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39 Karl Kardinal Lehmann Brückenbauer Lern- und Lehrjahre zwischen Lebensgeschichte, Wissenschaft und Praxis der Kirche 1 Es ist nicht leicht, das Verhältnis von Biographie und Wissenschaft in der eologie auszuloten. Es ist ganz gewiss sehr verschieden nach Religion und Konfession, persönlichem Status (also Ordens- angehöriger, Priester/Diakon, Laie) und Lebensgeschichte, zeitlicher Bestimmtheit (z. B. Epoche) und räumlicher Situation (z. B. Konti- nente, Länder). In jüngster Zeit hat das ema größere Beachtung gefunden, gewiss auch weil man sich in der späten Neuzeit mehr für den Anteil von Individualität und Subjektivität interessiert. Dies soll nicht heißen, in einer objektiver geprägten Welt wäre die personale Ausprägung eher ein zu vernachlässigendes Moment – im Gegen- teil: es ist vielleicht stärker verborgen und nicht leicht an den Tag zu bringen. Vielleicht sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Disziplinen und ihren Vertretern zu bestimmten Zeiten recht ver- schiedenartig. So fällt z. B. in unserer Zeit auf, dass vor allem die Moraltheologen in größerer Zahl ihr Lebensprofil niedergeschrieben haben. Reizt eine Krisensituation vielleicht stärker zu einer je indivi- duell-persönlichen Perspektive? Ich habe mir über eine Einordnung dessen, wohin ich in einer solchen Reflexion gehören könnte, bisher wenig Gedanken ge- macht. Ich will bei Gelegenheit der Verleihung des eologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2013 jedoch ein wenig erzählen, wie ich meinen kirchlichen und theologischen Auftrag in der Rückschau erlebt habe und verstehe. 1 Dankesrede bei der Verleihung des eologischen Preises der Salz- burger Hochschulwochen am 31. Juli 2013 in der Großen Aula der Universität Salzburg. Auf Anmerkungen habe ich angesichts des Er- zählcharakters dieses Textes verzichtet.

Karl Kardinal Lehmann Brückenbauer lern- und lehrjahre zwischen … · 2018. 3. 12. · allem von romano guardini, Josef Pieper und Max Picard, selbst-verständlich auch für Texte

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    Karl Kardinal Lehmann

    Brückenbauerlern- und lehrjahre zwischen

    lebensgeschichte, wissenschaft und Praxis der Kirche1

    es ist nicht leicht, das Verhältnis von Biographie und wissenschaft in der Theologie auszuloten. es ist ganz gewiss sehr verschieden nach religion und Konfession, persönlichem status (also Ordens-angehöriger, Priester/Diakon, laie) und lebensgeschichte, zeitlicher Bestimmtheit (z. B. epoche) und räumlicher situation (z. B. Konti-nente, länder). in jüngster Zeit hat das Thema größere Beachtung gefunden, gewiss auch weil man sich in der späten neuzeit mehr für den Anteil von individualität und subjektivität interessiert. Dies soll nicht heißen, in einer objektiver geprägten welt wäre die personale Ausprägung eher ein zu vernachlässigendes Moment – im gegen-teil: es ist vielleicht stärker verborgen und nicht leicht an den Tag zu bringen. Vielleicht sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Disziplinen und ihren Vertretern zu bestimmten Zeiten recht ver-schiedenartig. so fällt z. B. in unserer Zeit auf, dass vor allem die Moraltheologen in größerer Zahl ihr lebensprofil niedergeschrieben haben. reizt eine Krisensituation vielleicht stärker zu einer je indivi-duell-persönlichen Perspektive?

    ich habe mir über eine einordnung dessen, wohin ich in einer solchen reflexion gehören könnte, bisher wenig gedanken ge-macht. ich will bei gelegenheit der Verleihung des Theologischen Preises der salzburger hochschulwochen 2013 jedoch ein wenig erzählen, wie ich meinen kirchlichen und theologischen Auftrag in der rückschau erlebt habe und verstehe.

    1 Dankesrede bei der Verleihung des Theologischen Preises der salz-burger hochschulwochen am 31. Juli 2013 in der großen Aula der Universität salzburg. Auf Anmerkungen habe ich angesichts des er-zählcharakters dieses Textes verzichtet.

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    i.

    ich kann die Zeit nicht vergessen, die meine Kindheit ausmachte. Deutschland richtete in meinem geburtsjahr 1936 die Olympi-schen spiele in Berlin aus und gewann bei aller skepsis in vielen ländern ein hohes Prestige. Die Arbeitslosigkeit vieler Menschen – auch der akademischen Berufe: mein Vater (geb. 1903) war als Volksschullehrer elf Jahre nach dem examen stellenlos – war er-heblich zurückgegangen. An den Kriegsausbruch am 1. september 1939 kann ich mich nicht erinnern, aber an manches etwas später: z. B. die gewalttätige stimme hitlers nach dem sieg in Paris und nach der niederlage in stalingrad; mein Vater wurde an meinem ersten schultag 1942 einberufen, kam gott sei Dank bereits im Juni 1945 wieder aus der gefangenschaft zurück; das merkwürdige ge-schick erwin rommels, ein held aus unserer heimat, gab zu den-ken, ebenso das schicksal der etwas verwirrten frau, die eines Tages aus unserem Dorf abgeholt wurde und deren Asche in einer Urne zurückkehrte; im nachbardorf erinnerte uns ein schloss, in dem ernst Jünger später wohnte, an den Oberst graf von stauffenberg; ein Onkel von mir kam nach dem 20. Juli 1944 unter Verdacht; nie werde ich die zögerlichen schritte des Briefträgers vergessen, als er der großmutter vier wochen nach der hochzeit die nachricht vom „heldentod“ des ältesten und des erben des Bauernhofes über-brachte, er war auch mein geliebter Taufpate; schließlich träume ich auch heute noch ungefähr einmal im Jahr von den ängsten im luft-schutzkeller nachts während der Bombenangriffe, obgleich es auf dem land nie so schlimm war wie in den großstädten; ich sah die ersten Menschen, die eines gewalttätigen Todes starben.

    schließlich kam das ersehnte Aufatmen am ende des Krieges, mehr verbunden mit freude als mit ängsten. ich denke dankbar an das schweigen der waffen, an den wiederaufbau unseres landes, die währungsreform und das neue geld, die langsame Anerken-nung des landes von außen, freilich auch den nürnberger Prozess gegen die größen des ns-regimes, die in vielem unsinnige entna-zifizierung und die vielen Vermissten, die nie mehr zurückkamen.

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    Brückenbauer

    ii.

    Dies alles habe ich 1948 mitgenommen, als ich in die 2. Klasse des gymnasiums meiner geburtsstadt sigmaringen und in das dortige erzbischöfliche Konvikt eintrat. wir, ich und mein drei Jahre jün-gerer und leider 1998 verstorbener Bruder reinhold (Journalist), konnten sonst nicht auf ein gymnasium gelangen (weder Bus noch Zug). ich bin heute noch meinen verstorbenen eltern dankbar, dass sie sich vieles am Mund absparten, damit wir eine höhere schulbil-dung bekamen und nach dem Abitur „studieren“ konnten (noch ohne Bafög). wir waren uns dieser chancen bewusst.

    Mein mit Abstand wichtigster lehrer über viele Jahre war Prof. Dr. rudolf nikolaus Maier, bei dem ich in Deutsch, französisch und Philosophie (damals in Baden-württemberg drei Jahre Pflicht-fach) nicht nur in diese fächer bestens eingeführt hat, sondern auch mich mit den besonders ansprechenden grundfragen des Mensch-seins zur Begegnung brachte: dem woher und wohin, dem sinn des lebens, dem Ursprung des Bösen, den fragen nach dem Tod und einem „Jenseits“ sowie den rätseln des Menschen und der welt. Mein karges Taschengeld verwendete ich für die Bücher, vor allem von romano guardini, Josef Pieper und Max Picard, selbst-verständlich auch für Texte moderner deutscher literatur. wir lasen Paul celan und günter eich, aber auch Paul claudel und japani-sche haikus.

    Das Abitur nahte. was soll ich für einen Beruf ergreifen?, so lau-tete ein Besinnungsaufsatz um die Mitte 1955, ein halbes Jahr vor dem Abitur. er ist noch erhalten und zugänglich. Meine Antwort: 1) ich will den grundfragen des menschlichen lebens nachgehen. 2) ich möchte mit konkreten Menschen, vor allem jungen, umge-hen. 3) ich möchte für diesen Auftrag selbst Zeit, Besinnung und Muße haben. 4) Dies soll ein Dienst am Menschen sein: „Dienst am Menschen, an der natur, am wort; – das aber heißt gott dienen.“ Diese Ziele kamen offenbar zusammen und versprachen mir auf dem weg zum Priestertum und besonders im studium der Philoso-phie und der Theologie eine erreichbare, lebbare gestalt. ich hatte dafür in der Kirche, besonders in den schwierigen Zeiten, vor al-lem auch als ganz normaler Ministrant, in der Jugendarbeit und im Aufbau einer Borromäus-Bücherei für die Pfarrei gute erfahrungen

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    gemacht. Meine eltern waren über meine Berufswahl überrascht, ließen mir aber völlige freiheit. ich hätte jederzeit anders entschei-den dürfen. Der Direktor des collegium Borromaeum in freiburg i. Br. machte meine neugierde noch stärker, als er uns mit den wor-ten Jesu an die ersten Jünger im frühjahr 1956 nach freiburg ein-lud: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39) – ein wort, das mich das ganze bisherige leben sehr begleitete und mir viel half: stetige Bereitschaft zum Aufbruch („Kommt“) und bleibende Offenheit für neue erfah-rungen („seht“).

    iii.

    An der Albert-ludwigs-Universität in freiburg i. Br., die im Jahr 1957 ihr 500-jähriges Jubiläum feierte, fühlte ich mich sofort wohl. Auch wenn ich neugierig auf alles war, so standen doch bald zwei thematische Kreise im Vordergrund meines interesses, die Phi-losophie und die wissenschaftliche einführung der exegeten in das Verständnis der hl. schrift. Max Müller, bekannt durch sein grundwerk „sein und geist“ (1940) und später an der Universität München, und der religionsphilosoph Bernhard welte hatten bei-de zwischen dem klassischen Denken, vor allem des Thomas von Aquin, und der gegenwärtigen Philosophie, besonders M. heideg-gers und K. Jaspers, zu vermitteln versucht. Der junge Privatdozent heinrich rombach, später in würzburg, und der husserl-Assistent eugen fink zeigten mir die fast erschreckende Vielfalt des moder-nen Denkens auf. noch wichtiger war, dass sie mich zum Philoso-phieren, zum Denken führten.

    Die beiden exegeten Alfons Deissler (1914–2005) und Anton Vögtle (1910–1996) führten uns auf faszinierende weise in die mo-dernen Bibelwissenschaften des Alten und neuen Testaments ein. es war nicht leicht, in einem Jahr bis zum Biblicum (Prüfung der einleitungswissenschaften) die ganze Bibel zu lesen und rechen-schaft darüber abzulegen. Meine Kenntnisse vom gymnasium in latein, griechisch und hebräisch zeigten endlich einen jetzt kon-kreten sinn. ich war dankbar für diese gesamteinführung in die Bi-bel, freute mich am handwerkszeug und noch mehr auf die spätere thematische Arbeit in den folgenden semestern. Beeindruckt war

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    ich auch von dem reformationshistoriker ernst-walter Zeeden, ein Konvertit aus heidelberg, später historiker in Tübingen.

    im sommer 1957 wurde ich zu erzbischof Prof. Dr. eugen sei-terich (fundamentaltheologe) bestellt, der mir eröffnete, er würde mich, wenn ich wollte (dies war mir wichtig!), gerne zum weiter-studium nach rom und in das germanikum schicken. Zunächst war ich gar nicht erfreut, denn ich wollte aus meinem eindrucks-vollen studium in freiburg nicht herausgerissen werden. ich hat-te gegenüber den römischen studienverhältnissen gewiss nicht nur schmeichelndes im Ohr. sollte ich alles gegen eine gewisse spielart der „neuscholastik“ eintauschen?

    Meine beiden ratgeber und späteren Kollegen, Bernhard casper (geb. 1931) und helmut riedlinger (1923–2007), brachten mich in schwierige spannungen zwischen Ja und nein. Außerdem wollte ich die nähe zu unserem verehrten schon erwähnten Konviktsdirektor Dr. robert schlund (1912–1990) nicht aufgeben, der mir auf dem weg zum Priestertum ein leuchtendes Vorbild war und blieb – spä-ter bis zu seinem Tod ein wahrer väterlicher freund.

    Meine eltern ließen mir völlige freiheit, auch wenn man damals während des siebenjährigen studiums in rom nur zweimal nach hause fahren durfte. ich entschied mich für rom. Dabei war auch ausschlaggebend, dass mir der Aufenthalt und das studium vom erzbistum freiburg als eine Art stipendium bezahlt werden sollte. ich brauchte nur das „Taschengeld“. ich konnte meine eltern ent-lasten, zumal mein schon genannter Bruder so besser auch studieren konnte. leicht ist mir der entschluss dennoch nicht gefallen. weh-mütig dachte ich auch an die großen Vorträge in freiburg an der Universität von Martin heidegger, Karl rahner, hans-georg gada-mer und gerhard ebeling. sollte ich für immer darauf verzichten?

    iV.

    in rom regierte noch für ein Jahr Papst Pius Xii. (1876–1958), hochverehrt und ikone eines geradezu überirdischen Papsttums. Aber in unsere ungeheuchelte hochschätzung mischte sich bei al-ler ehrfurcht die bange frage, wie es denn nach diesem Papst in Zukunft in und mit der Kirche weitergehen könnte. wir haben im

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    Oktober 1957 in castelgandolfo auch die Tränen in den Augen der französischen Kardinäle liénart und feltin nach dem Verbot der Ar-beiterpriester gesehen. Auch die Verbreitung des „roten Katechis-mus“ wurde gleichzeitig untersagt. Mein weg zum priesterlichen Dienst war relativ unabhängig von diesem „rom“, vor allem tief durch die exerzitien beim späteren Kardinal Prof. P. Dr. Alois grill-meier sJ (1910–1998) in freiburg und in rom bei Prof. P. Dr. hu-go rahner sJ sowie durch den damaligen spiritual im germani-kum, P. Dr. wilhelm Klein sJ, geprägt. ich entdeckte in der gerade von hugo rahner wiederentdeckten authentischen ignatianischen spiritualität auch meinen eigenen geistlichen weg – und dies bis heute.

    Als der Patriarch von Venedig, Angela giuseppe roncalli am 28. Oktober 1958 zum Papst gewählt wurde und sich den na-men Johannes XXiii. gab, waren wir studierende zunächst bo-denlos enttäuscht, weil wir einen jüngeren Papst erwarteten. Von seinem Amtsantritt am 4. november bis zur Konzilsankündigung am 25. Januar 1959 wurden wir jedoch lügen gestraft. ich brauche dies nicht eigens darzustellen. für mein leben habe ich daraus ge-lernt, dass es darauf ankommt, seinen Auftrag, vielleicht auch das charisma dann und solange zu erfüllen, wie einem die Zeit dafür geschenkt wird. Auf das physische Alter allein kann es nicht ankom-men.

    es kam eine geradezu stürmische Zeit des Aufbruchs hin zum Konzil. Manchmal kommt sie mir fast wichtiger vor als die Konzils-zeit selbst. Johannes XXiii. trieb die Verwirklichung mächtig voran, auch wenn die Konzilsidee selbst erst noch reifen musste: das ag-giornamento, erneuerung der Kirche im lichte der „Zeichen der Zeit“, Übergang der Kirche in eine neue epoche. Viele bedeutende Kirchenführer und vor allem Theologen, die wir bisher nur von ih-ren Büchern kannten, konnten wir in Vorträgen und gesprächen persönlich kennen lernen. Die reform der Kirche bekam gesicht und Profil – und wir waren dabei und durften ein wenig in die Zukunft blicken! es ging mit der Kirche und ihrem Auftrag in der welt weiter, auch wenn allen klar war, dass dies kein leichter weg sein wird.

    Die studien gingen den gewöhnlichen gang. ich gewann sehr viel Zeit zum selbststudium, weil mir in Philosophie und Theologie

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    von meinen studien- und Prüfungsleistungen in freiburg viel aner-kannt wurde. ich konnte mir gut vorstellen, dass ich in meinem le-ben nie mehr so viel ungestörte Zeit zum unverzweckten Quellen-studium haben werde, und zwar aus allen epochen: von Platon über Thomas von Aquin (die schriftkommentare hatten mich fasziniert!) über Kant, hegel und Marx zu nietzsche und freud.

    V.

    wiederum kam in die normale studienentwicklung eine störung. Der neue freiburger erzbischof Dr. hermann schäufele (1906–1977), selbst germaniker, gab mir auf den rat meiner Philosophie-Professoren P. Dr. Alois nabler sJ und P. Dr. Johannes B. lotz sJ den Auftrag der Promotion in Philosophie, und zwar vor dem ein-tritt in das engere theologische studium. Dies kam zwar meinen neigungen entgegen, aber ich wehrte mich zunächst gegen eine wei-tere Verlängerung meines studiums. Umsonst. ich habe dann in den Jahren 1959 bis 1962 meine umfangreiche philosophische Disser-tation „Vom Ursprung und sinn der seinsfrage im Denken Martin heideggers“ ausgearbeitet und das Verfahren zu Beginn des Konzils im november 1962 abgeschlossen. P. naber sJ starb vor der Vollen-dung, sein nachfolger P. Dr. Peter henrici sJ, später weihbischof in Zürich/Bistum chur, übernahm großzügig und wohlwollend meine fast fertige Arbeit.

    Von meinen römischen philosophischen lehrern möchte ich außer den schon genannten den ethiker P. Dr. Joseph de finance sJ (1904–2000) nennen, der leider trotz bedeutender werke bei uns weniger bekannt ist.

    ich habe ab 1961 neben der Arbeit an der philosophischen Dis-sertation das theologische studium voll aufgenommen, wobei mir – wie schon erwähnt – viele freiburger lehrveranstaltungen und Prüfungen angerechnet wurden. Meine wichtigsten theologischen lehrer in rom waren P. Dr. Juan Alfaro sJ, P. Dr. Bernhard loner-gan sJ, P. Dr. Peter huizing sJ und mein späterer Doktorvater P. Dr. edouard Dhanis sJ (fundamentaltheologe). Am Päpstlichen Bibel institut hörte ich, ohne ordentlicher hörer sein zu können, mit großem gewinn die Vorlesungen von P. Dr. luis Alonso-schö-

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    kel sJ (AT) und P. Dr. stanislas lyonnet sJ sowie P. Dr. Max Zer-wick sJ (nT). Beide erhielten kurz vor Beginn des Konzils ein für uns unbegreifliches lehrverbot. Die extreme rechte, damals in der lateran-Universität konzentriert, hatte nochmals – wenigstens für eine Zeit, aber wohl so gewichtig das letzte Mal – zugeschlagen. P. norbert lohfink sJ verteidigte am 22. november 1962 nicht nur seine glänzende biblische Doktorarbeit „Das hauptgebot: eine Un-tersuchung literarischer einleitungsfragen zu Dtn 5–11“, sondern rechtfertigte in einer großen Veranstaltung, seiner „defensio“, auch ein differenziertes hausrecht der historisch-kritischen Methoden in der exegese. Dies waren ganz entscheidende Tage für das Konzil: die Absetzung des vorkonziliaren schemas über die Offenbarung durch den Papst und deutliche wort der großen Konzilsväter, wie z. B. Kardinal frings, zur Praxis des hl. Officium bei den lehrver-urteilungen jener Zeit.

    ich war stolz, dass ich – natürlich ganz im windschatten die-ser großen ereignisse – in jenen Tagen, nämlich am 24. november, ebenfalls die öffentliche Verteidigung meiner Diss. phil. abhalten konnte. Auch für mich war es grund zur freude, denn ich brauch-te in meiner heidegger-studie keine von außen kommenden kriti-schen Anmerkungen zu machen. Meine immanente Kritik genügte offenbar. Das Konzil war auch bei mir – schon früh – angekommen. ich fühlte mich in meinen erwartungen erfüllt. es war für mich ein sieg der Vernunft und der freiheit. Mit großer Zuversicht sah ich in die Zukunft.

    in diese Zeit gehören auch meine weihe zum Diakon am 30. März 1963 und besonders die Priesterweihe am 10. Oktober 1963, beide gespendet durch den unvergesslichen Julius Kardinal Döpfner, dessen 100. geburtstag wir am 26. August 2013 began-gen haben. Die Priesterweihe empfing ich in s. ignazio, die erste hl. Messe durfte ich in san saba feiern, eine Kirche wohl aus dem 5. Jahrhundert, deren gediegene schlichtheit und schönheit mir immer eindruck machte. san saba hatte noch einen anderen Be-zug: es war die Titelkirche meines verehrten landsmannes Augustin Kardinal Bea sJ, von der geschichte her eng zur gesellschaft Jesu und zum germanikum gehörend.

    Über 300 Pilger aus der heimat kamen mit einem sonderzug zur Priesterweihe und Primiz nach rom. Dies erinnerte mich da-

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    ran, dass ich nun bald meinen Aufenthalt in der ewigen stadt been-den durfte. ich hatte sehnsucht nach der pastoralen Praxis. Vorher musste ich freilich noch im Juni 1964 das lizentiat in Theologie bestehen.

    Vi.

    es sollte nochmals anders kommen. in rom stand ich Karl rahner bei seinen Besuchen und vor allem während des Konzils mit vie-len kleinen Dienstleistungen zur seite. ich war, was die literatur-beschaffung betraf, auch als Oberbibliothekar dazu verpflichtet. Als landsmann aus dem südwesten und durch meine heidegger-Arbeit hatte ich ohnehin zusätzlich einen stein im Brett. Mit Briefmarken-Besorgen fing es an, es folgte das wachs-Matrizen-schreiben und endete schließlich im Bearbeiten von Manuskripten. Dabei ging es auch einmal um den komplizierten Zusammenbau von entwürfen von Karl rahner und Joseph ratzinger für ein neues alternatives Offenbarungsschema, das seine eigene geschichte hat.

    in dieser situation schrieb Karl rahner dem erzbischof von frei-burg im frühjahr 1964, er möge mich für eine Assistentenstelle bei ihm in München, wo er als nachfolger r. guardinis (Philosophi-sche fakultät) gerade angefangen hatte, freistellen. Das Konzil ma-che dies besonders dringlich. Als ich in einem in freiburg verspätet eingetroffenen eilbrief um eine spätere freistellung bat, war über Karl rahners Bitte dort schon positiv entschieden. Am 1. Juli 1964 fing ich in München an und ging dann drei Jahre später am 1. April 1967 als einziger Mitarbeiter mit nach Münster. ich war „Mädchen für alles“: wissenschaftlicher Assistent, persönlicher sekretär, Büro-leiter und chauffeur. Mit dem Konzilsgeschehen hatte ich wenig zu tun, konnte aber Karl rahner im Büro entlasten, die studierenden und Doktoranden betreuen und einige Veröffentlichungen vorbe-reiten. Als Zaungast bekam ich freilich einiges über das ringen im Konzil mit.

    in München wollte ich bei heinrich fries in Theologie das Dok-torat machen und besuchte deshalb auch eine reihe von seminaren bei den wichtigsten Professoren, die mich ja nicht kannten – die anspruchsvollen mündlichen Doktorprüfungen in München waren

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    Karl Kardinal Lehmann

    gefürchtet. Als Karl rahners Bitte um die Möglichkeit der Promo-tion und habilitation in der Theologischen fakultät in München anlässlich der Berufung nach Münster im frühjahr 1967 von einer Mehrheit der Professoren abgelehnt wurde (vielleicht durch rahners Ungeschicklichkeit mitverursacht) und eine menschlich schwierige situation entstand, sagte mir heinrich fries mit dem Ausdruck des Bedauerns: „lieber Dr. lehmann, bei mir und in München kön-nen sie leider keine Doktorarbeit mehr machen, denn sie kriegen die Prügel ab für Karl rahner.“ ich brauche hier nicht dazulegen, warum ich dann meine theologische Dissertation in rom einreichte und dort bereits im sommer 1967 promoviert wurde.

    ich habe meine theologische lizentiatsarbeit „Auferweckt am dritten Tag nach der schrift“ (später gedruckt in der reihe „Quaes-tiones disputatae“, Band 38, freiburg i. Br. 1968, 2. Auflage 1969) ausgebaut und bewusst eine biblisch-exegetische studie unternom-men, denn nach viel Philosophie und klassischer dogmatischer Theologie schien es mir wichtig zu sein, dass „ein künftiger ‚syste-matiker‘ auch einmal ganz nüchtern und konkret … in die schule der exegeten“ gehen sollte. Dabei hat mich natürlich die herme-neutische Thematik immer mitbestimmt, zumal mich neben den eigenen studien hans georg gadamers „wahrheit und Methode“ (Tübingen 1960) sehr geprägt hat. ich sehe darin heute noch ein hauptwerk des deutschsprachigen Denkens in der zweiten hälfte des 20. Jahrhunderts. Die inhaltliche seite meiner Diss. theol. darf ich hier übergehen.

    ich musste nun an eine habilitation denken und bekam ab dem 1.11.1967 von der Deutschen forschungsgemeinschaft für ein Pro-jekt über die Verborgenheit gottes ein zweijähriges stipendium. Das Thema schloss sich an verschiedene meiner Arbeiten an und war damals nicht so bekannt wie wenig später. ich kam freilich nur mühsam zur Arbeit daran. für Karl rahner betreute ich wie bisher noch manche Doktoranden in München und Münster. ein unver-schuldeter Autounfall im Dezember 1967 warf mich einige Monate zurück. ich zog mich zur stillen Arbeit nach München zurück.

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    Brückenbauer

    Vii.

    Bald interessierte man sich an verschiedenen hochschulen für mich als systematischen Theologen, z. B. an der catholic University in wa-shington D. c., an der Theologischen fakultät in luzern/schweiz und in der Kath.-Theologischen fakultät in Mainz. nach einer rasch vereinbarten Probevorlesung, ob denn die Auferstehung Jesu chris-ti ein „interpretament“ (etwa im sinne von w. Marxen) sei, wurde ich sehr rasch am 25. Juli 1968 von dem jungen Kultusminister Dr. Bernhard Vogel auf den lehrstuhl für Theologische Propädeutik und Dogmatik nach Mainz berufen. wie ich sehr viel später erfuhr, haben Karl rahner und Joseph ratzinger dies durch schriftliche äu-ßerungen unterstützt. es war eine denkwürdige Zeit: am selben Tag meiner Berufung wurde mein Vater als lehrer pensioniert; in rom erschien auch am selben Tag die enzyklika „humanae vitae“; der einmarsch der russen in die cssr und das ende des „Prager früh-lings“ sowie die heftigen Kämpfe in Biafra und Vietnam sowie die studentenunruhen von Kalifornien über Paris nach Berlin erschütter-ten die welt, die nun – auch bald im Blick auf das Zweite Vatikani-sche Konzil – anders geworden war. ich spürte dies, als ich bei meiner Antrittsvorlesung zu Beginn des Jahres 1969 einen farbbeutel auf den (geliehenen) Universitätstalar geschmissen bekam, an der frank-furter Universität nach einem Vortrag zur gottesfrage im Qualm der rauch- und stinkbomben am Abend nur mit Mühe den Ausgang aus der Universität fand; unangenehm war es auch in freiburg und Kon-stanz nach Vorträgen auf einladung der hochschulgemeinden. Auch die innere situation der Kirchen blieb davon nicht unberührt. in der Auseinandersetzung um „humanae vitae“ kam dies für unsere eigene Kirche am deutlichsten zum Ausdruck (Königsteiner erklärung der deutschen Bischöfe am 30./31. August 1968). Beim berühmten esse-ner Katholikentag Anfang september 1968 gab es die ersten öffentli-chen Auseinandersetzungen, in die ich hineingezogen wurde.

    Bevor ich am 1. Oktober 1968 in Mainz begann, wurde mir klar, dass ich die ruhe zum etwas abgeschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten, auf das ich mich nach den Jahren von stress und Druck sehr gefreut hatte, in dieser situation nicht so leicht und bald finden konnte. Jetzt kam es auch auf die Beteiligung in den geistigen und theologischen Auseinandersetzungen an. fast ein Jahrzehnt, von den

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    ersten sondierungen bis zum erscheinen der zwei Textbände mit den Dokumenten im Jahr 1977, hat mich die gemeinsame syno-de der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971–1975) buchstäblich in Atem gehalten. Kardinal Döpfner nahm mich ab 1969 bis zu seinem jähen Tod am 24. Juli 1976 mehr und mehr als Berater vertrauensvoll in Anspruch, auch bei den beiden wichtigen Bischofssynoden 1971 und 1974 in rom.

    ich wurde theologischer Berater in den Auseinandersetzungen um „Publik“, Mitglied der internationalen Theologenkommission beim heiligen stuhl (1974), der glaubenskommission der Deut-schen Bischofskonferenz (Berater ab 1971; Mitglied ab 1983), des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theo-logen (ab 1969) und ebenfalls ab 1969 des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, von wo aus ich auch in die gemeinsame synode entsandt wurde. Das engagement in Arbeitsgruppen (oft mit geschäftsführendem Auftrag) kamen hinzu, z. B. „schreiben der Bischöfe des deutschen sprachraums über den priesterlichen Dienst“, „Pastorale“, Pastoral für wiederverheiratete geschiedene auf verschiedenen ebenen. Die Konflikte um hans Küng und edu-ard schillebeeckx ließen mich nicht unberührt. Kardinal franjo se-per, Präfekt der glaubenskongregation nach Kardinal Ottaviani, bat mich um sehr ausführliche gutachten.

    Zuerst war und blieb ich aber Universitätslehrer. Von meinem Vater erbte ich die leidenschaft eines lehrers. Die Arbeit mit stu-dierenden machte mir stets große freude. ich fand es faszinierend zu sehen und anzuregen, wie junge Menschen geistig wach wurden und wuchsen. Diese Arbeit blieb auch bei großen Belastungen die erste Priorität. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zogen kräf-tig mit. es gab viele schöne forschungsleistungen in Promotionen und habilitationen. Viele sind in aller welt gute Theologen gewor-den, nicht wenige traf ich bei vielen reisen. ich habe in meinen fakultäten mitgearbeitet, z. B. mehrfach als Dekan, im senat, in allen Berufungskommissionen der Mainzer und freiburger Theo-logischen fakultäten, als gutachter der Dfg und der humboldt-stiftung usw. Die Kontakte zu anderen fakultäten und Arbeitskrei-sen waren mir wichtig. ich gründete gesprächsgruppen mit, die für mehr Kontakte mit Kollegen aus den philosophischen fakultäten, den Juristen und den Medizinern gesorgt haben.

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    Brückenbauer

    im Jahr 1971 habe ich mich zwischen Berufungen nach Münster und freiburg i. Br. und dem Bleiben in Mainz für meine „heimat-universität“ freiburg i. Br. entschieden. ende 1981 lehnte ich einen ruf nach Tübingen ab, wo der lehrstuhl von hans Küng neu be-setzt werden musste.

    in freiburg konnte ich bei den Berufungs-Verhandlungen die er-richtung eines kleineren Ökumenischen instituts erreichen. ich ha-be mich durch freiwillige lehrveranstaltungen aller Arten um mehr wissen in den ökumenischen realien („Konfessionskunde“) und in der Ökumenischen Theologie bemüht. Obgleich ich in einer ganz katholischen familie und Umgebung aufgewachsen bin, wurde mir vor allem wegen der „Mischehen“, heute sagt man: konfessionsver-bindende ehen, die konkrete ökumenische Arbeit zu einem funda-mental wichtigen Auftrag: Vorurteile abbauen, wo es nur möglich ist; den reichtum anderer anerkennen; das Verständnis eigener Überzeugungen fördern; praktische Zusammenarbeit erweitern. An diesen Zielen habe ich auch später als Bischof strikt festgehalten.

    in diesen Jahren habe ich immer in der seelsorge meines wohn-gebietes und als langjähriger rektor der Universitätskirche mitge-arbeitet. Aus der nähe zu Basel und der engen Kooperation in der internationalen Theologischen Kommission vertiefte sich die Bezie-hung zu hans Urs von Balthasar, den ich freilich schon als junger Theologe ungemein schätzte (z. B. schleifung der Bastionen, Die gottesfrage des heutigen Menschen, Karl Barth, glaubhaft ist nur liebe). Die freundschaft und die Zusammenarbeit mit Karl rah-ner blieb. freilich fand ich im lauf der Jahre 1972/73 wohl durch meine eigenen theologischen erkenntnisse und die praktischen er-fahrungen im deutschen Katholizismus, besonders in der gemeinsa-men synode, bei aller bleibenden Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber Karl rahner mehr zu meinem eigenen weg. Deshalb fühlte ich mich aus vielen gründen „communio“ näher als „conci-lium“. Die nähe zu Karl rahner zeigte sich auch in einer reihe von Veröffentlichungen über Karl rahner und der herausgabe mancher seiner Texte, z. T. gemeinsam mit meinem schüler und freund Prof. Dr. Albert raffelt, freiburg.

    Die zwölf freiburger Jahre gehören gewiss zu den schönsten er-fahrungen während der ersten hälfte meines lebens. Dazu hat auch die fruchtbare hausgemeinschaft mit frau Dr. esther Betz beige-

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    Karl Kardinal Lehmann

    tragen, die ich während des Konzils kennenlernen durfte. ich hatte mir jedoch fest vorgenommen, mich stärker aus den institutionellen strukturen von Theologie und Kirche zugunsten der Theologie als wissenschaft zurückzuziehen. Vieles vorbereitende Material hatte sich in den 17 Jahren lehrveranstaltungen seit München, Münster, Mainz und freiburg angesammelt. Zuerst dachte ich an eine fun-damentalhermeneutik katholischen Denkens, wie ich sie in meiner Mainzer Antrittsvorlesung von 1969 unter dem Titel „Die dogmati-sche Denkform als hermeneutisches Problem. Prolegomena zu einer Kritik der dogmatischen Vernunft“ erstmals entworfen hatte. ich hielt nichts von schnellschüssen gerade in der Dogmatik der ge-genwart. ich freute mich darauf, zumal ich den stress der vergange-nen Jahrzehnte auch aus gesundheitlichen gründen abbauen wollte und musste.

    Viii.

    Der Mensch denkt, und gott lenkt. Dies musste ich in der fol-gezeit öfter erwägen. Denn wiederum sollte alles anders kommen. Am 3. Juni 1983 fragte mich Domdekan Prälat Dr. hermann Berg aus Mainz, ob ich am 5. Juni zu hause wäre und er mich besu-chen könne. ich war irritiert, denn ich war ja schon 12 Jahre von Mainz weg und hatte eigentlich nur noch zu Kardinal Volk Kon-takte. Dieser war am 27. Dezember 1982 im Alter von 79 Jahren zurückgetreten, was zum Zeitpunkt des Anrufs gerade fünf Monate her war. Dr. Berg unterbrach schließlich unsere etwas verlegene Un-terhaltung: „Jetzt muss ich aber zu meinem Auftrag kommen und sie im Auftrag des Domkapitels und des Papstes (Johannes Paul ii.) fragen, ob sie die wahl zum Bischof von Mainz annehmen. sie wissen, dass ich über die Abstimmung nichts sagen darf. sie sol-len aber in Kenntnis sein, dass sie hochwillkommen sind und nur volle Zustimmung finden.“ ich war sprachlos und bat um die auch kirchenrechtlich zugestandene Bedenkzeit. Ohne Druck solle, so Dr. Berg, ich mich doch bald entscheiden, denn die zuständigen landesregierungen wären noch zu hören, alles müsse wieder bis zur Veröffentlichung nach rom und die großen sommerferien stünden vor der Tür.

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    Brückenbauer

    nach Ablauf von gut zwei Tagen sagte ich zu. Am 23. Juni wurde in meiner Anwesenheit – zum ersten Mal in Verbindung mit einer Pressekonferenz und leibhaftiger Vorstellung – meine ernennung zum Bischof von Mainz bekanntgegeben. ich erfüllte alle semes-terverpflichtungen sowie Prüfungstermine und zog in der zweiten septemberhälfte nach Mainz. Am 2. Oktober 1983 wurde ich von Kardinal Volk als hauptkonsekrator und meinem heimatbischof erzbischof Dr. hermann schäufele sowie dem Mainzer weihbischof wolfgang rolly (Kapitularvikar) zum Bischof geweiht und über-nahm die leitung des Bistums.

    Mein Jawort war wohl die bis dahin schwierigste entscheidung meines lebens. es war nicht nur die Überzeugung der eigenen Un-zulänglichkeit und Unwürdigkeit meiner Person zu diesem Amt. ich war – wie schon angedeutet – mit leidenschaft akademischer lehrer der Theologie und wusste bei aller Bindung an die Kirche die relativ hohe Unabhängigkeit meines lehramtes im raum der deutschen Universität zu schätzen. warum ich trotz bitterer Tränen beim Abschied dennoch Ja sagte?

    1) es waren in jenen Tagen gerade 20 Jahre her, dass ich bei mei-ner Priesterweihe im „Adsum“ der Kirche meine – wie ich über-zeugt war – unbegrenzte Verfügbarkeit für diesen Dienst zusagte. Dazu gehörte jetzt wohl in Konsequenz meine Bereitschaft, diesen ruf der Kirche auch real anzunehmen. ich wäre in meinem späteren leben als Priester nach meiner Überzeugung nicht glücklich gewor-den, wenn ich mich aus letztlich persönlichen gründen verweigert hätte.

    2) Die stunde der Kirche brauchte Bischöfe, die vom Konzil überzeugt und in der lage waren, sich in die unvermeidlichen Aus-einandersetzungen zu stellen. Darin hatte ich erfahrung.

    3) Kardinal Döpfner und Kardinal Volk, aber auch mein freund Bischof Klaus hemmerle machten mir durch ihren Dienst Mut zur Übernahme des Bischofsamtes. Auch Joseph ratzinger spielte, ge-wiss mehr im hintergrund, eine ermutigende rolle.

    4) Viele laien, die ich vor allem im erzbistum freiburg und aus dem Bistum Mainz sowie aus dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und der gemeinsamen synode kannte, wusste ich an meiner seite. ich war gewiss, dass sie mich auch in schwierigkeiten tragen werden.

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    Karl Kardinal Lehmann

    5) ich kannte in und jenseits der fach-Theologie die kirchli-che szene in rom, ein wenig in der weltkirche und besonders in Deutschland sowie auch im deutschen sprachraum. Dies betraf die strukturen, die verantwortlichen Personen und die anstehenden Probleme, einschließlich der unvermeidlichen Kirchenpolitik und der ökumenischen Aufgabe. ich hatte auch etwas erfahrung mit den Medien. gerade in der Zeit bei Karl rahner, aber auch danach hat-te ich viel über fragen der Pastoraltheologie und auch der caritas gearbeitet und veröffentlicht. Jetzt könnte ich manches realisieren helfen. Konnte ich mich da zurückziehen?

    Diese gesichtspunkte überwogen. ich wusste, dass ich trotzdem oder gerade deswegen in schwere Konflikte kommen konnte. einige erfahrungen hatte ich ja schon. Aber ich hatte auch erleben dür-fen, dass das Kreuz Jesu christi gerade in schmerzlichen situatio-nen trägt. einem Kadavergehorsam und falschen Autoritäten wollte ich mich freilich nicht beugen. ich setze zuerst und für lange auf Dialog, Argumentation, solidarität und Zuversicht. Die Aufgabe, Brücken zu bauen, wo keine Pfeiler mehr erkennbar waren, war eine Aufgabe, die nach meiner Überzeugung den Theologen und das bischöfliche Amt forderte, brauchte und stützte – und zwar auch in derselben Person. ich bin nicht enttäuscht worden, auch wenn geduld und einsatz, Verwundbarkeit und manchmal auch ein-samkeit dazu gehörten. ignatius von loyola war auch hier ein guter lehr- und lebemeister. es war mir klar vor Augen, dass es oberhalb meiner Person und meines Dienstes entscheidungen gab, deren Annahme mir schwer werden könnte. ich kannte auch die eigenen grenzen und meine Zerbrechlichkeit. gehorsam gehörte auch bis-her zu den realen herausforderungen und erfordernissen meines lebens, aber ich verweigerte auch nicht Alternativen, einwände und widerspruch, wo es notwendig schien.

    iX.

    ich musste als Bischof einer Diözese, die ich nur wenig kannte, täg-lich auf lange Zeit viel lernen. Manche Dinge lagen mir näher, viele entfernter wie z. B. Verwaltung, finanzen, Arbeitsrecht. nach 17 Jahren intensiver Visitationspraxis kannte ich jede Kapelle und jede

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    Brückenbauer

    scheune, vor allem aber die Menschen, besonders alle im pastora-len Dienst Tätigen. in der regel war ich 3–4 Mal in jeder der 350 gemeinden. ich war froh, dass ich eine Diözese mittlerer größe an-vertraut bekam. Von der alltäglichen hirtensorge will ich hier nicht reden. sie wird in Ausmaß und gewicht meist unterschätzt, wie es eben auch sonst mit des Tages last und Arbeit geschieht.

    in der Bischofskonferenz war ich kein fremder. im herbst 1985 wurde ich in das neugeschaffene Amt eines stellvertretenden Vorsit-zenden gewählt, das freilich kaum Konturen hatte. nach dem zwei-ten Pastoralbesuch von Papst Johannes Paul ii. (30.4.–4.5.1987) verschlechterte sich der gesundheitszustand des Vorsitzenden, Jo-seph Kardinal höffner, rasch, sodass ich bald als Kommissarischer Vorsitzender tätig werden musste. Am 15. August trat der 80-jäh-rige Kardinal zurück. Am 22. september wurde ich als jüngster Diözesanbischof in einer überraschenden wahl zum Vorsitzenden gewählt und dreimal für je sechs Jahre bestätigt (1987, 1993, 1999, 2005). Mit wirkung zum 18. februar 2008 trat ich aus gesundheit-lichen gründen zurück. ich hatte im Dezember 2007 einen klei-nen schlaganfall, der ganz ausgeheilt ist. Aber es war ein deutlicher warnschuss.

    in dieser Zeit leitete ich 42 Vollversammlungen, 100 sitzungen des ständigen rates und 72 Tagungen des Verbandes der Deutschen Bischofskonferenz. Doch darüber will ich hier nicht handeln. ich will nicht mein eigener Kirchenhistoriker sein. Außerdem ist über diese Zeit sehr vieles überreich dokumentiert. Aber wenigstens eini-ge größere einschnitte seien stichwortartig genannt:• 4.Dezember1987AntrittsbesuchbeiPapstJohannesPaulII.

    und bei den vatikanischen Behörden, • EuropäischeÖkumenischeVersammlungen(Basel1989,Graz

    1997, sibiu 2007); • größereReisennachKuba(1988),indieSahel-Zoneundnach

    israel, mehrfach in die UsA (Ökumene), zu den ersten welt-jugendtagen (rom, Paris, Toronto, Köln); Teilnahme und Mit-gestaltung von Katholikentagen, (ökumenischen) Kirchenta-gen usw.

    • VerpflichtungenindenGremienEuropäischerBischofskon-ferenzen, vor allem ccee (Vizepräsident nach der wende), sondersekretär der europa-synode nach 1989/90.

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    Karl Kardinal Lehmann

    Die wiedergefundene deutsche einheit war über Jahre ein wichti-ges ereignis: früheste Kontakte mit der Berliner Bischofskonferenz, reise diplomatie vor dem Mauerfall, erste gespräche über die form der fusion, Vorsitzender einer Kommission, die von rom zur Ord-nung der Bistümer und Bistumsgrenzen eingesetzt wurde (1992–94), errichtung der erzbistümer Berlin, hamburg und der Bistü-mer Dresden-Meißen, erfurt, görlitz und Magdeburg. errichtung der Diözesen und ernennung der Bischöfe mit vielen festakten. – „Vorermittlungen“ im falle des Vorwurfs von seD-Kooperation durch einen kirchlichen Ausschuss; schaffung des werkes „renova-bis“ mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken; initiative für Zwangsarbeiter und schaffung des Versöhnungsfonds.

    Das große, auch in der Kirche kaum mehr erwartete ereignis der deutschen einheit hatte auch erhebliche institutionelle und organi-satorische folgen: Das sekretariat der DBK bleibt (ähnlich wie die eKD in hannover) in Bonn, ist aber baulich völlig abgerissen und neu aufgebaut worden; die Apostolische nuntiatur wurde in Berlin von der Deutschen Bischofskonferenz neu errichtet. während die DBK in Bonn blieb, zog das Katholische Büro in ein neues haus nach Berlin. Die Bischofskonferenz mietete langfristig räume der Mainzer Vorsehungsschwestern als gästehaus in rom („Villa Ma-ter Dei“). Der Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) wurde restrukturiert; hilfen durch moderne Unternehmensberatung, vor allem durch McKinsey & company inc.• IndenfolgendenJahrenwurdenmithohemEinsatznamhaf-

    ter experten und im gespräch mit rom, aber auch mit vie-len Kontakten zur eKD eine neue „grundordnung“ für das Kirchliche Arbeitsrecht (1994) und die Voraussetzungen für die schaffung eines eigenen kirchlichen Arbeitsgerichtshofes mit erfolg grundgelegt.

    • DieerstenVereinbarungenüberdieAussöhnungmitPolen(1965) und später mit der Kirche in der cssr sowie anderen osteuropäischen Kirchen wurde fortgesetzt. Die europäische Zusammenarbeit blieb im Übrigen vielfach enttäuschend.

    • DieGesprächemitdenMuslimenwurdenimmerwichtigerwieauch die Begegnungen mit anderen religionen. Das gespräch mit dem Judentum behielt den Vorrang; gemeinsame Begeg-nungen unter Beteiligung der eKD mit der rabbinerkonferenz.

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    Brückenbauer

    • DurchdengesellschaftlichenundpolitischenWandelmusstedie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der DBK vor allem im Blick auf Berlin verstärkt werden.

    Dies soll genügen. Aber es muss noch auf die mehr offiziellen theo-logischen Aktivitäten der DBK wenigstens aufmerksam gemacht werden: Die schaffung der beiden Bände „Katholischer erwachse-nenkatechismus“ (1985, 1995) mit einem gesamtumfang von 1000 seiten. Viele andere theologische Aufgaben beschäftigten die DBK: liturgische Texte, katechetische Texte, revision der Bibelübersetzung, gemeinsame ökumenische Texte in gesellschaftspolitisch-sozialethi-schem Kontext (ca. 20 Texte; „sozialhirtenbrief“: 1997), woche für das leben, schutz für das ungeborene Kind, grundwerte-Debatte in verschiedenen „Phasen“, „christliche Patientenverfügung“, ster-behilfe-Thematik, heiligung des sonntags, frieden und Vermin-derung / Bekämpfung der Armut in der welt, iustitia et pax, ehe und familie, Koordinierung der Bischöflichen werke, Ökumenische Taufanerkennung 2007 im Dom von Magdeburg, Kirche und Kul-tur. Die Vorsitzenden der eKD, vor allem Bischof Prof. Dr. wolf-gang huber, und der Deutschen Bischofskonferenz waren von der erarbeitung der Konzeption bis zur Veröffentlichung sehr engagiert.

    X.

    ich schließe hier, will aber noch auf wenige mehr persönlich ge-prägte strukturen hinweisen: ich habe immer das gespräch mit den wissenschaften und den Künsten gesucht. Dies geschah z. B. durch 16 Auftritte bei großen medizinischen Kongressen, durch die Mainzer stiftungsprofessur über die weltreligionen, die Düsseldor-fer heinrich-heine-stiftungsprofessur zur Toleranzproblematik. re-gelmäßige Vorlesungen aufgrund der honorarprofessuren in Mainz und freiburg waren nicht möglich.

    neben eigenen Veröffentlichungen, vor allem auch in „handbü-chern“, war mir die edition großer Texte ein wichtiges Anliegen:• InKarlRahners„SämtlicheWerke“fehlenunsbeifast40Teil-

    bänden noch 2–3 abschließende Bände Das größte Verdienst bei vielen helfern und hilfen gebührt Prof. Dr. Albert raffelt. ich bin Vorsitzender des Kuratoriums der Karl rahner-stiftung.

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    • IchhattestetsgroßesInteresseandengrundlegendentheologi-schen Überlegungen von Konvertiten, wie gerade sie schwieri-ge grundthemen der Katholischen Kirche exegetisch und his-torisch angehen und interpretieren:

    – Deshalb hatte ich großes interesse an den schriften von heinrich schlier, von denen Prof. P. Dr. werner löser sJ und ich einiges veröffentlichen und klarstellen konnten.

    – frau Dr. Barbara nichtweiß hat unter meiner leitung ihre große Dissertation über erik Peterson angefertigt und da-nach neben ihrer Berufsausübung in einer bewundernswer-ten wissenschaftlichen leistung im lauf der letzten 25 Jahre zehn große Bände „Ausgewählte schriften“ von erik Peterson unter oft schwierigsten Bedingungen edieren können, deren volle Bedeutung wohl erst in der Zukunft neu entdeckt wer-den wird. Anzeichen gibt es dafür schon international.

    Xi.

    noch nie habe ich so viel von mir und den ureigenen theologischen Aufgaben, interessen und handlungsfeldern gesprochen. Aber wo-von habe ich erzählt? Von dem, was ich seit Kindheit und Jugend in das Brückenbauen mitgenommen habe, sei es im Blick auf die gesprächsbereitschaft mit den Zeitgenossen, die Überwindung von Polarisierungen in den Kirchen oder die anspruchsvolle geistige Vermittlung von einer verborgenen Mitte her, die man aber auch suchen muss. was kam heraus? was hast du nicht, was du nicht empfangen hast. ein herzliches Vergelt’s gott dafür allen!

    gewiss gibt es eine gefahr, dass man zu viel von der rolle des ich bzw. der subjektivität in der Theologie redet. wir sprachen schon am Anfang davon. Man kann aber auch wie in fast allen Dingen durch Unterschreitung fehlen. Theologie zählt auf glauben, d. h. was mich selbst in meiner christlichen existenz unbedingt angeht. hier kann ich mich nicht ausschließen. in jedem Jahr sagt es uns hugo von hofmannsthal in salzburg: Jedermann darf sich nicht da-vonlaufen – gerade auch der amtliche Zeuge des glaubens nicht, sei er nun Theologe, Priester oder Bischof – oder beides!

  • gefährliches wissen

    im Auftrag des Direktoriums der salzburger hochschulwochen

    als Jahrbuch herausgegeben von gregor Maria hoff

    Tyrolia-Verlag · innsbruck-wien

    aus:

  • Der vorliegende Band enthält die Vorlesungen und den festvortrag

    der salzburger hochschulwochen, die in der Zeit vom 29. Juli bis zum 4. August 2013

    an der Universität salzburg abgehalten wurden.

    Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

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