soviel wie
Stellung (17) nehmen zu der Wahrheit einer Aussage und zu der Tatsächlichkeit des ausgesagten
Sachverhalts; Glauben bedeutet, genauer gesagt, dass man eine Aussage für wahr und das
Ausgesagte für wirklich, für objektiv zutreffend hält.– In jenem Beispiel sind sämtliche
sozusagen «klassischen» Gestalten der Stellungnahme aufgeführt: Zweifeln, Meinen, Wissen,
Glauben. Worin unterscheiden sie sich voneinander? Sie unterscheiden sich zum Beispiel in
Bezug auf Zustimmung oder Nicht-Zustimmung: Meinen, Wissen, Glauben sind Formen derzustimmenden Stellungnahme. Die hinwiederum können sich unterscheiden in Bezug auf die
Bedingtheit oder Unbedingtheit der Zustimmung: nur der Wissende und der Glaubende stimmen
uneingeschränkt zu. Beide sagen: «Ja, so ist es und nicht anders»; keiner von beiden jedenfalls
knüpft ausdrücklich sein «Ja» an eine Bedingung. Man könnte endlich die verschiedenen
Gestalten der Stellungnahme auch daraufhin ansehen, ob und wieweit sie den Einblick in den zur
Rede stehenden Sachverhalt voraussetzen. So betrachtet, würden der Wissende und der
Glaubende voneinander zu trennen sein. Zustimmung auf Grund von Wissen nämlich setzt nicht
allein Sachkenntnis voraus; Wissen ist Sachkenntnis. Übrigens kann auch der Verzicht auf eine
vorbehaltlose Stellungnahme, wie in Meinen und Zweifeln, gerade auf der Kenntnis des
Sachverhalts beruhen. Der Glaubende jedoch (18) kennt den Sachverhalt ganz und gar nicht,obwohl er ihn für wahr und wirklich hält. Ebendies unterscheidet den Glaubenden. Auf Grund
von was aber kann er dann, genau ebenso wie der Wissende, ohne Einschränkung und Vorbehalt
sagen: Ja, so ist es und nicht anders – wenn doch der Sachverhalt sich ihm zugegebenermaßen
gerade nicht zeigt? An genau diesem Punkt liegt die Schwierigkeit; sowohl die theoretische
Schwierigkeit, die Aktstruktur von Glauben aufzuhellen, wie auch die Schwierigkeit, den
Glaubensakt als etwas Sinnvolles und intellektuell Verantwortbares zu rechtfertigen.
Zuvor aber scheint es vonnöten, sich ausdrücklich dessen zu versichern, dass jene beiden
Bedeutungselemente in der Tat wesentlich sind: das Sich-nicht-Zeigen des Sachverhalts und das
dennoch unbedingte Fürwahrhalten des gleichen Sachverhalts.
Dass der Glaubende [erstens] nach jedermanns Meinung einer ist, der aus Eigenem keinen
Einblick in den Sachverhalt besitzt, lässt sich leicht plausibel machen. Wo etwa gäbe es einen
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Augenzeugen, der seinen Bericht mit den Worten begänne: «Ich glaube, es hat sich
folgendermaßen zugetragen…»? Und niemand, der auf Grund einer sorgfält ig durchgeführten
und genau nachgeprüften Berechnung zu einem bestimmten Resultat gelangt ist, kann
sinnvollerweise sagen: «Ich glaube, so ist es». (19) Dieses Negative zum mindesten scheint
unbestreitbar. Und wer positive Bestätigungen sucht, findet sie, falls er dem eigenen Instinkt
nicht traut, in jedem Wörterbuch, das den faktischen Sprachgebrauch verlässlich beschreibt:«Vertrauen zur Wahrheit einer Aussage ohne eigene Einsichtnahme in den Sachverhalt »5;
«unbesehen überzeugt sein…»6; «Überzeugung von der Wahrheit eines Tatbestands… ohne die für das objektive Wissen nötige Erkenntnisgrundlage»7. – Auch die großen Theologen halten die
gleiche Auskunft bereit. Creduntur absentia, sagt Augustinus8; das heißt: formeller Gegenstand
des Glaubens ist das Nicht-vor-Augen-Liegende, das nicht aus sich selbst Einleuchtende, das
weder der unmittelbaren Einsicht noch dem schussfolgernden Denken Erreichbare. Bei Thomas
von Aquin findet sich der gleiche Gedanke folgendermaßen formuliert: «Der Glaube kann sich
gar nicht auf etwas beziehen, das man sieht…; und auch was bewiesen werden kann, gehört
nicht zum Glauben»9. (20)
Natürlich kann das nicht heißen, im Glaubensakt sei das selbsteigene Erkennen des
Glaubenden schlechthin verabschiedet. Über das mögliche Missverständnis, das sich hier
ansiedeln könnte, ist an diesem Punkt ein Wort zu sagen. Natürlich, es würde gar nicht von
«Glauben» gesprochen werden können, wenn der zur Rede stehende Sachverhalt nachprüfbar
wäre. Dennoch muss [zum Beispiel] der Glaubende mindestens so viel aus Eigenem erkannt
haben, dass er versteht, «um was es sich handelt». Eine ganz und gar unverständliche Nachricht
ist überhaupt keine Nachricht.10 Man kann ihr und ihrem Urheber weder glauben noch nicht-
glauben. Damit dies überhaupt möglich sei, ist vorausgesetzt, dass man die Nachricht auf
irgendeine Weise verstanden hat. – Hiermit ist etwas behauptet, dass erst auf dem Felde des im
engeren Sinn religiösen Glaubens sein volles Gewicht zeigt. Folgendes nämlich ist behauptet:Auch die offenbarende Rede Gottes, wenn sie überhaupt vom Menschen soll geglaubt werden
können, muss mindestens insoweit «menschlich» werden, dass der Glaubende von sich aus zu
erfassen vermag, wovon sie spricht. Niemals wird, natürlich, die menschliche Vernunft das
Geschehnis ergründen, das sich hinter dem theologischen Fachwort «Inkarnation» verbirgt.
Doch (21) könnte dies Geschehnis auch niemals der Gegenstand des Glaubens von Menschen sein,
wenn ebendiesen Menschen ganz und gar unverständlich bliebe, was überhaupt mit
«Inkarnation» gemeint ist. Wenn Gott, prinzipieller gesagt, ausschließlich als der «absolut
Andere» gedacht und wenn jede positive Analogie zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre
verneint wird, dann ist es unmöglich, die gläubige Hinnahme einer göttlichen Rede, den
«Offenbarungsglauben» also, als eine dem Menschen zumutbare Sache und überhaupt als etwasSinnvolles begreiflich zu machen. – Die großen Lehrer der abendländischen Christenheit haben
das viele Male ausgesprochen. So sagt Augustinus, ohne vorausgehendes Wissen gebe es keinen
Glauben, und niemand könne Gott glauben, wenn er nicht irgend etwas verstehe11. Und Thomas:
5 Grimms Deutsches Wörterbuch, Artikel «Glaube», Bd. IV, 1, 4, Sp. 7805.6 Trübners Deutsches Wörterbuch, Artikel «Glaube», B. 3, S. 192.7 Eislers Handwörterbuch der Philosophie [hrsg. R. Müller-Freienfels, Berlin 21922], S. 254.8 Brief 147 [An Paulinus]. Migne PL 33, 599.9 3 d. 24, 2, 1; vgl. III, 7, 4.10 Vgl. Alexis Decout, L’acte de foi. Ses elements logiques. Ses éléments ps ychologiques [Paris 1947], S.
77; 79.11 De praedestinatione Sanctorum, cap. 2, 5; Migne PL 44, 962 f.
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«Der Mensch vermöchte keinem Satze glaubend zuzustimmen, wenn er ihn nicht irgendwie
verstünde»12.
Doch ist diese Anmerkung bereits ein Vorgriff. Was jetzt zur Rede steht, das ist nicht der
theologische Begriff des Glaubens, sondern «Glauben überhaupt», genommen in seiner
umfassendsten, aber dennoch strikten und eigentlichen Bedeutung. Und diese Bedeutungschließt als ein wesentliches Element (22) in sich, dass der Glaubende den Sachverhalt, dem er
zustimmt, nicht aus Eigenem zu erkennen und nachzuprüfen vermag.
Dass die Glaubenszustimmung gleichwohl ihrer Natur nach uneingeschränkt und
vorbehaltlos geschieht – dieses [ zweite] Bedeutungselement des Begriffs «Glauben» scheint
nicht so leicht zwingend erweisbar zu sein. Das tatsächliche Sprechen der Menschen, so könnte
einer zu bedenken geben, deutet eher umgekehrt darauf hin, dass der, welcher sagt: «Ich glaube,
dass es sich so verhält», gerade einen Vorbehalt macht. Offenbar soll damit doch zum Ausdruck
gebracht werden, dass man etwas nicht «einfachhin» behaupten wolle, dass man vielmehr nicht
völlig sicher sei; man hat eine Vermutung, man hält etwas für wahrscheinlich, man nimmt an,
man meint – und so fort. [Die alltägliche Rede kennt sogar, dies als Nebenbemerkung, eine
Bedeutung von Glauben, die soviel besagt wie «Wähnen», also geradezu das fälschliche
Fürwahrhalten. To make believe heißt ja keineswegs: jemanden zu der Überzeugung bringen,
etwas verhalte sich so und so; sondern es heißt: jemanden zum Narren halten!] Gerade der
lebendige Sprachgebrauch widerspricht demnach, so scheint es, der These, wonach unter
«Glauben» ein vorbehaltloses Fürwahrhalten zu verstehen sei.
Hierzu ist Folgendes zu sagen. In jeder geschichtlichen, gewachsenen Sprache gibt es etwas,
(23) das es in einer artifiziellen Terminologie niemals geben kann: den uneigentlichenWortgebrauch. «Uneigentlich» heißt hier weder «vage» noch «sinnlos» noch «willkürlich». Aber
es heißt, dass ein Wort nicht in der strikten und vollen Bedeutung genommen sei, die ihm«eigentlich» zukommt. Die Uneigentlichkeit eines Wortgebrauchs aber lässt sich an einem
untrüglichen Zeichen erkennen. Das im uneigentlichen Sinn genommene Wort nämlich kann,
ohne dass die Bedeutung des Satzes sich ändert, gegen ein anderes ausgetauscht werden – zum
Beispiel das Wort «Glauben» gegen die Worte «Meinen», «Annehmen», «für wahrscheinlich
halten», «Vermuten»13. Hingegen erweist sich der «eigentliche» Gebrauch eines Wortes darin,
dass in diesem Fall eine solche Stellvertretung nicht möglich ist. – So ist also zu fragen: In
welchem Sinnzusammenhang lässt sich die Vokabel «Glauben» durch keine andere ersetzen? (24)
12 II, II, 8, 8 ad 2.13 Man hat gelegentlich unsinnigerweise auf dieser uneigentlichen Bedeutung von «Glauben» eine
ganze Theorie über das prinzipielle Verhältnis von Glauben und Wissen aufbauen wollen. Zum Beispiel hat S. Thompson [ A paradox concerning the relation of inquiry and belief . Journal of Religion, Chicago, Jg. 1951]die These verfochten, jede Tatsachenforschung setze den «Glauben» an die Möglichkeit der zu
erforschenden Tatsache voraus; ein Archäologe begebe sich nicht auf die Suche nach eineruntergegangenen Stadt, wenn er nicht an die Möglichkeit «glaube», dass sie wirklich einmal in derbetreffenden Gegend existiert habe. Das ist natürlich unbestreitbar, aber auch völlig uninteressant, dieweiles nämlich mit dem Problem «Glauben und Wissen» schlechterdings nichts zu tun hat.
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Nehmen wir an, ein mir völlig unbekannter Mann, der, wie er sagt, soeben aus langjähriger
Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, komme zu mir ins Haus mit der Nachricht, er habe
meinen Bruder in einem «Schweigelager» gesehen; dieser seit langer Zeit verschollene,
totgeglaubte Bruder sei am Leben und werde wohl gleichfalls bald heimkehren. Manches von
dem, was mir nun berichtet wird, passt zu dem Bilde, das ich selbst von meinem Bruder habe; es
ist durch innere Wahrscheinlichkeit in etwa ausgewiesen. Das Entscheidende aber, ob ernämlich lebt und wie es um ihn bestellt sein mag – dies kann ich auf gar keine Weise nachprüfen.
Nachprüfbar bis zu einem gewissen Grade ist auch die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Und
natürlich lasse ich keine Möglichkeit aus, etwas über ihn zu erfahren. Eines Augenblicks aber
stehe ich unvermeidlich vor der Entscheidung: Soll ich glauben oder nicht, was er berichtet; soll
ich ihm glauben oder nicht? – In diesen Fragesätzen, das ist völlig klar, lässt sich die Vokabel
«Glauben» auf keine Weise durch ein anderes Wort ersetzen. Und das heißt: hier ist «Glauben»
in seiner vollen, strikten, eigentlichen Bedeutung gemeint.
Zweierlei tritt hiermit sogleich ans Licht. – Der im eigentlichen Sinn Glaubende hat es,
erstens, nicht nur, wie etwa der Wissende, mit einem Sachverhalt zu tun, sondern zugleich mit einem Jemand, mit dem Zeugen nämlich, der den Sachverhalt verbürgt und auf den der
Glaubende sich verlässt. Zweitens zeigt sich das wonach die gegenwärtige Erörterung vor allem
fragt: dass Glauben [im eigentlichen Sinn] wirklich eine vorbehaltlose Zustimmung und ein
unbedingtes Fürwahrhalten meint. – Würde ich dem Heimkehrer, der nun als Gast an meinem
Tische sitzt, als Resultat meines Nachdenkens etwa sagen: sein Bericht habe mich stark
beeindruckt und ich sei durchaus geneigt, ihn für zutreffend zu halten, aber, da ich ja schließlich
nicht die Möglichkeit der Nachprüfung besitze… – wollte ich so sprechen, dann müsste ich mich
darauf gefasst machen, dass der andere mich unterbrechen könnte mit der knappen
Feststellung: Mit einem Wort, Sie glauben mir nicht! Darauf würde ich vielleicht, um das
Verletzende solcher Direktheit ein wenig zu mildern, antworten: Doch, er habe durchaus meinVertrauen, und ich sei auch bereit, ihm zu glauben; freilich, völlig sicher sei ich eben doch nicht.
Wenn dann mein Gegenüber unnachgiebig dabei bleiben würde, dass ich ihm demnach nicht glaube – dann hätte er damit ganz und gar recht. «Ich glaube zwar, aber ich bin nicht völlig
sicher»: wer so spricht, meint entweder Glauben in uneigentlicher Bedeutung, oder er redet
Unsinn.
Wenn in der Menschensprache das Wort «Glauben» in seiner eigentlichen, keine
stellvertretende Vokabel duldenden Bedeutung gebraucht wird, (26) dann ist – wohlzubedenken:
nach jedermanns Meinung – von einer uneingeschränkten, vorbehaltlosen, an keine Bedingung
geknüpften Zustimmung die Rede. In Bezug auf das Kennen des Sachverhalts ist der
«Dabeigewesene» und der Wissende dem Glaubenden überlegen, nicht aber in Bezug auf die
unbeirrbare Festigkeit der Zustimmung.14 «Es gehört zum Begriff des Glaubens selbst, dass der
Mensch dessen sicher sei, woran er glaubt.»15 John Henry Newman, der bekanntlich der Struktur
des Glaubensaktes lebenslang eine geradezu faszinierte Aufmerksamkeit zugewendet hat,
spricht das gleiche auf eine fast herausfordernde Weise aus: «Wenn einer sagt ‹Ja, jetzt, in
diesem Augenblick glaube ich…; aber ich kann nicht versprechen, dass ich auch morgen noch
glauben werde› – dann glaubt er auch jetzt nicht »16.
14 Perfectio intellectus et scientiae excedit congnitionem fidei quantum ad maiorem manifestationem,non tamen quantum ad certiorem inhaesionem. II, II, 4, 8 ad 3.
15 De ratione fidei est, quod homo sit certus de his, quorum habet fidem. II, II, 112, 5 ad 2.16 Glaube und Zweifel. Zur Philosophie und Theologie des Glaubens [Mainz 1936], Bd. I, S. 269.
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Um so schärfer freilich stellt sich dann die Frage, wie es sinnvoll möglich sei und wie es sich
rechtfertigen lasse, dass einer ohne Einschränkung und Vorbehalt sagt: «So ist es und nicht
anders» – wenn er doch zugegebenermaßen den Sachverhalt, dem er auf solche Weise zustimmt,
nicht kennt, weder (27) unmittelbar, durch eigenes Sehen, noch mittelbar, auf Grund einer
schlüssigen Argumentation? (28)
II
Glauben heißt immer: jemandem etwas glauben. Ad fidem pertinet aliquid et alicui credere.17
Der im strikten Wortsinn Glaubende akzeptiert, auf das Zeugnis von jemand anders hin, einen
Sachverhalt als wirklich und wahr. Das ist der grundrisshaft vollständige Begriff von Glauben.
Seltsamerweise hat man immer wieder einmal im theologischen Streitgespräch die beiden
hier verknüpften begrifflichen Elemente – einerseits: die Zustimmung zu einem Sachverhalt, das
Fürwahrhalten; anderseits: die Zustimmung zu einer Person, das Vertrauen – gegeneinander
isoliert und ausgespielt, als seien sie von Natur unvereinbar. – Martin Buber etwa sagt, es gebe«zwei Glaubensweisen»18, die «griechisch»-christliche und die jüdische; die erste meine
ausschließlich das Fürwahrhalten von Sätzen, während die zweite das Vertrauensverhältnis zu
Gott als einer Person besage. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, wie es um die
Glaubensvorstellung des religiösen Judentums bestellt ist. Der christliche Glaubensbegriff aber
umfasst jedenfalls ausdrücklich beide Elemente, das sachhafte wie das personale. «Ein jeder, der
glaubt, stimmt der Aussage eines Jemand (29) zu»19; «Der Glaube geht allezeit auf eine Person»20.
Der erste dieser beiden Sätze stammt von Thomas von Aquin, der zweite von Martin Luther –
worin sich zeigt, dass in diesem Punkt keine Meinungsverschiedenheit besteht zwischen dem
Reformator und dem letzten großen Lehrer der noch ungeteilten abendländischen Christenheit.
Die Verknüpfung der beiden Elemente « jemandem glauben» und «etwas glauben» ist
natürlich nicht so zu denken, als handle es sich um ein strukturloses Nebeneinander und ein
bloßes Sowohl-als-auch. Es kann sehr wohl geschehen, dass einer etwas als wahr akzeptiert, was
ein anderer sagt – ohne dass der eine dem anderen glaubt. Glauben heißt: etwas auf die
Bezeugung durch jemand anders hin für wahr und wirklich halten. Der Grund also dafür, dass
man «etwas» glaubt, ist, dass man «jemandem» glaubt. Wo dies nicht zutrifft, da handelt es sich
um etwas anderes als Glauben im eigentlichen Sinn. Ein Untersuchungsrichter, der die unter
Anklage stehenden Mitglieder einer Bande verhört hat, mag sehr wohl davon überzeugt sein,
dass manche Aussagen stimmen; aber der Grund dieses «Fürwahrhaltens» ist nicht das
Vertrauen und die Zustimmung zur Person der Aussagenden [sondern, sagen wird, die Tatsache,
dass (30) die einzelnen unabhängig voneinander zustande gekommenen Aussagen sich decken].
Man könnte hier von einer Wahrscheinlichkeitsvermutung sprechen, vielleicht sogar von einer
Art Wissen; man hat dies Wissen auch «Wissen auf Grund von Zeugenaussagen» genannt,
scientia testimonialis. Aber dies «auf Grund» ist missverständlich. Genaugenommen ist es nicht
die Bezeugung, sondern die Übereinstimmung der verschiedenen Zeugnisse, worauf jene
Gewissheit sich gründet. Und also hat sie mit Glauben nichts zu tun.
Vermutlich kommt es gar nicht so selten vor, dass etwas, das in Wirklichkeit nicht Glauben
ist, dennoch für «Glauben» gehalten wird – vielleicht sogar von dem vermeintlichen
17 II, II, 129, 6.18 Martin Buber, Zwei Glaubensweisen [Zürich 1950].19 II, II, 11, 1.20 Vgl. Ph. Dietz, Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften [Leipzig 1870], Bd. II, S. 128.
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«Glaubenden» selbst. Es kann etwa einer die Lehren des Christentums als Wahrheit akzeptieren
– nicht, weil sie bezeugt und verbürgt sind durch den offenbarenden Logos Gottes, sondern weil
ihm ihre «Geschlossenheit» Eindruck macht, weil ihn die Kühnheit und Tiefe der Konzeption
fasziniert, weil ihre Aussage zu den eigenen Spekulationen über das Weltgeheimnis passt. Dieser
Mann würde dann zwar die Inhalte der christlichen Glaubenslehre für wahr halten, aber alio
modo quam per fidem, «auf andere Weise als die des Glaubens»21. Er wird vielleicht unangefochtenen Gemütes meinen, ein «gläubiger Christ» (31) zu sein; und auch andere mögen
ihn dafür halten. Möglicherweise kommt der Irrtum erst in der Situation des Konflikts an den
Tag; dann wird es offenbar, dass, was da «zusammenbricht», mancherlei sonst gewesen sein
mag: eine Art «Lebensphilosophie» oder ein «ideologisches» Wunschdenken oder der Respekt
vor der Tradition – keinesfalls aber Glaube im strikten Sinn.
Würde man einen wahrhaft Glaubenden fragen: Was eigentlich glaubst du? – dann bräuchte
er nicht sosehr inhaltlich Einzelnes zu nennen; sondern er müsste, falls er ganz präzis sein
wollte, auf seinen Gewährsmann zeigen und zur Antwort geben: Ich glaube das von jenem
Gesagte. Damit hätte er das entscheidende gemeinsame Merkmal aller von ihm im einzelnengeglaubten Sachverhalte genannt, das, was ihn veranlasst, sie alle für wahr zu halten; er hätte
den Grund angegeben, weswegen er das einzelne als Wahrheit akzeptiert. Der Grund ist nämlich
nichts anderes als dass jener Jemand es so gesagt hat. «In allem Glauben ist der, dessen Aussage
man zustimmt, das Entscheidende [ principale]; demgegenüber sind die Inhalte, denen man
zustimmt, in gewissem Sinn sekundär» – so Thomas von Aquin in seinem Traktat über den
Glauben.22 (32)
Denkt man dies folgerichtig weiter, so ergibt sich, dass also Glauben selbst dann noch nicht
«rein» verwirklicht ist, wenn einer die Aussage eines anderen, dem er vertraut, als Wahrheit
akzeptiert, sondern erst dann, wenn er dies aus keinem anderen Grunde tut, als weil jener andere
solches sagt.23 Natürlich ist das eine sehr extreme Vorstellung, die fast schon ins Irreale zu
geraten scheint. Normalerweise geht es ja unter Menschen so zu, dass zwar der eine dem
anderen traut und glaubt, dass er aber dessen Aussagen nicht ausschließlich «auf sein Wort hin»
als wahr gelten lässt, sondern auch wegen ihrer inneren Wahrscheinlichkeit, weil sie zu dem
schon Gewussten stimmen – und so fort. Dennoch liegt mir daran, die Präzisierung des formalen
Glaubensbegriffs sozusagen auf die Spitze zu treiben, weil erst dann, unversehens, etwas bis
dahin Verborgenes sich deutlich zeigt. Wenn wirklich jenes Äußerste einmal zuträfe [dass
nämlich einer, ohne jeden Anhaltspunkt sonst, aus keinem anderen Grund, als weil jemand
anders so sagt, etwas vorbehaltlos als Wahrheit akzeptierte], dann müsste der in solch
radikalem Sinn Glaubende konsequenterweise (33) alles, was sein Gewährsmann etwa sonst
gesagt hat oder in Zukunft noch sagen wird, gleichfalls für wahr halten. Dies aber braucht man
nur einen Augenblick zu bedenken, und schon ist über allen Zweifel klar: So etwas kann es
legitimerweise im Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht geben. Glaube in jenem äußersten
Sinn, wie ihn der Ausdruck «an jemanden glauben» spiegelt, darf unter mündigen Menschen
weder geleistet noch gefordert werden. [Das unmündige Kind glaubt, was die Mutter sagt, aus
keinem anderen Grund, als weil sie es sagt. Dass es aber für das Kind keinen anderen Grund gibt,
etwas für wahr zu halten: genau dies macht seine Unmündigkeit aus.]
21 II, II, 5, 3; vgl. II, II, 5, 3 ad 1.22 II, II, 11, 1.23 B. H. Merkelbach sagt in seiner Summa Theologiae Moralis [Paris 21935], vol. I, 534: Propriissime
credimus ea quae nobis non sunt evidentia, sed quae non dubitando admittimus unice propter testimoniumseu auctoritatem alterius… etiam si non appareat testimonium esse verum.
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Die lebendig gesprochene Sprache hält hier eine Bestätigung bereit, die eine gewisse
Aktualität besitzt. Vorausgesetzt, es würde einer in Bezug auf einen anderen Menschen im vollen
Ernst sagen, er glaube «an» ihn, und er würde mit dieser sprachlichen Fügung all das meinen,
was sie wirklich besagt [dass man nämlich bereit sei, als wahr und gültig zu akzeptieren, was
immer dieser andere sagt und sagen wird, auch wenn man daraufhin das eigene Leben ändern
müsste] – dann ist es, scheint mir, die Sprache selbst, die uns, vielleicht schon nicht mehrbesonders deutlich, aber immer noch vernehmlich, zu verstehen gibt, dass hier eine Grenze
überschritten wird. In «Grimms Deutschem Wörterbuch», in dem Artikel «Glauben», (34) der erst
im Jahre 1936 erschienen ist, findet man diese Grenzüberschreitung folgendermaßen
beschrieben24: «Aus dem Bereich des Übernatürlich-Religiösen wird ‹Glaube› im 18. Jahrhundert
mit besonderem Sinngehalt auf das Gebiet des Natürlich-Diesseitigen übertragen und bedeutet
hier zumeist ein starkes gefühlsmäßiges Verhältnis zu innerweltlichen Werten, Idealen,
Persönlichkeiten usw., das an innerer Kraft und sittlichem Gehalt dem religiösen ‹Glauben›
verwandt erscheint» – wofür dann folgende sprachliche Belege angeführt werden: «Glaube an
sich selbst», «Glaube an die Menschheit», «Glaube an Deutschland», «Glaube an den Führer».
Mich dünkt, die sinistre Wortprägung, die den Schluss der Reihe bildet, ist hier auf ebensozutreffende wie bedenkenswerte Weise in ihren «genealogischen» Zusammenhang gestellt.
Noch einmal, wo immer im Verhältnis von Mensch zu Mensch «Glaube» im strikten Sinn
gefordert oder geleistet wird, da geschieht etwas Unmenschliches; es geschieht etwas, das wider
die Natur des menschlichen Geistes ist, etwas, das mit seiner Begrenztheit ebensowenig
vereinbar ist wie mit seiner Würde. Die Alten haben das auf ihre gelassenere Weise so
ausgedrückt: «Die Erkenntnis des einen Menschen ist nicht von Natur solchermaßen auf die
Erkenntnis eines anderen Menschen (35) hingeordnet, dass jene in dieser ihr Richtmaß hätte»25;
das heißt: kein mündiger Mensch ist von Natur einem anderen so sehr geistig unterlegen oder
überlegen, dass einer dem anderen als einer schlechthin geltenden Autorität gegenüberstünde.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass dieser Gedanke auf etwas anderes hinaus will. Er zielt
darauf, die Bedingungen abzustecken, unter welchen Glaube im vollen und strikten Sinn
überhaupt etwas sinnvoll Mögliches sein könnte. Eine wesentliche Bedingung ist: dass es
Jemanden gibt, der unvergleichlich höher über dem mündigen Menschen steht als dieser über
dem unmündigen, und dass dieser Jemand auf eine dem Menschen vernehmliche Weise
gesprochen hat.
Allein unter dieser Voraussetzung steht es dem Menschen an, einfachhin zu glauben. Einzig
dann ist es erlaubt und zumutbar. Freilich ist Glaube dann auch gefordert und notwendig. Vor
allem aber ist er, falls jene Bedingung erfüllt ist, dem Menschen «natürlich», das heißt, seinerBegrenztheit wie seiner Würde gemäß. (36)
III
Zu mancherlei Dingen kann der Mensch gezwungen werden, und nicht weniges mag er
widerwillig tun. Aber: glauben kann man nur, wenn man will. Vielleicht offenbart sich mir die
Glaubwürdigkeit eines Menschen so überzeugend, dass ich nicht anders kann als zu denken: es
ist unrecht, ihm nicht zu glauben; ich «muss» ihm glauben. Aber dieser letzte Schritt kann nur in
völliger Freiheit getan werden, und das heißt, dass man ihn auch unterlassen kann. Zwingende
24 Bd. IV, I, 4; Sp. 7816.25 3 d 24, 3, 2 ad 1.
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Argumente für die Glaubwürdigkeit eines Menschen mag es genug geben; aber kein Argument
kann uns zwingen, ihm zu glauben.26
Die Einhelligkeit der Auskünfte über diesen Punkt ist erstaunlich; und die Übereinstimmung
reicht von Augustin und Thomas zu Kierkegaard, Newman und André Gide. – Der augustinische
Satz aus dem Johannes-Kommentar ist berühmt: Nemo credit nisi volens, «niemand glaubt, es seidenn freien Willens»27. Kierkegaard sagt, vieles könne ein Mensch für einen anderen tun, «aber
ihm (37) den Glauben zu geben, vermag er nicht »28. Newman wiederholt in vielen Formulierungen
den einen Gedanken, dass Glaube etwas anderes sei als das Resultat einer theoretischen
Argumentation; er sei gerade nicht a conclusion from premises: «Sobald du überzeugt bist, dass
du glauben müsstest, hat die Vernunft das Ihre getan; was nun vonnöten ist zum Glauben ist
nicht ein Argument, sondern ein Willensakt»29. Und André Gide? In den allerletzten
Aufzeichnungen, die er seinen «Tagebüchern» noch hat folgen lassen30, sind dies Sätze zu lesen:
«Es ist in den Worten Christi mehr Licht als in jedem anderen menschlichen Wort. Dies scheint
jedoch nicht zu genügen, damit einer Christ sei. Man muss überdies noch ‹glauben›. Nun, ich
‹glaube› nicht .» – Was alles miteinander offenbar Folgendes bedeutet: Es ist eine Sache, etwas,das ein anderer gesagt hat, «interessant» zu finden, «klug », «richtig», «großartig», «genial» oder
gar schlechthin «wahr»; man kann sich möglicherweise genötigt fühlen, dies alles völlig
aufrichtigen Herzens zu denken und zu sagen. Dennoch ist es eine ganz andere Sache, die gleiche
Aussage auf die Weise des (38) Glaubens anzunehmen. Damit diese ganz andere Sache, der Glaube,
zustande komme, muss «überdies» eine freie willentliche Zustimmung geleistet sein: Glaube
beruht auf Wollen31.
Dies kann auch gar nicht anders sein. Wenn der Wissende sagt «So ist es und nicht anders»,
dann vermag er so zu sprechen, weil der Sachverhalt selbst sich ihm zeigt; die Wahrheit nötigt
ihn dazu. «Wahrheit» besagt ja nichts anderes als das Sich-zeigen dessen, was ist. Eben dies Sich-
zeigen des Sachverhalts aber widerfährt dem Glaubenden nicht. Nicht die Wahrheit also nötigt
ihn, den Sachverhalt zu akzeptieren. Ihn bewegt vielmehr die Einsicht, dass es gut sei, den
Sachverhalt auf die Aussage von jemand anders hin für wahr und wirklich zu halten. Auf das
Gute aber antwortet nicht das Erkennen, sondern das Wollen.32 So ist, wo immer (39) einer im
strikten Sinn glaubt, auf besondere Weise der Wille im Spiel, der Wille des Glaubenden selbst.
26 Christian Pesch, Praelectiones Dogmaticae [Freiburg 1908-1916], Bd. 8, S. 127 f.27 Wörtlich lautet der Text so: Intrare quisquam ecclesiam potest nolens, accedere ad altare potest
nolens, accipere Sacramentum potest nolens: credere non potest nisi volens. In Johannis evangelium tract.26, 2; Migne PL 35, 1607.
28
Über den Glauben. Religiöse Reden [übers. Theodor Haekker; Leipzig 1936], S. 49.29 Brief an Mrs. W. Fronde vom 27.6.1848. Vgl. Wilfried Ward, The Life of John Henry Cardinal Newman [New York 1912], Bd. I, S. 242.
30 André Gide, So sei es oder Die Würfel sind gefallen [Stuttgart 1953], S. 150.31 [Fides] quae in voluntate est… Augustinus, De praedestinatione Sanctorum, cap. 5, 10; Migne PL 44,968. Vgl. auch II, II, 6, 1 ad 3.32 Scientia et intellectus habent certitudinem per id quod ad cognitionem pertinet… Fides autem
habet certitudinem ab eo quod est extra genus cognitionis, in genere affectionis existens. 3 d. 23, 2, 3, 1 ad2. – Quandoque… intellectus… determinatur… per voluntatem, quae eligit assentire uni parti determinateet praecise propter aliquid quod est sufficiens ad movendum voluntatem, non autem ad movendumintellectum, utpote quod videtur bonum vel conveniens huic parti assentire: et ista est dispositiocredentis. Ver. 14, 1. – Alio modo intellectus assentit alicui, non quia sufficienter moveatur ab obiectoproprio, sed per quandam electionem voluntarie declinans in unam partem magis quam in aliam; et si
quidem hoc sit… cum certitudine…, erit fides. II, II, 1, 4. – Bonum, quod movet affectum, se habet in actufidei sicut primum movens. Ver. 14, 2 ad 13. – Intellectus credentis assentit rei creditae non quia ipsamvideat… sed propter imperium voluntatis moventis intellectum. II, II, 5, 2. – Credere… non habet assensum
nisi ex imperio voluntatis. Ver. 14, 3.
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Der Wille hat sogar in der Glaubenserkenntnis den Vorrang, er ist das Wichtigste.33 Ich glaube,
nicht weil ich etwas Wahres sehe, einsehe, erschließe, sondern weil ich etwas Gutes will.
Man kann so etwas kaum aussprechen, ohne zugleich beunruhigt zu sein durch die tausend
fast unvermeidlichen Missverständnisse, denen man sich damit aussetzt, ja die man geradezu
ermutigt und herausfordert. Von den gebräuchlichsten dieser Missverständnisse soll dahersogleich die Rede sein.
Wenn wirklich der Glaubende «nicht durch die Erkenntniskraft, sondern durch den
Willen»34 dazu bestimmt wird, zu glauben: was eigentlich ist dann das Gewollte; worauf zielt
dieses Wollen; was ist sein Gegenstand? – Man hat hierauf geantwortet, das Gewollte sei eben
der Glaubensakt selbst: der Glaubende glaubt, weil er glauben will. Diese Antwort aber hat nichts
zu tun mit dem, was in der (40) abendländischen Lehre vom Glauben über die Rolle des Willens
gesagt wird. Natürlich kann es, psychologisch betrachtet, ein solches «Glauben-wollen»
durchaus geben. Und der Pragmatismus hat keineswegs unrecht, zu behaupten, es sei ein
Bedürfnis der menschlichen Natur, zu glauben. Aber es ist unsinnig, zu meinen, die
Rechtfertigung des Glaubens könne darin liegen, dass er jenes Bedürfnis befriedige.35 Wer so
denkt, hat im Gegenteil auf eine Rechtfertigung in Wahrheit bereits verzichtet; er hat schon dem
Verdacht recht gegeben, der besagt, dass Glauben eine völlig irrationale Sache sei, eine
intellektuelle Unsauberkeit, etwas, das nicht bestehen könne vor der Wahrheitsverpflichtung
des Geistes. – Ganz und gar undiskutierbar wäre natürlich erst recht die Vorstellung, der
Vorrang des Willens im Glaubensakt könne so zu deuten sein, dass der Glaubende wünsche, es
möge sich wirklich so verhalten, wie er glaubt. Also: «Ich glaube an ein Ewiges Leben» – weil ich
will, dass es ein Ewiges Leben gibt? Das kann unmöglich gemeint sein; darüber braucht man kein
weiteres Wort zu verlieren. Immerhin gibt es den alten Satz, wonach die Erkenntnis des
Glaubenden sich auf das richte, was er erhofft und liebt.36 Es ist im Glaubensakt also sehr (41)
wohl ein Willens-Engagement in Bezug auf den geglaubten Sachverhalt im Spiel. Glaube ist als
lebendiger menschlicher Akt gar nicht erwartbar, es sei denn, der zu glaubende Sachverhalt
werde vom Menschen als etwas ihn wirklich Angehendes erfahren, als ein Gegenstand von
Hoffnung, Sehnsucht, Liebe und in solchem Sinn als ein Ziel des Wollens. Dennoch kann
unmöglich dieses Wollen gemeint sein, wenn gesagt wird, die Glaubenszustimmung komme vom
Willen her in Gang.
Noch immer also ist die Frage offen: Worauf bezieht sich das den Glauben unterscheidend
kennzeichnende Wollen – wenn es sich weder auf den Akt noch auf den Inhalt des Glaubens
richtet? Die Antwort aber lautet so: Der Wille des Glaubenden richtet sich auf die Person des
Zeugen und Bürgen.
An diesem Punkte freilich finden wir uns aufgefordert, die uns gewohnte, aktivistisch
eingeengte Vorstellung von Wollen ein wenig zu korrigieren. Wollen heißt ja nicht nur, «sich auf
Grund von Motiven… für Handlungen… entscheiden»37; Wollen ist nicht bloßes Tun-Wollen; es
richtet sich nicht allein auf etwas, das erst noch «herbeigeführt» werden soll und also noch nicht
wirklich ist. Vielmehr gehört, so sagen die Alten, zum Wollen auch dies: dass man «will», bejaht,
liebt, was bereits wirklich ist. Lieben besagt: das Sein des Geliebten, das ich (42) schon vorfinde,
33 In cognitione… fidei principalitatem habet voluntas. C. G. 3, 40.34 Intellectus credentis determinatur ad unum non per rationem, sed per voluntatem. II, II, 2, 1 ad 3.35 Vgl. William James, Der Wille zu glauben [Stuttgart 1899], S. 60 ff; S. 91.36 Per fidem apprehendit intellectus quae sperat et amat. I, II, 62, 4.37 Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 670.
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mit- und nachvollziehen. Es ist übrigens nicht völlig genau, zu sagen, in der überlieferten
Vorstellung vom Wollen sei die Liebe als etwas «auch» Dazugehöriges gedacht; sie ist vielmehr
gedacht als der Ur-Akt des Willens, als die Grundgestalt allen Wollens und als der innebleibende
Ursprung jeglicher Willensregung.38
Noch einmal also: Was ist es, das der Glaubende will, indem er glaubt? Antwort: Es ist derBürge und Zeuge, den der Glaubende bejaht, liebt, «will», indem er, auf sein Wort hin, für wahr
hält, was er sagt. Dieser völlig freie, ganz und gar unerzwingbare Akt der Bejahungskraft, zu dem
ich weder durch die Unwidersprechlichkeit des Vor-Augen-Liegenden noch durch das Gewicht
von Argumenten genötigt werden kann; diese vertrauende, anerkennende, Gemeinschaft
suchende Zuwendung des Glaubenden zu dem Zeugen, dem er glaubt – genau dies ist das
«Willenselement» im Glauben selbst.
Der große deutsche Theologe Matthias Joseph Scheeben39 hat diese Verknüpfung in einem
langen, zunächst etwas schulmäßig und altmodisch wirkenden Satz ausgesprochen, der aber
zugleich eine sehr lebendige und vor allem äußerst präzise Äußerung (43) ist: «Die Zustimmung
[assensus] des Verstandes in die bezeugte Wahrheit erfolgt nur insofern und dadurch, dass der
Wille… die Beistimmung [consensus] oder die Übereinstimmung mit dem Urteile des Redenden,
die Teilnahme an und die Gemeinschaft in seiner Erkenntnis, also eine geistige Vereinigung mit
ihm als ein Gut erstrebt und herbeiführen will und so den Verstand bewegt, auf die Einsicht des
Zeugen sich ähnlich zu stützen, als wäre es die eigene – ‹so dass er40 zu dem, was der andere
erkennt und was ihm selbst unbekannt ist, genauso ’steht‘ wie zu dem, was er selber erkennt›». –
Das «Gut» also, auf das der Wille des Glaubenden sich richtet, ist die Gemeinschaft mit dem, der
als Augenzeuge oder Wissender sagt «so ist es»; es ist die Gemeinschaft, die eben hierin sich
realisiert und darlebt, dass der Glaubende, indem er dieses «so ist es» wiederholt, als Wahrheit
akzeptiert, was der andere sagt und zwar weil er es sagt. – Die knappste Formulierung, auf
welche dieser Gedanke vermutlich überhaupt gebracht werden kann, findet sich in den Oxforder
Universitäts-Ansprachen von John Henry Newman: We believe, because we love; «wir glauben,
weil wir lieben»41. (44)
Gemeinschaft, geistige Vereinigung, Liebe – das sind freilich große Worte. Und es könnte
einer wohl auch mit einigem Missbehagen zu bedenken geben, ob sie nicht zu groß seien, wenn
es sich um etwas schließlich so Alltägliches handle wie das Einander-Glauben-Schenken im
gewohnten mitmenschlichen Umgang. Dennoch lässt sich kaum bestreiten, dass selbst das große
Wort «Liebe» den Sachverhalt nicht eigentlich verfehlt. Vielleicht wird das erst dem deutlich, der
den Gegenstand auf dem dunklen Grunde einer Kontrast-Realität zu sehen vermag. Es bedarf
dazu keiner schwierigen gedanklichen Operation; die Kontrast-Realität ist unserer Erfahrungkeineswegs fremd. Ich meine das mitmenschliche Leben unter den Bedingungen der
Gewaltherrschaft. Weil, wie der gebräuchliche Ausdruck lautet, keiner mehr dem andern trauen
kann, versiegt die unbefangene Mitteilung; und es entsteht jene besondere Art von unguter
Wortlosigkeit, die eher Verstummtheit denn Schweigen ist. Erst solche Erfahrungen setzen uns
in den Stand, das gar nicht Selbstverständliche, das wahrhaft Erstaunliche überhaupt zu
bemerken, das darin liegt, dass die Menschen arglos miteinander reden. Auf dem Grunde solchen
38 Amor est principium omnium voluntariarum affectionum. Car. 2; vgl. I, 20, 1.39 M. J. Scheeben, Handbuch der Dogmatik [I. Bd., hrsg. M. Grabmann; Freiburg 21948], S. 291; nr. 633.40 An dieser Stelle beginnt ein Thomas-Zitat: … ut stet illis quae alius scit et sunt sibi ignota, sicut his
quae ipse cognoscit. In Trin. 3, 1.41 J. H. Newman, Die Liebe als Schutzwache des Glaubens gegen den Aberglauben. Zur Philosophie und
Theologie des Glaubens I, S. 82.
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Kontrastes wird plötzlich wahrnehmbar, wieviel an mitmenschlicher Verbundenheit, an
wechselseitiger Bejahung, an Gemeinschaft in dem schlichten Faktum realisiert ist, dass einer
dem andern zuhört und ihm also zunächst (45) einmal traut und «glaubt». Man soll so etwas
gewiss nicht romantisieren; und mit den großen Worten soll man nur ja sparsam umgehen. Aber
es darf auch nicht verschwiegen und zugedeckt werden, dass jeder, der ohne Falsch zu einem
anderen spricht, auch wenn es sich noch gar nicht um «vertrauliche» Rede handelt, tatsächlicheine Hand hinhält und Gemeinschaft anbietet, wie anderseits jeder, der ihm guten Glaubens
zuhört, das Angebot annimmt und die Hand ergreift. Eben diese Zuwendung des Willens, für
welche, zugegeben, «Liebe» ein vielleicht zu großer, aber kaum ein völlig unpassender Name
wäre – diese vertrauende Bejahung des Partners aber ist es, wodurch eine auf keine Weise sonst
zu realisierende Gemeinsamkeit des Besitzes entsteht und wodurch es geschieht, dass der
Hörende Anteil gewinnt an der Erkenntnishabe dessen, der weiß.
Der theologische Satz, wonach der Glaube den Menschen mit dem Wissen Gottes selbst in
Kontakt bringe42, benennt sehr genau die Chance, die sich jedem, der einem Glaubwürdigen
glaubt, und nur ihm, eröffnet: dass er nämlich in den Stand gesetzt wird, mit den Augen desunmittelbar Sehenden etwas zu gewahren, das seinem eigenen Blick niemals erreichbar wäre.
Dies aber ist die Frucht (46) jener liebenden Zuwendung, auf welcher der Glaube nicht allein
beruht, die ihn vielmehr überhaupt erst zum Glauben macht. (47)
IV
Glauben heißt: teilhaben an der Erkenntnis eines Wissenden. Wenn es also niemanden gibt,
der sieht und weiß, dann kann es mit Fug auch niemanden geben, der glaubt. Ein Sachverhalt,
den jedermann kennt, weil er offen zutage liegt, kann ebensowenig Gegenstand des Glaubens
sein wie einer, den niemand kennt – und der also auch von niemandem bezeugt werden kann.43
Glaube kann sich ja nicht selbst legitimieren, sondern allein dadurch, dass ein Jemand existiert,
der das zu Glaubende aus Eigenem kennt, und dass es eine Verbindung mit diesem Jemand
gibt.44
Damit ist mehreres gesagt, vor allem dies: Glauben ist seiner Natur nach etwas Zweites. Wo
immer sinnvollerweise geglaubt wird, da ist jemand anders, auf den sich der Glaubende stützt;
und dieser andere ist nicht wiederum ein Glaubender. Sehen und Wissen sind demnach das in
der Rangfolge Frühere und Höhere. Das ergibt sowohl die nüchterne Befragung des
menschlichen Denk- und Sprachgebrauchs wie auch die Interpretation des Glaubensbegriffs der
abendländischen Theologie. Weder hier (49) noch dort bleibt Raum für jene romantische
Absolutsetzung, die den Glauben als etwas Äußerstes und Höchstes deutet, das nicht mehr
überboten werden könne. Bei Newman steht der einigermaßen aggressive Satz zu lesen: «Der
Glaube muss sich schließlich auf Schauen und Vernunft zurückführen lassen können– wenn wir
es nicht mit den Phantasten halten wollen»45.
Die Rangordnung also, an deren erster Stelle nicht Glauben steht, sondern Sehen und
Wissen – diese Rangordnung wird in der überlieferten Lehre vom Glauben nicht nur nicht
42 … fides, quae hominem divinae cognitioni conjungit per assensum… Ver. 14, 8.43 Utroque … modo tollitur fides: tam scil. per hoc quod aliquid est totaliter manifestum quam etiam
per hoc quod a nullo cognoscitur, a quo possit testimonium audiri. III, 36, 2 ad 1.44 Oportet cognitionem eorum, de quibus est fides, ab eo derivari, qui ea ipse videt. C. G. 3, 154. Vgl. I,
12, 13 ad 3.45 J. H. Newman, Glaube und Vernunft als Haltungen des Geistes. Zur Philosophie und Theologie des
Glaubens I, S. 148.
7/14/2019 Josef Pieper - Über den Glauben
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angetastet, sondern ausdrücklich bestätigt. Visio est certior auditu, sagt Thomas46; Sehen ist
mehr als Hören. Das heißt im Selbersehen ist mehr an Kontakt zur Realität verwirklicht, mehr an
Wirklichkeitshabe als in dem Wissen, das auf Hören beruht.
Dies freilich bedarf sogleich einer wichtigen Ergänzung, man könnte auch sagen: einer
Korrektur. Der eben angeführte Satz aus der Summa Theologica ist unvollständig zitiert; erbeginnt so: Ceteris paribus visio est certior auditu…; unter sonst gleichen Bedingungen ist Sehen
mehr als Hören. Das heißt: wenn beide Möglichkeiten mir gleichermaßen offenstehen, wenn ich
die Wahl habe – (50) dann wähle ich das Wissen auf Grund von Sehen und nicht das auf Grund von
Hören.
Aber vielleicht steht es um den Menschen so, dass er nicht oder nicht immer wählen kann?
Was ist zu tun, wenn die Entscheidung so lautet: entweder überhaupt kein Zugang zu einem
bestimmten Sachverhalt oder ein Wissen auf Grund von Hören; entweder eine unvollkommene
Kenntnis also oder überhaupt keine Kenntnis? Es bleibt, wie gesagt, völlig unangetastet
bestehen, dass ceteris paribus Selbersehen mehr ist als Hören. Was aber, wenn Selbersehen
unmöglich ist? Soll man, statt einen weniger vollkommenen Zugang zur Realität in Kauf zu
nehmen, lieber auf jeden Zugang überhaupt verzichten – nach dem heroischen Leitsatz «alles
oder nichts»? Genau das ist die Frage, vor welcher jeder steht, der sich zu entscheiden hat
zwischen Glauben oder Nicht-Glauben.
Setzen wir den Fall eines Naturforschers, der sich um das Jahr 1700 die Aufgabe gestellt
hätte, die «Blütenstaub»-Körner bei den ihm bekannten Pflanzen zu beschreiben. Zweifellos
wäre er sehr wohl imstande gewesen, mit bloßem Auge und mit Hilfe einfacher Lupen nicht
wenig durch «Selbersehen» herauszufinden. Er hätte freilich möglicherweise auch den Besuch
eines Fachgenossen bekommen können, der bei Antoni van Leeuwenhoek in Delft solchen
Blütenstaub unter einem der ersten Mikroskope betrachtet hatte. Dieser Besucher hätte (51) ihmetwa berichtet, die schwarzen Körnchen, die einem beim Abstreifen einer Mohnblüte in der
Hand bleiben, seien in Wahrheit äußerst regelmäßig durchstrukturierte geometrische Gebilde
von immer wiederkehrender Gestalt, klar unterscheidbar von den Pollenkörnern aller anderen
Blütenpflanzen – und so fort. Nehmen wir des Weiteren an, dass jener Mann keine Möglichkeit
gehabt hätte, selber durch ein Mikroskop zu sehen, und dass sein Besucher nichts erzählt hätte,
als was er wirklich wahrgenommen hatte. Würde er unter dieser Voraussetzung nicht einfachhin
mehr Wahrheit, und das heißt, mehr Realität zu fassen bekommen, wenn er sich nicht darauf
versteifte, allein das für wahr und wirklich zu halten, was er selbst mit eigenen Augen sähe,
sondern wenn er es fertig brächte, dem Besucher zu «glauben»? Wie also steht es in solcher
Situation mit der Rangordnung zwischen dem Kenntnishaben auf Grund von Selbersehen unddem Kenntnishaben auf Grund von Hören? Hat nicht nun doch das Hören und Glauben den
Vorrang?
Dies ist der Punkt, endlich den noch immer nicht vollständig angeführten Satz von Thomas
unverkürzt zu zitieren: «Unter sonst gleichen Bedingungen ist Sehen mehr als Hören; wenn aber
der, von dem man hörend etwas erfährt, weit mehr zu erfassen vermag, als was man selber
sehend zu Gesicht bekommt, dann ist Hören mehr als Sehen»47. (52) Natürlich ist das zunächst
gemünzt auf den Glauben im theologischen Sinn. Aber es gilt für allen Glauben sonst auch,
46 II, II, 4, 8 ad 2.47 Ceteris paribus visio est certior auditu; sed si ille, a quo auditur, multum excedit visum videntis, sic
certior est auditus quam visus. II, I, 4, 8, ad 2.
7/14/2019 Josef Pieper - Über den Glauben
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dessen Chance darin liegt, dass der Glaubende eines Wissens teilhaftig wird, über das er von sich
aus nicht schon verfügt.
Ein Spruch aus Hesiods «Werken und Tagen»48 zielt auf den gleichen Sachverhalt. Das
Weisesein mit dem Kopf von jemand anders, so etwa heißt es da, sei zwar geringer als das
Selberwissen, aber es wiege unendlich mehr als der sterile Hochmut dessen, der dieUnabhängigkeit des Wissenden nicht zustande bringt und zugleich die Abhängigkeit des
Glaubenden verachtet.
Nicht nur muss der, dem ich glaube, aus Eigenem wissen, was ich in der Weise des Glaubens
als Wahrheit akzeptiere; und nicht nur kann der, auf den ich glaubend mich verlasse, unmöglich
wiederum ein Glaubender sein müssen. Sondern dies Sich-Verlassen selbst, der entscheidende
Akt im (53) Vollzug des Glaubens, muss gleichfalls, um verantwortbar zu sein, in einem Wissen
gründen, und zwar in einem Wissen des Glaubenden selber. Auch dies ist eine mögliche
Bedeutung des Satzes, dass Glauben auf Wissen beruhe.
Zwar ist das vertrauende Sich-Verlassen ein von Natur freier Akt, wozu der Glaubendedurch keine noch so «zwingende» Argumentation genötigt werden kann; aber dieser Akt
geschieht dennoch nicht ins Blaue hinein und nicht ohne Grund, nicht ohne die Überzeugung
zum Beispiel von der Glaubwürdigkeit dessen, auf den man sich verlässt. Diese Überzeugung
aber kann nicht wiederum Glaube sein müssen; die Glaubwürdigkeit dessen, dem man glaubt,
kann nicht wiederum geglaubt werden müssen; man muss sie wissen können. Freilich ist der
Sachverhalt einigermaßen verwickelt.
In dem Modellfall vom Heimkehrer lässt sich das im strikten Sinn Geglaubte ganz klar
benennen. Es ist die Nachricht, dass mein Bruder am Leben sei. Der Verlässlichkeit und
Glaubwürdigkeit des Zeugen aber habe ich mich auf andere Weise versichert, durch Erprobung,kritische Beobachtung und unmittelbare Erfahrung. Immerhin wäre es denkbar, dass mir diese
Glaubwürdigkeit wiederum durch jemand anders bezeugt würde, etwa durch einen meiner
Freunde, der, wie sich beiläufig herausstellt, meinen Gewährsmann sehr genau kennt; es würde
also noch einmal ein Glaubensakt (54) sein, der mich der Glaubwürdigkeit des Heimkehrers sicher
sein lässt. Dennoch ist klar, dass die Überzeugung «Mein Bruder lebt» nicht nur einen anderen
Inhalt hat und auf andere Weise zustande gekommen ist als die Überzeugung «ein
Gewährsmann ist glaubwürdig», sondern dass diese beiden Glaubensakte sich auf zwei völlig
verschiedene Bezeugungen zweier verschiedener Bürgen stützen. Es zeigt sich das
Selbstverständliche, dass die Voraussetzungen des Glaubens nicht der Gegenstand dieses
gleichen Glaubens sein können.
Das eigentliche Gewicht dieser These tritt, wiederum, erst im theologischen Bereich zutage.
– Man könnte sich den folgenden Dialog denken: «Auf Grund von was eigentlich bist du davon
überzeugt, dass es ein Ewiges Leben gibt?» – «Auf Grund göttlicher Offenbarung; der schlechthin
Wissende und Wahrhaftige hat es gesagt – und ich glaube ihm.» – «Auf Grund von was bist du
dessen sicher, dass es so etwas wie Gott überhaupt gibt und dass er schlechthin wissend und
wahrhaftig ist?» Hierauf kann offenbar nicht geantwortet werden: «Ich glaube es». Es muss,
vorsichtiger gesagt, zum mindesten eine Möglichkeit geben, zu antworten: «Ich weiß es.» – Doch
48 Werke und Tage 293 ff. – Die Stelle wird sowohl von Aristoteles [Nikomachische Ethik , I, 2; 1095 b]
wie auch von J. H. Newman [Grammar of Assent , S. 342] zitiert. Leider entspricht die herzhafteAnschaulichkeit der Newmanschen Fassung, von Theodor Haecker ebenso in die deutsche Übersetzungeingebracht [J. H. Newman, Philosophie des Glaubens; München 1921, S. 291], nicht dem ursprünglichenWortlaut.
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könnte in jenem Dialog auch die folgende Frage gestellt werden: «Auf Grund von was bist du
dessen sicher, dass Gott überhaupt gesprochen und dass er tatsächlich gesagt hat, es gebe ein
Ewiges Leben?» Auch hierauf (55) könnte legitimerweise nicht wiederum mit einem
Glaubensbekenntnis geantwortet werden.
Wenn es dem Menschen verwehr ist, mit seiner natürlichen Kraft ein irgendwie geartetesWissen davon zu gewinnen, dass Gott existiert; dass er die Wahrheit selbst ist; dass er
tatsächlich zu uns gesprochen hat, und was diese göttliche Rede sagt und meint – dann ist
Offenbarungsglaube als ein sinnvoller menschlicher Akt gleichfalls nicht möglich [als einen
menschlichen Akt aber versteht die Theologie auch den Akt des «übernatürlichen»,
«eingegossenen» Glaubens: wir selbst sind es, die glauben!]. Zugespitzt formuliert: wenn allesGlaube sein soll, dann gibt es überhaupt keinen Glauben.
Genau dies meint die alte Vorstellung von den praeambula fidei; die Voraussetzungen des
Glaubens sind nicht ein Teil von dem, was der Glaubende glaubt 49; sie gehören vielmehr zu dem,
was er weiß oder zum mindesten muss wissen können. Dass es dabei, entsprechend dem
durchschnittlichen Lauf der Dinge, immer nur wenige sind, die das an sich Wissbare wirklich
wissen, ist eine andere Sache und jedenfalls kein ins Gewicht fallender Einwand gegen die
Gültigkeit des Satzes: cognitio fidei praesupponit cognitionem naturalem50, der (56) Glaube setzt
eine nicht wiederum glaubende, auf jemand anders sich verlassende, sondern eine aus Eigenem
wissende Erkenntnis voraus.
Nirgendwo allerdings steht geschrieben, diese cognitio naturalis müsse immer oder primär
in der Weise des rationalen, schlussfolgernden Denkens gewonnen sein. – «Glaubwürdigkeit»
zum Beispiel ist eine Person-Qualität, die folglich nur auf solche Weise erkannt wird, wie auch
sonst die Erfassung einer Person sich zuträgt; und natürlich hat auf diesem Felde das
syllogistisch argumentierende Denken nicht allzu viele Möglichkeiten. Wenn wir den Blick auf einen Menschen richten, dann gibt es einerseits die Chance einer so raschen, tiefdringenden und
unmittelbaren Erkenntnis, wie sie jeder noch so exakt messenden Konstatierung von
Naturtatsachen fremd ist; anderseits ist solche «intuitive» Erkenntnis vielleicht weder
nachprüfbar noch zu beweisen. Sokrates hat von sich selbst gesagt, er vermöge einen Liebenden
sogleich zu erkennen. Woran erkennt man so etwas? Niemand, auch nicht Sokrates, hat auf diese
Frage je eine durch Nachprüfung erweisliche Antwort zu geben gewusst – obwohl er anderseits
unbeirrt darauf bestehen würde, es handle sich nicht um bloße Impression, sondern um
objektive, das heißt, in der Begegnung mit der Realität zustande gekommene, wahre Erkenntnis.
(57)
Natürlich soll, vor allem im Bereich der religiösen Wahrheit, die Unerlässlichkeit und das
Gewicht einer rational nachprüfbaren Argumentation [etwa für die Existenz Gottes, für die
historische Authentizität der Bibel – und so fort] nicht im mindesten bestritten werden. Aber es
leuchtet mir ebensosehr ein, dass man hat sagen können, wer immer es unternehme, den
Glauben gegen die Argumente des Rationalismus zu verteidigen, müsse vielleicht, bevor er auf
diese Argumente sich einlasse, die Frage erörtern: «Wie erfassen wir eine Person?»51 (58)
49 Deum esse et alia hujusmodi, quae per rationem naturalem nota possunt esse de Deo, non sunt
articuli fidei, sed praeambula ad articulos. I, 2, 2 ad 1; vgl. 3 d. 23, 2, 5 ad 5.50 Ver. 14, 9 ad 8; I, 2, 2 ad 1.51 Jean Mouroux, Ich glaube an Dich. Von der personalen Struktur des Glaubens [Einsiedeln 1951], S.
36.
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V
Niemand, der glaubt, muss glauben; Glaube ist ein von Natur freier Akt. Die Einsicht in die
Glaubwürdigkeit des Zeugen kann niemals dazu hinreichen, einen Menschen zum Glauben zu
nötigen; und der Sachverhalt, dessen Offenbarkeit den Erkennenden sehr wohl zu bezwingen
vermag, zeigt sich dem Glaubenden gerade nicht. Immer also ist der Glaubende, indem er glaubt,frei. Wie übrigens dies so ist, darum ist der Glaube ein in besonderem Maße unaufhellbares
Phänomen. Nicht allein der religiöse Offenbarungsglaube, sondern auch das Glaubenschenken
der Menschen untereinander ist, weil aus der Freiheit entspringend, von Natur dem Geheimnis
benachbart und verwandt.
Der Glaubende also könnte auch anders; er könnte auch nicht-glauben. Da nun aber
anderseits «Gewissheit» soviel besagt wie eine Art Festlegung auf eine einzige Möglichkeit,
darum ist es von Anfang an nicht anders zu erwarten, als dass es mit der Gewissheit desGlaubenden eine besondere Bewandtnis haben müsse.
Es gibt nicht wenige Definitionen von «Gewissheit»; sie lassen sich, wie mir scheint, auf zwei
Grundformen zurückführen. Die eine versteht unter Gewissheit eine «feste, d. h. unter
Ausschluss jeden Zweifels als endgültig gesetzte Zustimmung»52. (59) Es ist sofort klar, dass es zur
Natur des Glaubens, und nicht nur des religiösen, gehört, in solchem Sinn ganz und gar gewiss zu
sein. Vom Begriff selbst her ist es ausgeschlossen, dass Glaube und Ungewissheit
zusammenbestehen könnten. – Die andere, gleichfalls gebräuchliche Kennzeichnung besagt,
Gewissheit sei eine «feste, in der Evidenz des Sachverhalts begründete Zustimmung»53, wobei
die «Evidenz» des Sachverhalts nichts anderes meint als sein Zutageliegen, dem dann auf der
Seite des Subjekts die klare Erkenntnis ebendieses gleichen Sachverhalts entspricht. So gesehen,
kann selbstverständlich kein Glaubender Gewissheit haben – den Glauben heißt: einen nicht zutageliegenden Sachverhalt dennoch vorbehaltlos als wahr und wirklich akzeptieren.
Dieses merkwürdige Beieinander von Gewissheit und Ungewissheit, das die innere
Situation des Glaubenden nicht allein kennzeichnet, sondern geradezu ausmacht, ist nun des
Näheren zu bedenken. – Thomas hat den doppelgesichtigen Sachverhalt auf eine knappe
Formulierung54 gebracht, die (60) besagt, es finde sich im Glauben aliquid perfectionis et aliquid imperfectionis, ein Element von Vollkommenheit und eines von Unvollkommenheit; die
Vollkommenheit liege in der Festigkeit der Zustimmung, die Unvollkommenheit liege darin, dass
kein Sehen zustande komme; dies aber habe zur Folge, dass im Glaubenden eine «Denk-Unruhe»
zurückbleibe55.
Das lateinische Wort, das hier mit «Denk-Unruhe» übersetzt ist, heißt: cogitatio. Es ist der
Mühe wert, einen Augenblick den Sinn dieses Wortes, den man einigermaßen zu kennen glaubt,
zu bedenken. Das Wort ist so wichtig, dass die Überlieferung es in die kürzeste Umschreibung
des Begriffs «Glauben» aufgenommen hat, die es gibt; sie lautet so: cum assensione cogitare56.
Wollte man hierfür im Deutschen sagen: «mit Zustimmung ‹denken›», dann wäre das nicht bloß
52 Walter Brugger, Philosophisches Wörterbuch [Freiburg 1947], S. 132.53 Ebd.54 Fides habet aliquid perfectionis et aliquid imperfectionis: perfectionis quidem est ipsa firmitas,
quae pertinet ad assensum; sed imperfectionis est carentia visionis, ex qua remanet adhuc motus
cogitationis in mente credentis. Ver. 14, 1 ad 5.55 Motus cogitationis in ipso remanet inquietus. Ver. 14, 1 ad 5.56 Die Formulierung findet sich zuerst bei Augustinus [De praedestinatione Sanctorum, cap. 2, 5];
Thomas baut seine Analyse des Glaubensaktes ausdrücklich darauf auf; vgl. II, II, 2, 1.
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allzu vag und farblos, sondern man hätte den Sinn dieser präzisen Formulierung offenbar gar
nicht zu fassen bekommen. Thomas selbst versteht sie ausdrücklich als eine erschöpfende
Kennzeichnung der Struktur des Glaubensaktes.57 Es kommt also darauf an, möglichst (61) genau
zu sehen, was hier mit cogitare gemeint ist. Gemeint ist das forschende Untersuchen, das
suchende Bedenken, ein Mit-sich-zu-Rate-Gehen vor der Entscheidung, ein Auf-der-
Spur-Sein, ein denkendes Trachten nach etwas noch nicht endgültig Gefundenem58 –
was alles miteinander mit dem Namen «Denk-Unruhe» einigermaßen adäquat benannt
sein dürfte.
Es ist also die Verknüpfung von endgültiger Zustimmung und dennoch
verbleibender cogitatio, das heißt, das Beieinander von Ruhe und Unruhe, wodurch der
Glaubende unterscheidend gekennzeichnet ist. – Es gibt nur eine einzige Gestalt der
Stellungnahme, der jede Denk-Unruhe fremd ist: das ist die Zustimmung auf Grund
unmittelbarer Einsicht. Wenn der Sachverhalt vor Augen liegt, kann es keine
Unsicherheit geben; der Schauende ist ganz und gar ruhig und gestillt. Dass anderseits Zweifeln und Meinen notwendigerweise von «Denk-Unruhe» begleitet sind, ist klar. Wie
aber steht es mit dem auf Schlussfolgerung beruhenden Wissen? «Gewusst» wird der
Schlusssatz eines Beweises. Das diskursive Hin und Her, die «Unruhe» der
Argumentation liegt ihm, wie etwas nun Vergangenes, voraus; dennoch bleibt diese
Unruhe latent im (62) Resultat des Wissens, als seine fortwährende Bedingung,
anwesend. Im Glauben aber sind beide Elemente ex aequo59 gleichberechtigt,
gleichzeitig, gleichmächtig: die Zustimmung und die Denk-Unruhe. «Die Bewegung [des
Geistes] ist noch nicht gestillt; vielmehr ist in ihm noch immer forschendes Bedenken
dessen, was er glaubt – wiewohl er doch dem Geglaubten mit völliger Festigkeit, firmissime, zustimmt»60. – Das «wiewohl» deutet auf den explosiven Charakter der
Verbindung hin. Es handelt sich nicht eigentlich um ein Miteinander, eher schon um so
etwas wie ein Gegeneinander ungestilltes Weiterdenken trotz unerschütterter
Zustimmung.
Es ist erstaunlich, mit welch unumwundener Offenheit ein Theologe wie Thomas
dieses Unsicherheitselement im Glaubensakt beschreibt. Es gehöre geradezu, so sagt er,
im Unterschied zu Einsicht und Wissen, zur Natur des Glaubens selbst, dass Zweifel
möglich werden61. Möglich aber seien sie deswegen, weil der Erkenntniskraft des
57 In hoc intelligitur tota ratio hujus actus qui est credere. II, II, 2, 1. – Cum assensione cogitareseparat credentem ab omnibus aliis. 3 d. 23, 2, 2, 1.
58 Cogitatio proprie dicitur motus animi deliberantis, nondum perfecti per plenam visionem veritatis.II, II, 2, 1. – Cogitatio … proprie in inquisitione veritatis consistit , quae in Deo locum non habet. I, 34, 1 ad2.
59 In fide est assensus et cogitatio quasi ex aequo. Ver. 14, 1.60 Ver. 14, 1.61 In credente potest insurgere motus de contrario hujus quod firmissime tenet. Ver. 14, 1. – Credenti
accidit aliquis motus dubitationis ex hoc quod intellectus ejus non est terminatus secundum se in suiintelligibilis visione. 3 d. 23, 2, 2, 3 ad 2.
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Glaubenden nicht wirklich Genüge geschehen sei; vielmehr bewege sich der Geist, indem
er glaube, (63) nicht auf seinem eigenem, sondern auf fremdem Boden62.
«Zweifel» und cogitatio sind natürlich nicht dasselbe. Der Zweifel schränkt die
Vorbehaltlosigkeit der Zustimmung ein; aber das, was hier mit «Denk-Unruhe» gemeint ist,
kommt gerade erst dadurch in Gang, dass die Glaubenszustimmung bedingungslos und ohneEinschränkung geleistet wird. Doch muss hiervon noch etwas genauer und konkreter
gesprochen werden. – Bevor jener Heimkehrer die Nachricht von meinem für tot gehaltenen
Bruder brachte, gab es eigentlich keine Unruhe; an ihre Stelle war die Endgültigkeit der
Resignation getreten. Das ändert sich plötzlich, schon mit der Nachricht selbst. Sie stellt mich vor
allem vor die Frage, ob ich ihr glauben soll oder nicht. Doch ist dies eine andere Art Unruhe als
die, von welcher jetzt die Rede ist. Jene Unruhe wird ja aufgehoben durch meinen Entschluss, die
Nachricht für wahr zu halten; sie ist im gleichen Augenblick abgetan, in welchem ich «glaube».
Übrigens wäre sie genau ebenso aus der Welt geschafft worden durch die Entscheidung, nicht zu
glauben. Erst jetzt aber wird, durch die Glaubenszustimmung selbst, eine (64) neue Unruhe
geweckt und geradezu verursacht. Nachdem und weil ich die Nachricht bedingungslos für wahrhalte, lässt es mir keine Ruhe, ein Bild zu gewinnen von der Realität, die sich in der Nachricht
zwar zeigt, aber auch verbirgt. Und zugleich weiß ich, dass mir das nie gelingen wird. Ebendies
ist die «Denk-Unruhe», welche durch nichts anderes als durch die Überzeugung von der
Wahrheit des Geglaubten hervorgerufen wird und also die nicht wegzudenkende Begleitung des
Glaubensaktes selbst ist. Es kann gar nicht anders sein, als dass der Glaubende ein in solchem
Sinn Beunruhigter ist. «Die Erkenntnis des Glaubens stillt nicht das Verlangen; sie entfacht es
eher»63.
Doch muss noch einmal die ex aequo gültige Kehrseite der Münze in die Erinnerung gerufen
werden: dass nämlich die Festigkeit der Zustimmung des Glaubenden zur Wahrheit desGeglaubten nicht im mindesten durch jene «Denk-Unruhe» berührt und eingeschränkt wird–
wofern es sich wirklich um Glauben handelt. Mit dieser Festigkeit ist aber nicht nur die rein auf
den Willen gestellte, «gewollte» Unbeirrbarkeit der nun einmal getroffenen Entscheidung
gemeint, sondern auch die ruhige Sicherheit des Hinblickens auf jene Realität, die sich in der
Aussage des Zeugen zwar verbirgt, (65) aber auch zeigt. Auf Realität nämlich und nicht auf eine
Nachricht oder eine Botschaft zielt in Wahrheit der Akt des Glaubens; «er macht nicht halt bei
etwas Gesagtem, sondern bei dem, was ist»64. Dieser Wirklichkeit wird der Glaubende in
bestimmtem Sinn durchaus teilhaftig; er berührt sie, sie wird für ihn gegenwärtig und anwesend
– je mehr er sie, auf Grund der liebenden Identifizierung mit dem Zeugen, mit dessen Augen und
von dessen Standort aus zu gewahren vermag.
So haben die großen Lehrer keine Bedenken, eines Augenblicks die von ihnen selbst
aufgerichteten sprachlichen Schranken wieder zu durchbrechen und den Glauben dennoch eine
«Erkenntnis», eine «Einsicht» und ein «Wissen» zu nennen65 oder auch vom «Licht des
Glaubens» zu sprechen, wodurch es geschehe, «dass man sieht, was man glaubt»66.
62 Quantum … est ex seipso, non est ei [scil. intellectui credentis] satisfactum, nec est terminatus adunum, sed terminatur tantum ex extrinseco. Et inde est quod intellectus credentis dicitur esse captivatus,quia tenetur terminis alienis et non propriis. Ver. 14, 1.
63 Cognitio … fidei non quietat desiderium, sed magis ipsum accendit. C. G. 3, 40.64 Actus … credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem. II, II, 1, 2 ad 2.65 Ver. 14, 2 ad 15.66 Lumen fidei facit videre ea quae creduntur. II, II, 1, 4 ad 3.
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Freilich kann die Sicherheit des Glaubenden sich unmöglich weiter erstrecken als die
Einsicht und die Verlässlichkeit des Zeugen, auf welchen er sich stützt, indem er glaubt. Wenn es
also in der alten Lehre vom Glauben immer wieder heißt, die Glaubensgewissheit übertreffe die
Gewissheit von Wissen (66) und Einsicht um ein Unendliches67, dann darf man nicht die
Begründung übersehen, auf welcher dieser Satz beruht. Der Grund für jene unvergleichlich
höhere Gewissheit liegt nämlich nicht darin, dass es sich eben um Glaubens-Gewissheit handle,sondern darin, dass der Glaubende es mit einem Zeugen zu tun habe, dessen Einsicht und
Wahrhaftigkeit alles menschliche Maß unendlich übersteigt. Glaube ist gewisser als jede
denkbare menschliche Einsicht – nicht sofern er Glaube ist, sondern sofern er sich mit Fug auf
ein Reden Gottes beruft. (67)
VI
Wer ohne weitere Hinzufügung vom «Glauben» oder von einem «gläubigen» Menschen
spricht, der pflegt ausschließlich die religiöse Bedeutung dieses Begriffs zu meinen.
«Vorzüglicherweise», so heißt es bei Kant, besagt Glaube soviel wie «die Annehmung derGrundsätze einer Religion»68.
Es ist jedoch nicht so, als sei nur ein weiterer Schritt auf einem schon gebahnten Wege zu
tun, damit man von dem bisher Erörterten zu diesem religiösen Glaubensbegriff gelange.
Natürlich ist anderseits dieser Begriff nicht etwas völlig Neues. Vielmehr hält sich die bis hierher
dargelegte Bedeutung des Wortes «Glauben» in allen ihren Elementen identisch durch. Nach wie
vor heißt Glauben: etwas uneingeschränkt als wahr und wirklich akzeptieren auf das Zeugnis
von jemand anders, der den Sachverhalt aus Eigenem kennt. Es verliert auch nichts von dem
seine Gültigkeit, was bis jetzt darüber gesagt worden ist, dass Glauben und Glaubenschenken im
mitmenschlichen Bereich nicht allein etwas Sinnvolles sei, sondern etwa Unentbehrliches unddurchweg auch etwas Selbstverständliches. Dennoch ist mit alledem keineswegs auch schon der
religiöse Glaube als etwas Sinnvolles (69) oder gar Notwendiges erwiesen; es ist noch nicht einmal
erwiesen, dass er überhaupt legitimerweise möglich ist. Dazu müssen noch einige weitere
Bedingungen erfüllt sein, die sich keineswegs von selbst verstehen; es sieht fast im Gegenteil so
aus, als tendiere der Mensch dahin, sie gerade nicht zu realisieren, soweit es dabei auf ihn
ankommt. Noch einmal, was hier gefordert ist, das ist nicht einfach ein weiterer Schritt auf dem
Wege, sondern ein Sprung.
Zuvor aber muss präziser gesagt werden, wie der Begriff «religiöser Glaube» verstanden
sein soll. Die Kantsche Kennzeichnung [«Annehmung der Grundsätze einer Religion»] ist
offenbar ebenso zutreffend wie unbestimmt. Und auch wenn Thomas sagt, der Glaube beziehe
sich auf die Wirklichkeit Gottes, sofern sie dem Erkennen des Menschen unerreichbar sei69, so ist
damit das Entscheidende noch nicht zur Sprache gebracht. Niemals, so haben wir gesagt, liegt
das Entscheidende des Glaubens in den Sachverhalten, die geglaubt werden. Nicht mit einem
Sachverhalt nämlich hat der Glaubende, wo auch immer er anzutreffen sei, es primär zu tun,
sondern mit einem Jemand. Dieser Jemand, der Zeuge, der Gewährsmann ist «die Hauptsache»70,
67 3 d. 23, 2, 2, 3.68 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [hrsg. K. Vorländer; Philosophische
Bibliothek; Leipzig 1950], S. 182.69 Objectum fidei est res divina non visa. III, 7, 3. – Est autem objectum fidei aliquid non visum circa
divina. II, II, 1, 6.70 Quia … quicumque credit, alicujus dicto assentit, principale videtur esse … in unaquaque
credulitate ille cujus dicto assentitur. II, II, 11, 1.
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(71) da ja, ohne die Bezeugung durch ihn, der Sachverhalt gar nicht geglaubt würde. Ebendies aber
macht den entscheidenden Unterschied aus zwischen dem religiösen Glauben und jedem
anderen Glauben sonst: der Jemand, auf dessen Bezeugung hin der im religiösen Sinn Glaubende
einen Sachverhalt als wahr und wirklich akzeptiert – dieser Jemand ist Gott selbst. Das
Unterscheidende also ist, dass auf eine kaum irgendwo sonst in der Welt anzutreffende Weise71
der Inhalt der Bezeugung und die Person des Zeugen miteinander identisch sind: Gott selbst macht dem Menschen die res divina non visa, das heißt sein eigenes, dem Menschen
natürlicherweise verborgenes Sein und Wirken offenbar; und der Mensch glaubt dem sich selbst
offenbarenden Gott: Cui magis de Deo quam Deo credam; «wem sollte ich in Bezug auf Gott eher
glauben als Gott?»72
An diesen letzten Satz, der von Ambrosius stammt, knüpft sich eine Unterscheidung, die
Augustinus in einem klassisch gewordenen Text 73 (71) formuliert hat. Dreierlei wird
unterschieden: Deo credere, Deum credere, in Deum credere. «Deo credere heißt: glauben, dass
wahr ist, was Gott sagt…; so glauben wir auch einem Menschen, während wir nicht ‹an› einen
Menschen glauben. Deum credere heißt: glauben, dass Er Gott ist. In Deum credere heißt:glaubend lieben, glaubend zu Ihm hingehen, glaubend Ihm anhangen und Seinen Gliedern
zugesellt werden.» Thomas von Aquin, der seinerseits diesen Text kommentiert 74, setzt den
Akzent auf die Einheit der drei Aspekte: da seien nicht drei verschiedene Akte, sondern es sei ein
und derselbe Akt 75, in welchem der Mensch Gott [Deo, Deum] und an Gott [in Deum] glaube76. –
von solcher Art also ist die Aktstruktur des religiösen Glaubens, wovon jetzt zu sprechen ist.
Es ist hier ein Wort darüber zu sagen, dass von diesem Gegenstand auch weiterhin in der
Weise der philosophierenden Betrachtung gesprochen werden wird: dies ist ein philosophischer Traktat. Das besagt zunächst, dass es sich also um etwas anderes als Theologie handle. Versteht
man unter «Theologie» (72) den Versuch, die Dokumente der heiligen Überlieferung und der in
ihr eingekörperten Offenbarung zu interpretieren, dann würde eine theologische Lehre vom
Glauben vor allem darzulegen haben, was in jenen Urkunden über den Glauben gesagt ist. Es
würde zum Beispiel die Rede sein vom Glauben in seiner Zuordnung zu Inkarnation, Gnade,
Taufe, Kirche oder vom Glauben als einer Vorgabe der jenseitigen Gottesschau – und so fort. Von
solchen Themen also wird ein philosophischer Traktat über den Glauben füglich schweigen.– Es
könnte sinnvollerweise auch eine psychologische Erörterung des Glaubens als eines empirisch zu
beschreibenden seelischen Aktes geben, der in einem bestimmten Motivationszusammenhang
zustande zu kommen pflegt. Und selbstverständlich gibt es die Möglichkeit einer
religionsgeschichtlichen Betrachtung des Phänomens «Glaube». Etwas demgegenüber völlig
anderes ist die philosophische Betrachtungsweise. Sie unterscheidet sich von der
«wissenschaftlichen» des Psychologen und Historikers vor allem dadurch, dass der
Philosophierende den zur Rede stehenden Gegenstand nicht unter einem ausdrücklich
formulierten, speziellen Aspekt ins Auge fasst, sondern dass er ihn unter jedem denkbaren
Betracht, vor dem Horizont der Gesamtwirklichkeit, auf seine letztgründige Bedeutung hin
71 Vgl. hierzu das im Schlusskapitel [S. 112] Gesagte.72 Ambrosius, Zweiter Brief an Kaiser Valentinian. Migne PL 16, 1015.73 Augustinus, Enarr. in psalmos 77, 8 [Migne PL 36, 988]; In Johannis evangelium tract. 29, 6 [Migne
PL 35, 1630]; Sermo de Symbolo, cap. 1 [Migne PL 40, 1190]. – Der Gedanke ist von Petrus Lombardus insein «Sentenzenbuch» aufgenommen worden, das Jahrhunderte hindurch das theologische Schulbuch des
Abendlandes gewesen ist [vgl. Liber sententiarum III, dist. 23, cap. 4].74 3 d. 23, 2, 2, 2; vgl. auch II, II, 2, 2.75 II, II, 2, 2 ad 1.76 3 d. 23, 2, 2, 2 ad 1; vgl. Ver. 14, 7 ad 7.
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befragt; er fragt nach dem Sinn und Ort von «Glauben» inmitten der gesamten Erstreckung (73)
menschlicher Realität. Was ihn dabei vom Theologen unterscheidet, ist Folgendes: Der Blick des
Theologen ist auf die Urkunden der heiligen Überlieferung gerichtet, die zu interpretieren sein
Amt ist. Der Blick des Philosophierenden hingegen richtet sich formell auf die in der Erfahrung
begegnende Realität. Da er sie allerdings, wie schon gesagt, unter jedem denkbaren Aspekt
betrachtet, wäre es unphilosophisch, irgendeine erreichbare Auskunft über die Wirklichkeit ausdem Gesichtsfeld auszuschließen, sei dies nun eine Auskunft der Einzelwissenschaften oder eine
Auskunft der Theologie – womit schon deutlich sein dürfte, auf welch anspruchsvolle, aber auch
schwierige und anfechtbare Sache der Philosophierende sich einlässt; man möchte sie fast
hoffnungslos nennen, wäre nicht das Philosophieren selbst ein Akt der Hoffnung.
Nach dem zuvor Gesagten ist völlig klar, dass der religiöse Glaube nicht einfach eine Art
Fortsetzung, Entfaltung oder Weiterentwicklung von «Glauben überhaupt» ist. Man kann alles,
was bisher über den Glauben gesagt worden ist, für ganz und gar zutreffend halten und dennoch
vor einem unübersteigbaren Hindernis stehen – sobald man sich aufgefordert sieht, den
religiösen Glauben als etwas Sinnvolles oder gar Notwendiges gelten zu lassen, gar nicht zureden von der Aufforderung, ihn existentiell zu vollziehen. (74)
Das Hindernis, das übersprungen werden muss, besteht zum Beispiel in der Schwierigkeit,
zu verstehen, warum es eigentlich um den Menschen so bestellt sein sollte, dass er nicht
auskommt mit dem, was ihm natürlicherweise zugänglich ist. Warum sollte der Mensch auf
Auskünfte angewiesen sein, die er selbst nicht nur niemals finden könnte, sondern die er auch
schlechterdings nicht auf ihre Wahrheit hin nachzuprüfen vermag. Zwar ist alles Geglaubte
nicht-nachprüfbar für den Glaubenden; aber das Besondere des religiösen
Offenbarungsglaubens liegt darin, dass diese Nichtnachprüfbarkeit ihren Grund sowohl in der
Natur der Nachricht wie in der Natur des Empfängers hat und also nicht aus der Welt zu schaffen
ist. Die Botschaft, dass Gott Mensch geworden sei, um uns eine Teilhabe am Leben Gottes zu
ermöglichen, kann niemals von einem Menschen, und wäre er noch so genial oder noch so heilig,
kritisch mit der Realität verglichen werden, von der sie Kunde gibt. Das ist prinzipiell unmöglich.
– Und doch ist dies erst ein Element der Zumutung, die in der Aufforderung enthalten ist, an
solche Dinge wie die Menschwerdung Gottes zu glauben. Wir sind damit ja nicht allein
aufgefordert, einen auf keine Weise nachprüfbaren Sachverhalt als wahr und wirklich zu
akzeptieren; wir sind überdies an einen Zeugen verwiesen, der uns einerseits nie unmittelbar,
wie sonst ein menschlicher Partner, begegnet, der aber (75) anderseits Anspruch erhebt auf eine
so absolute, bedingungslose Zustimmung, wie wir sie in keinem anderen Fall zu leisten bereit
sind.
Schon diese simple Umschreibung dessen, was im Akt des religiösen Offenbarungsglaubens
geschieht, bringt deutlich das Hindernis vor die Augen, das zu «nehmen» uns zugemutet wird. Es
gehe, so sagt Romano Guardini, heutigentags nicht sosehr darum, ob dieser oder jener
Glaubenssatz wahr sei; vielmehr werde es dem Menschen schwer, zu begreifen, «wie überhaupt
zur Glaubensforderung berechtigte Inhalte in das Leben eintreten können»77.
«Wo das Wissen genügt, bedürfen wir des Glaubens nicht» – das ist ein Satz78, der sich
zunächst recht plausibel anhört. Die Frage ist aber, woran man erkennt, «wo» das Wissen
77 R. Guardini, Der Glaube in der Reflexion. In: Unterscheidung des Christlichen [Mainz 1935], S. 245.78 Dies ist eine Äußerung Goethes, die allerdings unvollständig zitiert ist. Der vollständige Satz lautet
so: «Wo das Wissen genügt, bedürfen wir freilich des Glaubens nicht, wo aber das Wissen seine Kraft nicht bewährt oder ungenügend erscheint, sollen wir auch dem Glauben seine Rechte nicht streitig machen.» Zu
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«genügt» und «wo» nicht. Natürlich kann niemand sagen, ob etwas «genügt», ohne
mitzubedenken, «wozu» es genügen soll. Wer also fragt, ob dem Menschen das natürlicherweise
Erkennbare nicht «genug» sein könnte, (76) der vermag nur dann zulänglich zu antworten, wenn
er zugleich sagt, was er unter einem sinnvollen menschlichen Leben versteht, das heißt, unter
einem Leben, das nicht nur dem wahren Wesen des Menschen selbst, sondern auch seiner
wirklichen Situation in der Welt entspricht.
Wer zum Beispiel davon überzeugt ist, dass der Mensch von Natur im Kraftfelde einer
schlechthin übermenschlichen Realität lebt und dass ihm von dorther Weisung und Auskunft
zuteil werden kann; wer, anders ausgedrückt, eine an den Menschen gerichtete göttliche Rede
als etwas Mögliches oder gar Erwartbares anerkennt – der hat eben damit schon gesagt: das
eigene natürliche Wissen sei, falls Gott wirklich sollte zum Menschen gesprochen haben, nicht «genug» für ein wahrhaft menschliches Leben. Die Überzeugung von der Möglichkeit von
Offenbarung schließt also nicht nur eine bestimmte Gottesvorstellung ein, sondern auch eine
bestimmte Vorstellung vom metaphysischen Wesen des Menschen.
Es ist klar, dass Offenbarung undenkbar ist, wenn nicht Gott als ein redefähiges, personales
Wesen gedacht wird. Diese Gottesvorstellung aber hat, sobald sie im Ernst realisiert wird, etwas
den natürlichen Menschen Schockierendes. «Es ist immer erschreckend»– sagt C. S. Lewis in
seinem Buche über das Wunder – «dort etwas Lebendiges anzutreffen, wo wir ganz allein zu sein
meinten. (77) ‹Gib acht!›, schreien wir dann, ‹das ist lebendig!› … Ein unpersönlicher Gott – schön
und gut! Ein subjektiver Gott des Wahren-Schönen-Guten, hinter unserer Stirn– das ist noch
besser! Eine gestaltlose Lebenskraft, eine uns durchflutende Potenz, aus der wir schöpfen
können – das ist von allem das Beste! Aber : Gott selber, der Lebendige, der am anderen Ende der
Schnur zieht, der vielleicht mit ungeheurer Schnelligkeit auf uns zukommt, der Jäger, der König,
der Bräutigam – das ist etwas ganz und gar anderes!... Es kommt ein Augenblick, da Menschen,
die in Religion herumgestümpert haben [‹des Menschen Suche nach Gott!›] plötzlich
zurückschrecken: angenommen, wir hätten Ihn wirklich gefunden!... Schlimmer noch,
angenommen, Er hätte uns gefunden! – Das ist dann eine Art Rubikon; der eine überschreitet
ihn, der andere nicht. Wenn man ihn aber überschreitet, dann gibt es keine Sicherheit gegen
Wunder; dann kann man sich auf schlechterdings alles gefasst machen»79. Dem habe ich nur dies
hinzuzufügen: Wird Gott gedacht als ein personales Wesen, als ein Wer also und nicht als ein
Was, als ein Jemand, der reden kann, dann gibt es keinerlei Sicherheit gegen – Offenbarung. (78)
Dies ist aber nicht die einzige Voraussetzung, die realisiert sein muss, wenn der religiöse
Offenbarungsglaube als ein lebendiger menschlicher Vollzug überhaupt erwartbar werden soll.
Der Mensch muss außerdem auch sich selber verstanden haben als ein Wesen, das von Naturoffen ist und erreichbar für die Rede Gottes. Ich meine jetzt nicht nur und auch nicht primär die
Offenheit des menschlichen Geistes zu der vor Augen liegenden Weltwirklichkeit hin, worin das
unterscheidend Eigentümliche aller geistigen Wesen besteht. Geist kann ja geradezu definiert
werden als «Empfänglichkeit für Sein». Und auch dies erkennende Aufnehmen von Wirklichkeit
kann, weil die Dinge kraft ihres Ursprungs aus dem kreatorischen Logos Gottes selbst «Wort-
Charakter»80 besitzen, als das Vernehmen einer göttlichen Rede begriffen werden. Hier aber ist
nicht die Offenheit für diese «natürliche» Offenbarung Gottes in der Schöpfung gemeint, sondern
die Fassungskraft für eine neue, das in der natürlichen Weltwirklichkeit bereits «Gesagte»
J. D. Falk am 25. Januar 1813 [Artemis-Ausgabe von Goethes Werken, Briefen und Gesprächen, Bd. 22,Zürich 1949, S. 680].
79 C. S. Lewis, Wunder [Köln und Olten 1952], S. 107 f.80 R. Guardini, Welt und Person [Würzburg 1940], S. 110.
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überbietende, unmittelbare Rede Gottes, die allein im strikten Sinn «Offenbarung» genannt wird.
Und auch die Offenheit hierfür muss als eine dem menschlichen Geiste von Natur zukommende
Eigentümlichkeit verstanden sein; sonst kann der Glaube nicht als eine dem Menschen
zumutbare (79) Sache aufgefasst werden. Jene besondere Offenheit kommt allerdings dem
menschlichen Geiste nicht auf Grund seiner Geistigkeit zu, sondern auf Grund seiner
Kreatürlichkeit. Kreatur-sein heißt: das eigene Sein und Wesen ständig aus dem kreatorischengöttlichen Ursprung empfangen und insofern niemals endgültig fertig sein. Anders als die vom
Menschen gemachten Werke, die eines Augenblicks «abgeschlossen» sind, bleiben die
kreatürlichen Dinge ins Unabsehbare weiterhin bildbar, weil sie niemals unabhängig werden
können von der seinsmitteilenden Kraft des Creator ; sie hören nicht auf, Ton zu sein «in des
Töpfers Hand»; sie bleiben von Natur, kraft ihrer Kreatürlichkeit, ständig eines neuen Eingriffs
von seiten Gottes gewärtig81 – mag dieser Eingriff geschehen in Gestalt jener Lebensmitteilung,
welche die Theologie «Gnade» nennt, oder auch in Gestalt von Offenbarung.
Es ist einigermaßen wichtig zu sehen, dass die Offenheit für eine mögliche Offenbarung
ihrerseits nicht etwas «Übernatürliches» ist, dass sie vielmehr zum natürlichen Seinsbestand desmenschlichen Geistes gehört, und zwar aus dem gleiche Grunde, dessentwegen die Seele vonNatur fähig ist, das «übernatürliche» Neue Leben der Gnade zu (80) empfangen [naturaliter animaest gratiae capax 82]. Das zu sehen ist deswegen wichtig, weil damit einschlussweise gesagt ist,
dass also auch der Offenbarungsglaube selber etwas in gewissem Sinn Natürliches ist.83 Es ist
dem Menschen nicht nur zumutbar, zu glauben; sondern: nicht zu glauben wäre, wenn Gott auf
eine dem Menschen vernehmliche Weise gesprochen hat, geradezu wider die menschliche Natur.
Unglaube, sofern er die Weigerung bedeutet, der vernehmlich gewordenen Rede Gottes zu
glauben, verletzt nicht bloß eine sozusagen (81) «innertheologische» Satzung; er verletzt vielmehr
eine Norm, die mit der natürlichen Existenzsituation des Menschen in der Welt unmittelbar
gegeben ist; Unglaube widerspricht dem, was der Mensch von Natur ist.84
Freilich ist es eine Sache, diesen Gedanken von der seinshaften Offenheit des Geistes inabstracto, wie den Lehrsatz einer philosophischen Anthropologie, anzuerkennen; und es ist eine
andere Sache, ihn wahrhaft zu vollziehen. Und natürlich ist Offenbarungsglaube als lebendiger
Akt nur erwartbar, wenn jenes Selbstverständnis des Menschen, über das bloße Denken hinaus,
den inneren Stil des Daseins prägt und bestimmt; wenn, anders ausgedrückt, die zum Wesen des
geschaffenen Geistes gehörende Offenheit und Empfänglichkeit existentiell «realisiert» wird.
81 Es ist dieses ontische, seinsmäßige Gewärtigsein, das mit dem Fachwort potentia oboedientialis
gemeint ist.82 I, II, 113, 10 – Thomas zitiert im Sed contra dieses Artikels das Wort von Augustinus: «den Glaubenhaben können wie auch die Liebe haben können, gehört zur Natur der Menschen, aber den Glauben habenwie auch die Liebe haben, gehört zur Begnadung der Gläubigen» [ De praedestinatione Sanctorum, cap. 5,10; Migne PL 44, 968].
83 Es gibt auch eine übertriebene Vorstellung von der Übernatürlichkeit des Glaubens. Es ist zwarrichtig, dass uns im Glauben Dinge gewahrbar werden, die unsere natürliche Vernunft nicht erkennt.Dennoch geschieht damit etwas völlig anderes, wie wenn etwa das sinnliche Auge plötzlich in den Standgesetzt würde, nicht nur sinnlich wahrzunehmen, sondern begrifflich zu erkennen; damit würde die Naturdes Sinnesorgans einfach aufgehoben sein. Die Natur des geistigen Erkenntnisvermögens wird jedochnicht im mindesten aufgehoben, wenn unser Geist «Gott glaubt, wie ein Lernender seinem Lehrmeisterglaubt» [II, II, 2, 3]. Ein sinnliches Vermögen kann schlechterdings nicht «lernen», begrifflich zu denken.Was aber die menschliche Vernunft «lernt», indem sie dem Worte Gottes glaubt, das geht nicht in
demselben Sinn über ihre natürliche Kraft hinaus; es gehört nämlich zur Natur des geistigen Wesens,einen unmittelbaren Bezug, eine seinsmäßige Offenheit zu besitzen zum Ursprungsgrunde aller Dinge hin,immediatum ordinem ad Deum [II II, 2, 3].
84 Infidelitas … est contra naturam. II, II 10, 1 ad 1.
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Dazu allerdings ist die volle uneingedämmte Energie und zugleich die äußerste
seismographische Empfindlichkeit und Wachheit des Herzens gefordert. Denn es gibt unendlich
viele und verborgene, oft genug kaum kenntliche Möglichkeiten des Sich-Verschließens.
Zweifellos gibt es zum Beispiel einen Mangel an Offenheit, der – ohne irgendeinen
ausdrücklichen Gestus der Abweisung und Verweigerung – nichts anderes ist als
Unaufmerksamkeit . Gabriel Marcel ist der Meinung, (82) das Leben dieser unserer Zeit habe dieTendenz, solche Unaufmerksamkeit, die faktisch den Glauben zu etwas Unwahrscheinlichem
mache, nicht allein zu begünstigen, sondern beinah zu erzwingen.85 In den «Pensées» von Pascal
findet sich ein Aphorismus, der zu verstehen gibt, wie leicht man sich, nahezu guten Gewissens,
dem Ganzen der Wahrheit verschließen kann: «Wenn ihr euch nicht darum Sorge macht, die
Wahrheit zu erkennen, dann ist genug Wahrheit vorhanden, damit ihr in Frieden leben könnt.
Wenn euch aber mit ganzem Herzen danach verlangt, sie zu erkennen, dann ist es nicht
genug»86. Es macht nicht allzuviel Schwierigkeit, sich zu beruhigen bei dem, was man schon weiß
[«wo das Wissen genügt…»]; wer sich aber dem Ganzen der Wahrheit bis ins Innerste öffnet, der
erwartet, da er von nichts das Ganze sieht, über das bereits Gewusste hinaus immer noch ein
neues Licht.
Wer immer auf solche Weise um das Ganze der Wahrheit besorgt ist, der wird sich vielleicht
zu einer sehr besonderen Form von kritischer Vorsicht gedrängt sehen. Das Besondere daran ist,
dass sie durchschnittlich eher als das Gegenteil gilt, als der Ausdruck nämlich einer geradezu
unkritischen (83) Geistesart. Für einen kritischen Betrachter wird man durchweg den halten, der
nichts als wahr und gültig annimmt, das nicht der eigenen exakten Prüfung standgehalten hat.
Was aber ist mit dem anderen, der in der Befürchtung, es könnte ihm auf solche Weise vielleicht
ein Element des Wahrheitsganzen entgehen, lieber eine weniger vollkommene Vergewisserung
in Kauf nimmt als eine mögliche Einbuße an Wirklichkeitskontakt? Kann nicht auch er
beanspruchen, kritisch zu denken?87 Es lässt sich in der Tat darüber streiten, welche ärztlicheVerfahrensweise, wenn es um die Rettung des nackten Lebens geht, die «kritischere» ist: die,
welche ausschließlich das durch und durch Erprobte gelten lässt, oder die, welche alles irgend
Vertretbare in Betracht zieht, selbst wenn zunächst nur eine Wahrscheinlichkeitsvermutung
dafür spricht. [Und dass es wirklich «ums Leben geht», dass eine eigens an den Menschen
gerichtete Rede Gottes nicht von Belanglosigkeiten handeln kann – dies freilich darf
vorausgesetzt werden.] Jedenfalls aber kann der, dem es vor allem darum zu tun ist, nur ja nichts
zu versäumen und auszulassen von dem Ganzen solcher lebenswichtigen Wahrheit, kaum als
«unkritischer Geist» getadelt werden, wenn er es vorzieht, «nicht zu warten auf den denkbar
perfekten Beweis». (84) «Er wird seine Vorsicht nicht darin zeigen, dass er, angesichts des
Berichtes von einer göttlichen Offenbarung, in unerschütterter ‹Objektivität› verharrt, sonderndarin, dass er sich ihr öffnet, selbst wenn sie eindeutiger bezeugt sein könnte».88 So etwas geht,
das ist gar nicht anders zu erwarten, der auf kritische Autonomie bedachten Vernunft nur
schwer ein. Dennoch sollte dieser Widerstand nicht von vornherein als Hochmut verdächtigt
werden. Der Sachverhalt ist sehr vielgesichtigt; und mit apodiktischen Vereinfachungen ist nicht
viel auszurichten.
Immerhin bleibt zu bedenken, dass der Mensch dem sich offenbarenden Gott gegenüber
schlechterdings nicht in der Situation eines gleichrangigen unabhängigen Partners ist, dem es
85 Gabriel Marcel, Être et Avoir [Paris 1935], S. 311.86 Pascal, Pensées, nr. 226 [nach der Zählung von Léon Brunschvicg]87 Vgl. hierzu Josef Pieper, Über das Verlangen nach Gewißheit; in «Weistum, Dichtung, Sakrament »
[München 1954], S. 41 ff.88 J. H. Newman, Glauben ohne Schauen. Zur Philosophie und Theologie des Glaubens, I, S. 98.
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freistünde, sich zu «interessieren» oder nicht. Wenn dem Menschen eine Auskunft oder eine
Weisung vor die Augen kommt, die den ernst zu nehmenden Anspruch erhebt, Wort Gottes zu
sein – dann kann er unmöglich «zunächst einmal neutral» bleiben wollen. Das ist ein Punkt, auf
den John Henry Newman89 immer wieder zu sprechen kommt: die Menschen seien zu sehr
geneigt, «in Ruhe abzuwarten», ob etwa Beweise für die Tatsächlichkeit von Offenbarung (85) zu
ihnen ins Haus kämen, als wären sie in der Position von Schiedsrichtern und nicht in der vonBedürftigen. «Sie haben beschlossen, den Allmächtigen zu prüfen – auf eine leidenschaftslose,
richterliche Art, in völliger Unbefangenheit, mit nüchternem Kopf.»
Der ebenso gebräuchliche wie verhängnisvolle Irrtum in alledem ist, so sagt Newman, zu
meinen, «man könne sich der Wahrheit nähern ohne Huldigung»90. (86)
VII
Karl Jaspers hat durch sein ganzes Werk hin einen Glaubensbegriff formuliert, der dem hier
dargelegten trotz letzter Gegensätzlichkeit so sehr verwandt ist, dass davon zwischendurch kurzdie Rede sein muss. Das ist vor allem deswegen von einiger Wichtigkeit, weil Jaspers in diesem
Punkt stellvertretend zu sprechen scheint für einen ganzen Typus des zeitgenössischen, im
Streitgespräch mit der christlichen Tradition begriffenen Denkens.
Als Erstes ist zu sagen, dass Jaspers das Wort «Glaube» offenbar als einen unentbehrlichen
Namen versteht, der das von ihm Gemeinte genau bezeichnet. Gemeint aber ist die «Gewissheit
von der Wahrheit, die ich nicht beweisen kann wie wissenschaftliche Erkenntnis von endlichen
Dingen»91. – Von diesem Glauben wird gesagt: er verbinde den Menschen «mit dem Grund des
Seins»92; er sei «die Substanz eines persönlichen Lebens»93, «das Erfüllende und Bewegende im
Grund des Menschen»94, «das Fundament… unseres Denkens»95 und «der (87) unerlässliche
Ursprung allen echten Philosophierens»96.
Fragt man, was [ zweitens] nach der Meinung von Jaspers das in solchem Glauben Geglaubte
sei, welche Sachverhalte in ihm als wahr und wirklich akzeptiert werden, so bekommt man etwa
zur Antwort: «der Gedanke des einen Gottes»97; «dass es das Unbedingte als Grund des Handelns
gibt»98; «die Ungeschlossenheit der geschaffenen Welt»99; «die letzte und einzige Zuflucht bei
Gott»100; «der Mensch kann in Führung durch Gott leben»101; «die Realität der Welt hat ein
verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz»102.
Nachdem man mit völliger Zustimmung solche Sätze gelesen hat, vielleicht ein wenig
erstaunt darüber, dass sie offenkundig als philosophische Äußerung gemeint sind, wird man89 J. H. Newman, Grammar of Assent [London 1892], S. 425 f.90 J. H. Newman, Glaube und Vernunft als Haltungen des Geistes. Zur Philosophie und Theologie des
Glaubens I, S. 160.91 Der philosophische Glaube [München 21948], S. 11.92 Vom Ursprung und Ziel der Geschichte [München 1949], S. 272.93 Existenzphilosophie [Berlin und Leipzig 1938], S. 79. 94 Ursprung und Ziel S. 268.95 Philosophisch. Glaube S. 10.96 Existenzphilosophie S. 80.97 Philosophisch. Glaube S. 80.98 Ebd. S. 31.99 Ebd. S. 82.100 Ebd.101 Einführung in die Philosophie [München 1953], S. 83.102 Ebd.; ähnlich Philosoph. Glaube S. 29.
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einigermaßen unsicher, wenn Jaspers erklärt, sie dürften [Punkt drei] um keinen Preis «als
Mitteilung eines Inhalts genommen werden»; damit beginne vielmehr «der Irrtum in der
Aussage der philosophischen Glaubenssätze»103. «Glaube heißt nicht ein bestimmter (88) Inhalt,
nicht ein Dogma»104. Jaspers scheint sich hier zur Wehr zu setzen gegen die unangemessene
Fixierung des Geglaubten auf eine starre lehrhafte Formel – worin ihm zweifellos recht zu geben
ist. Das Geglaubte kann nicht, wie sonst etwas einleuchtend Aufweisbares, rundum inhaltlichbeschrieben, abgegrenzt und präzisiert werden. Wie aber ist es möglich zu leugnen, es werde in
jenen Glaubenssätzen überhaupt ein Inhalt ausgesagt und mitgeteilt!
Die bis in den Grund reichende Unstimmigkeit der Jaspersschen Konzeption kommt aber
erst recht an den Tag, wenn [viertens] die für alles Glauben entscheidende Frage gestellt wird:
Wem eigentlich wird geglaubt; wer ist der Jemand, auf dessen Zeugnis hin jene Sätze, «die ich
nicht beweisen kann»105, dennoch als wahr akzeptiert werden? Auf diese Frage gibt es im Werke
von Jaspers nicht nur keine eindeutige Antwort; die Frage selbst wird gar nicht ausdrücklich
erörtert. Die Unstimmigkeit, die sich hier zeigt, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Zwar
spricht Jaspers völlig deutlich von dem «Vertrauen ohne Garantie»106, das in der Tat den Glaubenzum Glauben macht; zwar erkennt er, was nahezu das Gleiche besagt, die Notwendigkeit von
Autorität ausdrücklich an: «selbst für den (89) Philosophierenden [muss] Autorität irgendwo den
undurchschauten Vorrang haben»; «der sich selbst unbegreifliche philosophische Glaube fordert
an einem Punkte die unbegriffene Autorität»107. Dem ist jedoch sogleich das «Aber»
entgegenzusetzten; und das «Aber» lautet so: Nicht allein bleibt völlig im Vagen, wie die
Verkörperung dieser Autorität zu denken und wem also jenes «Vertrauen ohne Garantie»
entgegenzubringen sein könnte108; sondern es wird, wider alle Vermutbarkeit, unversehens und
mit großer Schärfe gesagt, der Philosophierende dürfe überhaupt «keiner Autorität anhangen,
nirgends die Wahrheit selbst als Lehre empfangen, keiner geschichtlich gegebenen Offenbarung
sein Heil verdanken»109; dies alles sei dem mündigen Geiste nicht zumutbar, weil es «eineZerstörung seiner Freiheit und seiner Würde» bedeute110. Womit nichts anderes geschieht als
eine ausdrückliche Verneinung eben des Glaubens selbst.
[Übrigens zählt Jaspers die Gründe auf, die geltend gemacht würden für eine Unterwerfung
unter die Autorität; und er fügt hinzu, keiner dieser Gründe sei durchschlagend, denn jeder von
ihnen «verleugnet die Freiheit»111. Als Gründe werden die (90) folgenden genannt: «der Mensch
sei zu schwach, um auf sich selbst gestellt werden zu dürfen; die Autorität… sei ihm ein Segen;
ohne den festen Halt der Autorität verfalle der Mensch einer zufälligen Subjektivität; das
Bewusstsein der Nichtigkeit fordere den Menschen auf, durch Unterwerfung diese zu bekennen;
die Jahrtausende währende Überlieferung der Autorität gebe eine Garantie für ihre
Wahrheit»112. Man kann vielleicht darüber streiten, ob wirklich «jeder dieser Gründe» der
Freiheit des Menschen widerspricht. Unbestreitbar aber ist, dass keiner dieser Gründe den
Christen dazu bestimmt, zu glauben, und dass der einzige Grund, der ihn tatsächlich bestimmt,
die Freiheit nicht verleugnet. Dieser einzige Grund ist: dass Gott gesprochen hat.]
103 Einführung S. 92.104 Ursprung und Ziel S. 268.105 Philosoph. Glaube S. 11.106 Von der Wahrheit [München 1947], S. 789.107 Ebd. S. 866.108 Philosoph. Glaube S. 88; Philosophie [Berlin 1948], S. 259.109 Wahrheit S. 965.110 Philosophie S. 263.111 Ebd. S. 265.112 Ebd.
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Überdenkt man rückschauend die einzelnen Elemente, die Jaspers in seiner Konzeption des
«philosophischen Glaubens» miteinander zu verknüpfen sucht, dann mischt sich einige
Ratlosigkeit in den Respekt, den man vor dem Ernst der inneren Auseinandersetzung empfindet,
die hier zum Austrag kommt. Diese Konzeption ist, zugegeben, weit differenzierter, als die
summarisch vereinfachende Darstellung das vermuten lässt; ihre tragenden Strukturen aber
sind vielleicht um so deutlicher (91) sichtbar geworden. Und was sich zeigt, ist ein gesprengtesGefüge. Mit der fast beschwörenden Geste, welche die Notwendigkeit des Glaubens in die
Erinnerung ruft [ohne den Glauben bleibe nichts als die «Verfallenheit an das Gedachte,
Gemeinte, Vorgestellte, an Doktrinen und dann in der Folge an Gewalt, an Chaos und Ruin»113] –
hiermit kann die strikte Ablehnung des Glaubens, der unvereinbar sei mit der Freiheit und
Würde des Geistes, schlechterdings nicht zusammenbestehen. Und wenn Jaspers ausdrücklich
Gedanken akzeptiert, die dem corpus der christlichen Offenbarung eingehörig sind [«wir
philosophieren aus der biblischen Religion und erfassen hier unersetzliche Wahrheit»114], so
bleibt dennoch bestehen, dass er sich ebenso ausdrücklich weigert, diese Lehren als
«Offenbarung», das heißt, auf das Zeugnis Gottes hin anzunehmen. Auf Jaspers würde, so scheint
es, der schon einmal zitierte Thomas-Satz genau zutreffen: ea quae sunt fidei alio modo tenet quam perfidem115; er hält manches von dem, was die christliche Glaubenslehre sagt, für wahr
und verehrungswürdig; doch tut er es auf eine andere Weise als die des Glaubens.
Eben damit aber repräsentiert Jaspers einen Denktypus, der den von der Säkularisierung
bedrohten (92) Raum des alten Abendlandes weithin beherrscht und der gleichfalls durch zwei
Züge vor allem geprägt ist: erstens durch das Zögern, die Inhalte des überlieferten religiösen
Glaubens, «unersetzliche Wahrheit», einfachhin preiszugeben; zweitens durch das Unvermögen,
diese Inhalte anzunehmen in der Weise des Glaubens an die Offenbarung, durch welche sie uns
überhaupt zugänglich geworden und verbürgt sind.
Jedermann weiß, wie rasch die durchschnittliche Rede der Christenheit, wenn es sich um
die Äußerungsformen des «modernen Geistes» handelt, mit der summarisch abwertenden
Kennzeichnung «Unglaube» bei der Hand zu sein pflegt. Es ist gut, demgegenüber zu bedenken,
dass die große abendländische Theologie eher die äußerste Vorsicht in der Verwendung dieser
Vokabel empfiehlt. Vor allem muss klar sein, was unter «Unglaube» [als Sünde] genau zu
verstehen ist. Es ist ein nicht im mindesten ungewöhnlicher Fall, dass einer, der die
Glaubensverkündigung zwar hört, dennoch nicht von ihr erreicht wird [was sehr wohl an dem
inneren Stil der Verkündigung selbst liegen kann]; die Botschaft wird also überhaupt nicht
wahrgenommen als etwas, das ihn, den Hörenden, wirklich betreffen könnte; und natürlich
kommt dann Glaube nicht zustande. Aber als «Unglauben» könnte man dieses faktische Nicht-
glauben nicht bezeichnen. In einem anderen Fall mögen die Inhalte (93) der
Glaubensverkündigung durchaus aufgefasst sein; aber es kommt dem Hörenden, wiederum aus
vielerlei möglichen Gründen, gar nicht in den Sinn, dass es sich um eine übermenschliche
Auskunft handeln könnte, um eine göttliche Rede, um «Offenbarung» also im strikten
Wortverstand; und folglich kann auch von einem eigentlichen Glauben nicht die Rede sein. Aber
wiederum wäre «Unglaube» nicht der reche Name, um diesen Mangel an Glauben zu bezeichnen.
Nicht einmal der kann schlichthin ein Ungläubiger genannt werden, der sich weigert, sich
überhaupt einzulassen und etwa die Glaubwürdigkeit der Bezeugung des Näheren zu bedenken;
diese Weigerung ist möglicherweise nicht zu rechtfertigen, sie mag Unrecht sein; aber sie ist
113 Ursprung und Ziel S. 268.114 Philosoph. Glaube S. 69.115 II, II, 5, 3.
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nicht identisch mit Unglauben.116 – Unglaube im präzisen Sinn ist allein der geistige Akt, in
welchem jemand mit Überlegung einer Wahrheit die Zustimmung versagt, die ihm hinreichend
deutlich als Rede Gottes vor die Augen gekommen ist.117
Man mag sich fragen, ob Unglaube in solchem Sinn jemals vorkomme. Darauf ist zu
antworten, dass in der Tat der durchschnittliche Widerpart des Glaubens weniger der dezidierteUnglaube zu sein scheint als vielmehr jene tief eingewurzelte Unaufmerksamkeit , (94) von der
bereits die Rede gewesen ist. Diese Unaufmerksamkeit aber sollte nicht unter der
unzutreffenden Benennung «Unglaube» attackiert werden; erst recht ist sie auf solche Weise
nicht zu überwinden. Doch setzt schon die bloße, schlecht und recht zutreffende Beurteilung
voraus, dass man die äußerste Kompliziertheit des Sachverhalts bemerkt, mit der hier einfach zu
rechnen ist und die etwa darin ihre Wurzel hat, dass der Mensch möglicherweise «Gott auch
mittels teilsweise falscher Begriffe bejahen kann»118. In der französischen Theologie ist vor
kurzem der alte Gedanke neu formuliert und begründet worden, der besagt: es sei durchaus
möglich, «Gott in Wahrheit zu bejahen, während man ihn zugleich auf der Ebene einer
bestimmten Begrifflichkeit leugnet »119.
Und auch dies sollte immer wieder einmal bedacht werden: dass der «Wissende» es
natürlicherweise besonders schwer hat, zu glauben. Thomas hat ihn deswegen an die Seite des
Märtyrers gestellt.120 Wer eine bestimmte Stufe kritischer Bewusstheit erreicht hat, kann sich
nicht davon dispensieren, die (95) Gegenargumente zu durchdenken, sowohl die der
«Philosophen» wie die der «Häretiker»; er muss sich ihnen stellen. Ebendarin sei er, der kritisch
Denkende und zugleich Glaubende, dem Blutzeugen zu vergleichen, der die Wahrheit des
Glaubens nicht preisgebe, trotz der «Argumente» der Gewalt. – Dass die Glaubenswahrheit
durch kein Vernunftargument positiv erwiesen werden kann – dies macht eben die Situation des
Glaubenden aus, und zwar nicht allein seine äußere Situation, für welche deshalb die alte
Faustregel lautet: «Die Absicht des Christen, der ein Streitgespräch über den Glauben führen
will, muss darauf gerichtet sein, nicht den Glauben beweisen zu wollen, sondern ihn zu
verteidigen»121. Die innere Situation des Glaubenden ist im Grunde genau die gleiche. Auch gegen
die eigenen Vernunftargumente gibt es letztlich keine andere Möglichkeit des Widerstandes als
die der Verteidigung, nicht des Angriffs also, sondern des Standhaltens. Und es ist zu fragen, ob
es nicht auch einmal, für eine Zeitlang, unvermeidlich werden könnte, dass dieses Standhalten,
wie im Fall des Blutzeugnisses, in der Gestalt schweigender Wehrlosigkeit geschieht. (96)
VIII
Wer Gott als einen der Rede fähigen Jemand und den Menschen als ein von Natur zu Gott
hin offenes Wesen versteht, der hält eben damit «Offenbarung» für möglich, vielleicht sogar für
erwartbar. Dennoch muss er nicht schon der Meinung sein, sie habe tatsächlich stattgefunden. Es
ist offenbar zweierlei, ob einer etwas für möglich oder ob er es für wirklich geschehen hält.
Offenbarungsglaube aber kann allein dadurch legitimiert sein, dass Gott auf eine dem Menschen
116 Voluntas non inquirendi de fide non est voluntas non credendi. Merkelbach, Summa TheologiaeMoralis I, S. 571 f.
117 Ebd.118 Mouroux, Ich glaube an Dich, S. 82.119 Ebd. S. 45. – Mouroux weist auf den Thomas-Kommentar von Cajetan sowie auf den großen
spanischen Barocktheologen de Lugo hin und sagt, hiermit sei «eine Neuigkeit ausgesprochen».120 II, II, 2, 10 ad 3.121 Rat. fid., cap. 2.
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vernehmliche Weise wirklich gesprochen hat . Und diese Tatsache muss ihrerseits für den
Menschen natürlicherweise erkennbar sein; er kann sie nicht wiederum glauben müssen.
Es ist reine Zeitverschwendung, mit jemandem über die Tatsächlichkeit einer
Gottesoffenbarung zu diskutieren, der auf Grund seines Bildes von Gott und vom Menschen ihre
Möglichkeit bestreitet. Aber auch wer eine unmittelbar an den Menschen gerichtete Rede Gottesfür etwas schlechthin Erwartbares hält, muss die Frage beantworten, in welcher Gestalt eine
solche göttliche Mitteilung überhaupt sollte geschehen können, und woran sie unterscheidbar
und kenntlich sein könnte. Wiederum ist, damit Glaube als menschlicher Akt zustande komme,
ein Hindernis zu überspringen, das begreiflicherweise gerade dem Menschen dieser unserer Zeit
besonders zu schaffen macht. Es handelt (97) sich dabei keineswegs um eine sozusagen mutwillig
heraufbeschworene, «selbstverschuldete» Schwierigkeit; vielmehr ist sie unvermeidlich mit dem
Wandel des Bildes von der natürlichen Welt und ihrer Dimensionierung verknüpft – welcher
Wandel aber schließlich nichts anderes besagt, als dass unsere Erkenntnis der
Schöpfungswirklichkeit sich gegenüber den antiken und mittelalterlichen Vorstellungen vom
Kosmos auf tiefgreifende Weise korrigiert und bereichert hat. – «Es geschah eine Stimme vomHimmel her», vox facta est de caelos; das war für Dante und seine Zeitgenossen zweifellos noch
eine anschauliche Vorstellung, die unangefochten vollzogen werden konnte. Diese
Unangefochtenheit ist dem Zeitgenossen Einsteins nicht mehr gestattet, nachdem sogar die
materielle Weltwirklichkeit mehr und mehr unanschaulich geworden ist. «Wir können gar nicht
so naiv Gott in unserer Welt waltend erfahren, wie es frühere Zeiten getan haben».122 Anderseits
muss wohl oder übel eingestanden werden, dass die zeitgenössische Theologie nur wenig
gedankliche Hilfen bereitgestellt hat, der auf solch legitime Weise entstandenen Schwierigkeit
Herr zu werden.
Karl Rahner hat die Erfahrung, die sich in dem «Bestürztsein über das Schweigen Gottes»
und (98) «über die Abwesenheit Gottes in der Welt» zu Wort melde, «eine echte Erfahrung tiefster
Existenz» genannt; sie habe zwar gemeint, «sich selbst theoretisch als Atheismus interpretieren
zu müssen», während es sich im Grunde um nichts anderes handle als um «die Erfahrung, dass
Gott nicht in das Welt-Bild hineingehört»123. Die christliche Metaphysik habe dies zwar immer
«gewusst»: «aber … sie hat es zu wenig gelebt »124; und mit dem Wahrheitselement in jenem
«bekümmerten Atheismus» sei «das vulgäre Denken und Reden des Christentums noch lange
nicht fertig geworden»125; die Aufgabe aber sei, jene Erfahrung «anzunehmen» und «die nicht in
einer voreilig billigen Apologetik eines anthropomorphen ‹Gottesglaubens› zu verdrängen»126.
All das erklärt die sich immer mehr verschärfende Schwierigkeit, eine dem Menschen
vernehmliche, unmittelbar an ihn gerichtete Rede Gottes, das heißt, eine «Offenbarung» imstrikten Sinn überhaupt als ein konkretes, hier und jetzt sich zutragendes Geschehnis
vorzustellen. Doch ist mit der Schwierigkeit zugleich eine Chance verknüpft; sie besteht in der
Nötigung, offenkundig unangemessene Vorstellungen aufzugeben. (99)
Thomas von Aquin hat das Offenbarungsgeschehnis auf eine Weise beschrieben, die den
Wandel der Weltbilder, wie mir scheint, wohl zu überdauern vermöchte. Es ist jedenfalls nichts
«Mittelalterliches» in seiner Formulierung; vor allem ist sie völlig frei von der Vorstellung, als sei
122 Karl Rahner, Schriften zur Theologie III [Einsiedeln 1956], S. 462.123 Ebd. S. 461.124 Ebd. S. 460.125 Ebd. S. 461.126 Ebd. S. 462.
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Gott ein im «Gemach nebenan» wohnendes Wesen. Offenbarung bedeutet, so heißt es in der
«Summe wider die Heiden»127, nichts anderes als die Mitteilung eines geistigen inneren Lichtes,
wodurch die menschliche Erkenntnis befähigt werde, etwas zu gewahren, das ihr kraft des
eigenen Lichtes nicht gewahrbar sei.
Das Bild lässt an unmittelbarer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Dennoch gibt essogleich zu verstehen, dass sich der allererste Augenblick jenes Mitteilungsvorgangs dem
Versuch anschauenden Vorstellens entzieht. In diesem Augenblick aber trägt sich das
Eigentliche von Offenbarung zu: das blitzhafte Aufleuchten, das wir als «Inspiration»
bezeichnen; das plötzliche Auftreffen des Steines auf die noch regungslose Wasserfläche, die
sogleich diesen «Ein-Fall» aufnehmen und ins Unabsehbare weitergeben wird. Das Innerste des
Offenbarungsgeschehnisses ist der göttliche Mitteilungsakt selbst; der aber bleibt
notwendigerweise allem (100) menschlichen Erkenntniszugriff, erst recht aber der anschaulichen
Vorstellung unzugänglich und entrückt. – «Mitteilung» vollendet sich jedoch nicht schon darin,
dass etwas gesagt wird; sondern das Gesagte muss von dem gehört und aufgenommen werden,
dem es zugedacht ist. Erst dann ist die Mitteilung wirklich zustande gekommen. Das Licht aber,in dessen Mitteilung das Wesen der Offenbarung besteht, ist «dem» Menschen zugedacht. Und
«der» Mensch: das sind alle Menschen. Diese von dem «inspirierten» ersten Empfänger her in
Gang kommende Weitergabe des göttlichen Lichtes an «alle», diese fortschreitende Vollendung
des Offenbarungsereignisses scheint sehr wohl einigermaßen adäquat vorstellbar zu sein. Vor
allem lässt sich plausibel machen, wie sehr diese Struktur selbst, die Ausstrahlung von einem
individuellen Quellpunkt her, der geschichtlichen Bauform alles geistigen Lebens sonst
entspricht.
Immer sonst, wenn die Menschheit sich neue, bisher unbekannte Wahrheiten aneignet, geht
es ja so zu, dass einem genialen oder glückhaften Einzelnen ein neuer Aspekt der Realität oder
ein bislang unentdecktes Stück Wirklichkeit vor die Augen kommt, und dass dann die frisch
gewonnene Erkenntnis an die anderen weitergegeben wird: durch Mitteilung, Veröffentlichung,
Lehre, Überlieferung. Immer ergibt sich dann auch die deutliche Abstufung größerer und
geringerer Nähe zu dem (101) originalen ersten Fund. Nur ganz wenige vermögen Einsteins
«Einheitliche Feldtheorie» aus Eigenem mitzuvollziehen; ein schon größerer Kreis versteht
immerhin die mehr oder minder präzisen Umschreibungen aus zweiter Hand; während das
«große Publikum» nur noch recht vage Vorstellungen von dem eigentlich Gemeinten hat – was
freilich beileibe nicht heißen muss, dass es nicht dennoch auf völlig legitime Weise teilhaben
könnte an der Wahrheit des ersten Entdeckers.
Wenn also diese gleiche Fügung und Struktur uns entgegentritt, wo immer «heiligeÜberlieferung» den Anspruch erhebt, eine, wie Platon sagt, «aus göttlicher Quelle herabgelangte
Kunde»128 zu bewahren und darzubieten, dann ist darin nichts Verwunderliches; im Gegenteil,
genau dies ist zu erwarten. – Das zuallerletzt Gesagte vor allem hat im Bereich des
Offenbarungsglaubens seine wohlzubedenkende Entsprechung. Obwohl natürlich die größere
oder geringere Nähe zum Ursprung sich gewiss nicht nur und wohl auch nicht primär nach dem
Grade der intellektuellen Fassungskraft bemisst, gibt es zweifellos auch hier so etwas wie «die
Vielen», die, soweit es auf sie selbst ankommt, das Überlieferte nur begrenzt «realisieren», die
aber darum dennoch – dies ist das zu Bedenkende – wahrhaft Anteil haben können an der
Wahrheit des (102) göttlichen Wortes, wie es dem ersten inspirierten Empfänger mitgeteilt
127 Revelatio fit quodam interiori et intelligibili lumine mentem elevante ad percipiendum ea, ad quaeper lumen naturale intellectus pertingere non potest. C. G. 3, 154. – Vgl. Ver. 12, 1 ad 3.
128 Philebos 16c 5-9.
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worden ist. Das «unausdrücklich einbeschließende Glauben», das in der Schulsprache fidesimplicita genannt wird, ist eine allenthalben anerkannte und praktizierte Sache. In der Theologie
freilich ist der Begriff fides implicita ein Streitbegriff geworden; von ihm zu dem Schimpfwort
«Köhlerglaube»129 ist kein weiter Weg. Dabei hat der Köhler, der auf der Brücke zu Prag von
einem Doktor gefragt wurde, was er glaube, und darauf zur Antwort gab: Ich glaube, was die
Kirche glaubt – dieser vielgeschmähte Mann hat, scheint mir, nicht nur nichts Unsinniges undVerächtliches, sondern etwas ausnehmend Kluges, Zutreffendes und Genaues geantwortet und,
wie gesagt, auch etwas überall sonst Selbstverständliches. Würde ich nach meiner Meinung über
den Bau des Kosmos oder die Struktur der Materie gefragt, dann würde ich antworten mit dem
Hinweis auf die moderne Physik, von deren Ergebnissen ich zwar nur eine vage Kenntnis
besitze, an der ich aber, indem ich mich an Männer wie Planck, Bohr, de Broglie, Heisenberg
anschließe, auf eine vielleicht schwer zu präzisierende Weise aber dennoch wahrhaft teilhabe.
Genau ebenso kann es durch die fides implicita geschehen, dass auch der Schlichteste und (103)
Entfernteste und der nur halbwegs Unterrichtete dennoch «dazugehört» und Anteil hat an der
offenbarten Wahrheit – kraft der gläubigen Verbundenheit mit dem aus erster Hand Wissenden,
das heißt aber jetzt nicht nur, mit dem ersten Empfänger der göttlichen Rede, sondern mit derenUrheber selbst. Die großen Lehrer der Christenheit jedenfalls haben nicht gezögert, die Einheit
der wahrhaft Glaubenden sehr weiträumig zu sehen und etwa zu sagen: wer immer in der vor-
und außerchristlichen Welt das durch heilige Überlieferung verbürgte Weistum annehme, dass
Gott auf eine Weise, die Ihm gefalle, den Menschen ein Befreier sein werde, der glaube implicite
an Christus.130
Auf solche Weise also könnte etwa der Vorgang der Offenbarung, das tatsächliche
Erreichtwerden des geschichtlichen Menschen durch eine göttliche Rede konkret vorgestellt
werden. – Damit allerdings ist die weit schwierigere Frage noch nicht erledigt, wie und wodurch
der Anspruch, göttliche Offenbarung zu sein, sich ausweisen könnte – nicht sosehr vor demersten Empfänger, von dem vermutet werden darf, dass er sich in einer unvergleichlichen
Situation befindet, als vielmehr vor all den anderen, die durch ihn zur Kenntnis der an ihn
ergangenen (104) Botschaft gelangen. Mit einem Wort, die Frage ist, woran man erkennt, ob das,
was mit dem Anspruch auftritt, Offenbarung zu sein, wirklich göttlichen Ursprungs ist. Wenn es
nicht möglich ist, hierauf zu antworten, und zwar mit den Mitteln vernünftiger Argumentation,
dann kann Glaube, als ein Fürwahrhalten auf das Wort Gottes hin, nicht nur nicht erwartet
werden: er ist auch nicht zu rechtfertigen.
Natürlich ist dies nicht der Ort, eine ausführliche Antwort auch nur zu versuchen. Wohl aber
ist von einigen Bedingungen zu reden, die erfüllt sein müssen, wenn ein solcher Versuch nicht
ein von Anfang an hoffnungsloses Unternehmen sein soll. – Zum Beispiel ist [erstens] zu
vermuten, dass die Bedenkung der sozusagen klassischen Argumente [Wunder, Prophetie,
Authentizität der biblischen Berichte, «Kirche» als geschichtliches Phänomen– und so fort] zu
gar nichts führen wird, wenn diese Bedenkung nicht geschieht auf dem Grunde der lebendig
realisierten Einsicht, dass und warum «Offenbarung» überhaupt möglich und erwartbar ist, das
heißt, wenn ihr nicht die Meditation über die metaphysische Situation des Menschen als Kreatur
vorausliegt. Da es sich ferner nicht um die Erfassung von Naturtatsachen handelt, sondern um
die Aufhellung eines sehr besonderen, fundamentalen Existenzsachverhalts, darum ist
[ zweitens] vom Erkennenden eine bis in den Grund der Seele (105) hinabreichende
129 Martin Luther, Warnungsschrift an die zu Frankfurt am Main, sich vor Zwinglisdler Lehre zu hüten[1533]. Zitiert nach «Deutsche Thomas-Ausgabe», Bd. 15 [Heidelberg 1950], S. 440 f.
130 II, II, 2, 7 ad 3; Ver. 14, 11 ad 5.
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Unbefangenheit, Offenheit und Aufmerksamkeit gefordert, die das, was wir als
«wissenschaftliche Objektivität» bezeichnen, weit hinter sich lässt, und die sich nicht nur nicht
von selbst versteht, sondern natürlicherweise ständig bedroht ist durch die vielfältigen
«Interessen» des um seine Souveränität besorgten Subjekts. Es ist [drittens] so gut wie
ausgeschlossen, dass die zur Rede stehende Frage entschieden werden könnte mit den
Erkenntnismitteln des isolierten Individuums; vielmehr handelt es sich offenbar um eine nicht anders als solidarisch zu bewältigende Aufgabe, für die sämtliche Formen und Funde der
arbeitsteiligen menschheitlichen Erkenntnisbemühung genutzt und in Dienst genommen
werden müssen.
Dies schließt nicht aus, dass es neben den «objektiven» Argumenten unabsehbar viele
Möglichkeiten der Vergewisserung gibt, die allein für diesen bestimmten Einzelnen Gewicht
haben mögen, während sie dem anderen nichts besagen. In allem Glauben nämlich ist die Person
des Zeugen «die Hauptsache»; und die Erfassung einer Person hat ihre besondere Weise, wie
auch die Glaubensentscheidung immer ihren Ort hat in der persönlichen Geschichte des
Glaubenden selbst. So kann es geschehen, dass dem einen, während er die Kathedrale von Rouenbetrachtet, plötzlich die Gewissheit zuteil wird, «die Fülle» müsse das Signum der (106)
Gottesoffenbarung sein131; während ein anderer, wie Simone Weil es von sich selbst berichtet 132,
die Christuswahrheit annimmt, da er auf dem Gesicht eines jungen Kommunikanten erschüttert
die Nähe Gottes aufleuchten sieht. Wer will beurteilen, wie es um die Legitimität solcher
«Argumente» bestellt sei? – Freilich gibt es auch die repräsentativen Figuren, die, wie
Augustinus oder Pascal, ihren wiewohl sehr persönlichen Weg stellvertretend gegangen sind –
für eine ganze Generation, für ein Jahrhundert, für die Geistesverwandten aller Zeiten und
Räume. Zu diesen Figuren scheint mir vor allem auch John Henry Newman zu gehören, der als
Schriftsteller und Briefschreiber mit einer völlig «modernen» selbstkritischen Wachheit die
einzelnen Schritte des eigenen Vergewisserungsvorgangs zu Protokoll gegeben hat – einesVorgangs übrigens, dessen Beginn ein merkwürdiges Gebet bildet, in welchem sich der junge
Oxforder Dozent damals mit seinen Freunden vereinigte: falls er zu dem Resultat gelangen sollte,
dass die Wahrheit bei der katholischen Kirche sei, dann möge Gott ihn lieber sterben lassen, als
dass er aus dieser (107) erschreckenden Einsicht die Konsequenz ziehen müsste133. (108)
IX
Ist es für den Menschen gut, zu glauben; bliebe eine wesentliche Chance seiner Existenz
ungenutzt und brach, wenn er sich weigern wollte, zu glauben?
Bezieht man die Frage rein auf das Verhältnis der Menschen untereinander, so lässt sie sich
kaum mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Ein Gemeinwesen, in welchem die Menschen
nicht wagen könnten, arglos miteinander zu sprechen und im durchschnittlichen Fall einander
zunächst einmal zu trauen und zu glauben, wäre zweifellos etwas Unmenschliches. Die
eigentlich menschliche Möglichkeit, dass einer hörend an der Wirklichkeitshabe des anderen
teilnimmt, die ihm in der Mit-teilung angeboten wird – diese wunderbare Möglichkeit wäre
vertan; ein tödliches Schweigen würde das Miteinanderleben zur Steppe werden lassen. Dass es
freilich so etwas wirklich sollte geben können, «im Innern der lauten Zeit… eine grenzenlose
131 Georg Klünder, Die Kirche ist die Fülle; in «Bekenntnis zur katholischen Kirche» [Würzburg 1955],
S. 70 f.132 Vgl. John M. Oesterreicher, The enigma of Simone Weil; in «The Bridge. A Yearbook of Judaeo-
Christian Studies»; Vol. I; [ed. J. M. Oesterreicher; New York (Pantheon) 1955], S. 123.133 John Moody, J. H. Newman [Berlin 1948], S. 72 f.
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Verstummtheit»134 – dies ist, wie jedermann weiß, keine völlig irreale Vorstellung. Gerade sie
aber besagt, es sei nicht unter jeder Bedingung sinnvoll, dem menschlichen Partner zu glauben.
«Gut» ist es nur, sofern seine Rede wirklich dem Glaubeden ein neues Stück Realität eröffnet, das
ihm sonst unzugänglich bliebe. (109)
Es scheint demnach, als brauche man anderseits kein weiteres Wort zu sagen, um deutlichzu machen, dass solche Einschränkungen im Falle des religiösen Glaubens gegenstandslos sind
und dass der Mensch also nicht leicht etwas tun kann, das so sinnvoll und gut wäre, wie sich
glaubend «mit dem Wissen Gottes zu verbinden»135. Das ist auch völlig zutreffend. Dennoch
kommt die ganze Erstreckung dieses selbstverständlich scheinenden Gedankens erst dann in
Sicht, wenn man nicht allein die Tatsache der Offenbarung, sondern auch ihren Inhalt bedenkt.
Was aber ist dieser Inhalt? Wovon spricht die göttliche Rede? Hierauf kann nicht anders
geantwortet werden, als indem man die geschichtliche Gestalt des Offenbarungsglaubens ins
Auge fasst, übrigens die einzige, die im Raum unserer gegenwärtigen welteuropäischen
Zivilisation einen solchen Anspruch überhaupt erhebt: das Christentum. Was also ist der
Gegenstand der in Christus geschehenen Gottesoffenbarung? Das vermag natürlich allein der
Theologe zu sagen. Aber es ist, dünkt mich, nicht schon Theologie, seine Auskunft zur Kenntnis
zu nehmen.
Nach der Auskunft der Theologie aber kann das im christlichen Glauben eigentlich
Geglaubte in zwei (110) Worten ausgesprochen werden; diese beiden Worte sind: «Trinität» und
«Inkarnation». Es ist der «allgemeine Lehrer» der Christenheit, der sagt, der ganze Inhalt der
christlichen Glaubenswahrheit lasse sich zurückführen auf die Lehre vom Dreieinigen Gott und
die Lehre von der in Christus exemplarisch verwirklichten Teilhabe des Menschen am Leben
Gottes136.
[Der von außen Herantretende freilich, der eine kaum überschaubare Vielfalt von Lehren
und Vorstellungen wahrzunehmen meint, wird sich fragen, was es denn auf sich habe mit all
dem anderen und Verwirrenden, mit Sakramenten und Sakramentalien, mit Hölle und
«Fegefeuer» mit Marienverehrung, Heiligenkult, Visionen, «Erscheinungen» – und so fort! Was
zunächst die beiden zuletzt genannten Dinge betrifft, die in der Tat gelegentlich den Blick auf das
Wesentliche behindern können, so muss klar gesagt werden, dass sie nicht zu dem gehören, das
den Anspruch erhebt, auf das Zeugnis Gottes hin geglaubt zu werden. Auch die «Anerkennung»
bestimmter Erscheinungen von Seiten der Kirche besagt nicht mehr als das Folgende137: es (111)
sei erstens in diesen Phänomenen nichts, das gegen den Glauben oder die Lebensordnung
verstoße; zweitens gebe es hinreichende Anzeichen dafür, dass sie fide humana, auf menschliches Zeugnis hin, für wahr und echt gehalten werden könnten: weswegen es allerdings, drittens, nicht
recht sei, sie einfachhin zu verachten. – Alles übrige aber – die Lehre von den Sakramenten, von
der Muttergottes, von den Letzten Dingen – lässt sich wirklich auf die beiden von Thomas
genannten Grundsachverhalte zurückführen, was freilich allein dem bereits Glaubenden völlig
deutlich werden kann.]
134 Konrad Weiß in einem unveröffentlichten, nachgelassenen Fragment «Logos des Bildes».135 Ver. 14, 8.136 Duo nobis credenda proponuntur: scil. occultum Divinitatis … et mysterium humanitatis Christi. II,
II, 1, 8. – Fides nostra in duobus principaliter consistit: primo quidem in vera Dei cognitione…; secundo in
mysterio incarnationis Christi. II, II, 174, 6.137 Merkelbach, Summa Theologiae Moralis I, S. 519.
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Nun aber hat es mit diesem im Grunde einheitlichen Inhalt der Gottesoffenbarung die
Bewandtnis, dass die darin ausgesagte Realität auf besondere Weise eins ist mit dem Akt der
Aussage und auch mit der Person des Aussagenden selbst. In einem früheren Kapitel dieses
Buches138 ist gesagt worden, so etwas sei kaum sonst in der Welt anzutreffen. Das «kaum» sollte
dabei den Platz frei lassen für die vermutlich einzige Ausnahme, für den Fall nämlich, dass ein
Mensch, zu einem anderen gewendet, sagt: Ich liebe dich. Auch diese Aussage hat primär nicht den Sinn, einen objektiven, vom Sprecher abtrennbaren Sachverhalt zur Kenntnis von jemand
anders zu bringen; es handelt sich vielmehr (112) um eine Selbstbezeugung; und der bezeugte
Sachverhalt realisiert sich eben darin, und einzig darin, dass er auf solche Weise ausgesprochen
wird. Dem entspricht, dass auch der Partner auf keine Weise sonst der lebenden Zuwendung des
anderen inne werden kann, es sei denn dadurch, dass er das Gesagte hörend in sich einlässt.
Natürlich kann ihm das Geliebtwerden auch einfach widerfahren, wie einem unmündigen Kinde;
«erfahren» aber kann er es nur auf die Weise, dass er die Liebe des anderen in ihrer worthaften
Bezeugung vernimmt und «glaubt»; einzig so wird sie ihm wahrhaft präsent und zuteil.
Auf höherer Stufe gilt genau das Gleiche von der göttlichen Offenbarung. Indem Gott zu denMenschen spricht, lässt er sie nicht sachhafte Tatbestände erkennen, sondern er schließt ihnen
sein eigenes Wesen auf. Der Sachverhalt aber, der den wesentlichen Inhalt der offenbarenden
Aussage bildet, dass nämlich den Menschen eine Teilhabe am göttlichen Leben zugedacht und
angeboten, ja bereits verwirklicht sei – dieser Sachverhalt besitzt seine Realität in nichts
anderem als darin, dass er von Gott ausgesprochen wird; dadurch, dass Gott ihn offenbart, ist er
wirklich. Es ist nicht so, dass die «Inkarnation» zunächst einmal «sowieso» als Faktum vorläge
und dass dann die Offenbarung nachträglich davon Kunde gäbe. Sondern Menschwerdung
Gottes und Christusoffenbarung sind eine (113) und dieselbe Wirklichkeit. Wiederum entspricht
dem auf der Seite des Glaubenden, dass ihm, indem er die Botschaft des sich selbst
offenbarenden Gottes als wahr akzeptiert, die darin kundgetane Teilhabe am göttlichen Lebenwirklich geschieht und zuteil wird: es gibt, abgesehen vom Glauben, gar keine andere Weise, wie
er ihrer sonst sollte teilhaftig werden können. Das Wort «Mitteilung» gewinnt hier seine
ursprüngliche Bedeutung zurück. Göttliche Offenbarung ist nicht Kundgabe eines Berichts über
Wirklichkeit, sondern «Mitteilung» der Wirklichkeit selbst – welche Mitteilung freilich allein den
Glaubenden erreicht.
Damit erst ist die Frage beantwortbar geworden, ob es «gut» sei für den Menschen, zu
glauben. Die Antwort aber wird so lauten müssen: Wenn Gott wirklich gesprochen hat, dann ist
es nicht allein gut, zu glauben; vielmehr kommt im Glauben genau das zur Verwirklichung, worin
des Menschen Gutsein und Vollendung geradezu besteht: hörenden Vertrauens sich der
Wahrheit öffnend, gewinnt er Anteil nicht nur am «Wissen» des göttlichen Bürgen, sondern an
seinem Leben selbst. (114)
138 Vgl. Kapitel VI, S. 71.
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ANMERKUNG
Die Zitate aus der Summa theologica des heiligen Thomas von Aquin sind in den Anmerkungen nur
durch Ziffern gekennzeichnet [Beispiel: «II, II, 2, 2 ad 1» besagt «II. Teil des II. Hauptteils, quaestio 2,
articulus 2, Antwort auf den 1. Einwand»]. Das Gleiche gilt für die Zitate aus dem Kommentar zum
Sentenzenbuch des Petrus Lombardus [Beispiel: «2 d. 24, 3, 5» bedeutet «2. Buch, distinctio 24, quaestio 3,articulus 5»]. Die Titel der übrigen im Text zitierten Werke des heiligen Thomas lauten, mit den jeweils
verwendeten Abkürzungen, folgendermaßen: Summa contra Gentes [C. G.]; Quaestiones disputatae deveritate [Ver .]; Quaestio disputata de caritate [Car .]; Kommentar zu Boethius, De Trinitate [In Trin.]; Derationibus fidei [Rat. fid .].
Der Vorspruch findet sich in Aristoteles‘ Buch «Sophistische Widerlegungen» Kap. 2, 2. (116)